Über das Buch
An einem windigen Herbsttag stürmt Emma auf der Flucht vor den fiesen Clark-Brüdern in ein seltsames kleines Café. Als die rosarote Tür hinter ihr zuschlägt, bimmelt es, und sie sieht sich einer kleinen, zarten Frau gegenüber, die sie neugierig mustert. Was Emma nicht ahnt: Diese Frau heißt Cassandra Carper, und sie ist eine Hexe. In ihrem fabelhaften Café backt sie wunderbare Cupcakes mit der gewissen Prise Magie. Als Emma unbedarft in einen hineinbeißt, entfaltet die Magie ihre Macht, und ein unglaubliches Abenteuer beginnt …
Über die Autorin
Mona Herbst ist eine erfolgreiche Autorin, die unter anderem Namen bereits mehrere preisgekrönte Romane und Jugendbücher verfasst hat. Sie lebt auf dem bayrischen Land, wo sie ihre Liebe zu dicken Büchern und netten Cafés ungestört ausleben kann.
Mona Herbst
Cassandra Carpers
fabelhaftes Café
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Umschlagmotiv und Innenillustrationen: Dagmar Henze
E-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-7331-8
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
In unserer Zeit werden nicht mehr viele Hexenkinder geboren. Das ist traurig, aber wahr. Doch in einer anderen Zeit, vor vielen hundert Jahren, geschah es, dass eine Hexe Zwillingsmädchen zur Welt brachte. Sie hatten beide rotes, lockiges Haar und Sommersprossen. Schon bei ihrer Geburt. Sie glichen einander wie ein Ei dem anderen. Die Hexenmutter nannte die eine Enya, was so viel bedeutet wie „Wasser des Lebens“ und die andere Meraah, „das Meer“. Sie hatte die Namen mit Bedacht gewählt, denn sie hoffte, damit die Bestimmung ihrer Kinder leiten zu können. Dann legte sie die beiden Mädchen in ein Körbchen und wartete. Denn in den ersten vierundzwanzig Stunden entscheidet sich das Schicksal eines Hexenkindes. Es verwandelt sich zum ersten Mal. Die Hexenmutter verbrannte Flechten und Salbei und bereitete eine Tinktur aus Tollkirsche und Seestern. Diese tropfte sie auf die Stelle zwischen den Augen der schlafenden Mädchen. Sie hoffte so sehr, dass sich ihre Kinder in etwas Gutes verwandeln würden. In etwas, das sanft und liebevoll war. Sie hoffte, sie würden sich in Fohlen von Fellponys verwandeln. Auch wenn sie dann keine großen Hexen werden würden. Das hoffte sie so sehr.
Ein Hexenkind verwandelt sich in das, was seiner Seele am nächsten ist. Die Hexenmutter verwandelte sich dann und wann in einen Orca. Sie stürzte sich ins Wasser und teilte mit ihrem mächtigen Körper die Wellen. Orcas sind sanfte Tiere. Aber sie können auch töten. Sie können gefährlich schnell sein, trotz ihrer Größe. Die Hexenmutter wusste, dass sie selbst beide Seelen in ihrer Brust trug: Die Seele eines harmlosen Riesen und die Seele eines Raubtieres.
Sie wiegte die Kinder und sang ihnen vor. Ihre Stimme war leise und rau und mischte sich mit dem Klatschen der Wellen, die Muscheln und Tang an den kleinen Strand unterhalb ihrer Hütte spülten. Sie war so erschöpft, dass sie vom Klang ihrer eigenen Stimme und dem Rauschen des Wassers einschlief.
Als sie erwachte, dämmerte schon der Morgen. Trübes Licht kroch durch die Ritzen ihrer Fensterläden, strich über ihr Gesicht und das Körbchen, in dem ihre beiden Mädchen schliefen. Sie setzte sich auf und zog das Tuch zur Seite. Dort lagen sie aneinandergeschmiegt, und die Hexenmutter erschrak.
Das Mädchen Enya hatte sich in eine Robbe verwandelt. Ihr Fell glänzte silbern und feucht. Doch das andere Hexenkind, Meraah, hatte sich in eine Schlange verwandelt. Ihr Körper war jetzt schon kräftig, und ihr Schuppenkleid hatte ein so tiefes Schwarz, dass man meinte, man könne darin versinken. Als sie die Augen einen Spalt öffnete, waren sie gelb und die Pupillen schwarze Striche.
Die Hexenmutter legte den Kopf in die Hände und schluchzte. Was konnte sie jetzt noch tun? Sie wusste, dass die Würfel gefallen waren. Das Schicksal ihrer Kinder war besiegelt.
Etwas hätte Emma Richards daran hindern müssen, Cassandra Carpers Café zu betreten.
Wenn es nicht die ausgetretenen steinernen Stufen gewesen wären, die zu der rosa gestrichenen Holztür mit dem Sprossenfenster führten, dann doch die goldenen Pentagramme auf dem Handlauf des Geländers, oder zumindest der ausgestopfte Rabe, der im Schaufenster in der linken Ecke saß. Auf den ersten Blick natürlich sah alles sehr einladend aus. Die überzuckerten Cupcakes auf den Etageren, roter und hellblauer Zuckerguss, silberne und goldene Perlen auf den elegant marmorierten, cremigen Häubchen. Pastellgrüner und zitronengelber Teig, Sternchen und Herzchen, Röschen und Blättchen. Man wollte hineinbeißen und sich so viele Cupcakes in den Mund stopfen, dass man nur noch Zucker, Vanille und Marzipan schmeckte und alles vergaß, was einen bedrückte.
Das Café sah auf den ersten Blick einladend aus. Doch wenn man sich einige Sekunden in das Schaufenster vertiefte, würde einem die Schlange auffallen, die sich um den Fuß des glitzernden Tischchens wand, der Fliesenboden mit den seltsamen Runen und die rothaarige Frau mit der riesigen Hornbrille, die an einem Band um ihren Hals hing. So klein und zart war diese Frau, dass man sie für ein Kind, ein naseweises, altkluges, sehr erwachsenes Kind hätte halten können. Oder eben für eine sehr kleine, kindliche Frau.
Emma Richards jedoch hatte keine Zeit. Sie lief die Abbey Road entlang, ihre Schuhe hämmerten auf den Asphalt und das Herz hämmerte in ihrer Brust. Sie presste ihre Schultasche an sich und wich einer alten Dame mit einem Terrier an der Leine aus. Einem Paketboten und einem Kinderwagen, der vor einer Bank stand. Sie spürte, wie ihr der Schweiß den Nacken hinablief, zwischen die Schultern und den Rücken hinunter.
„Du fettes, fettes Frettchen!“, hörte sie Norman Clark hinter sich schreien.
