Historischer Roman
Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.
1. eBook-Ausgabe 2020
© 2019 Europa Verlag GmbH & Co. KG,
Berlin · München · Zürich · Wien
Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,
unter Verwendung eines Fotos von © Collaboration JS/Arcangel
Redaktion: Caroline Draeger, Franz Leipold
Satz: Danai Afrati
Konvertierung: Bookwire
ePub-ISBN: 978-3-95890-294-7
Alle Rechte vorbehalten.
www.europa-verlag.com
PROLOG
Mai 1189: Das Komplott
TEIL I
Das Heilige Land: Wer hungert, geht dahin,
wo reichere Ernten eingebracht werden
TEIL II
Jerusalem: Erwachen in Zeiten des Krieges
TEIL III
Tyrus: Die Intrige
TEIL IV
Masyaf: Lehrjahre in der Hölle
TEIL V
Akkon: Das Summen der Fliegen
TEIL VI
Am See Genezareth: Die göttliche Mission
TEIL VII
Akkon: Im Kostüm der Mätresse
TEIL VIII
Tyrus: In der Höhle des Löwen töten
TEIL IX
Im Feldlager Beit Nuba: Umkehr
Nachspann
Schlusswort
Historisch belegte Personen
»In fast allen Teilen der Welt verlor der Glaube an Kraft. Die Furcht der Menschen vor Gott schwand dahin. Die Gerechtigkeit war abhandengekommen. Zwischen den Ländern galt einzig die Sprache der Gewalt. Betrug, Verrat und Heimtücke hatten die Oberhand gewonnen. Alle Tugend war dahin. Das Böse regierte an ihrer statt.«
»Jeden Einzelnen von ihnen kann ich zum Meuchelmörder machen«, brüstete sich Raschid ad-Din-Sinan. Gemeinsam mit Guido von Lusignan blickte er vom Balkon auf das lebhafte Treiben am Hafen von Tyrus hinunter, wo sich farbenprächtige Kapuzenmäntel, Kopftücher und Turbane mischten. Das Rattern der Fuhrwerke, der Lärm der Handwerker, das Quieken von Borstenvieh sowie die Rufe der Händler erfüllten das Gedränge in der regenfeuchten Meeresluft. »Sucht Euch jemanden aus.« Mit einer weiten Geste und wippendem weißem Spitzbart auf der Brust lud der fast sechzig Jahre alte Muslim den zwanzig Jahre jüngeren Christen ein.
Im selben Moment hoben unter ihnen am Hafen vier junge Edelfräulein ihre langen Kleider bis über die Knöchel, um die kostbaren Stoffe im breiigen Untergrund nicht zu sehr zu beflecken. Eine von ihnen, eine Rothaarige mit hüftlangem Lockenhaar, rief: »Oh! Aufpassen!«, tat einen Satz über eine Pfütze und lachte dabei.
Interessiert beugte sich der Herrscher der Assassinen, unter dessen schwarzem Turban ein wenig graues Haar hervorlugte, in seinem bodenlangen Kleid vor, sodass sich sein schwarzer Mantel über der Brust schloss.
Guido von Lusignan, der König der Christen im weitärmeligen Waffenrock, einen Umhang mit Pelzbesatz um die Schultern, den eine schwere Silberbrosche zusammenhielt, tat es ihm gleich. Das schulterlange, glatte Blondhaar fiel ihm dabei ins ebenmäßig geschnittene, von Sorgenfalten gezeichnete Gesicht.
Selbst wenn sie unterschiedlichen Glaubens und auf dem Schlachtfeld Gegner waren, vereinte diese beiden Herrscher eine Gemeinsamkeit: Sie schreckten vor nichts zurück, denn beide trieb die Gier nach Macht. Doch niemand, der sie an jenem Tag sah, ahnte, was der Orientale und der Abendländer im Schilde führten. Keiner wusste, wer der Weißbärtige war, der da oben mit stechenden Blicken wie ein Adler über seiner Beute kreiste. Sonst wären die Menschen, die da sorglos am Hafen ihres Weges gingen, wie die Kaninchen auf dem Felde vor Panik erstarrt, da der Schatten des Todes sie bereits streifte und es für jede Flucht zu spät war.
Zwar war jedem im Land der aufgehenden Sonne der Name des Oberhauptes der Ismailiten in Syrien bekannt, denn Raschid ad-Din-Sinan hatte die Gewohnheit, seine Opfer auf außergewöhnliche Weise umzubringen. Keiner atmete in seiner Umgebung weiter, wenn er es nicht wollte. Doch woran hätten sie den Meister des Terrors erkennen sollen? Er lebte in strengster Abgeschiedenheit und sah nicht anders aus als tausend andere alte arabische Männer auch. Man erzählte sich, der »Alte vom Berge« sende von seinen unzugänglichen Bergfestungen schattengleiche Krieger mit ihren Dolchen aus. Keiner seiner Widersacher wusste, wann und wo die selbsternannten »Gotteskrieger« zuschlagen würden. Immer und überall lagen sie auf der Lauer. Ihre Anzahl war gering, und doch verbreiteten sie in den Reichen zwischen Mittelmeer und Euphrat, egal wie hochgerüstet sie waren, Angst und Schrecken.
Der König fuchtelte mit dem beringten Finger in der Luft, als suche er wahllos einen der Köpfe unter sich aus; dann setzte er entschlossen einen seiner hohen Stiefel aus Kalbsleder einen Schritt vor. »Ihr beherrscht die Kunst, den Geist der Menschen derart zu verwirren, dass sie nur noch an ewige Freuden im Paradies glauben, sodass sie lieber für euch sterben als leben wollen. Aber entspricht es wirklich der Wahrheit, dass eure Ordensmitglieder es schaffen, jedweden Menschen zu töten? Selbst wenn es ein mächtiger König wäre, der Tag und Nacht von seiner Leibgarde geschützt wird?«
Raschid ad-Din-Sinan, der sich selbst als frommen Vollstrecker göttlichen Willens betrachtete, umfasste seinen langen Bart. »Meine Jünger dürsten nach Blut. Sie sind wie Schafe im Wolfspelz, verwandeln sich und nehmen Gebärde, Sprache und Sitte ihres Opfers an.« Die Augen des Franzosen aus dem Poitou leuchteten, denn dies war eine Antwort, wie er sie sich erhofft hatte. Widerwillen im Gesicht, aber freudiges Verlangen im Herzen, fasste der König nach: »Eure Männer, so heißt es, sind mutiger als alle anderen auf dieser Welt, weil Ihr es schafft, ihnen die Angst vor dem Tod zu nehmen.«
»So ist es! Womit kann man einem Menschen dann noch drohen? Ihr Könige, Fürsten und Kreuzritter kämpft, um zu leben. Wir Assassinen aber kämpfen, um zu sterben.« Der König, sonst in allerlei Verstellungskünsten erfahren, vermochte es nicht, sein Unbehagen ganz zu verbergen.
