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Das Buch

Die Journalistin Ashley Knox ist auf dem Weg zu ihrer Hochzeit, als ihr Flug wegen eines Unwetters abgesagt wird. Auch der ­Chirurg Dr. Ben Payne ist davon betroffen: Er muss dringend zurück nach Florida. Er chartert ein Flugzeug, das den Schneesturm umfliegen soll, und nimmt Ashley mit. Doch dann geschieht das Undenkbare: Der Pilot erleidet einen Herzinfarkt, und die kleine Maschine stürzt über den Rocky Mountains ab. Ashley und Ben überleben, doch sie haben wenig Hoffnung, in der abgeschiedenen Gegend gefunden zu werden. Während sie in der Kälte ums Überleben kämpfen, erfährt Ashley mehr über Bens traurige Vergangenheit: Seine Ehe ist am Ende. Um die Trennung zu verarbeiten, nimmt er seine Gedanken auf ein Diktiergerät auf. Als Ashley Bens zärtlichen Worten heimlich lauscht, beginnt sie, sich mit ihrer eigenen Beziehung auseinanderzusetzen und gerät immer mehr ins Zweifeln, ob der Mann, den sie heiraten möchte, wirklich der richtige ist. Während der Kampf ums Überleben immer aussichtsloser wird, merkt Ashley, wie sehr sie sich zu Ben hingezogen fühlt.

Der Autor

Charles Martin studierte Journalismus und Kommunikationswissenschaft. Vor einigen Jahren kündigte er seine Stellung und widmet sich seither ganz dem Schreiben. Charles Martin ist passionierter Angler und lebt mit seiner Frau und drei Söhnen in Jacksonville, Florida.

Von Charles Martin ist in unserem Hause bereits erschienen:

Wohin der Fluss uns trägt

Charles Martin

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Roman

Aus dem Amerikanischen von
Ulrike Bischoff

Verlagsqualität Ullsteinbuchverlage

Ullstein

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Der Roman ist 2010 unter dem Titel
Erzähl mir dein Herz erschienen


ISBN 978-3-8437-1665-9


Neuausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage Dezember 2017

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2010

© 2010 by Charles Martin

Titel der amerikanischen Originalausgabe: The Mountain Between Us

(Broadway Books, New York)

This translation published by arrangement with The Doubleday Broadway Publishing Group, a division of Random House, Inc.

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Titelabbildung: »The Mountain Between Us« film artwork © 2017

Twentieth Century Fox Film Corporation. All Rights Reserved.

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Prolog

Hey …

Ich weiß nicht genau, wie spät es ist. Dieses Ding müsste das eigentlich aufzeichnen. Ich bin vor ein paar Minuten wach geworden. Es ist noch dunkel. Ich weiß nicht, wie lange ich weggetreten war.

Durch die Windschutzscheibe quillt Schnee. Er friert auf meinem Gesicht fest. Kann kaum die Augen aufmachen. Fühlt sich auf meinen Wangen an wie getrocknete Farbe. Schmeckt nur nicht wie getrocknete Farbe.

Ich zittere … und es fühlt sich an, als säße mir jemand auf der Brust. Kann kaum atmen. Vielleicht sind zwei oder drei Rippen gebrochen. Vielleicht ist eine Lunge kollabiert.

Hier oben bläst ein kräftiger Wind gegen den Rumpf des Flugzeugs … oder das, was davon übrig ist. Über mir schabt was über das Plexiglas, vielleicht ein Ast. Hört sich an wie Fingernägel auf einer Schultafel. Und hinter mir weht noch mehr kalte Luft rein. Von da, wo mal das Heck war.

Ich rieche Treibstoff. Vermutlich waren die Tanks in den beiden Tragflächen noch ziemlich voll.

Mir ist speiübel.

Eine Hand umklammert meine. Die Finger sind kalt und schwielig. An einem steckt ein Ehering, schon dünn an den Rändern. Das ist Grover.

Er war schon tot, bevor wir in die Baumwipfel gerast sind. Ich werde nie begreifen, wie er es geschafft hat, dieses Ding zu landen, ohne auch mich umzubringen.

Bei unserem Start lag die Bodentemperatur im zweistelligen Minusbereich. Keine Ahnung, wie kalt es jetzt ist. Fühlt sich jedenfalls kälter an. Wir dürften in einer Höhe von 3500 Meter sein. Um den Dreh. Wir können nicht mehr als 150 Meter abgesackt sein, als Grover die Maschine abgeschmiert ist. Das Instrumentenbrett ist dunkel, unbeleuchtet. Weiß gesprenkelt. Alle paar Minuten flackert das GPS auf und geht wieder aus.

Irgendwo war hier ein Hund. Nichts als Zähne und Muskeln. Ganz kurzes Fell. Etwa so groß wie ein Brotkasten. Knurrt wütend, wenn er atmet. Sieht aus, als sei er auf Speed. Moment mal …

»Hey, Bursche … warte … nein. Da nicht. Okay, leck ruhig, aber spring mich nicht an. Wie heißt du denn? Hast du Angst? Ja … ich auch.«

Mir fällt sein Name nicht ein.

Ich bin wieder da … war ich lange weg? Hier ist ein Hund. Duckt sich unter meinem Mantel in meine Achselhöhle.

Habe ich dir schon von ihm erzählt? Mir fällt sein Name nicht mehr ein.

Er zittert, und die Haut unter seinen Augen zuckt. Immer, wenn der Wind heult, springt er auf und knurrt ihn an.

Ich kann mich nur verschwommen erinnern. Grover und ich redeten, er flog, machte wohl eine Rechtskurve, auf dem Instrumentenbrett leuchteten eine ganze Menge blauer und grüner Lichter, unter uns war es schwarz, kein einziges Licht im Umkreis von hundert Kilometern, und … da war eine Frau. Wollte nach Hause zu ihrem Verlobten und ihrer Hochzeit. Ich seh mal nach.

Ich habe sie gefunden. Bewusstlos. Erhöhter Puls. Augen zugeschwollen. Geweitete Pupillen. Wahrscheinlich Gehirnerschütterung. Mehrere Schnittwunden im Gesicht. Ein paar müssen genäht werden. Rechte Schulter ausgekugelt und linker Oberschenkel gebrochen. Hat die Haut nicht durchspießt, aber ihr Bein steht schief ab, und ihre Hose ist straff gespannt. Ich muss es richten … sobald ich wieder Luft kriege.