An der Lautstärke erkannte sie, dass sie aufgeholt haben mussten. Und sie war sich so sicher gewesen, dass sie diesmal den Heimweg schaffen würde, ohne den Clark-Brüdern über den Weg zu laufen. Nach Erdkunde hatte sie im Flur vor ihrem Klassenzimmer so lange herumgetrödelt, bis ihr Lehrer, Mr Adams, den Raum verließ. An seine Fersen geheftet war sie bis zur Schultoilette im Erdgeschoss gelaufen. Aber die Clark-Brüder warteten bereits auf sie. Sie hatte sich sogar eingebildet, ihren Atem im Nacken zu spüren. Im Toilettenraum war sie auf das Waschbecken geklettert und dann aus dem Fenster darüber, was ziemlich anstrengend gewesen war, denn Emma Richards war im Sport eine Niete. Sie war sich sicher gewesen, dass die Jungen vor der Toilettentür auf sie warten würden. Der Sprung hinunter in das Rosenbeet war nicht so schlimm gewesen. Ein paar Schrammen und Kratzer, nichts weiter. Schlimm war nur gewesen, dass die Clark-Brüder in dem Moment um die Ecke kamen, als Emma sich aufrappelte und sich die krümelige Erde von den Knien klopfte.
„Jetzt haben wir dich!“, hallte es in Emmas Ohren.
Norman war der Gemeinste der drei. Es war ein unglücklicher Zufall, dass Emma gleich am ersten Schultag neben Norman gesetzt worden war, damit er mit seinem Banknachbarn nicht so viel Unsinn machte. Seit diesem Tag hasste er sie. Norman, der schon zwei Mal durchgefallen war und deswegen mit seinen Brüdern, den Zwillingen Hug und Randy, in dieselbe Klasse ging.
So schnell sie konnte, rannte sie jetzt los, um die nächste Ecke und dann ein paar Stufen hoch, ebenjene Stufen, die zu der rosafarbenen Tür führten. Sie riss die Tür auf, stürzte hinein, schlug sie hinter sich zu und lehnte sich von innen dagegen. Im Rücken konnte sie die Erschütterung spüren, als Norman Clark mit voller Wucht gegen die Tür polterte.
Einen Moment lang setzte ihr Herzschlag aus, und sie starrte in die meergrünen Augen dieser seltsamen kleinen Frau, die gerade dabei gewesen war, einen Cupcake liebevoll mit etwas zu dekorieren, das wie winzige goldene Zauberwürfel aussah.
„Kann ich helfen?“ Die Stimme der Frau war dunkel und warm, und Emma nickte.
Die Frau wischte sich die Finger an ihrer Rüschenschürze ab, ging zur Tür, schloss ab und drehte das Schild auf „Geschlossen“.
„Ksch! Ksch!“, machte sie, als wären Norman, Hug und Randy ein Schwarm lästiger Tauben. Zu Emmas Erstaunen starrten die Clark-Brüder zuerst nur durch die Scheiben der Tür, aber dann stoben sie davon, als hätten sie den Teufel gesehen.
„Nun, möchtest du einen Cupcake?“, fragte die Frau, und Emma nickte wieder. „Such dir einen aus. Aber lass dir Zeit. Jeder ist anders. Jeder ist wundervoll. Doch es gibt nur einen, der genau zu dir passt.“
Sie zwinkerte und ging zurück zu dem Holztresen, an dem sie gerade gearbeitet hatte. Emma ließ ihre Schultasche zu Boden gleiten und sah sich im Laden um. Saß dort ein ausgestopfter Rabe im Fenster? Sie schüttelte ungläubig den Kopf.
„Die Leute meinen, ein Cupcake sei wie der andere. Doch der Richtige, dieser Eine, der kann dein Leben verändern. Willst du, dass sich dein Leben verändert?“
„Oh ja“, sagte Emma inbrünstig. Sie dachte an die Clark-Brüder. Wenn die nicht mehr da wären! Wenn die ihr nicht mehr auflauern würden! Schließlich war alles andere schon schwierig genug. „Ich bin noch nicht lange in London. Ich bin erst im August hierhergezogen, mit meinen Eltern.“
„Sieh dir die grünen an. Die kleinen, vorne im Schaufenster.“
Emma wanderte langsam durch den Raum. Alles sah so wahnsinnig köstlich aus. Sollte sie diesen violetten nehmen, mit der Walderdbeere, der ganz oben in der sechsstöckigen Etagere lag? Oder den mit Vanillecreme, der so stark duftete, dass es einen ganz schwindelig machte? Am liebsten hätte sie jeden probiert. Vielleicht von jedem einen winzigen Bissen?
„Ich bin Cassandra Carper“, sagte die kleine Frau.
„Ich heiße Emma Richards und bin 11 Jahre alt.“
„Oh. Ich bin schon 498.“ Die Frau kicherte, und Emma drehte sich zu ihr um. Sie sah höchstens aus wie … na, wie etwa fünfunddreißig. Aber Emma war es gewohnt, dass Erwachsene irgendwelchen albernen Unsinn erzählten, wenn sie sich mit Kindern unterhielten. Cassandra Carper drückte weiterhin vorsichtig goldene Würfelchen in eine mokkabraune Creme und zwinkerte ihr noch einmal zu. „Manchmal fühle ich mich sogar noch älter. Und, welchen nimmst du?“
Der Cupcake, den Cassandra gerade ganz vorsichtig auf ein Tellerchen mit Rosenmuster legte, roch nach dunkler Schokolade und Nougat. Die goldenen Würfelchen schienen wie verzaubert zu leuchten.
„Ich nehme den mit der Erdbeere“, sagte Emma schnell, und ein seltsamer Ausdruck huschte über Cassandra Carpers Gesicht. War es Missfallen? Oder Enttäuschung?
Doch dann lächelte sie und winkte Emma, ihr zu folgen. Sie war nur wenige Zentimeter größer als das Mädchen, trug einen langen, karierten Rock mit Spitzensaum, eine helle Bluse, die über und über voller Puderzucker zu sein schien, und diese Schürze, in deren Tasche eine Spritztülle, ein Kochlöffel und ein kleines Buch mit ledernem Einband steckten. Sie holte das Buch heraus.
„Mal sehen“, sagte sie, „der Cupcake mit der Erdbeere. Wer diesen Cupcake wählt …“
Sie setzte sich die Hornbrille auf die Nase und blätterte in dem Buch hin und her, bis sie die richtige Stelle fand. „Wer diesen Cupcake wählt, ist zumeist eine feine und ätherische Person. Sanft und einfühlsam. Intelligent und fröhlich. Ihre Farben sind weiß und hellrosa.“
Sie blickte Emma prüfend an. Emma sah an sich hinunter und zuckte mit den Schultern. Die hellblaue Bluse ihrer Schuluniform spannte über dem kleinen Bauch, von dem ihre Mutter sagte, dass er irgendwann von ganz alleine verschwinden würde. Ihre Haut war braun, das hatte sie von ihrem Vater, der Halbitaliener war, und ihre Haare schwarz. Sie lockten sich an den Spitzen und waren so dick, dass man sie nur zu Zöpfen geflochten tragen konnte. Oder als Dutt auf dem Hinterkopf, der dann aussah wie ein Vogelnest. Sagte jedenfalls Emmas Mutter.