Betont lässig stützte er sich mit dem Ellbogen auf der hölzernen Balustrade ab, hob die Augenbraue und zeigte belustigt auf das eine der Edelfräulein mit den langen roten Locken. »Schafft ihr das auch bei einer Jungfrau wie dieser?«
»Sie hat ein gutes Alter.« Der alte Syrer begutachtete das Mädchen, das wohl vierzehn Jahre zählen mochte. »Je jünger sie sind, umso mehr sehnen sie sich nach Anerkennung und desto schneller forme ich sie.«
»Dieses Kind kenne ich vom Hof in Jerusalem«, gab der König zurück. »Luzia weiß nichts anderes als die Gebote der Bibel. Sie erfährt Anerkennung vor allen durch Gott, sie ist fromm und glaubt an nichts anderes als die Erlösung im Himmel. Buße und Sühne sowie die Angst vor Verdammnis bestimmen ihren Alltag. Und so eine unschuldige Seele wollt Ihr umdrehen wie einen hellen Umhang auf seine dunkle Seite hin?«
Statt darauf einzugehen, stellte der Alte vom Berge eine Gegenfrage und blickte den König dabei an, als traue er ihm keine gescheite Antwort zu. »Was ist schon dunkel? Was ist hell? Was ist böse? Und was ist gut?«
»Gut ist es, für eine gerechte Sache zu kämpfen« Der Satz schnellte nicht ohne königlichen Stolz hervor. Doch das Thema schien Guido von Lusignan sogleich zu heikel, denn er wusste, sein Gesprächspartner glaubte, dasselbe für sich in Anspruch zu nehmen. Es galt, sich nur nicht auf zu glatten Boden zu begeben oder gar darauf auszurutschen und vor einem Dolchstecher wie Sinan am Boden liegen zu bleiben. Sein Gegenüber lockte den verunsicherten König von Jerusalem, der die Heilige Stadt samt den meisten Ländereien erst kurz zuvor an die Sarazenen verloren hatte, noch ein paar Schritte weiterzugehen, und sagte: »Was entscheidet, wer wir werden? Gut oder böse? Wir Menschen sind immer beides in einem.« Der König lachte auf, als habe ihn eine Erkenntnis erfasst. »Da unten, seht Ihr, dort bei dem Gemüsekarren! Das ist einer der Scharfrichter, der für mich am Hof in Jerusalem seinen Dienst getan hat! Er ist fürwahr kein böser Mann.«
»Und?« Sinan rümpfte kurz die Hakennase, da ein Gestank von Mist, Seifensiedern und Gerbern in der schwülen Luft aufstieg. »Hat er sein Geschäft gut verrichtet?«
Der König gluckste. »Dieser Mann war zuvor nichts als ein Schafhirte. Beim ersten Mal am Richtplatz war er sehr nervös, hat stark geschwitzt, war unsicher, ob er es schaffen könnte. Der Ärmste hat die ganze Zeit nur an seine Zuschauer gedacht und ob er es in einem Zug mit der Klinge schafft, die richtige Stelle am Hals zu durchtrennen. Nicht einen Gedanken hat er mehr an die Person verschwendet, die er töten sollte, denn Ungläubige, die gesündigt haben, müssen nun einmal sterben. So einfach sind die Regeln.«
Guido von Lusignan biss sich auf die Lippen, als habe er sich erneut und noch dazu ohne Schwert mitten auf einen Kriegsschauplatz begeben. Der Ismailit jedoch ließ sich von einem Heiden wie ihm nicht aus der Ruhe bringen und schob hinterher: »Was meint Ihr, Euer Durchlaucht? Ob dieser Scharfrichter unter Gewissensbissen leidet?«
»Im Gegenteil«, ereiferte sich der König, »irgendwann ist ihm das schnelle Kopfabhacken zu langweilig geworden. Er hat gemerkt, dass es den Zuschauern viel besser gefällt, wenn er langsamer oder auch mal mit dem stumpfen Beil tötet. Und man hat ihm angesehen, welche Befriedigung er verspürte, wenn ihm das warme Blut dabei ins Gesicht spritzte.«
Unter schweren Lidern besah sich der muslimische Gelehrte seine Fingernägel wie ein Kater die Krallen. »So ist es wohl, wir alle haben diese Gefühle in uns. Wenn die Umstände passen, schlachtet jeder Mensch den anderen ab.«
»Sei’s drum! Wie ihr wisst, suche ich die Hilfe eures Geheimbundes!« Der König bemühte sich, wieder auf das eigentliche Thema zurückzukommen, und ließ die Dringlichkeit seines Anliegens durchscheinen. »Ich brauche jemanden, der für mich einen Mord begeht, nur darf keine Spur auf mich zurückweisen.«
Ohne das rothaarige Mädchen aus den Augen zu lassen, unterbrach Sinan ihn in seinem Gedankengang und fragte abrupt: »Wer ist ihr Vater?«
Der König hüstelte und erwiderte leicht ungeduldig: »Es gibt Gerüchte, sie sei das Kind der Mätresse von König Amalrich, aber er ist lang schon tot. Was tut das also zur Sache?«
Sinan blickte ihn milde an wie ein Lehrer seinen einfältigen Schüler. »Wer hat die Aufgabe, die Kinder sittlich zu erziehen? Der Vater! Verlässt ein Vater sein Kind, so verlässt es auch sein Vertrauen. Damit ist es dazu verdammt, in allen Dingen eine größere Stärke als andere aufzubringen, um sich selbst zusammenzuhalten und neu zu verwurzeln. Und genau das ist gut für uns beide.« Er blickte den König an, der nicht verstand und deshalb langsam ärgerlich wurde. »Was wollt Ihr damit sagen?«
»Keine ist besser für unsere Zwecke geeignet als dieses unschuldige Christenkind.«
Guido von Lusignan schien zuerst überrascht, dann aber erleichtert; schließlich setzte er sein volles Vertrauen in die Fertigkeiten des Sektenführers. »Dann soll es so sein.« Er warf den Kopf beim Lachen zurück, als könne er es nicht fassen. »Ein Mädchen?! Ha! Ha! Hoffentlich täuscht Ihr euch nicht, denn es heißt doch: Je edler der Vogel, umso schwerer lässt er sich zähmen?!«
Die beiden Männer reichten einander die Hände. Der Pakt war beschlossen, die Zahl der Goldstücke für das Verbrechen ausgehandelt. Wie von unsichtbarer Hand geführt, blickte die Rothaarige da kurz hinauf zu ihnen. Ein frischer Luftzug vom Meer wehte heran. Der Adler hatte seine Beute im Visier, um sie sich mit dolchartigen Fängen zu greifen an diesem Morgen im Frühling, einem Morgen wie jedem anderen in diesen Tagen der Belagerung durch die Sarazenen in der Küstenstadt Tyrus im Jahr der Menschwerdung des Herrn 1189.