Es wird kälter. Vermutlich hat uns das Sturmtief doch noch erwischt. Wenn ich uns nicht irgendwie eingemummelt kriege, erfrieren wir, bevor es hell wird. Um das Bein kümmere ich mich morgen.

Rachel … Ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit wir haben und ob wir hier je wieder rauskommen … aber … ich nehme alles zurück. Ich hatte unrecht. Ich war wütend. Ich hätte so was nie sagen dürfen. Du hast an uns gedacht. Nicht an dich. Das wird mir jetzt klar.

Du hattest recht. Die ganze Zeit. Es gibt immer eine Chance.

Immer.

1

FLUGHAFEN SALT LAKE CITY
ZWÖLF STUNDEN ZUVOR

Die Aussichten waren trüb. Grauer, trister Januar. Auf dem Fernsehschirm hinter mir sagte ein Mann, der in einem Studio in New York saß, etwas von »Flugbetrieb eingestellt«. Ich lehnte die Stirn an die Scheibe. Auf dem Rollfeld lenkten Männer in gelben Schutzanzügen Gepäckzüge in Schlangenlinien um Flugzeuge herum und ließen Wolken von Auspuffgasen zurück, in denen Schneeflocken wirbelten. Neben mir saß ein müder Pilot auf seinem verwitterten Lederkoffer, die Mütze in der Hand – und hoffte auf die letzte Gelegenheit, nach Hause zu kommen und die Nacht im eigenen Bett zu verbringen.

Im Westen verhüllten Wolken die Startbahn; die Sicht war nahe null, aber das änderte sich durch den Wind ständig. Hoffnungsfenster. Der Flughafen von Salt Lake City ist von Bergen umgeben. Im Osten ragten schneebedeckte Berge über die Wolken. Berge hatten mich schon lange gereizt. Einen Moment lang fragte ich mich, was wohl hinter ihnen liegen mochte.

Mein Abflug war planmäßig für 18:07 Uhr angesetzt gewesen, aber angesichts der Verspätungen sah es allmählich so aus, als ob es ein Nachtflug werden sollte. Wenn überhaupt. Verärgert über die blinkende »Delayed«-Anzeige, ging ich in eine Ecke und setzte mich auf den Boden. Ich breitete Patientenakten auf meinem Schoß aus und begann, meine Berichte, Diagnosen und Verordnungen in ein digitales Diktiergerät zu sprechen. Patienten, die ich in der Woche vor meiner Abreise untersucht hatte. Ich behandelte zwar auch Erwachsene, aber die meisten Akten auf meinem Schoß betrafen Kinder. Vor Jahren hatte meine Frau Rachel mich überzeugt, mich auf Sportmedizin für Kinder zu spezialisieren. Sie hatte recht gehabt. Ich hasste es, sie hereinhumpeln zu sehen, liebte es aber, wenn sie wieder hinausliefen.

Da ich noch einiges an Arbeit zu erledigen hatte und das Batteriezeichen an meinem Diktiergerät rot blinkte, ging ich in den Terminalshop und stellte fest, dass es dort zwei AA-Batterien für vier Dollar gab oder zwölf für sieben Dollar. Ich gab der Kassiererin sieben Dollar, wechselte die Batterien in dem Aufnahmegerät und packte die restlichen zehn in meinen Rucksack.

Ich war auf der Heimreise von einer Fachtagung in Colorado Springs. Man hatte mich gebeten, an einer Podiumsdiskussion über »Die Schnittstellen von Kinderorthopädie und Notfallmedizin« teilzunehmen. Wir sprachen über Verfahrensweisen in der Notaufnahme und den speziellen Umgang mit verängstigten Kindern. Der Tagungsort war reizvoll, die Veranstaltung deckte gleich mehrere der vorgeschriebenen Fortbildungsveranstaltungen ab und bot mir vor allem einen Vorwand, vier Tage in den Collegiate Peaks bei Buena Vista in Colorado Bergtouren zu unternehmen. Es war eine Geschäftsreise, die eigentlich meine Bergsteigesucht befriedigte. Viele Ärzte kaufen sich einen Porsche, ein riesiges Haus und die Mitgliedschaft in einem Country Club, von der sie selten Gebrauch machen. Ich laufe Langstrecken am Strand und gehe auf Bergtour, wann immer es geht.

Eine Woche war ich nun fort gewesen.

Meine Rückreise führte von Colorado Springs nach Salt Lake City, wo ich Anschluss an einen Direktflug nach Hause haben sollte. Flugreisen setzen mich immer wieder in Erstaunen: nach Westen zu fliegen, um nach Osten zu kommen!

Die Menge im Flughafen hatte sich gelichtet. An einem Samstag um diese Zeit waren die meisten zu Hause. Wer noch am Flughafen war, wartete entweder am Gate oder an der Bar bei einem Bier, einer Schüssel Nachos oder scharfen Chicken Wings.

Ihr Gang erregte meine Aufmerksamkeit. Lange, schlanke Beine; zielstrebiger Schritt, aber anmutig und rhythmisch. Sie fühlte sich wohl in ihrer Haut, wirkte selbstbewusst. Sie war vielleicht 1,75m oder 1,77m groß, dunkelhaarig und attraktiv, sah aber nicht eingebildet aus. Vielleicht dreißig. Kurze Haare. Typ Winona Ryder in Durchgeknallt. Oder Julia Ormond in Harrison Fords Remake von Sabrina. Nicht übertrieben aufgedonnert, aber in Manhattan fand man diesen Stil allenthalben bei Frauen, die eine Menge Geld ausgaben, um so auszusehen. Ich vermutete, dass sie sehr wenig dafür bezahlt hatte. Aber vielleicht hatte sie auch sehr viel dafür ausgegeben, damit es so aussah, als hätte sie wenig bezahlt.