„Trotz ihrer Zerbrechlichkeit hat sie keine Angst und stellt sich tapfer allen Gefahren.“ Cassandra Carpers Blick wurde streng. „Emma Richards, du hast nicht sorgfältig gewählt. Ich kenne Personen, auf die diese Beschreibung zutrifft. Aber auf dich nicht.“
„Tut mir leid. Aber vielleicht werde ich ja so, wenn ich den Cupcake esse?“, fragte Emma hoffnungsvoll.
„Na gut.“ Cassandra Carper seufzte und klappte eine hölzerne Trittleiter auf. Vorsichtig legte sie das Buch auf den Tisch mit den Schlangenfüßen, raffte ihren karierten Rock und kletterte hinauf. „Der mit der Walderdbeere soll es sein. Walderdbeeren sind um diese Jahreszeit schwer zu bekommen. Diese hier sind aus einem kleinen Wäldchen in der Nähe von Edinborough. Erst heute Morgen hat sie der Kurier gebracht und … schwupps, hinauf auf die violette Creme …“
Sie atmete tief durch. Emma beobachtete, wie Cassandra Carper den Cupcake von allen Seiten prüfend betrachtete. Sie tupfte mit dem Zeigefinger sacht auf die Creme und leckte dann die Fingerspitze ab. „Veilchenaroma.“
Emma verzog das Gesicht. Sie konnte den Cupcake mit den Zauberwürfeln auf dem Tresen stehen sehen. Und sie hatte sogar seinen Geruch in der Nase.
„Hier, nimm. Ich hole noch etwas Zitronenlimonade für uns beide“, sagte Cassandra und drückte Emma das Tellerchen in die Hand.
Sie kletterte die Leiter hinunter und verschwand durch eine dunkelgrüne Tür im hinteren Teil des Ladens.
„Na gut“, sagte Emma zu sich selbst, „ich bin kurz davor, ein ganz anderes Mädchen zu werden.“
Das Tellerchen in der einen Hand, blickte sie zögernd auf das Büchlein, das noch auf dem Tisch mit den Schlangenfüßen lag. Was da wohl noch drinstand? Kurz entschlossen schnappte sie es sich und huschte zum Tresen hinüber. „Der mokkafarbene Cupcake. Vielleicht ist der auch hier drin.“
Sie stellte den Erdbeer-Cupcake neben den Zauberwürfel-Cupcake. Cassandra hatte recht gehabt. Sie mochte keinen Veilchengeschmack. Und Violett war nicht ihre Farbe. Überhaupt. Wenn sie den anderen Cupcake ansah, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Emma blätterte in dem Buch. Auf Seite 391 fand sie, was sie gesucht hatte. Leise las sie: „Der Cupcake mit den Zauberwürfeln. Wer diesen Cupcake isst, ist von fröhlicher Natur und voller Ideenreichtum. Die stämmige Gestalt kann ungeheure Kräfte entfalten. Na prima …“ Emma runzelte die Stirn. „… die sie auch brauchen wird, denn eine schier unlösbare Aufgabe kommt auf sie zu.“
Emma hörte ein leises, polterndes Geräusch aus dem Hinterzimmer und klappte schnell das Büchlein zu.
Besser ich esse keinen von beiden, dachte sie. Doch dann streckte sie die Hand nach dem Cupcake mit den Zauberwürfeln aus. Sie tupfte, wie Cassandra Carper vorher, den Finger in die Creme und leckte ihn ab. Es schmeckte köstlich. Nach Schokolade und Nüssen, nach Zimt und Mandeln mit einer feinen Prise Karamell. Wie hypnotisiert nahm Emma den Cupcake und biss hinein. Ihr wurde schwindelig. Mit beiden Händen hielt sie sich am Tresen fest und schloss die Augen. Hatte sie einen Raben krächzen gehört? Das Zischeln einer Schlange, das Rauschen des Windes in den Bäumen? Zog da ein kalter Lufthauch durch den Raum und ließ sie frösteln? Krächzte ein Rabe genau neben ihrem Ohr? Schnell riss sie die Augen wieder auf. Der Cupcake war über den Tresen gerollt und die Zauberwürfel glitzerten golden und silbern.
„Cassandra?“, rief Emma. „Cassandra Carper?“
Später dachte Emma, dass dies der Moment gewesen wäre, einfach davonzulaufen. Doch Emma lief nicht davon. Sie stand vor dem Tresen, hörte ihr Herz schlagen und schmeckte das Karamell auf der Zunge. Allerdings schmeckte es nun auch etwas verbrannt, klebrig und verbrannt. Cassandra Carper antwortete nicht. Seltsam still war es plötzlich in dem kleinen Café. Die Tür, durch die Cassandra Carper verschwunden war, stand einen kleinen Spalt offen, und durch diesen Spalt fiel ein sanfter Lichtstrahl.
„Cassandra?“, rief Emma noch einmal und ging auf die Tür zu. Sie wischte sich die klebrigen Finger an der Hose ab und drückte die Tür ganz auf. „Cassandra, ich habe einen anderen Cupcake gegessen!“, rief sie in den Raum hinein.
Der Raum hinter der Tür war klein und sechseckig. An den Wänden hingen gerahmte Urkunden in einer seltsamen Schrift, die Emma nicht entziffern konnte, und einige unscharfe Bilder von Cassandra Carper. In der Mitte des Zimmers stand eine Bodenluke offen. Sie war auch sechseckig, und als Emma näher trat, erkannte sie eine schmale Holztreppe, die in einen dämmrigen Keller hinunterführte. Die Treppe erinnerte sie ein bisschen an den Keller ihrer alten Schule. Die war zwar um einiges breiter gewesen, aber die Stufen waren ähnlich ausgetreten und der Handlauf abgegriffen. Dort wurden alte Turngeräte gelagert, und Matten und zusammengerollte Erdkundekarten. Sie war gern dort unten gewesen, auch wenn ihr dann und wann eine Maus begegnete oder eine dicke, haarige Spinne. Manchmal hatte sie mit einer Klassenkameradin dort Verstecken gespielt oder sich rücklings auf die weichen Matten fallen lassen. Das war natürlich vor ihrem Umzug nach London gewesen. Hier gab es eine neue Schule, niemanden, mit dem sie sich nach der Schule treffen konnte, aber dafür die Clark-Brüder, die sie nicht in Frieden ließen.
Emma beugte sich über die Bodenluke. War Cassandra Carper diese Treppe hinabgestiegen, um die Zitronenlimonade zu holen? Vielleicht war das ihr Lager? Vielleicht war sie gestolpert und hatte sich am Fuß verletzt. Vielleicht brauchte Cassandra Carper dringend ihre Hilfe. Zögernd setzte Emma einen Fuß nach dem anderen auf die Treppe. Sie zählte ganze dreißig Stufen, bis sie unten angekommen war. Petroleumlampen hingen dort von der Decke, und der Boden war mit dicken Flickenteppichen ausgelegt. In diesem Raum gab es keine Limonade. Und keine Backutensilien. Dafür war er bis unter die Decke mit Büchern vollgestopft. Sie standen in meterhohen Holzregalen, stapelten sich auf dem Fußboden, lagen auf einem kleinen, zerschlissenen Sessel aus rotem Samt und dem Tischchen mit Marmorplatte daneben. Sie waren auf dem Flickenteppich verstreut, teils aufgeschlagen, als hätte jemand bis gerade eben hier auf dem Bauch gelegen und gelesen, teils waren mit Zetteln und Bändern bestimmte Seiten markiert. Es war ein großartiges, verführerisches Durcheinander von Büchern, ein Anblick, der Emma einen kleinen, entzückten Schrei ausstoßen ließ. Sie liebte Bücher. Vor allem seit sie in London war und aus Angst vor den Clark-Brüdern das Haus so wenig wie möglich verließ. Seitdem hatte sie mehr als 200 Bücher gelesen. Alles, was sie in die Finger bekam. Die fremden Welten schienen sie trösten zu wollen, mit ihr zu sprechen und ihr Mut zu machen.