Der Alte vom Berge hat mir im Namen Gottes das Handwerk des Tötens beigebracht. »Damit sich deine Seele beruhigt«, hatte er mir als Lohn versprochen. Damals erschien mir sein Geheimorden faszinierend wie eine kostbare Perle, fest verschlossen in einer Muschel am finsteren Meeresgrund. Als müsste ich nur lang genug die Luft anhalten und tief genug tauchen, um sie ans Licht zu holen. Das wäre meine einzige Rettung, nur so könnte ich meine Freude wiedererlangen, war ich mir sicher.
Seitdem ich auf der Welt bin, habe ich so viele Menschen qualvoll sterben sehen. Meine eigene Mutter haben sie vor meinen Augen vergewaltigt und erdrosselt … Ich dachte immer, dass es nichts Schrecklicheres gäbe als das. Doch das Geheimnis, das ich in diesen schwärzesten Tiefen entdeckte, ist grausamer als alles, was mir in meinem kurzen Leben bisher widerfahren ist.
Wer kann sich den Schmerz vorstellen, der in einem tobt, wenn eine Klinge das Fleisch durchbohrt? Entsetzlich ist das! Dabei war ich selbst es, die den Dolch geführt und die Todesschreie gehört hatte. Schreie wie diese vergisst man nicht. Ich habe in ihre Gesichter gesehen. Ihre verzerrten Münder. Die weit aufgerissenen Augen, in denen das Licht erlosch. Diese Bilder von Blut und Tod verfolgen mich. Sie scheinen in mir auf, sobald ich mich setze, und sie hindern mich abends am Einschlafen. Fast jede Nacht renne ich seither in meinen Träumen um mein Leben und wache auf, verzweifelt um Luft ringend.
Ja, ich habe den Teufel selbst kennengelernt. Wo es aber den Teufel gibt, muss auch Gott sein. An diese Hoffnung auf Barmherzigkeit und Vergebung klammere ich mich. Denn ich habe alles verloren, was mir wichtig war. Finsternis ist mein Zuhause. Ach, wie sehne ich mich danach, es wieder zu verlassen.
Ein Ast knackte hinter mir. Ich schnellte herum, zuckte zusammen, als ein Zweig mich streifte. Mit der Hand vor dem tränenden Auge suchte ich das Gestrüpp und die braunen Hügel rundherum ab. War mir jemand gefolgt? War da hinten ein Schatten, wo keiner sein sollte? Nein, nur Vögel und der heiße Wind. Ich hob die Nase wie ein Hund, der Witterung aufnahm. Kein Gestank von Feuer, Blut oder herausgerissenen Gedärmen. Da war keiner außer mir. Ich gehörte zu niemandem, und niemand gehörte zu mir.
Vorsichtig trat ich ein paar Schritte vor, um mir einen besseren Überblick vom Montjoie, dem Berg der Freude, aus zu verschaffen. Von diesem Aussichtspunkt aus nahmen die Pilger aus dem Abendland gewöhnlich zum ersten Mal die Heiligste aller Städte wahr, den Nabel der Welt, und knieten bewegt mit Gottes Namen auf den Lippen auf dem felsigen Boden nieder. Ich aber stand dort oben geduckt wie eine Jägerin, um besser sehen zu können; eine Hand beschirmte das Gesicht, die andere lag nah am Waffengürtel.
Zwischen den Olivenbäumen hindurch erblickte ich den Ölberg, wo Christus Blut geschwitzt hatte und wo einst im Tal das Jüngste Gericht stattfinden sollte. Beinahe jede Gasse kannte ich in dieser Stadt, die nur durch ein kleines Tal getrennt auf zwei Bergen lag, denn dort, wo Christus ans Kreuz genagelt worden war, war ich zur Welt gekommen. Hinter den hohen und dicken Festungsmauern befinden sich die wichtigsten heiligen Stätten der Christen, Juden und Muslime. Welch ein Fluch! Denn nichts weniger als ihre Heiligkeit ist schuld daran, dass diese Stadt zum Schauplatz schlimmster Grausamkeiten verkommen und umkämpft ist wie keine andere. An diesem einzigartig schönen Fleck hielten Mord und Misstrauen einander die Hände wie Geschwister beim Tanz.
Mit zusammengekniffenen Augen blinzelte ich in die hochstehende Sonne. Und für einen kurzen Moment flammten die Bilder vom 28. April im Jahr des Herrn 1192 wieder in mir auf. Jener Nacht, in der das Herz Konrad von Montferrats seinen letzten Schlag getan hatte. Noch einmal sah ich den zukünftigen König Jerusalems mit seinem schweren Körper wie ein loses Kleiderbündel in sich zusammenfallen.
Müde drehte ich den Kopf zur Seite, um mich von diesen Erinnerungen abzuwenden, nahm meinen Turban ab und schüttelte mein schweißnasses rotes Lockenhaar, bis es mir weit über die Schultern fiel. Doch als hätte ich damit meinen Schutz verloren, keiften mit einem Mal Hunderte Stimmen in mir los: »Sünderin! Dafür wirst du büßen!« Mit beiden Handflächen rieb ich mir die Ohren. Davon wollte ich nichts hören und versuchte, das zu tun, was ich einst am besten gelernt hatte: zu einem Stein zu werden.
Doch die Stille um mich herum zwang mich, den lärmenden Vorwürfen in mir zu lauschen. »Wieso ist aus dir der Mensch geworden, der du heute bist? Und bist du morgen schon wieder eine andere?« Eine wie diese Schaustellerinnen auf dem Markt in Jerusalem, die ständig ihre Kostüme wechselten und in die nächste Rolle schlüpften?
Ich sah an meinen weiten Hosen und meinem mit einem Gürtel festgezurrten Hemd herab, die Schultern bedeckt von einem langen dunklen Mantel, der mich vor Hitze wie Kälte schützte. Mit den ledernen Sandalen an den Füßen war dies das Gewand eines muslimischen Händlers. In diesem Augenblick kam ich mir so verrückt und so verloren vor, dass mir die Tränen in die Augen traten. Wenn ich selbst nicht mehr wusste, wer ich war, wie konnte ich dann wissen, wofür ich noch lebte? Ich ließ mich auf den Boden sinken.
»Du bist etwas Besonderes«, hatte Mutter mir immer mit vor Stolz glitzernden Augen gesagt. Ja, ich war anders. Anders als die Hälfte aller Heranwachsenden, denn ich hatte das 17. Lebensjahr überlebt. Anders als die überwiegende Mehrheit der verarmten Bauern und Handwerker, die für eine winzige Minderheit wie mich schufteten, denn ich stammte aus einem alten Adelsgeschlecht. Am Hof des aussätzigen Königs hatte ich lesen und schreiben gelernt und sprach Arabisch, die Lingua franca der Wissenschaft, genauso gut wie Französisch und Latein. Gebildete Mädchen waren eine Ware, die man hervorragend gegen ein anderes Gut eintauschen konnte.