Sie kam näher, ließ den Blick über die Menge im Terminal schweifen und suchte sich einen Platz drei, vier Meter von mir entfernt. Ich musterte sie aus den Augenwinkeln. Dunkler Hosenanzug, Aktenkoffer aus Leder und eine Reisetasche. Anscheinend war sie auf dem Heimflug von einer zweitägigen Geschäftsreise. Sie stellte ihr Gepäck ab, zog sich Nike-Turnschuhe an, warf einen Blick durch das Terminal, setzte sich auf den Boden und machte Stretching-Übungen. Da sie nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit Brust und Bauch ihre Oberschenkel und den Boden zwischen ihren Beinen berühren konnte, nahm ich an, dass sie das schon mal gemacht hatte. Ihre Beine waren muskulös wie die einer Aerobic-Trainerin. Nach ein paar Minuten Stretching holte sie einige gelbe Schnellhefter aus ihrem Aktenkoffer, blätterte handgeschriebene Notizen durch und fing an, auf ihrem Laptop zu tippen. Ihre Finger waren schnell wie Kolibris.

Nach einer Weile piepte ihr Computer. Stirnrunzelnd schob sie ihren Stift zwischen die Zähne und schaute sich suchend nach einer Steckdose in der Wand um. Eine Hälfte der Doppelsteckdose benutzte ich. Sie hielt das freie Ende ihres Netzkabels hoch.

»Darf ich die mitbenutzen?«

»Sicher.«

Sie schob den Stecker in die Dose und saß mit gekreuzten Beinen auf dem Boden, den Computer auf dem Schoß und ihre Akten um sich ausgebreitet. Ich machte mit meinen Akten weiter.

»Orthopädische Nachuntersuchung vom …« Ich schaute auf meinem Kalender das Datum nach, »23. Januar. Hier spricht Dr. Ben Payne. Name der Patientin: Rebecca Peterson, Kenndaten folgen. Geburtsdatum: 6.7.95, Aktenzeichen BMC2453, weiß, weiblich, Star in ihrem Fußballteam, rechter Stürmer, Torschützenkönigin in Florida, von Mannschaften im ganzen Land umworben, zuletzt hatte sie vierzehn Erstliga-Angebote; OP vor drei Wochen, Post-OP normal ohne Komplikationen, anschließend intensive Physiotherapie; zeigt volle Beweglichkeit, Beugetest 127 Grad, Krafttest zeigt deutliche Verbesserung, Beweglichkeit ebenfalls. Sie ist so gut wie neu oder sogar besser, wie sie selbst sagt. Nach Rebeccas Angaben ist sie bei Bewegung schmerzfrei, sie kann alle Aktivitäten wieder aufnehmen … bis aufs Skateboardfahren. Sie soll die Finger von Skateboards lassen, bis sie mindestens fünfunddreißig ist.«

Ich wandte mich der nächsten Akte zu. »Orthopädische Erstuntersuchung vom 23. Januar. Hier spricht Dr. Ben Payne.«

Ich sage jedes Mal das Gleiche, weil in der elektronischen Welt, in der wir leben, jede Aufnahme für sich steht und identifizierbar sein muss, falls etwas verloren geht.

»Name des Patienten: Rasheed Smith, Kenndaten folgen. Geburtsdatum: 19.2.79, Aktenzeichen BMC17437, schwarz, männlich, hat als Verteidiger bei den Jacksonville Jaguars angefangen und ist einer der schnellsten Menschen, denen ich je begegnet bin. MRT bestätigt keinen Kreuz- oder Innenbandriss, empfehle intensive Physiotherapie. Außerdem soll er sich vom YMCA-Basketballfeld fernhalten, bis er seine Profikarriere im Football aufgibt. Beweglichkeit durch Schmerzen eingeschränkt, aber das müsste bei Therapie während der Saisonpause nachlassen. Mit nachlassenden Schmerzen kann eingeschränktes Kraft- und Lauftraining aufgenommen werden. Machen Sie einen Termin zur Nachuntersuchung in zwei Wochen und rufen Sie den YMCA an, damit sie seine Mitgliedschaft kündigen.«

Ich schob die Akten wieder in meinen Rucksack und bemerkte, dass sie lachte.

»Sind Sie Arzt?«

»Chirurg.« Ich hielt die Schnellhefter hoch. »Patienten der vergangenen Woche.«

»Sie lernen Ihre Patienten wohl sehr gut kennen, was?« Sie zuckte die Achseln. »Entschuldigung, ich konnte nicht umhin, mitzuhören.«

Ich nickte. »Das hat meine Frau mir beigebracht.«

»Was?«

»Dass Menschen mehr sind als die Summe aus Blutdruck und Puls, geteilt durch den Body-Mass-Index.«

Wieder lachte sie. »Sie sind ein Arzt nach meinem Geschmack.«

Ich deutete mit dem Kopf auf ihre Akten. »Und Sie?«

»Kolumnistin.« Sie wedelte mit der Hand über die Papiere auf ihrem Schoß. »Ich schreibe für verschiedene Frauenzeitschriften.«

»Über welche Themen?«

»Mode, Trends, viel Humor oder Satire, ein bisschen über Beziehungen, aber ich bin keine Tratschtante und schreibe keine Klatschgeschichten.«

»Ich könnte nicht mal beschreiben, wie man aus einer nassen Papiertüte herauskommt. Wie viele Kolumnen machen Sie im Jahr?«

Sie wiegte den Kopf. »Vierzig, vielleicht fünfzig.« Mit einem Seitenblick auf mein Diktiergerät sagte sie: »Die meisten Ärzte, die ich kenne, hassen diese Dinger.«

Ich drehte das Gerät in meiner Hand. »Ich habe es fast immer dabei.«

»Wie einen Klotz am Bein?«

Ich lachte. »So ungefähr.«

»Haben Sie lange gebraucht, sich daran zu gewöhnen?«

»Es ist mir ans Herz gewachsen. Mittlerweile könnte ich gar nicht mehr ohne leben.«

»Das klingt, als ob da eine Geschichte dahintersteckt.«

»Rachel … meine Frau, hat es mir geschenkt. Ich musste damals unseren Umzugslaster nach Jacksonville fahren. Wir zogen wieder zurück in unsere Heimat. Ich fing im Krankenhaus an. Sie hatte Angst vor den Dienstplänen. Dass sie als Arzt-Strohwitwe mit einer Riesendose Häagen-Dazs-Eis auf dem Sofa sitzen und den Bibelsender gucken würde … Das hier … war eine Möglichkeit, die Stimme des anderen zu hören, zusammen zu sein, die Kleinigkeiten nicht zu verpassen … zwischen OPs, Visiten und dem Piepser um zwei Uhr nachts. Sie behielt das Gerät einen Tag oder so und erzählte, was ihr durch den Kopf ging … oder auf dem Herzen lag, und gab es mir. Dann behielt ich es einen oder zwei Tage und gab es ihr wieder.«