Sie ging in die Hocke und berührte ein großes, in Leder gebundenes Buch. Jemand hatte die Seite 344 geöffnet. „Schöllkraut. Zauber und Heilwirkung“ stand auf der einen Seite. Auf der anderen war ein Kraut mit kleinen gelben Blüten und pelzigen Blättern abgebildet. Emma stellte sich vor, wie es wäre, morgen wiederzukommen und hier unten zu lesen. Sich in den roten Sessel zu kuscheln, mit einem Buch, dass sie auf gut Glück aus einem der Regale gezogen hatte. Vielleicht würde sie dann sogar noch einen Cupcake probieren.
Sie rappelte sich auf und balancierte vorsichtig durch die am Boden liegenden Bücher. Sie musste ihre Schritte genau setzen, um nicht versehentlich auf eines zu treten. Noch nie hatte sie so viele seltsame Bücher auf einem Haufen gesehen. In der Schulbibliothek gab es Bücher über Physik und Mathematik, deren Titel sie nicht verstand. Aber diese hier? Diese Titel waren so ungewöhnlich, dass Emma jedes Buch, das sie in die Hand nahm, mit vor Staunen offenem Mund wieder zurücklegte. In der Mitte des Marmortisches, zwischen einem goldglänzenden Buch über Zwerge und Elfen und einem sehr abgegriffenen Exemplar über das Verhalten von Gnomen während des Jahreswechsels, stand eine Holzkiste mit einem Pentagramm auf dem Deckel. In die Mitte des Pentagramms war eine schwarze Kerze geklebt, die schon bis auf das letzte Drittel niedergebrannt war.
Ein leises Frösteln lief Emma über den Rücken. Als würde sie jemand mit kalten Fingern im Nacken berühren. Die Kerze flackerte, als Emma die Kiste berührte. Sie schien unter ihren Fingern zu vibrieren.
„Öffne mich, öffne mich“, zischelte es an Emmas Ohr, und sie zog die Hand erschrocken zurück.
„Cassandra?“ Ihre Stimme hörte sich in ihren eigenen Ohren hoch und piepsig an.
Das war albern. Kisten konnten nicht zischeln. Vielleicht war sie schon ein bisschen wunderlich geworden. Was sie nicht überraschen würde, schließlich war sie die meiste Zeit allein. Sie hatte noch keine Freunde gefunden, obwohl sie jetzt schon seit drei Monaten in London war. In ihrem Viertel gab es zwar andere Kinder, doch die mied sie. Auch dem Mädchen aus ihrem Haus, Paula, ging Emma aus dem Weg. Paula wohnte mit ihren Eltern und ihrem Bruder im Dachgeschoss. Sie trug immer von ihrer Mutter selbst gestrickte Schals, die bis zum Boden reichten, und Herrenmäntel, die sie aus Altkleidercontainern zu ziehen schien. Sie hatte rotbraunes Haar, das kurz unter den Ohren abgeschnitten war, als hätte Paulas Mutter ihr einfach einen Topf über den Kopf gestülpt und dann den Rest gekappt. Sie hatte hellblaue, forschende Augen und Sommersprossen auf der Nase. Alles in allem fand Emma, dass Paula altklug und naseweis aussah, und deswegen hatte sie überhaupt keine Lust, sich mit ihr anzufreunden. Als Paula am Tag ihres Einzuges mit ihrer Mutter vor Emmas Tür gestanden hatte, hatten sich die beiden Mädchen nur kurz angestarrt. Dann hatte Paula die Augen verdreht und war, die Hände tief in den Taschen ihres dunkelgrauen Mantels vergraben, die Treppen hochgestapft. Den geringelten Schal hatte sie hinter sich hergeschleift. Trockene Blätter hingen darin, als wäre sie kurz zuvor in den Laubhaufen vor dem Haus gehüpft.
„Öffne mich, öffne mich“, zischelte es wieder und Emma blickte rasch über die Schulter.
„Okay, Cassandra Carper“, sagte sie laut, „das ist ja ein beeindruckender Trick. Aber Sie können jetzt rauskommen. Auf so etwas falle ich nicht herein. Ich weiß, dass Sie das sind.“
Stille.
„Auch wenn Sie Ihre Stimme verstellen. Ich bin schließlich kein kleines Kind mehr, das auf jeden Zaubertrick hereinfällt.“
Die Kerze flackerte wieder, und Emma machte einen beherzten Schritt auf das Tischchen zu. Sie streckte die Hand aus und öffnete die Kiste. Noch ein Buch. Ein sehr dickes Buch. Es war in schwarzes Leder gebunden, und die rote Schrift darauf war komisch und unleserlich. Mit den Fingerspitzen berührte Emma den Buchdeckel. In jeder Ecke befand sich ein Stern, nur in der rechten oberen Ecke schwebte ein Mond. Hinter der roten Schrift schimmerte ein Pentagramm. So ein Buch hatte Emma noch nie zuvor gesehen. Sein Anblick erfüllte sie mit Aufregung, aber auch mit Unbehagen. Sollte sie es öffnen? Sie überlegte einen Moment, doch dann taten es ihre Hände wie von selbst. Sie schlugen das Buch auf. Die Seiten raschelten.
Schwarzer Flitter erfüllte den Raum.
Er wirbelte bis zur Decke, wie Ruß, wie schwarzes, glitzerndes Lametta. Es brannte in Emmas Augen. Erschrocken knallte sie das Buch zu. Dann den Deckel der Kiste. Die Kerze war erloschen, doch das Wachs hatte sich in hässlichen dunklen Flecken über die Kiste, den Marmortisch und Emmas Hände verteilt. Erschrocken stolperte sie rückwärts, während der Flitter wie in Zeitlupe um sie herum zu Boden schwebte. Emma dachte für einen Moment, sie wäre in einer gruseligen schwarzen Schneekugel gefangen. Dann rannte sie. Die Petroleumlampen schaukelten, als sie die Treppe hinaufhastete. Sie kletterte durch die sechseckige Luke und stand wieder in dem kleinen Raum hinter der Cupcakery. Sie warf die Luke zu und lief zurück in den Verkaufsraum.
Oft stoßen seltsame Ereignisse andere seltsame Ereignisse an. Das ist ein Gesetz der Magie.
