Jennifer Alice Jager

Afterglow

Terra #4

Weitere Bücher von Jennifer Alice Jager im Arena Verlag:

Awakening. Terra #1

Rising. Terra #2

Collapse. Terra #3

Windborn. Erbin von Asche und Sturm

Jennifer Alice Jager schrieb ihr erstes Buch während der Ausbildung zur Mediengestalterin. Schnell erlangte sie Bekanntheit durch ihre erfolgreichen Märchenadaptionen und Fantasyromane bei Carlsen Impress. Nachdem sie eine Zeit lang in Japan lebte, wohnt sie heute wieder in ihrer Heimat, dem Saarland, widmet sich hauptberuflich dem Schreiben und verbringt ihre Freizeit am liebsten mit ihren Tieren in der freien Natur.

Für all jene, die Ohren, Mund und Augen
nicht vor den Wundern verschließen, die
die Welt jeden Tag für uns bereithält.

Because

#thereisnoplanetb

KAPITEL 1

AYUMI

TAG 8: SO, 21: 30 UHR, TOKIO, JAPAN

Wie lange Ayumi schon zwischen den Trümmern Tokios saß, die leblose Katze in ihren Armen wiegte und nicht mehr aufhören konnte zu weinen, wusste sie nicht.

Auch wenn es schwer für sie zu ertragen gewesen war, dass sich ihr die Naturgeister anfangs in den Körpern toter und entstellter Menschen gezeigt hatten, waren sie am Ende doch zu Freunden für sie geworden. Dass sie Kaya verloren hatte, zerriss Ayumi innerlich.

Noch immer stieg die Lebensenergie der von ihr befreiten Naturgeister aus den Überresten des Elekreen-Kraftwerks am Fuße der Schlucht. Sie tauchten die nächtliche Umgebung in ihr bläuliches Licht. Einige hatten sich bereits zu Boden gesenkt und dort, wo sie mit den Ruinen in Berührung gekommen waren, die Natur zu neuem Leben erweckt. Um den Krater herum war so binnen kürzester Zeit eine grüne Oase entstanden, aus der sich neben ein paar zerstörten Hochhäusern nur das rote Gerippe des Tokyo Towers schief in die Höhe reckte.

Am Rande bekam Ayumi mit, dass überall zarte Knospen aufbrachen und sich weiße Blüten auffächerten, bis sie in einem Meer aus duftenden Blumen saß. Doch nach allem, was geschehen war, hatte sie kein Auge für diese Schönheit. Kaya war tot, und zwar ihretwegen. Es tat so unheimlich weh und Ayumi wusste nicht, woher sie die Kraft nehmen sollte weiterzumachen.

Etwas stupste gegen ihren Ellbogen, sie blickte zur Seite und erkannte Taro, den grau getigerten Kater. Auch Yuri, der weiße Kater, saß nicht weit von ihr entfernt und beobachtete sie. Er legte den Kopf schief und kam näher, als ihre Blicke sich trafen.

»Geht es dir wieder besser?«, fragte er.

Ayumi konnte seine Stimme nur in ihren Gedanken hören. Sie drückte Kaya noch einmal fest an sich. Gerade in diesem Moment fühlte es sich an, als würde es ihr nie wieder besser gehen. Aber die Naturgeister schienen das nicht verstehen zu können.

»Sie ist meinetwegen gestorben«, antwortete sie mit brüchiger Stimme. Wenn Kaya ihr nicht geholfen hätte, wäre Ayumi jetzt tot. Nur ihr allein verdankte sie es, überlebt zu haben, doch dabei war Kaya selbst zu einem der Opfer geworden und das verzieh sich Ayumi einfach nicht.

»Der Körper, den du hältst, ist nur ein Hülle«, erinnerte Taro sie. »Du hast die Maschine zerstört, das Tor in unsere Sphäre wurde geschlossen und die Lebensenergie der Naturgeister befreit. Auch Kaya wird nun ein Teil des Energiefeldes der Erde werden.«

»Sie ist tot«, widersprach Ayumi. Ihr war klar, dass der Körper, den sie hielt, nur Kayas letzte Hülle war. Das änderte aber nichts daran, dass er alles war, was Ayumi von Kaya blieb.

Sie senkte den Blick und strich der Katze mit zittrigen Fingern übers Fell. »Dadurch, dass ihr in die Menschenwelt gekommen seid, habt ihr euch entwickelt. Ihr habt euch verändert, seid zu Individuen geworden. Kayas Einzigartigkeit ist jetzt für immer verloren. Es kann ja sein, dass sie zu einem Teil des Energiefeldes wird, aber es wird nie wieder jemanden geben wie sie. Niemand kann sie zurückholen oder ersetzen. Es …«

Ayumi stockte. Die Erde unter ihr bebte und in der Ferne war ein Rauschen zu hören. Sie schaute sich um und ihr Blick blieb am Horizont hängen.