»Eine wie dich muss Gott lieben«, davon war Mutter überzeugt. Warum Gott so grausam sein musste, das habe ich nie verstanden. Vielleicht hatte meine Mutter Ida deshalb eine so enge Bindung zu mir, weil ihr immer gegenwärtig war, dass sie mich jeden Augenblick verlieren konnte.
Ida selbst hat ja noch weiche Gesichtszüge gehabt, als sie mich mit 13 Jahren zur Welt gebracht hatte. Sie hätte sich besser mehr um sich selbst sorgen sollen, dann wäre sie nicht so brutal aus dem Leben gerissen worden. Von Männern, von denen sie glaubte, sie könne sie dank ihrer Schönheit und Schlauheit beherrschen. Von Rittern, die von Ehre, Tugenden und der Größe Gottes daherfaselten. Für mich war Ida stets nicht nur Mutter, sondern zugleich beste Freundin und große Schwester gewesen.
»Ich weiß gar nichts mehr«, murmelte ich und legte gequält den Kopf in den Nacken. Ja, früher, da hatten solche Gedanken mich nicht geplagt. Da war ich mit großem Gottvertrauen einfach auf der Welt gewesen, ohne den Sinn zu hinterfragen. Ich schniefte kurz und verzog sogleich die Lippen. Wie erbärmlich! Ich war doch kein kleines Kind mehr! Als ich mich hochrappelte, spürte ich den Dolch an der Seite. Ja, genau jenen Dolch! Das Blut, das daran klebte, hatte ich vor Wochen im Fluss abgewaschen. Da wurde mir mit einem Mal klar, wozu ich aus diesem Albtraum wieder erwacht war, mit einem Geschmack voller Bitterkeit auf den Lippen, einem Herzen voller Enttäuschung und einer Seele voller Zorn. Ich würde es wieder benutzen, mein Mordwerkzeug. Schon bald, das wusste ich genau. Ja, dies war es, was ich wollte. Ich wollte weiterleben, obwohl ich meinem Großmeister zuvor noch meine Seele versprochen hatte. Ungehorsam aber bestrafte Raschid ad-Din-Sinan mit dem Tod. Meine Brüder waren mir längst mit ihren Dolchen im Gewand auf den Fersen.
Hätte ich nur diesen Irrgarten gar nicht erst betreten! Nur ein Gedanke gab mir Halt: »Der einzige Weg, deinen Feinden zu entkommen und dir selbst zu verzeihen, führt durch die Geschichte deiner Vorfahren.« Mutter hatte mir dies oft als Ratschlag mitgegeben, wenn ich traurig war und keinen Ausweg sah. »Erst wenn du weißt, welche Kämpfe deine Eltern und Großeltern gewonnen und – mehr noch – welche sie verloren haben, wirst du dich selbst besser verstehen und wehren können.«
Dieser Gewissheit treu, vertraute Mutter mir alles an. Wirklich alles, selbst wenn ich es gar nicht hören wollte und mich wehrte: »Nein, Ida! Nicht darüber reden! Nein!« Manchmal zog sie mir sogar die Hände von den Ohren. »Du musst das aushalten, hörst du?«, flüsterte sie warnend. So kam es, dass ich schon mit Milchzähnen im Mund kapiert hatte, dass es Männern vor allen Dingen darum ging, andere zu bezwingen und Frauen wie einen Acker zu pflügen. Und kaum hatte ich das geschluckt, stellte Ida mir jene Frage, die ich am meisten hasste: »Willst du wissen, wo du herkommst?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, nein, nein«, bettelte ich, mein Gesicht fest an ihre Brust gepresst. »Nicht diese Geschichte, das macht mir Angst.« Doch jedes Mal fing sie von vorne an zu erzählen …
Ich zwang mich, diesen Erzählungen in meinem Kopf erneut zu lauschen, um mich endlich von den Rätseln, die mich quälten, frei zu machen. Ida hatte oft so klug gesprochen, aber meist genau entgegengesetzt gehandelt. »Nur was du erkennst, kannst du auch heilen …«
Jetzt aber war sie tot, und ich kämpfte allein ums Überleben. Entschlossen machte ich mich daran, noch einmal alles abzuschreiten, jeden Schritt meines Weges, ganz von vorne beginnend …
»Im Abendland liegen deine Wurzeln.« Darüber berichtete Ida mir an den langen Winterabenden meiner Kindheit, die mit der Wiedereroberung Jerusalems durch die Sarazenen im Jahr 1187 mit einem Schlag endete. Wenn in unserer Kemenate der Kamin knisterte und sich die anderen Räume der Burg in dunkle, kalte Verliese verwandelten, faltete Mutter ihre blassen Hände ineinander, unter deren Haut sich die blauen Adern abzeichneten, und hauchte den Namen der Stadt, in der unsere Ahnen noch heute lebten, wie ein Zauberwort dahin: »Venedig.« Gerade so, als wolle sie die Magie dieses Ortes wahren und nicht durch unnötigen Lärm vertreiben.
Venedig. Unwirklich und fern wie ein längst vergangener Traum klang das für mich. Ida hatte, wie ich, kein anderes Leben als das jenseits des Meeres kennengelernt. Im Outremer: im Land der heißen Winde, Wüsten und Oasen. Wo sich die Kreuzritter, nach dem ersten Kreuzzug im Jahr 1099, vor allem entlang der Küste angesiedelt und die Grafschaft Edessa, das Fürstentum Antiochia, die Grafschaft Tripolis sowie das Königreich Jerusalem gegründet hatten.
Es war die Hoffnung auf ein besseres Leben, auf Reichtum und Erlösung, die die Menschen aus dem von Dürren und Hunger gebeutelten Westen in den blühenden Osten getrieben hatte, denn hier im Morgenland lag der Mittelpunkt von Handel, Kunst und Kultur. Und so wurden aus armen Vasallen reiche Landbesitzer und aus niederen Rittern mächtige Herrscher. »Wer hungert, muss dahin gehen, wo reichere Ernten eingebracht werden«, fand Ida.
Die Muslime aber sammelten sich unter Imad ad-Din Zengi, dem Gouverneur von Mossul, dem man wegen seiner Grausamkeit nachsagte, dass die Menschen allein bei seinem Anblick tot umfielen, und eroberten das isoliert liegende Edessa im Norden zurück. Der Zweite Kreuzzug im Jahre 1147 endete schmachvoll für die Christen. Wie geprügelte Hunde schlichen sie sich in ihre Burgen zurück, ohne dass es zu einer größeren Schlacht gekommen wäre.