»Würde ein Handy nicht den gleichen Zweck erfüllen?«

Ich zuckte die Achseln. »Das ist anders. Probieren Sie es mal, dann werden Sie schon sehen, was ich meine.«

»Wie lange sind Sie verheiratet?«

»Wir haben … in dieser Woche vor fünfzehn Jahren geheiratet.« Ich warf einen Blick auf ihre Hand. Ein einzelner Diamant schmückte ihre Linke. Ein Ehering fehlte. »Steht Ihre kurz bevor?«

Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Ich versuche, rechtzeitig zur Hochzeitsprobe morgen nach Hause zu kommen.«

»Glückwunsch.«

Sie schüttelte den Kopf und schaute über die Menge hinweg. »Ich habe noch so viel zu erledigen, und da sitze ich hier und mache Notizen zu einer Story über einen angesagten Modetrend, den ich nicht mal mag.«

Ich nickte. »Sie schreiben bestimmt gut.«

Achselzucken. »Sie behalten mich. Ich habe gehört, dass es Leute gibt, die diese Zeitschriften nur kaufen, um meine Kolumnen zu lesen, aber getroffen habe ich noch niemanden.« Ihr Charme war unwiderstehlich. »Wohnen Sie noch in Jacksonville?«, fragte sie.

»Ja. Und Sie?«

»Atlanta.« Sie reichte mir ihre Visitenkarte. Ashley Knox.

»Ashley.«

»Für alle bis auf meinen Dad, er nennt mich Asher. Er wollte einen Jungen und war wütend auf meine Mom, als ich mit der falschen oder fehlenden Ausstattung auf die Welt kam, also hat er nur die Endung des Namens geändert. Statt zum Ballett und zum Softball hat er mich zum Taekwondo geschleppt.«

»Lassen Sie mich raten … Sie gehören zu diesen Verrückten, die anderen Leuten Zeug vom Kopf treten können.«

Sie nickte.

»Das erklärt wohl auch das Stretching mit der Brust bis zum Boden und so.«

Wieder nickte sie, als hätte sie es nicht nötig, mir zu imponieren.

»Welcher Grad?«

Sie hielt drei Finger hoch.

»Vor ein paar Wochen habe ich einem Mann das Schienbein mit ein paar Stangen und Schrauben zusammengeflickt.«

»Was ist ihm denn passiert?«

»Er hat seinen Gegner getreten, aber der hat ihn mit dem Ellbogen blockiert. Das Schienbein hat nachgegeben und sich praktisch falsch herum zusammengefaltet.«

»So etwas habe ich auch schon gesehen.«

»Das klingt, als hätte man Sie auch schon unter dem Messer gehabt.«

»Als Teenager und so bis Anfang zwanzig habe ich viele Wettkämpfe mitgemacht. Bundesmeisterschaften. Für mehrere Bundesstaaten. Ich habe meinen Teil an Knochen- und Gelenkbrüchen hinter mir. Es gab Zeiten, da hatte ich die Nummer meines Orthopäden in Atlanta im Kurzwahlspeicher. Und diese Reise jetzt, ist die beruflich oder zum Spaß oder beides?«

»Ich komme von einer medizinischen Fachtagung, wo ich an einer Podiumsdiskussion teilgenommen habe, und …« Ich grinste, »nebenbei bin ich ein bisschen geklettert.«

»Geklettert?«

»In den Bergen.«

»Damit verbringen Sie Ihre Zeit, wenn Sie gerade keine Leute aufschneiden?«

Ich lachte. »Ich habe zwei Hobbys. Eins ist Laufen … so habe ich Rachel kennengelernt. Das hat schon auf der Highschool angefangen. Schwer, sich das abzugewöhnen. Als wir wieder nach Hause gezogen sind, haben wir uns eine Wohnung am Strand gekauft, damit wir Ebbe und Flut hinterherjagen konnten. Das zweite Hobby ist Bergsteigen. Damit haben wir angefangen, als wir in Denver Medizin studiert haben. Also, ich habe studiert, sie hat mich bei Verstand gehalten. Jedenfalls gibt es in Colorado vierundfünfzig Gipfel, die über viertausend Meter hoch sind. Die Einheimischen nennen sie ›Viertausender‹. Die Leute, die alle bestiegen haben, sind eine Art inoffizieller Club. Wir haben während des Studiums angefangen, sie abzuarbeiten.«

»Und wie viele haben Sie schon geschafft?«

»Zwanzig. Gerade ist der Mt. Princeton dazugekommen. 4327 Meter. Er gehört zu den Collegiate Peaks.«

»Wie lange braucht man dafür?«

»Normalerweise einen Tag oder weniger, aber in diesem Jahr waren die Bedingungen ein bisschen …« Ich wiegte den Kopf, »härter.«

Sie lachte. »Braucht man da Sauerstoff?«

»Nein, aber es hilft, sich zu akklimatisieren.«

»Lag da oben Schnee und Eis?«

»Ja.«

»Und war es bitterkalt, hat’s geschneit und gestürmt wie verrückt?«

»Ich wette, Sie sind eine gute Journalistin.«

»Also … war es so?«

»Manchmal.«

»Haben Sie es rauf und runter geschafft, ohne zu sterben?«

Nun musste ich lachen. »Offensichtlich.«

Sie zog eine Augenbraue hoch. »So, zu der Sorte gehören Sie also.«

»Zu welcher Sorte?«

»Zum ›Mensch-gegen-die-Wildnis-Typ‹.«

Ich schüttelte den Kopf. »Freizeitkämpfer. Auf Meereshöhe fühle ich mich am heimischsten.«

Sie musterte die Reihen der Wartenden. »Ihre Frau ist nicht mit?«

»Dieses Mal nicht.«

Mein Magen knurrte. Der Duft von der California Pizza Kitchen wehte durch das Terminal. Ich stand auf. »Würden Sie mal auf meine Sachen aufpassen?«

»Klar.«

»Bin gleich wieder da.«

Als ich mit einem Salat Caesar und einer tellergroßen Peperoni-Pizza zurückkam, knisterte der Lautsprecher.