Der Rabe war lebendig. Er saß im Schaufenster und plusterte seine schwarzen Federn auf. Als Emma durch die Tür in den Laden stürmte, legte er den Kopf schief und starrte sie an. Draußen war es stockdunkel. Hatte Emma das Café nicht unmittelbar nach Schulschluss betreten? Kurz vor zwei Uhr nachmittags? Die Sonne hatte durch die hohen Pappeln vor der Cupcakery geschienen und zitternde Schatten auf das mintfarbene Schild und die weißen Sprossenfenster geworfen. Und jetzt, jetzt kroch die Dunkelheit über die Straßen, und die Laternen verbreiteten ein eigentümliches schwaches Licht.
Emmas Herz raste. Sie schnappte sich ihre Schultasche und lief zur Tür. Der Schlüssel steckte noch von innen. Eilig schloss sie auf und trat nach draußen. Der Rabe krächzte hinter ihr, und als sie die Tür zuschlug, sah sie, dass er ein paar aufgeregte Runden durch den Raum flatterte und schließlich mit gespreizten Flügeln auf dem Tresen landete. Draußen wehte ein kalter, böiger Wind, sie presste ihre Tasche gegen die Brust und lief eilig die Abbey Road hinunter. Erst als sie fast zu Hause war, ungefähr vor der St. Jacobs Chapel, bemerkte sie, dass ihre Tasche viel schwerer war als vorher. Es war mühsam, sie zu tragen, am liebsten hätte Emma sie einfach am Wegrand liegen lassen. Außerdem klebte das Wachs immer noch an ihren Fingern. Es saß fest wie Tinte. Dicke schwarze Tinte. Oder Pech.
Wie kann ich nur so furchtbar dämlich sein, dachte Emma verzweifelt, erst diesen Cupcake zu essen und dann auch noch ein schwarzes Buch mit einem Pentagramm zu öffnen? Das war zu dumm, um wahr zu sein.
Die letzten Schritte bis zu dem hohen Mietshaus aus rotem Backstein legte sie im Laufschritt zurück. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und drückte die Tür auf. Drinnen roch es nach Pfannkuchen und Kürbissuppe, und Emmas Magen krampfte sich zusammen. Der Geruch kam bestimmt nicht aus ihrer Wohnung. Emmas Mutter kochte nie. Sie war Schauspielerin und schob höchstens eine Fertigpizza in den Ofen. Wenn sie zu Hause war und nicht mit ihrem Vater, der Regisseur war, ein neues Stück probte. Meistens machte sich Emma ein Gurkensandwich oder nahm eine Tüte Chips mit in ihr Zimmer. Oder beides.
Das Licht im Hausflur ging an, und Emma atmete erleichtert auf. Für all das musste es eine vernünftige Erklärung geben. Eine Erklärung, die sie vielleicht nie herausfinden würde. Aber da sie nun hier war, zu Hause, konnte sie einfach vergessen, was an diesem Nachmittag passiert war. Sie beschloss, es sofort zu vergessen. Noch bevor sie die Treppe bis nach oben gestiegen war. Genauso machte sie es mit den Clark-Brüdern und allen anderen unangenehmen Dingen. Sie würde eines ihrer Lieblingsbücher aus dem Regal nehmen und vergessen, dass es Jungen gab, die ihr auflauerten, Lehrer, die am nächsten Tag einen Test schreiben lassen würden und Eltern, die keine Zeit für sie hatten und nur im Theater in der Jermyn Street zu finden waren.
Das Wachs würde bestimmt mit Seife abgehen. Oder mit der Scheuermilch im Badezimmer. Und ihre Tasche … Ja, die Tasche.
Vor der Wohnungstür hielt sie inne. Ihre Eltern schienen zu Hause zu sein und Besuch zu haben. Sie hörte Stimmengewirr und das helle Lachen ihrer Mutter. Wahrscheinlich hatten sie alle Schauspieler des Ensembles nach Hause eingeladen. Das taten sie öfter, wenn eine Premiere bevorstand. Sie tranken bis spät in die Nacht Wein und rauchten Zigaretten auf dem Balkon. Emma fühlte sich dann wie ein kleines, dummes Anhängsel, das immer im Weg war. Die Freunde ihrer Eltern waren schön und klug. Sie unterhielten sich über Kunst und das Theater, und sie beäugten Emma mitleidig.
Ihr rutschte die Tasche aus der Hand. Wie in Zeitlupe sah Emma, wie sie auf dem Boden aufkam und der Verschluss aufsprang. Sie spürte wieder, wie ihr etwas Kaltes den Rücken hinaufkroch. Aus der Tasche glitt mit einem leisen Geräusch, das sie an Cassandra Carpers Kichern erinnerte, das dicke schwarze Buch mit dem Pentagramm auf dem Deckel.
Am nächsten Morgen beschloss Emma, das Buch sofort in das Café zurückzubringen. Noch vor der Schule, bevor noch mehr seltsame Dinge geschehen konnten. In der Küche fand sie einen Zettel von ihrer Mutter.
Schätzchen, Dad und ich schlafen noch. Nimm dir eine Schüssel mit Haferflocken und versuche, keinen Lärm zu machen.
Manchmal schliefen Emmas Eltern bis nachmittags. Vor allem, wenn sie abends Vorstellung hatten und erst spätnachts nach Hause kamen. Dann musste Emma sich leise verhalten, und selbst beim kleinsten Geräusch konnte es passieren, dass Emmas Mutter genervt und verschlafen in der Tür des Elternschlafzimmers stand und Emma darauf hinwies, dass sie dumm und klein und viel zu laut war. Dann wieder sah Emma ihre Eltern ganze Tage lang nicht, weil sie am Nachmittag das Haus verließen, um zum Theater zu gehen, meist schon bevor Emma aus der Schule zurückkam.
Emma seufzte, knüllte den Zettel zusammen und verließ die Wohnung. Sie hatte keine Lust auf Haferflocken. Sie wollte nur möglichst schnell das schwarze Buch loswerden. In der Nacht hatte es zu regnen begonnen, ein feiner Sprühregen, der aus allen Richtungen zu kommen schien. Er hüllte sie ein und ließ London ganz verschwommen aussehen. Emma zog sich die Kapuze ihrer Jacke über den Kopf und eilte Richtung Café. In den Pfützen trieb buntes Laub. Die Schultasche fühlte sich heiß an, als würde das Buch glühen, und Emma wunderte sich, dass kein Dampf aufstieg, als Regentropfen auf das abgewetzte braune Leder fielen.
An der Ecke vor dem Café verlangsamte Emma ihre Schritte. Etwas mulmig war ihr schon zumute, Cassandra Carper wiederzutreffen. Wie sollte sie ihr erklären, warum sich das Buch plötzlich in ihrer Tasche befand? Wie sollte sie ihr gestehen, dass sie die sechseckige Luke und die Treppe zum Keller gefunden hatte? Vielleicht genügte es ja auch, das Buch vor der Cupcakery auf den Treppenstufen abzulegen. Oder heimlich die Tür einen Spalt zu öffnen und das Buch hindurchzuschieben. Aber wäre das nicht feige?