Ihr Herz machte einen Satz. Dort, wo als glitzernder blauer Streif das Meer den Horizont hätte beschreiben sollen, erhob sich eine gigantische Wand aus Wasser. Brodelnd und schäumend wuchs sie bis hinauf in die Wolken, verdunkelte den Himmel und warf ihren Schatten über die Küste Japans und die letzten noch stehenden Gebäude der Stadt.

Fassungslos starrte Ayumi dieses Ungetüm an. Sie legte die Katze behutsam ab, zog sich auf die Beine, und taumelte wie betäubt rückwärts.

Immer weiter wuchs der Tsunami an, übertraf bald die Höhe der wenigen noch stehenden Gebäude und hing dabei, wie von unsichtbarer Hand gehalten, vor der Küste.

Noch brach das Wasser nicht über Tokio herein, doch das scheinbar nur, um mehr und mehr Kraft zu sammeln und dann mit voller Wucht zuzuschlagen. Ayumis Atem stockte bei dem Gedanken.

»Was …«, stieß sie aus. »Was passiert hier?«

»Sie schlägt zu«, meinte Taro.

»Sie? Du meinst, Terra Mater? Das kann nicht sein!« Ayumi konnte es nicht glauben. Sie hatte doch alles riskiert, alles aufgegeben, um genau das zu verhindern. Kaya hatte ihr Leben geopfert! »Aber wieso? Wieso, nachdem das Kraftwerk doch abgeschaltet ist? Wieso tut sie das?«

»Ich weiß es nicht«, gestand Taro ein.

»Wir müssen hier weg! So schnell es geht«, drängte Yuri.

Er hatte ja gut reden. Wo sollten sie denn hin? Die Flutwelle wirkte hoch genug, um ganz Tokio unter sich zu begraben – womöglich sogar ganz Japan.

»Der Tokyo Tower!«, stieß Ayumi aus. Er war das einzige Gebäude in Reichweite, das noch nicht in Schutt und Asche gelegt worden war. Zwar hing er schief über dem Abgrund, aber gerade das würde es ihr hoffentlich erlauben, an ihm hinaufzuklettern.

»Dann nichts wie los!«, sagte Taro und sprang über die herumliegenden Trümmer in Richtung des Towers und damit direkt auf den Tsunami zu.

Ayumis Herz pochte so hektisch, dass es beinahe wehtat. Ihr Blick hetzte über die Umgebung, sie fand ihre zusammengeschnürten Habseligkeiten, keine drei Meter entfernt, und wollte darauf zustürzen, doch Yuri sprang ihr in den Weg.

»Keine Zeit!« Sein Blick haftete am Horizont, und als Ayumi herumwirbelte, sah sie, dass die Flutwelle bereits dabei war, über der Stadt zusammenzustürzen.

Wie durch einen berstenden Damm brachen die Wassermassen an mehreren Stellen über das Land herein, ergossen sich in einem ohrenbetäubenden Getöse über den Küstenstrich und zermalmten ganze Gebäude, als wären sie aus Papier.

Ayumis Knie wurden weich und sie fühlte sich wie gelähmt. Zwischen ihr und der Küste lagen keine zwei Kilometer und einen großen Teil davon hatten die Wassermassen schon binnen weniger Sekunden überflutet. Wie sollte sie es rechtzeitig in Sicherheit schaffen?

»Ayumi!«, schrie es laut in ihren Gedanken. Für einen Moment glaubte sie, Kayas Stimme gehört zu haben, doch als sie sich umsah, war es Yuri, der auf einer Mauer innegehalten hatte und sie auffordernd ansah.

Sie befreite sich aus ihrer Erstarrung und rannte, so schnell ihre Beine sie trugen, direkt auf die Flutwelle zu. Ihr Puls raste und ihre Panik ließ nicht zu, dass sie weiter dachte als bis zu dem nächsten Hindernis.

Auf allen vieren überwand sie einen Schuttberg, sprang auf der anderen Seite wieder hinunter und tauchte knietief ins Wasser ein. Völlig entgeistert starrte sie auf ihre Beine.

Sie war verloren. Ayumi hob den Blick, sah die erschreckend hohe Flutwelle, die unbarmherzig näher kam, und die beiden Katzen, die bereits das Metallgerippe des Towers erklommen, während in ihr die Verzweiflung ins Unermessliche wuchs.

Nicht aufgeben. Daran musste sie denken. Daran, dass sie zu weit gekommen war, um auf den letzten Metern die Hoffnung zu verlieren.

Sie lief weiter, watete durch das eisige Wasser, wagte es nicht, noch einmal zur Küste zu sehen, und als sie endlich nach der ersten Querstrebe des Towers greifen konnte, schwappte ihr die Flut bereits bis zur Hüfte. Sie zitterte, ihre Zähne klapperten so laut, dass sie kaum klar denken konnte, und gerade als sie sich hochziehen wollte, riss ihr eine Welle die Beine weg.