»Leute, wenn wir zügig einladen, schaffen wir es vielleicht noch vor dem Sturm. Wir sind nicht allzu viele, also, alle Passagiere aller Zonen bitte an Bord für Flug 1672 nach Atlanta.«

An den acht Gates um mich herum stand VERSPÄTUNG. Auf den Stühlen und an den Wänden waren frustrierte Mienen zu sehen. Eine Mutter und ein Vater rannten durch das Terminal und brüllten über die Schultern hinweg ihren beiden Jungen etwas zu, die Star-Wars-Koffer und Plastiksäbel mit Beleuchtung schleppten.

Ich nahm meinen Rucksack und mein Essen und folgte den sieben anderen Passagieren, einschließlich Ashley, zum Flugzeug. Sobald ich meinen Sitzplatz gefunden hatte, schnallte ich mich an, die Flugbegleiter hakten ihre Liste ab, und wir rollten rückwärts. Ich hatte noch nie erlebt, dass ein Flugzeug so schnell beladen wurde.

Die Maschine blieb stehen, und der Pilot sagte über die Lautsprecheranlage: »Leute, wir stehen in der Warteschlange für die Enteisung, wenn wir sie hier rüberholen können, schaffen wir es vielleicht noch vor dem Sturm. Übrigens, vorne ist jede Menge Platz. Wenn Sie nicht in der ersten Klasse sitzen, sind Sie selbst schuld. Wir haben Platz für alle.«

Alle setzten sich in Bewegung.

Der einzige freie Platz war neben Ashley. Sie schaute auf und lächelte, während sie sich anschnallte. »Glauben Sie, wir kommen hier weg?«

Ich schaute aus dem Fenster. »Ich bezweifle es.«

»Pessimist, was?«

»Ich bin Arzt. Das macht mich zum Optimisten mit realistischer Einschätzung.«

»Gute Einstellung.«

Eine halbe Stunde saßen wir da, während die Flugbegleiterinnen uns alles servierten, was wir bestellten. Ich trank einen scharfen Tomatensaft, Ashley einen Cabernet.

Wieder meldete sich der Pilot. Ich fand seinen Ton nicht gerade ermutigend. »Leute … wie Sie alle wissen, haben wir versucht, es vor dem Sturm zu schaffen.«

Mir fiel die Vergangenheitsform auf.

»Der Tower sagt, uns bleibt noch ein Zeitfenster von einer Stunde, bevor der Sturm hier ist …«

Alle seufzten kollektiv. Vielleicht gab es ja noch Hoffnung.

»Aber die Ground-Crew hat mich gerade informiert, dass einer der beiden Enteisungswagen ausgefallen ist. Das heißt, dass ein Wagen versucht, alle Maschinen auf der Startbahn zu bedienen, und wir sind an zwanzigster Stelle in der Schlange. Um’s kurz zu machen, wir kommen heute Abend nicht mehr hier weg.«

Ein Stöhnen ging durch das Flugzeug.

Ashley löste kopfschüttelnd den Sicherheitsgurt. »Das ist ja wohl ein Witz.«

Links neben mir knurrte ein dicker Mann: »Verd…«

Der Pilot erklärte: »Unser Personal nimmt Sie am Ende des Gates in Empfang. Wenn Sie einen Hotel-Voucher möchten, wenden Sie sich bitte an Mark, das ist der in der roten Jacke und der Schutzweste. Nachdem Sie Ihr Gepäck abgeholt haben, bringt unser Shuttle Sie zum Hotel. Leute, es tut mir wirklich leid.«

Wir gingen zurück ins Terminal und schauten zu, wie sich ein DELAYED nach dem anderen in CANCELLED verwandelte.

»Das sieht nicht gut aus«, sagte ich, und sprach allen im Terminal aus der Seele.

Ich trat an den Schalter. Die Angestellte starrte auf einen Computermonitor und schüttelte den Kopf. Bevor ich noch den Mund aufmachen konnte, wandte sie sich dem Fernseher zu, auf dem der Wetterkanal eingeschaltet war. »Tut mir leid, ich kann nichts für Sie tun.«

Über meiner Schulter bewegte sich auf vier Bildschirmen ein riesiger grüner Fleck von Washington, Oregon und Nordkalifornien nach Ostsüdost. Das Nachrichtenband am unteren Bildschirmrand sagte Schnee, Eis, zweistellige Minustemperaturen und noch eisigere gefühlte Kälte voraus. Ein Pärchen links neben mir küsste sich leidenschaftlich. Strahlend. Eine unvorhergesehene Urlaubsverlängerung.

Mark fing an, Hotel-Voucher zu verteilen und die Leute zum Gepäckband zu drängen. Ich hatte mein Handgepäck – einen Tagesrucksack, der mir gleichzeitig als Aktentasche diente – und eine Reisetasche im Bauch des Flugzeugs. Wir mussten also alle zum Gepäckband, ob es uns gefiel oder nicht.

Auf dem Weg dorthin verlor ich Ashley aus den Augen, als sie an einem Laden mit Biosnacks stehen blieb. Ich suchte mir einen Platz in der Nähe des Fließbands und schaute mich um. Durch die Glastüren sah ich in gut einem Kilometer Entfernung das Leuchtfeuer eines Privatflugplatzes. Auf der Seitenwand des nächst gelegenen Hangars stand in riesigen Lettern: CHARTERFLÜGE.

In einem der Hangars brannte Licht. Meine Tasche tauchte auf. Ich hängte sie mir über die freie Schulter und prallte mit Ashley zusammen, die auf ihr Gepäck wartete. Sie beäugte meine Tasche.