„Ja, das wäre sehr feige“, sagte Emma laut zu sich selbst und zwang sich, in die Abbey Road einzubiegen. „Es wäre nicht in Ordnung, das zu tun.“
Andererseits, was war schon in Ordnung? Die Clark-Brüder verhielten sich auch nicht gerade nett. Oder Emmas Eltern. Von Cassandra Carper einmal ganz abgesehen. Sie hatte Emma schließlich mit dem Cupcake allein gelassen. Wäre Cassandra Carper nicht verschwunden, wäre das alles gar nicht passiert.
Schon von Weitem konnte Emma erkennen, dass mit dem Café etwas nicht stimmte. Die Tür. Gestern war sie rosa gestrichen gewesen. Heute war sie dunkelgrün mit einem goldenen Knauf. Auch die Fenster waren in sattem Dunkelgrün gestrichen. Allerdings blätterte die Farbe an einigen Stellen ab, und darunter konnte man, wenn man ganz genau hinsah, noch etwas von der zartrosa Farbe erkennen. Als Emma langsam näher kam, bemerkte sie, dass das mintgrüne Schild, auf dem „Cassandra Carpers fabelhaftes Café“ stand, etwas schief hing, als wäre die Aufhängung an der einen Seite gebrochen und niemand hätte sich die Mühe gemacht, sie neu zu befestigen. Emmas Blick wanderte entsetzt zum Schaufenster. Die meisten Etageren mit Cupcakes waren leer und sahen aus, als hätten dort schon sehr lange keine Cupcakes mehr gestanden. Sie ging näher heran und presste ihr Gesicht an die Scheibe. Der Holztresen war jedenfalls noch derselbe. Nur dass nicht Cassandra Carper dahinterstand und Törtchen verzierte, sondern zwei alte Damen, die sich angeregt über etwas unterhielten.
Emma lief die Treppe hoch. Die Ladenglocke bimmelte, und die zwei alten Damen drehten sich zu ihr herum.
„Wir haben noch nicht geöffnet“, sagte die eine.
„Wo ist sie?“, stieß Emma hervor. Sie blickte von einer alten Dame zur anderen.
Sie sahen sich sehr ähnlich, stellte sie fest. Beide waren klein und knochig und hatten weißes Haar mit einem blassen Schimmer Violett darin. Ihre Augen waren wässrig blau, und sie rochen nach einem Haarwasser mit Veilchenduft. Schon wieder Veilchen. Emma wurde beinahe übel davon.
„Wen meinst du, Liebes?“, fragte die eine Dame freundlich.
„Cassandra Carper. Gestern war sie noch hier. Sie hat mich einen Cupcake probieren lassen, und dann ist sie verschwunden. Und ich habe ihr Buch, das ich zurückgeben will. Also, wo ist sie?“, platzte Emma heraus.
Die Frauen zogen gleichzeitig die rechte Augenbraue nach oben.
„Hier gibt es keine Cassandra Carper.“ Margaret Stone, las Emma auf dem Namensschildchen, das an ihre Bluse gepinnt war. Die andere hieß Miranda Stone. „Hier gibt es nur uns beide. Die Stone-Schwestern. Seit Jahren.“
„Das ist unmöglich! Ich habe gestern hier mit ihr gesprochen. Sie hat hier gestanden und einen Cupcake mit Zauberwürfeln verziert.“ Zugegeben, das hörte sich selbst in Emmas Ohren seltsam an. „Und dann ist sie durch diese Tür verschwunden!“ Emma deutete auf die Tür hinter den Stone-Schwestern. „In den Raum mit der sechseckigen Falltür. Aber im Keller habe ich sie nicht gefunden. Nur dieses Buch.“ Sie öffnete ihre Tasche, und die zwei alten Damen beugten sich darüber. „Ich will es ihr zurückgeben. Ich muss es ihr zurückgeben. Ich will es nicht haben.“
„Hier gibt es weder eine sechseckige Falltür, noch einen Keller, noch eine Frau mit dem Namen Cassandra Carper“, sagte Miranda Stone scharf. Sie schien zurückzuzucken, als ihr Blick auf das Buch fiel. „Wir können dir leider nicht helfen.“
„Warum hängt dann das Schild noch draußen?“, wollte Emma wissen.
„Wir haben vergessen es auszuwechseln. Das sollten wir tun, darin gebe ich dir recht, mein Kind“, sagte Margaret Stone liebenswürdig.
„Aber der Rabe!“, schrie Emma aufgeregt und deutete auf den ausgestopften Vogel, der tatsächlich wieder ganz oben auf einem der Regale zwischen den Schuhkartons thronte. „Der Rabe war gestern auch hier. Und er ist im Laden herumgeflogen.“
Die Stone-Schwestern sahen Emma streng an. Aus den Augenwinkeln sah das Mädchen die schwarzen Augen des Raben blitzen. Hatte er sich nicht gerade eben ein kleines bisschen bewegt? Aber der Laden war düster, nur über dem Tresen hing eine grüne Glaslampe, und da es draußen regnete, kam auch durch die Fensterscheiben kaum Licht herein.
„Ich glaube, du gehst jetzt besser.“ Margaret Stone schob Emma mit sanfter Gewalt in Richtung Tür. „Es ist sicher schon Zeit für die Schule.“
Emma stemmte verzweifelt die Absätze ihrer Schuhe in den Boden. Das war nicht fair. Sie hatte den Raben gesehen. Und sie war fest davon überzeugt, dass die sechseckige Falltür existierte. Das Buch war schließlich der Beweis dafür. Außerdem formierten sich da drüben auf der anderen Straßenseite gerade die Clark-Brüder. Sie lungerten an einen Ahornbaum gelehnt herum und starrten zu Emma herüber. Sie war sich nicht sicher, ob die Brüder sie im Laden erkennen konnten, doch sie war sich ganz sicher, dass sie wussten, dass Emma hier war. Und dass sie auf Emma warten würden, bis sie herauskam. Sonst würden sie nicht da drüben stehen und den Laden beobachten.
„Oh nein!“, sagte Emma und befreite sich energisch aus Margaret Stones Griff. „Da drüben, das sind Mitschüler von mir, die ich auf keinen Fall treffen will. Haben Sie vielleicht einen Hinterausgang?“
Der Blick der Schwestern wurde noch strenger. Norman Clark stieß sich vom Stamm des Baumes ab und überquerte die Straße.
„Na gut. Ich lasse sie hinten hinaus“, sagte Margaret Stone zu ihrer Schwester. „Was soll das schon schaden?“, fügte sie leise hinzu.
Emma folgte der alten Dame zu der Tür, durch die sie gestern in das sechseckige Hinterzimmer gelangt war.
„Da ist es. Das sechseckige Zimmer!“, flüsterte sie, als sie hinter Margaret Stone durch die Tür trat. Und wirklich. Der Raum war da. Doch es gab keine Urkunden an den Wänden, und es gab auch keine Falltür. Der Boden war glatt und eben, außerdem stand da ein kleiner Tisch mit einem Vogelkäfig, in dem Zebrafinken herumschwirrten, und einer Kaffeemaschine. Ein Waschbecken, ein Spiegel und geblümte Tapeten an den Wänden. Und es gab eine Glastür zum Hinterhof.