Wer im Outremer Macht und Land erringen wollte, musste Menschen wie Opfertiere mit dem Schwert zerteilen, Männer kastrieren, Köpfe in Jauche ersticken … Mein Großvater hatte im Königreich Jerusalem nicht nur Ruhm und Ansehen erworben, sondern auch ein Eheweib mit entsprechendem französischem Stammbaum aus der königlichen Familie. Mit dieser Frau hatte er sich einen der heiß begehrten Plätze direkt in der Schlangengrube bei Hof gesichert, denn nur dem innersten Kreis war ein regelmäßiger Kontakt zum König gewährt.
Während außerhalb der Mauern das Blut den Boden schwarz verfärbte, verstarb meine Großmutter auf dem Tempelberg, dem höchsten Punkt Jerusalems, im Königspalast, zwischen Wonnen und Luxus, Klatsch und Intrigen – am Kindbettfieber. Ida war neun bei ihrer Beerdigung. Nach all den Ungeheuerlichkeiten, die Großvater am Nil im Kampf Mann gegen Mann überstanden hatte, hauchte er wenig später wegen eines kleinen Dornenkratzers, der Wundbrand auslöste, sein Leben aus.
Am Ende blieb in unserer Familie ein zierliches Mädchen von hohem Stande übrig, gemalt wie die Schönheit auf einer Ikone in der Grabeskirche, unwirklich und auf goldenem Grund. Wie ein wunderschöner Bote aus einer anderen Welt, die nichts über das verriet, was dahinter war.
In den Augen der Muslime glich unsereiner gemeinhin »Barbaren mit Kreuzen auf der Kleidung, die erst im Orient gelernt hatten, ein Stück Seife zu benutzen«. Nach Jahrzehnten aber waren wir – nicht nur im Herzen – längst mehr Orientalen als Abendländer. Doch für die Einheimischen blieben wir alle »Franken«, egal, ob Deutsche, Engländer, Italiener oder Franzosen. Die Sarazenen, wie wir im Gegenzug alle Muslime in denselben Topf warfen, verunglimpften unsere christlichen Pilger als »Aasgeier der Schlachtfelder«. Und das mit gutem Grund: Vom Hunger getrieben, schnitten die Ärmsten der Armen aus den Gesäßen der ermordeten Sarazenen die besten Stücke heraus und verschlangen diese in ihrer Gier noch halb roh. Doch die Anhänger Allahs vergaßen dabei ihre eigenen Gräueltaten. Für die meisten Menschen hier im Outremer war die Bestialität immer nur der Fehler der anderen.
Fortwährend gab es im Heiligen Land unter den Machthabern blutige Kämpfe um Grenzen oder knappe Güter. Die Uneinigkeit des christlichen Adels sowie unter den muslimischen Anführern gereichte dabei stets zum Vorteil des jeweils anderen. Gemeinsam waren wir nur in einem einig, dass es alleine einen Weg gab, und der führte aufs Schlachtfeld, wo bald gespaltene Schädel, gebrochene Oberschenkelknochen und von Schwertern zersplitterte Rippen unserer Väter und Brüder ineinander verhakt die Erde bedeckten.
All dies geschah rund um mein über alles geliebtes Jerusalem, dessen prachtvoller Schlossgarten im Sommer erfüllt war vom Duft süßer Blüten und vom Zirpen der Zikaden. Hier klang das Blätterrauschen wie ein Flüstern, brach das Sonnenlicht honiggelb durch die Feigenbäume und duftete die Luft im Herbst nach feuchter Erde.
Erst war es nur spürbar wie ein kleiner Spalt, der immer breiter wurde; am Ende aber sollte in dieser Stadt Davids die alte Ordnung des Landes in sich zusammenstürzen. Uneinigkeit, Machtstreben und Gier unter den einzelnen Anführern nährten den Hass. Und aus ebendiesem Hass erwuchsen die Assassinen. Geschickt spann der Alte vom Berge sein Netz über dem in sich zerrissenen Reich. Er schickte seine Handlanger über hohe Gebirge und in weit entfernte Länder, lenkte sie wie an unsichtbaren Schnüren, damit sie, im Namen Allahs, jeden aus dem Weg räumten, dessen Lebensweise ihm verhasst war.
Meine Heimat befand sich genau dort, auf dem geweihten Boden Palästinas. Sie war Paradies und Hölle zugleich.
Nirgendwo, so schwärmten Sarazenen und Franken gleichermaßen, gäbe es hübschere Weiber als am Hof von Jerusalem. Dort glichen die Frauen den Rosen im Garten des Königs. Meine Mutter Ida war elf Jahre alt, als sie begriff, dass die Welt von Männern wimmelte, die sich für ihren Körper interessierten.
Damals war sie eine zarte Gestalt mit hüftlangen Locken sowie knospenden Brüsten, deren Kleiderschleppe über den Boden wischte, die versuchte, so schnell wie möglich erwachsen zu werden. Ihr Schmollmund und verführerischer Augenaufschlag standen im Gegensatz zu ihrem kindlichen Gesicht, sodass die Augen der Betrachter fasziniert an ihr hängenblieben. Dabei beutete Ida sich selbst genauso gnadenlos aus, wie es die anderen Edelleute bald mit ihr taten.
Vielleicht war Mutter wegen dem, was die Männer mit ihr gemacht hatten, so verletzt, so erfüllt von der eigenen Ohnmacht, dass sie mit ihrem ständigen Reden, Tanzen und Singen in Wirklichkeit die Macht über ihre eigene Geschichte zurückerobern wollte. Vielleicht wollte sie sich auch von der Scham befreien, die zäh wie Pech auf ihrer Haut klebte, oder sie erhoffte sich mit ihrem Erzählen, mir eigene unangenehme Erfahrungen zu ersparen. »Aus dem Scheitern lernen wir unsere Lektionen des Lebens«, war sie sicher, »nichts kommt leicht, für niemanden.«
Mutter hat mir ihre Vergangenheit so genau geschildert, dass ich das Gefühl hatte, die ganze Zeit wie eine unsichtbare Beobachterin dabeigewesen zu sein. Und manchmal denke ich, dass es mich dabei mehr gegraust hat als sie. Vielleicht nahm mich das so mit, weil sie sich ihrem Schicksal hingegeben hatte wie ein Lamm dem Löwen. »Ja, Ida, zeig ihm deinen Hals, damit er hineinbeißen kann. Zeig ihm, dass du keine Gefahr bist!«, habe ich mir so oft klammheimlich gedacht und mich für die Feigheit meiner Mutter geschämt. Dabei hatte sie, wenn ich es mir mit dem Wissen von heute überlege, gar keine andere Möglichkeit gehabt.