»Das war wohl kein Witz, als Sie gesagt haben, dass Sie nebenher ein bisschen geklettert sind. Sieht aus, als wollten Sie auf den Everest. Brauchen Sie das wirklich alles?«

Meine Tasche ist ein verblichener orangefarbener 70-Liter-Rucksack von Osprey und hat schon einige Kilometer auf dem Buckel. Ich benutze ihn als Reisetasche, weil das geht, aber die besten Dienste erweist er mir beim Wandern, denn er sitzt wie angegossen. Im Augenblick enthielt er meine Wäsche zum Wechseln und die Schlechtwetterausrüstung für meine Bergtouren in den Collegiate Peaks. Schlafsack, Isomatte, Jetboil-Gaskocher – das wohl meistunterschätzte und wertvollste Stück meiner gesamten Ausrüstung –, zwei Trinkflaschen, ein paar Schaumstoffmatten und noch diverse Kleinigkeiten, die mir halfen, einigermaßen bequem zu überleben, wenn ich in über 3000 Meter Höhe übernachtete. Außerdem hatte ich einen dunkelblauen Nadelstreifenanzug, eine schicke blaue Krawatte, die Rachel mir geschenkt hatte, und ein Paar elegante Schuhe eingepackt, die dringend eine Schuhbürste brauchten, obwohl ich sie nur einmal bei der Podiumsdiskussion getragen hatte.

»Ich kenne meine Grenzen, und für den Everest bin ich nicht geschaffen. Oberhalb von 4500 Metern geht es mir ziemlich schlecht. Darunter geht’s mir gut. Das hier« – ich hob den Rucksack an – »ist nur das Notwendigste. Gut, wenn man das bei sich hat.«

Sie entdeckte ihre Reisetasche, wandte sich ab, um sie vom Band zu nehmen, und drehte sich mit schmerzlicher Miene wieder zu mir. Ihr wurde wohl gerade bewusst, dass sie ihre Hochzeit verpassen würde. Sie reichte mir die Hand. Ihr Händedruck war fest, aber herzlich. »War nett, Sie kennenzulernen. Ich hoffe, Sie schaffen es nach Hause.«

»Ja, Sie …«

Sie hörte mich nicht mehr. Sie hatte sich schon umgedreht, hängte sich ihre Reisetasche über die Schulter und ging zum Taxistand, wo hundert Leute Schlange standen.

2

Ich ging mit meinem Gepäck nach draußen und winkte den Shuttlebus des Flughafens heran. Normalerweise brachte er Passagiere von einem Terminal zum anderen oder zum Privatflugplatz, aber da niemand den Flughafen verlassen wollte, war er leer. Der Fahrer trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad.

Ich steckte den Kopf durch das Beifahrerfenster. »Könnten Sie mich zum Privatflugplatz bringen?«

»Steigen Sie ein. Ich hab gerade nichts Besseres zu tun.«

Als wir vor dem Hangar hielten, fragte er: »Soll ich warten?«

»Ja, bitte.«

Er blieb bei laufendem Motor in dem Kleinbus sitzen, während ich ausstieg. Ich schlug meinen Kragen hoch und schob die Hände in meine Achselhöhlen. Der Himmel war klar, aber der Wind frischte auf, und die Temperatur fiel.

Im Hangar brannte rotglühend ein Heizgerät. Ein weißhaariger Mann stand neben einem von drei Flugzeugen, einer kleinen einmotorigen Maschine. Auf dem Rumpf stand Grover’s Charter, darunter: »Charterflüge an einsame Angel- und Jagdplätze«, und auf dem Leitwerk die Kennung 138GB.

Er hatte mir den Rücken zugewandt und zielte mit einem Compound-Bogen auf eine Scheibe an der hinteren Wand des Hangars. Knapp vierzig Meter entfernt. Als ich hineinkam, schoss er gerade einen Pfeil ab, der zischend durch die Luft sauste. Er trug eine verblichene Jeans und ein Hemd mit Druckknöpfen und aufgekrempelten Ärmeln. Hinten auf seinem Ledergürtel stand Grover. In einem Holster an seiner Hüfte steckte ein Outdoor-Multifunktionswerkzeug. Die Absätze seiner Stiefel waren schief gelaufen, was ihn O-beinig wirken ließ. Neben ihm stand ein Jack-Russel-Terrier, schnüffelte in die Luft und musterte mich von oben bis unten.

Ich winkte dem Mann zu. »Hi.«

Er ließ den Bogen sinken, drehte sich um und hob eine Augenbraue. Er war groß, sah gut aus und hatte ein markantes Kinn. »Hallo. Sind Sie George?«

»Nein. Nicht George. Ich heiße Ben.«

Er hob den Bogen und wandte sich wieder der Zielscheibe zu. »Schade.«

»Wieso?«

Die Bogensehne erreichte ihren maximalen Auszug, und während er die Scheibe anvisierte, sagte er: »Zwei Männer ­haben mich engagiert, sie in die San Juans zu fliegen. Ich soll sie unten bei Ouray absetzen.« Er schoss den Pfeil ab, der zischend davon schnellte. »Einer von ihnen heißt George. Ich dachte, das wären vielleicht Sie.« Er legte einen weiteren Pfeil ein.

Ich stellte mich neben ihn und musterte die Zielscheibe. Rund um das schwarze Scheibenzentrum ließen Spuren erkennen, dass er schon geraume Zeit mit Bogenschießen verbracht hatte. »Sieht aus, als ob Sie ein Anfänger wären«, sagte ich grinsend.

Lachend spannte er die Sehne ein drittes Mal, atmete halb aus und sagte: »Das mache ich, wenn ich auf Kunden warte und mir langweilig ist.« Er ließ den Pfeil ab, der dicht neben den beiden ersten ins Ziel ging. Dann legte er den Bogen auf den Sitz im Flugzeug. Wir gingen gemeinsam zur Zielscheibe.

Er zog die Pfeile heraus. »Manche setzen sich zur Ruhe und machen nichts anderes, als hinter einem kleinen Ball voller Dellen herzujagen und mit einem teuren Metallstück drauf einzudreschen, bis die weiße Oberfläche abspringt.« Er grinste. »Ich fische und jage.«

Ich musterte sein Flugzeug. »Könnte ich Sie vielleicht überreden, mich heute Abend noch hier rauszufliegen?«

Er senkte das Kinn und hob eine Augenbraue. »Sind Sie auf der Flucht?«

Grinsend schüttelte ich den Kopf. »Nein. Ich will nur vor dem Sturm noch nach Hause kommen.«

Er warf einen Blick auf die Uhr. »Ich wollte gerade schließen und selbst nach Hause gehen, um zu meiner Frau ins Bett zu kriechen.« Er bemerkte meinen Ehering. »Ich könnte mir denken, das würden Sie auch gern tun.« Sein breites Grinsen ließ seine weißen Zähne sehen. »Allerdings nicht zu meiner Frau.« Er lachte unbekümmert, was etwas ungemein Beruhigendes hatte.