„Die war gestern noch nicht da“, stellte Emma fest.
„Die haben wir einbauen lassen. Nachdem Miss Carper … weg war.“ Margaret Stone senkte ihre Stimme. „Wir haben den Laden von ihr übernommen.“
„Also doch! Warum sagen Sie das nicht gleich?“
„Es ist schon lange her.“
„Wie lange?“, stieß Emma atemlos hervor.
„Auf den Tag genau dreiunddreißig Jahre.“ Margaret Stone zog Emma näher an sich heran. „Miranda spricht nicht gerne davon“, wisperte sie, „es war alles so … mysteriös. Die Leute, die nach ihr fragten, als sie weg war. Seltsame, angsteinflößende Leute. Sie kamen spätnachts, hämmerten an die Tür. Wir konnten kaum mehr schlafen. Schließlich wohnen wir genau über dem Laden.“
Sie deutete nach oben.
„Und dann?“
„Sie fragten alle nach Cassandra Carper. Alle. Und nach den Büchern.“ Margaret Stone öffnete die Glastür. „Aber Cassandra Carper war weg. Sie hatte uns den Laden vermietet, und auch die Wohnung darüber. Sie verschwand mit zwei großen Koffern. Ich sehe sie noch genau vor mir, wie sie die Abbey Road hinablief und nach einem Taxi winkte. Sie trug einen karierten Rock und eine gerüschte Schürze.“
Emma sah die alte Dame bestürzt an. „Genau das Gleiche hatte sie gestern auch an.“
„So ein Unsinn!“
„Was war mit den seltsamen Leuten?“, fragte Emma schnell. Sie wollte unbedingt noch mehr erfahren, bevor Mrs Stone sie hinauswarf.
„Irgendwann drangen sie nachts in den Laden ein und brachten alles durcheinander. Sie suchten nach der …“
„… sechseckigen Falltür!“, beendete Emma Margaret Stones Satz.
„Aber es gibt keine Falltür. Miranda meinte, es hätte etwas mit dem Raben zu tun, den Miss Carper hier vergessen hatte. Ein ungezogener, schrecklicher Vogel. Er entwischte ständig aus seinem Käfig und verwüstete den Laden. Wir ließen ihn ausstopfen. Und kaum war der Rabe tot, sahen wir keinen Einzigen dieser seltsamen Leute wieder.“ Sie trat zur Seite und deutete nach draußen. „Das Beste für uns alle wäre, du kommst nie wieder hierher.“
„Und das Buch?“
Margaret Stone zuckte nur mit den Schultern und schob Emma durch die Tür nach draußen in einen kleinen Hinterhof mit Blechmülleimern, einer alten Linde und verschachtelten Holzschuppen, die sich an die Backsteinhäuser schmiegten. Zwischen den Mülltonnen entdeckte Emma mehrere Katzen. Sie duckten sich hinter den Tonnen und äugten nur vorsichtig hervor.
„Das ist nicht unser Problem“, sagte Margaret Stone, „darum musst du dich selbst kümmern.“
Damit schlug sie Emma die Tür vor der Nase zu.
Eine Weile blieb Emma nur stehen. Ihre linke Hand zitterte, und die Schultasche schien plötzlich noch schwerer zu sein als vorher. Eine Windböe pfiff um die Ecke, wirbelte gelbe Blätter auf und wehte sie bis vor Emmas Füße. So hatte sie das alles nicht geplant! Verzweifelt sah sie auf ihre Armbanduhr. Viertel nach acht. Wenn sie jetzt brav lostrabte, würde sie pünktlich in der Schule ankommen. Aber nicht mit diesem schrecklichen Buch! Das musste sie vorher unbedingt loswerden.
Kurz entschlossen drückte sie die Glastür wieder auf und lauschte, ob sie etwas von den Stone-Schwestern hören konnte. Es war nicht richtig, sich heimlich in ein Haus zu schleichen. Aber das Buch gehörte hierher, da war sich Emma sicher! Und zwar in die sechseckige Bibliothek!
Kurz ließ sie ihren Blick durch das Zimmer schweifen. Ohne Zweifel war es so sechseckig wie am vergangenen Tag. Aber heute sah es aus wie ein stinknormales Zimmer! Leise ließ sie sich auf die Knie sinken und wischte mit den Händen über das Parkett. Sie war sich ganz sicher, dass hier die Falltür gewesen war. Aber sosehr sie sich auch bemühte, es war nichts zu entdecken, das auf eine Falltür hinwies. Die Zebrafinken flatterten aufgeregt in ihrem Käfig herum, als spürten sie, dass Emma etwas vorhatte, das nicht okay war.
„Es ist alles gut“, murmelte Emma trotzig und öffnete ihre Tasche. „Das Buch gehört hierher. Dort war es gestern. Oder vor dreiunddreißig Jahren.“
Es überlief sie kalt bei der Vorstellung, dass die Stone-Schwestern dieses Café schon so lange besaßen! Sie zuckte zusammen, als sie die Stimme einer der Schwestern hörte.
„Der Zauber hat nicht richtig funktioniert. Alles sieht schäbig aus. Cassandra …“
„Wir haben nur das getan, was sie gesagt hat. Wir geben unser Bestes. Sind angereist aus den Sümpfen von Schottland, haben dort alles zurückgelassen, nur um zu helfen. Und das in einer Nacht. Wer tut so etwas?“
„Ich meine ja nur. Das Mädchen glaubt von alledem kein Wort. Wir hätten den Raben wegräumen sollen.“
„Aber es ist wahr. So gut wie wahr. Und dies ist der Plan für den Fall, das Cassandra etwas zustößt. Wir müssen nur durchhalten, bis sie wieder da ist. Die gute Cassandra.“
„Und Bowls Bescheid geben.“
Vorsichtig, um kein Geräusch zu machen, zog Emma das Buch aus der Schultasche und sah sich im Raum um. Wo konnte sie es verstecken, damit es den Schwestern nicht gleich auffiel? Hatte sie ein Rascheln gehört? Hatte das Buch geraschelt?
„Pst“, sagte Emma erschrocken, und das Rascheln hörte auf.
In dem Raum gab es kaum Versteckmöglichkeiten. Neben dem kleinen Tischchen mit der Kaffeemaschine stand ein Teewägelchen mit ein paar Tassen und einer Dose mit Keksen. Im Fach darunter lagen ein paar rosa Geschirrtücher mit roten Blümchen darauf, sehr ordentlich gefaltet. Daneben stand auch noch ein altes Küchenbüfett. Emma versuchte eine Tür nach der anderen zu öffnen, aber sie waren alle verschlossen.
„Okay“, sprach sie sich Mut zu. „Ich lege es auf den Teewagen und decke es mit einem Geschirrtuch zu.“
Wieso mache ich mir überhaupt die Mühe?, dachte sie etwas verzweifelt. War doch egal, ob die Schwestern das Buch heute oder morgen entdeckten, oder erst in dreiunddreißig Jahren! Hauptsache, sie selbst hatte es nicht mehr in der Schultasche!!