Von ihr habe ich so viel gelernt. Über das Überleben, den Kampf und die Hingabe. Sie war lange Jahre mein Vorbild. Heute weiß ich, dass sie sich wie eine Dirne verkauft und ihren Körper wie eine Waffe benutzt hat. Als meine Brüste zu reifen begannen, entschied ich mich für den Dolch. Doch niemals wäre ich zur Mörderin geworden, ja niemals überhaupt entstanden, hätte nicht mein Erzeuger im Jahr des Herrn 1162 am Totenbett seines älteren Bruders gesessen, eben jenes Balduin III., der als fünfter König Jerusalems in die Geschichte einging. Die Leute munkelten, sein Leibarzt habe ihn mit seiner Medizin umgebracht.
Unmittelbar nach Balduins Tod lagen der Klerus und der Hochadel meinem Vater Amalrich in den Ohren. »Die Krone erhaltet Ihr an seiner Stelle nur, wenn Ihr Euch zuvor von Eurem Weibe trennt.« Die Sorge der Fürsten war nämlich groß, dass Amalrichs habgierige Frau sonst auf ihre Kosten die Macht der eigenen mittlerweile fast besitzlosen Familie in Palästina ausbauen könnte.
So kam es, dass das Hochgericht Vaters erste Ehe mit der 18 Jahre alten Agnes von Courtenay, einer Cousine dritten Grades, wegen Inzest annullierte. Diese Ausrede war beliebt und wurde vielfach benutzt, wenn andere Interessen schwerer wogen, weil sie von der Kirche fast als einziger Trennungsgrund anerkannt wurde.
Zwar war in dieser kleinen Gemeinschaft der abendländischen Herrscherhäuser mangels Auswahl ohnehin jeder mit jedem irgendwie verwandt, denn die Blutsbande sollten das Beziehungsgeflecht der Adeligen zusammenhalten. Doch diese Nähe machte das Leben für alle Beteiligten nicht leichter, da nirgendwo gnadenloser gestritten wurde als in den eigenen Familien.
Als neue Braut kam meinem Vater die 9-jährige Maria Komnena, byzantinische Prinzessin und Großnichte Kaiser Manuels I. Komnenos, sehr gelegen, da er ohnehin plante, engere Bande zu Byzanz zu knüpfen und so die Griechen für den Kampf um die Vorherrschaft am Nil zu gewinnen. Denn wer immer das reiche Ägypten beherrschte, dem würde sich die ganze Region unterwerfen, darauf spekulierte er. Das Mädchen war zudem bekannt für seine Schönheit, seinen hellen Hautton und die samtenen Rehaugen mit bernsteinfarbenen Tupfern. Da sie laut Gesetz erst mit zwölf Jahren als reif für die Ehe galt, vertröstete sich der alte Lustmolch derweil mit anderen Gespielinnen.
Im Jahre 1167 feierte Vater schließlich seine zweite Hochzeit. Die liebreizende, blutjunge Braut Maria Komnena brachte als Morgengabe die Stadt Nablus mit in die Ehe, auch »kleines Damaskus« genannt. Verbittert zog sich unterdessen seine geschiedene Ehefrau Agnes von Courtenay vom Hof zurück. Seit ihrem achten Lebensjahr wurde sie von einem Mann zum nächsten herumgereicht wie ein Bierkrug und glaubte doch, den Thron wie keine andere verdient zu haben. Die zwei gemeinsamen Kinder und Thronerben, meine Halbgeschwister Balduin und Sibylle, ließ sie am Hof bei unserem Vater Amalrich zurück – einem Mann, der auch in seiner zweiten Ehe nicht ausgelastet war.
Das frisch getraute Königspaar verband nämlich weniger die Zuneigung als die gegenseitigen Verpflichtungen. Ihre Wege im Ehebett kreuzten sich nur so oft, wie es nötig war, um Nachwuchs zu zeugen. Nur kurz hörten die Lauscher vor der Tür das Gestell auf den geschnitzten Leopardenbeinen quietschen, und schon war es wieder vorbei. Ohnehin verbrachte Maria Komnena viel Zeit mit ihren Verwandten, war häufig auf Reisen und lebte in ihrem eigenen abgeschotteten Geviert bei Hof.
König Amalrich hingegen war meist in seinem großen Reich unterwegs und überwand auf beschwerlichen Ritten in kurzer Zeit weite Strecken, wobei sich die Ziele von einem Augenblick auf den anderen ändern konnten. Doch wohin es ihn auch trieb: allerorten nur Jammer, überall Totenklage. Amalrich durchquerte Sümpfe und Wüsten, zog an schneebedeckten Bergen vorbei und ließ die Felder verräterischer Tempelritter in Brand stecken, die sich mit seinem ärgsten Feind Nureddin verbündet hatten. Er war der Sohn und Nachfolger des brutalen Zengis, Herrscher der türkischen Dynastie der Zengiden in der nördlichen Levante, dessen oberstes Gebot die Rückeroberung des Landes war.
Fand sich unser mächtigster Mann des Landes danach wieder in Jerusalem ein und durchquerte gemessenen Schrittes die Burghalle, wo die Luft am kühlsten und duftigsten war, drehten sich alle nach ihm um. Die Frauen sanken neben den hohen Fenstern, die strahlendes Licht einließen, zum Hofknicks nieder, und die Männer verneigten sich tief. Vater führte wohl bereits neun Jahre lang das Zepter, als er eines Tages den Blick über die gebeugten Rücken und die hinter Fächern halb verborgenen Gesichter wandern ließ, wo sie an einem Mädchen mit langem rotem Lockenhaar hängen blieben. »Wer ist sie?«, erkundigte er sich bei einem seiner Pagen.
Ida war damals gerade einmal elf Jahre alt. Der König aber war mit sechsunddreißig Jahren mehr als dreimal so alt wie sie. Er funkelte das hübsche Mädchen an, das tief geschmeichelt zurücklächelte. Das blieb auch den Blicken der Hofdamen, Hofmeisterinnen und anderen Höflinge nicht verborgen. »Erfreue ihn mit deiner Anwesenheit!«, gaben sie Ida in ihren raschelnden Seidengewändern mit auf den Weg und schoben sie in die Nähe des Königs, wenn er erschöpft von einer Belagerung zurückkehrte.
Jerusalem glich einer winzigen Trutzburg inmitten einer schier unendlich scheinenden feindlichen Umgebung. Dort verbarrikadierten sich die Unseren hinter immer höheren Mauern, beschützt von immer gefährlicheren Waffen. Am Hof aber feierten die Adeligen genauso leidenschaftlich, wie sie übereinander herzogen, als könnten sie so ausblenden, dass sie auf einem brodelnden Vulkan hausten.