»Ja, allerdings.«

Er nickte. »Wo sind Sie zu Hause?«

»In Florida. Ich dachte, wenn ich es schaffe, dem Sturm zuvorzukommen, kriege ich vielleicht in Denver noch einen Nachtflug. Oder vielleicht den ersten Flug morgen früh.« Ich stockte. »Wäre es drin, dass ich Sie engagiere, mich an irgendeinen Flugplatz östlich der Rockies zu fliegen?«

»Warum die Eile?«

»Ich habe in …«, ich schaute auf meine Uhr, »dreizehn Stunden und dreiundvierzig Minuten eine Knie- und zwei Hüftoperationen.«

Grover lachte. Er zog einen Lappen aus der hinteren Hosentasche und verrieb das Fett auf seinen Fingern. »Dann dürfte es Ihnen morgen Abend wohl nicht sonderlich gut gehen.«

Ich lachte. »Ich operiere. Ich bin Chirurg.«

Er warf einen Blick durch die offene Hangartür in Richtung Flugplatz. »Die großen Vögel fliegen heute Abend nicht?«

»Annulliert. Einer der beiden Enteisungswagen ist kaputt.«

»Das passiert oft. Ich glaube, da stecken die Gewerkschaften hinter. Wissen Sie … Operationen lassen sich verschieben.« Er kaute auf seiner Unterlippe. »Habe ich schon ein paar Mal gemacht.« Er tippte sich auf die Brust. »Schritt­macher.«

»Ich bin seit einer Woche weg. Medizinische Tagung. Ich muss irgendwie zurück … Am Geld soll’s nicht liegen.«

Er stopfte den Lappen in seine Hosentasche und steckte die Pfeile in den Köcher, der seitlich an seinem Bogen hing. Dann schob er den Bogen in ein mit Schaumstoff ausgekleidetes Fach hinter dem Rücksitz im Flugzeug und machte die Klettverschlüsse zu. Neben dem Bogen ragten drei Röhren nach hinten in den Rumpf des Flugzeugs. Er klopfte auf die Enden. »Fliegenruten.«

Neben den Angelruten war etwas befestigt, was einen hölzernen Stiel hatte. »Was ist das?«

»Eine Axt. Ich fliege an einsame Orte. Mit dem, was ich an Bord habe, kann ich fast alles machen.« Er klopfte auf einen Packbeutel unter dem Sitz, in dem ein Schlafsack steckte. »Wo ich hinfliege, zahlt es sich aus, wenn man sich selbst versorgen kann.«

Hinter dem Sitz hing eine Weste mit Fliegen, einer kleinen Schere und einem Netz, das am Kragen befestigt war. Er deutete mit der Hand über die Ausrüstung. »Durch meine Kunden komme ich an herrliche Plätze. Allein könnte ich es mir gar nicht leisten, dahin zu fliegen. Also nehme ich sie als Vorwand, zu tun, was mir Spaß macht. Manchmal kommt meine Frau sogar mit.« Er wirkte wie Anfang siebzig mit dem Körper eines Fünfzigjährigen und dem Herzen eines Teenagers.

»Gehört das Flugzeug Ihnen?«

»Ja. Eine ACA Scout.«

»Sieht ganz ähnlich aus wie das Flugzeug von Steve ­Fossett.«

»Ziemlich ähnlich. Der Motor ist ein Lycoming 0360 mit 180 PS. Höchstgeschwindigkeit 225 Stundenkilometer bei Vollgas.«

Ich runzelte die Stirn. »Das ist nicht sonderlich schnell.«

»Auf Geschwindigkeit kommt’s mir schon lange nicht mehr an.« Er legte die Hand auf den dreiblättrigen Propeller. »Sie kann bei sechzig Stundenkilometern landen. Das heißt, ich kann sie auf einer Fläche runterbringen, die nicht größer ist als dieser Hangar.«

Der Hangar war gut zwanzig Meter breit und vierzig Meter lang.

»Und das heißt, ich komme an ziemlich einsame Plätze zum Jagen und Fischen. Und das macht mich bei meinen Kunden ziemlich beliebt.« Er grinste, saugte die Luft zwischen den Zähnen ein, schaute auf die Uhr und rechnete. »Selbst wenn ich Sie nach Denver bringe, kommen Sie von da heute Abend vielleicht nicht mehr weiter.«

»Das Risiko gehe ich ein. Die Leute am Schalter sagen, der Sturm könnte genug Schnee bringen, dass heute und morgen hier alles am Boden bleiben muss.«

Er nickte. »Wird aber nicht billig.«

»Wie viel?«

»Hundertfünfzig die Stunde. Und Sie müssen mir Hin- und Rückflug bezahlen. Das kostet Sie um die neunhundert Dollar.«

»Nehmen Sie auch Kreditkarten?«

Er sog wieder die Luft zwischen den Zähnen ein, kniff ein Auge zu und musterte mich eingehend. Als ob er mit sich selbst diskutierte. Schließlich nickte er, grinste schief und reichte mir die Hand. »Grover Roosevelt.«

Ich schüttelte seine Hand. Sie war schwielig und fest. »Verwandt mit dem ehemaligen Präsidenten?«

»Entfernt. Aber sie wollen nichts von mir.«

»Ben Payne.«

»Tragen Sie wirklich einen weißen Kittel mit einem Namensschild, auf dem Dr. Payne steht?«

»Ja.«

»Und Patienten bezahlen Sie, damit Sie sie behandeln?«

Ich reichte ihm meine Visitenkarte. »Manche bekomme ich sogar unters Messer.« Unten auf der Karte stand:

Know Pain? No Payne.

Know Payne? No Pain.