Sie hockte sich auf die Fersen und hob mit einer Hand die Geschirrtücher an, mit der anderen schob sie das Buch auf den Teewagen.
„Wage es nicht …“, zischelte es.
Emma ließ das Buch fast fallen. Hatte es gesprochen? Der Wind rüttelte an der Glastür zum Hinterhof, und sie saß wie erstarrt vor dem Teewagen. Aber es war nichts mehr zu hören. Bestimmt hatte sie nur den Wind gehört, redete sie sich gut zu.
„Alles gut“, sagte sie leise und hatte das Gefühl, sie würde mit dem Buch sprechen. Nein, sie sprach natürlich nur mit sich selbst. Wahrscheinlich, weil das auch ihre Mutter oft machte. Vor dem Spiegel stehen und mit dem Spiegelbild sprechen.
Ein Geräusch im Nachbarraum ließ Emma zusammenzucken.
„Ich gehe jetzt zu Bowls hinüber. Sie hat bestimmt weitere Anweisungen, von denen wir nichts wissen“, hörte Emma eine der Schwestern sagen.
Hastig deckte sie eines der Blümchen-Geschirrtücher über das Buch, packte ihre Schultasche und rannte los. Ein Windstoß riss ihr die Tür aus der Hand und knallte sie hinter ihr zu.
Emma rannte durch den Hinterhof bis zu dem Torbogen, durch den man auf die Straße gelangte. Vorsichtig schob sie den Kopf so weit vor, dass sie überblicken konnte, wer sich gerade auf der Straße befand.
Niemand.
Jedenfalls kein Mensch. Gegenüber dem Torbogen saß – ein Fuchs. Er war so bewegungslos, dass es wirkte, als wäre er ausgestopft. So ausgestopft wie der verstaubte Rabe …
Von den Clark-Brüdern jedenfalls keine Spur! Das erstaunte sie ein wenig. Aber vermutlich hatten sie eingesehen, dass es Unsinn war, so lange auf Emma zu warten. Ein weiterer Windstoß trieb ein paar Regentropfen vor sich her und klatschte sie Emma ins Gesicht. Trotzdem fühlte sich Emma unglaublich gut. Sie hatte nicht nur die Clark-Brüder abgehängt. Nein. Sie war auch das Buch losgeworden, es war sogar ein Kinderspiel gewesen! Früher hätte sie sich nie getraut, allein in das Café zurückzugehen. Und jetzt hatte sie es einfach getan!
Beschwingt über ihren Erfolg schwang sie sich die Schultasche auf den Rücken und rannte los. Sie musste sich beeilen, wenn sie noch rechtzeitig zur Schule kommen wollte.
Als sie in die nächste Straße einbog, bremste sie abrupt ab, denn direkt vor ihr hatten sich die Clark-Brüder postiert und sahen sie hämisch an.
„Hat London je ein hässlicheres Gesicht gesehen als ihrs?“, fragte Norman seine Brüder mit einem fiesen Grinsen.
, beschwor sie sich, aber die Schultasche schien ihr plötzlich zu schwer zu sein, um damit laufen zu können. Und sie einfach fallen zu lassen, traute sie sich nicht. Nicht weil sie Angst hatte, dass die Clark-Brüder sie kaputt machen könnten. Nein, sie wollte wenigstens ihren Kopf vor den Wurfgeschossen schützen!
Ein lauter Aufschrei ertönte, und dann heulte jemand so laut los, als wäre er geschlagen worden.
„Hör auf damit!“, kreischte jemand. Emma meinte, Randys Stimme zu erkennen.
Es dauerte nur zwei Sekunden, dann kam der nächste Schmerzensschrei, diesmal schien es Hug zu sein.
„Was ist los?“, schrie Norman dazwischen. „Ihr werdet euch doch nicht von einem kleinen Mädchen plattmachen lassen!“
Kleines Mädchen? Wen meinte er damit?
Vorsichtig lugte Emma hinter ihrer Schultasche hervor. Randy saß am Boden und hielt sich den Kopf. Und Hug schien eine Platzwunde an der Stirn zu haben! Aber welches Mädchen hatte ihr geholfen? Von wem sprachen die Jungs?
Im nächsten Moment hob Norman die Hand, um einen weiteren Stein nach ihr zu werfen. Sie starrte auf das Wurfgeschoss, das direkt auf sie zuflog. Die Schultasche schien in ihrer Hand noch schwerer zu werden, dann spürte sie, wie der Stein die Tasche traf. Es war nur ein kleiner Ruck, die Tasche schien zu rascheln, als wären jede Menge Blätter darin. Und dann flog der Stein zurück. Wie ein Flummi raste er einfach in die andere Richtung zurück!
Sprachlos sah sie zu, wie der Stein Norman direkt in den Bauch traf. Mit einem Schmerzensschrei krümmte er sich zusammen.
„Du blöde Kuh!“, brachte er mit zusammengepressten Zähnen hervor. „Warte nur, das wirst du mir büßen!“
Mit schmerzverzerrtem Gesicht packte er den nächsten Stein und warf.
Wieder sauste der Stein erst auf sie zu, traf dann die Schultasche, die wieder raschelte, und dann katapultierte sich der Stein wie durch Zauberhand genau in Normans Richtung! Diesmal traf er ihn am Oberschenkel, und aufjaulend umklammerte Norman sein Bein mit beiden Händen.
Hug und Randy sahen dem Schauspiel verwirrt zu. Sie saßen mit offenen Mündern auf der Straße.
„Macht was, ihr blöden Memmen!“, schrie Norman und verpasste Hug, der ihm am nächsten war, einen wütenden Tritt. Etwas ratlos stand Hug auf und nahm einen Stein in die Hand, traute sich aber nicht, ihn zu werfen. Wütend entriss Norman ihm den Stein. Er schien nicht glauben zu können, was hier gerade passierte.
Ein weiteres Mal sauste der Stein auf Emma zu. Inzwischen wusste sie genau, was sie tun musste. Nur festhalten. Und der Stein flog zurück zu Norman. Mit einem Aufschrei des Entsetzens sprang Norman zur Seite, versuchte, sich in Sicherheit zu bringen. Aber der Stein war nicht davon abzuhalten, Norman treffen zu wollen, er schien sogar die Flugbahn zu ändern, und schlug hart gegen Normans Arm.
Norman wurde bleich und taumelte ein paar Schritte rückwärts, bis er mit dem Rücken an eine Mauer stieß. Totenblass blieb er ein paar Sekunden dort lehnen, während Randy noch immer auf dem Fußweg saß und Hug danebenstand, als wüssten sie nicht, wie ihnen geschah.
„Kann ich euch helfen?“, fragte Emma vorsichtig und trat einen Schritt auf die drei zu.
Mit einem Aufschrei sprang Randy auf, Hug drehte sich um und sie rannten davon. Norman folgte ihnen dicht auf den Fersen.
Sprachlos sah Emma ihnen nach.