In ihrer kärglich eingerichteten Kemenate saßen eines Tages die Frauen und Mädchen auf hölzernen Bänken und Hockern über ihren Stickrahmen gebeugt, als sie um die Mittagsstunde durch ein Klopfen unterbrochen wurden. Ein Bote trat ein und verbeugte sich. Mit Blick auf Ida sagte er: »Der König will Euch mit an der Festtafel sehen!«
»Mich?« Ida mochte es kaum fassen, suchte fragend den Blick der alten Hofdame Agate, die sie mit einer schnellen Handbewegung aufscheuchte. »Geh schon! Der König ruft!« Agate strich ihr noch die Haare und das Kleid glatt und ermahnte sie: »Lauf nicht so schnell!«
Sonst nahmen die Mädchen stets gemeinsam mit den anderen Frauen im großen Palas an Festen und Gelagen teil. An diesem besonderen Tag waren jedoch nur wenige Auserwählte zu einem kleineren Festmahl im ersten Stock geladen. Welch große Ehre! Aufgeregt folgte Ida dem Boten in den vom Rauch geschwängerten Speisesaal. Im Abstand von vielleicht zehn Fuß standen Wachen in Kettenpanzerhemden und eisernen Helmen vor den prächtigen Wandteppichen, als wollten sie den Raum wie ein Bild umrahmen.
Der Truchsess, den Stab in der Hand, geleitete sie zu ihrem Platz an einer der fünf Tafeln. Sie waren nur auf Holzböcke aufgelegt, damit sie nach dem Fest rasch wieder verräumt werden konnten. Leuchter und Wachskerzen erhellten den Raum, sodass das silberne und goldene Tafelgeschirr im Flackern der Flammen funkelte. Musikanten sorgten für gute Stimmung. Und Ida sank tief in die gestickten Kissen ihres Stuhles.
Auf einem Podest zeigte sich Amalrich unter dem königlichen Baldachin in bester Laune, denn ein gutes Essen war nichts wert, wenn das Gesicht des Gastgebers in Trübsinn erstarrte. Neben ihm saß seine zweite Ehefrau Maria Komnena, allerdings mit seltsam starrem Gesichtsausdruck, in dem das Lächeln festhing, als hätte es jemand mit ungeübter Hand hineingenäht.« L-lasst es euch schmecken!«, forderte Amalrich seine Gäste auf und wischte sich den Wein aus dem blonden Vollbart. Als er in Idas Richtung blickte, neigte sie schüchtern den Kopf zum Gruß.
Mit vorrückender Stunde erfüllte immer lebhaftere Unterhaltung den Saal, und allmählich wagte Ida es, den Blick etwas höher zu heben, wobei ihr die eifersüchtig verengten Augen mancher Hofdamen nicht entgingen. Während einige Ritter lachend derbe Zoten rissen und andere sich schimpfend in den Haaren lagen, erwies sich der König als wortkarg, was möglicherweise seinem Sprachfehler geschuldet war.
Die Diener schenkten unermüdlich Wein aus, trugen in unzähligen Gängen auf großen Platten mit silbernen Füßen süße Früchte, Lammbraten, würzige Saucen, dazu Kichererbsen und andere Köstlichkeiten auf. In aufrechter Haltung, wie es sich gehörte, nahm Ida zwischen Daumen und Zeigefinger eine Dattel, trank vom Wein und spürte allzu schnell seine Wirkung. »Iss nicht vom Schwarzbrot, bevor der erste Gang auf den Tisch kommt, sonst hält man dich für unbeherrscht«, folgte sie beflissen den Belehrungen der Hofdame Agate, die sie unaufhörlich im Ohr hatte. »Nicht die Ellbogen aufstützen! Den Blick stets zum ranghöchsten Mann an der Tafel richten.« Bemüht um das beste Benehmen, nahm sie neben sich den Geruch eines etwa dreißigjährigen alten Ritters mit gestörter Verdauung wahr und lächelte ihm süßlich zu.
Immer wieder schenkte der Diener den Kelch voll, und ihr Tischnachbar forderte sie jedes Mal zum Trinken auf. Ida wollte vollendet und höflich sein und nippte prompt zu oft am Wein. Ihre Augen zum König, aber nie direkt in sein Gesicht gewandt, folgte sie Amalrichs Bewegungen, während ihr allmählich etwas schwindlig wurde.
Schmatzend spießte Amalrich mit dem Messer ein Stück Fleisch auf, wendete sich kurz nach hinten vom Tisch ab und spuckte ein zähes Stück Fett aus, auf das sich sogleich seine Hunde stürzten.
Im nächsten Augenblick schaute Ida einer Nachtigall hinterher, die ein Knappe auf Geheiß des Königs zur Unterhaltung aller Anwesenden aus dem Käfig freigelassen hatte. Dann zog Amalrich dem dressierten Raubvogel, den sein Diener ihm auf seinem ledernen Ärmel abgesetzt hatte, die Haube vom Kopf. »Ohhh!«, riefen die Leute voller Vorfreude, denn sie erwarteten, sein mörderisches Talent kennenzulernen.
Hoch hinauf schoss der Falke zur gedrechselten Holzdecke und wieder steil hinunter zur Tafel, während die Nachtigall unter dem Gelächter der Gäste in Panik gegen den Wandteppich prallte. Und obwohl ihr die Nachtigall leidtat, wollte Ida zu gerne sehen, wie der Falke sie nach dieser halsbrecherischen Jagd mit seinen Krallen packte.
»G-gleich hat er ihn!« Amalrichs Stimme war voll der Bewunderung. Schon stürzte der Raubvogel mit einem spitzen Aufschrei im Steilflug herab. Im nächsten Augenblick regneten Federn und Flaum auf den stark gepfefferten Hasenbraten, und während Maria Komnena an seiner Seite weiter seltsam abwesend in die Ferne starrte und die Gäste genüsslich an ihren Knochen nagten, zupfte der Raubvogel mit seinem scharfen Schnabel der Beute die Gedärme aus dem Bauch.
Ida war der Hunger vergangen, und so nahm sie – entgegen Agates Belehrungen – noch reichlich vom Wein, der das Dasein so herrlich schwebend und so leicht machte. Da das Schauspiel zu Ende war, ermunterte der Tischnachbar sie: »Erzählt von Eurem Leben bei Hof.« Fast vergaß Ida, das Gekaute herunterzuschlucken. Obwohl sie wusste, dass es als charmant galt, wenn Frauen gepflegte Konversation betrieben, schnatterte sie unbedacht wie eine Elfjährige daher, ahmte die Mägde im Hof beim morgendlichen Ausspülen des Nachtgeschirrs nach und schnitt Grimassen dabei.
Der König beobachtete sie und lachte, bis die Falten über seiner dunkelroten Tunika am Bauch wie Wellen auf hoher See schaukelten. Geschah das etwa ihretwegen? Maria Komnena musterte das rothaarige Mädchen, als sei sie soeben aus leichtem Schlummer erwacht und als wäre ihr bei ihrem Anblick etwas Rettendes eingefallen. Nur was das war, das ahnte Ida nicht.