Er tippte auf die Karte. »Jesus könnte sauer werden, weil Sie ihm seinen Slogan geklaut haben.«

»Na ja, bis jetzt hat er mich noch nicht verklagt.«

»Haben Sie Jesus operiert?«

»Nicht dass ich wüsste.«

Grinsend zog er eine Pfeife aus seiner Hemdtasche, stopfte sie und holte ein Benzinfeuerzeug aus der Hosentasche. Er klappte den Deckel auf und zog an der Pfeife, bis er die Flamme in den Tabak saugte. Als die Mitte rot glühte, klappte er das Feuerzeug zu und steckte es wieder ein. »Orthopäde, was?«

»Ja, und Notfallmediziner. Beides geht oft Hand in Hand.«

Er schob die Hände in die Hosentaschen. »Lassen Sie mir eine Viertelstunde Zeit. Muss meine Frau anrufen. Ihr sagen, dass es spät wird, aber dass ich mit ihr ein Steak essen gehe, wenn ich zurückkomme.« Er deutete mit dem Daumen über seine Schulter in Richtung Waschraum. »Außerdem hab ich noch was zu erledigen.« Auf dem Weg zum Telefon sagte er über die Schulter. »Werfen Sie Ihr Gepäck hinten rein.«

»Gibt’s hier drahtloses Internet?«

»Ja. Das Passwort ist Tank

Ich klappte meinen Laptop auf, bekam eine Internetverbindung, loggte mich ein und lud meine E-Mails herunter. Sie enthielten auch sämtliche geschäftlichen und persönlichen Telefonnachrichten, die man mir als Voice-Mail auf mein E-Mail-Konto geschickt hatte. Da ich terminlich stark eingespannt war, hatte ich mir angewöhnt, die meisten Nachrichten per E-Mail zu beantworten. Anschließend schloss ich meinen Rekorder an den Computer an und schickte meine diktierte Datei an unser Schreibbüro und an zwei weitere Server, falls wir ein Backup und eine Sicherheitskopie des Backups brauchen sollten. Nur zur rechtlichen Absicherung. Ich klappte meinen Laptop zu und nahm mir vor, die un­beantworteten E-Mails während des Fluges zu beantworten und nach der Landung automatisch abschicken zu lassen.

Nach ein paar Minuten kam Grover zurück und ging vom Telefon zum Waschraum. Plötzlich fiel mir Ashley Knox ein, die auch versuchte, nach Hause zu kommen.

»Wie viele Passagiere können Sie mitnehmen?«

»Zwei, wenn es Ihnen nichts ausmacht, dicht an dicht zu sitzen.«

Ich warf einen Blick über die Schulter in Richtung Flughafen. »Könnten Sie noch zehn Minuten warten?«

Er nickte. »Ich gehe schon mal die Flugvorbereitungen durch.« Er schaute nach draußen. »Sie müssen sich aber beeilen. Das Zeitfenster wird immer kleiner.«

Mein Freund im Shuttlebus brachte mich zurück an die Gepäckausgabe und bot wieder an, auf mich zu warten, da ich sein einziger Fahrgast war. Ich fand Ashley am Straßenrand, wo sie immer noch auf ein Taxi wartete. Über ihr Jackett hatte sie eine Daunenjacke gezogen.

»Ich habe ein Flugzeug gechartert, das mich nach Denver bringt. Vielleicht schaffen wir es ja, dem Sturm zuvorzukommen. Ich weiß, dass Sie mich gar nicht kennen, aber es ist noch Platz für einen Passagier.«

»Ist das Ihr Ernst?«

»Dürfte kaum länger als zwei Stunden dauern.« Ich streckte beide Hände aus. »Ich weiß, es könnte ein bisschen … ich weiß auch nicht … komisch aussehen. Aber ich habe diesen ganzen Hochzeitstrubel schon hinter mir, und wenn Sie auch nur im Geringsten Ähnlichkeit mit meiner Frau haben, bekommen Sie in den nächsten beiden Tagen nicht viel Schlaf, weil Sie sich darum kümmern müssen, dass jedes Detail perfekt ist. Es ist nur ein durchaus anständiges Angebot unter Akademikerkollegen. Ohne Haken.«

Misstrauen überschattete ihre Miene. »Und Sie wollen wirklich nichts von mir?« Sie musterte mich von oben bis unten und schüttelte den Kopf. »Denn glauben Sie mir, ich habe mich schon gegen Stärkere gewehrt als Sie.«

Ich drehte meinen Ehering am Finger. »Auf der Terrasse meiner Wohnung, wo ich Kaffee trinke und auf das Meer hinausschaue, hat meine Frau drei Schälchen hingestellt, um sämtliche Katzen zu füttern, die ständig auf dem Parkplatz herumlungern. Jetzt trinken sie jeden Morgen mit mir Kaffee. Ich habe ihnen Namen gegeben und mich an ihr Schnurren gewöhnt.«

Zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine Furche. »Wollen Sie etwa sagen, dass ich eine streunende Katze bin?«

»Nein. Ich will nur sagen, dass ich die Katzen gar nicht bemerkt hatte, bis meine Frau mich auf sie aufmerksam machte. Mir die Augen öffnete. Und ich sie zu füttern anfing. Jetzt sehe ich sie fast überall. Es hat sich darauf ausgewirkt, wie ich Menschen sehe. Und das ist gut, weil wir Ärzte dazu neigen, nach einer Weile ein bisschen eingebildet zu werden.« Ich stockte. »Ich möchte einfach nicht, dass Sie Ihre Hochzeit verpassen. Das ist alles.«

Zum ersten Mal fiel mir auf, dass sie herumhopste, als hätte sie kalte Füße.

»Darf ich mich denn an den Kosten beteiligen?«

Ich zuckte die Achseln. »Wenn Sie sich dann besser fühlen – aber Sie sind mir so oder so willkommen.«

Sie starrte unentschlossen auf die Fahrbahn und trat von einem Fuß auf den anderen. »Morgen früh soll ich mit meinen sechs Brautjungfern frühstücken und anschließend ein paar Stunden im Spa verbringen.« Sie schaute auf den Shuttlebus und die Hotellichter in der Ferne. Dann atmete sie tief durch und lächelte. »Heute Abend noch hier wegzukommen wäre … fantastisch.« Sie warf einen Blick zurück in die Abflughalle. »Können Sie drei Minuten warten?«

»Sicher, aber …« Auf dem Fernsehbildschirm hinter uns rückte der grüne Fleck dem Flughafen immer näher.

»Entschuldigung. Zu viel Kaffee. Ich wollte noch bis zum Hotel durchhalten. Aber ich nehme an, die Toiletten sind hier größer als im Flugzeug.«

Ich lachte. »Höchstwahrscheinlich.«