Aufgekratzt hüpfte sie am Abend durch die Wehrgänge des Davidspalastes zurück, der eher einer verwinkelten Festung als einem prächtigen Palast glich und an dem bereits Herodes der Große seine Baumeister beschäftigt hatte. Vorbei an den Wachen mit dem Wappen des Königs auf den weinroten Waffenröcken, unter den torbogenartigen überdachten Treppenabsätzen und offenen Treppen hindurch, die die unterschiedlich großen sandfarbenen Quaderbauten miteinander verbanden, bis sie keuchend die knarrende Holztür aufstieß, die zu den anderen Mädchen und Frauen führte, wo sie umgehend ihre Handarbeit wieder aufnahm.
Alle Augen waren neugierig auf sie gerichtet, aber Ida tat beim Einfädeln des Fadens so konzentriert, als ob sie nichts davon bemerkte. »Was hat der König gesagt?«, platzte da ihre Freundin Sophia heraus und warf den blonden Zopf schwungvoll nach hinten auf den Rücken. »Nichts«, meinte Ida mit leicht verwaschener Stimme und hob, selbst noch über das Geschehene überrascht, ihr rundes Kinn, »mein Tischnachbar wollte nur ständig, dass ich trinke und erzähle.«
Nun konnten auch die anderen ihre Neugierde nicht mehr zurückhalten. »Und? Was hast du erzählt?« Wieder redete Ida enthemmt und frei von der Leber weg, und alle Zuhörerinnen platzten vor Lachen laut heraus, außer eine der Gräfinnen, die ihre dünnen Lippen pikiert aufeinanderkniff. »Wer spricht schon über Nachttöpfe, wenn er beim Festmahl des König ist?!«
Doch selbst die dicke Hofdame Agate klopfte sich die Schenkel. »Nur unsere Ida macht so etwas!«
Bevor Ida tags darauf ihr mit weißen Blumen besticktes Übergewand überstreifte und erneut dem Boten zum König folgte, um dort mit anderen Mädchen zu tanzen, gab Agate ihr noch einen Ratschlag mit auf den Weg: »Dreh und wende dich so vor dem König.« Sie machte es ihr noch einmal vor und wiegte sich in der Hüfte, was ihr trotz ihrer Leibesfülle mit großer Eleganz gelang.
Wie werden die Frauen wohl hernach die Köpfe zusammengesteckt haben? Bestimmt warf die schmallippige Gräfin die Frage in den Raum: »Was will der König bloß von einer wie ihr?« Und eine andere gab kichernd zurück: »Seinen Spaß. Was sonst?« Und die alte Agate wird den Kopf gewichtig hin und her gewogen haben. »Welchen Mann wird Ida wohl am Ende einmal abbekommen?«
Nein, tauschen wollte wohl keine mit ihr, einem adeligen Waisenmädchen, von deren Land und Gut sich einige Edelmänner längst die besten Stücke unter den Nagel gerissen hatten. Im Königreich verlor jeder sämtliche Rechte auf seinen Besitz, der ihn über ein Jahr lang verlassen hatte. Um neue Siedler anzulocken, galt, dass derjenige, der ein verlassenen Haus oder einen Weinberg ein Jahr lang bewirtschaftete, der rechtmäßige Eigentümer war. So hatte Ida alles verloren, was ihre Eltern einmal für ihre Nachkommen in Jericho aufgebaut hatten.
Diese Einladungen wiederholten sich anlässlich besonderer Feste. Manchmal waren Ida die Blicke des Königs dabei fast unheimlich. Sobald Maria Komnena nicht an seiner Seite weilte, was oft der Fall war, tasteten seine Augen ungeniert von oben bis unten über ihre perlrosa schimmernde Haut. Dann erstarrte Ida zur Salzsäule, um im nächsten Moment mit einem Lächeln zu antworten, denn alles andere wäre unschicklich gewesen. Doch selbst die Hände des Königs verhielten sich anders als die Hände anderer Leute.
Seine von der Gicht knotigen Finger strichen ihr unter den Palmen im Hofgarten unverhofft über die Wangen, und seine vollen Lippen kamen ihr zuweilen so nah, dass sie seinen schlechten Atem roch. »L-l-lauf, Ida!«, schickte er sie dann weg. Und dabei blickte er sie so ernst an, dass es ihr vorkam, als habe er gesagt: »Lauf, Ida, so schnell du kannst, und komm nicht mehr zurück.« Doch er rief immer wieder nach ihr, und sie kam immer wieder zurück zu ihm.
An der Tafel wiederum saß Ida immer öfter so, dass der König ihr direkt in die Augen blicken konnte. Im flackernden Licht der Fackeln spielten die vornehmen Leute zu vorgerückter Stunde noch Brettspiele, schlugen sich den Ranzen bis zum Anschlag voll und tranken sich gegenseitig beim Harfenspiel unter den Tisch. Der König hingegen mied Völlerei und Trunksucht, verhielt sich maßvoll und selbstbeherrscht, wie es sich für jeden guten Christen geziemte. Nichts verachtete er mehr als verweichlichte und von übermäßigem Wohlleben erschlaffte Männer, die aus seiner Sicht nichts von Ehre und vom Kriegswesen verstanden.
Von der Taube auf seinem Teller biss er höchstens dreimal ab, das war dem König genug. Und er zeigte sich bei Tisch weniger interessiert an Weib und Wein als an den Geschichten, die ihm arabische und jüdische Händler aus fremden Ländern berichteten. Warum er trotzdem so fett war, begriff Ida erst, als sie ihm näherkam.
Amalrich ließ sie eines Tages zu sich in seine privaten Gemächer bringen und schickte seinen Lakaien davon. Ida fühlte sich unwohl, denn es war unziemlich für eine junge Frau, sich unbegleitet in Gesellschaft eines Mannes zu bewegen. Von da an aber geschah es öfter, dass er sie zu sich rief, und bei diesen Gelegenheiten türmten sich vor ihm auf dem Tisch die Speisen. Voller Heißhunger verschlang der König gebratenes Ochsenfleisch oder Pfau, rülpste laut und spülte mit Wein hinterher, als sei es Wasser. Es schien fast, als habe er wochenlang gefastet. »Das bleibt unter uns«, pflegte er zu seiner Besucherin zu sagen.
Ida wunderte sich jedes Mal wieder über dieses Verhalten. Gedankenverloren blies sie sich eine Locke aus der Stirn. Hatte Agate ihr und den anderen Mädchen doch striktes höfisches Benehmen eingebläut: »Steck nicht ein so großes Stück in deinen Mund, dass die Krumen rechts und links wieder herausfallen, sonst wirst du als Fresser verlacht.«