Ayumi schrie und klammerte sich mit aller Kraft und Verzweiflung am Tower fest. Ihre Hand rutschte ab, das Wasser brach sich am Turmgerüst, schwappte ihr in Mund und Nase und drückte sie unter die Fluten.

»Halt dich fest!« Trotz der tosenden Fluten hallte Yuris Stimme klar und deutlich in Ayumis Gedanken wider.

Sofort zog sie sich wieder über die Wasseroberfläche und schnappte nach Luft. Mit letzter Kraft warf sie den Arm nach oben, erreichte eine Strebe und klammerte sich daran fest. Eine kleine, weiche Pfote legte sich auf ihre Hand. Es war Yuri, der den Tower zurück nach unten geklettert war, um ihr zu helfen. Wärme strömte durch seine Pfote auf sie über, vertrieb die Kälte aus ihren steif gefrorenen Gliedern und schenkte ihr neue Energie.

Sie zog sich auf die Strebe, umschlang sie mit Armen und Beinen und wagte es nicht, sich aufzurichten. Ihr Atem ging stoßartig und die Panik rauschte durch ihre Adern.

»Komm schon!«, rief Taro, der bereits das erste Drittel des Turms erklommen hatte.

Ayumi klammerte sich fester an den Turm und kniff die Augen zusammen. Das Wasser stieg unaufhaltsam und der Tokyo Tower ächzte unter seinem Ansturm.

»Ayumi!«, flehte Yuri beinahe.

»Schon gut«, stieß sie aus. Sie wusste ja, dass sie nicht feige sein durfte. Sie hatte den Tower erreicht. Jetzt musste sie nur noch den Mut finden, ihn hinaufzuklettern.

Vorsichtig richtete sie sich auf und stellte dabei mit Entsetzen fest, dass die Fluten bereits den angrenzenden Momiji-Park unter sich begraben hatten. Das Wasser warf sich wie ein wütendes Tier gegen die danebenliegenden Gebäude und begrub sie unter einer braunen Masse aus Schlick und Trümmerteilen.

Panik überkam sie. Sie wusste nicht, woher sie die Kraft nahm, doch sie richtete sich vollends auf, griff nach der nächsten Strebe und zog sich hoch.

So überwand sie Meter um Meter, bis der Wind an ihr zerrte und sie spüren konnte, wie die Fluten den Tower ins Wanken brachten. Aufgeben kam für sie nicht mehr infrage. Unter ihr stieg der Wasserpegel unaufhörlich. Die Schlucht, über der der Tower bedrohlich schief hing, war bereits geflutet und die letzten Fetzen Lebensenergie der befreiten Meliad bewegten sich wie Leuchtquallen durch das tiefdunkle Nass. Der Anblick fesselte Ayumi für einen Moment und vertrieb sogar ihre Angst.

Sie stieg weiter hinauf, hatte bald die erste Aussichtplattform überwunden und steuerte nun zielsicher auf das Top Deck zu. Immer wieder schlugen sich Wellen gegen den Tower und zwangen Ayumi, sich an die Eisenstreben zu klammern. Die Kälte war ihr tief in die Knochen gekrochen, sie bibberte und spürte ihre Finger kaum noch. Dennoch gelang es ihr schließlich, das Top Deck zu erreichen, wo sich auch Yuri und Taro in Sicherheit gebracht hatten.

Kraftlos zog sie sich auf die Brüstung und rollte sich darauf zusammen. Ihr Herz raste noch immer, und erst nachdem die Panik langsam abgebbt war, merkte sie, wie erschöpft sie wirklich war. Dennoch wirkte alles so unwirklich auf sie. Als wäre sie ein Beobachter, der ihren Körper nur von außen sah. Sie schlang ihre Arme um die Knie, schloss die Augen und betete, dass sich das Meer gnädig zeigen und den Tokyo Tower mitsamt ihr und den beiden Katzen nicht komplett unter sich begraben würde.

KAPITEL 2

ADDY

Addy schlug die Augen auf. Es war dunkel, ihr Körper war schwer und ihr Schädel brummte. Sie wusste nicht, wo sie sich befand und wie sie dort hingekommen war, doch die Geschehnisse der vergangenen Stunden überrollten sie wie eine Flut. Stöhnend griff sie sich an die Stirn.

Sie hatten alle Kraftwerke deaktivieren können, waren sicher gewesen, Terra Mater damit zu stoppen, und tatsächlich hatte sich die Natur für kurze Zeit beruhigt. Doch dann war es nur noch schlimmer geworden. Wie konnte bloß alles so schieflaufen?

War das, was Elekreen behauptet hatte, wahr? Gab es Terra Mater in Wirklichkeit nicht, waren die Meliad für die Naturkatastrophen verantwortlich und mit der Abschaltung der Kraftwerke hatten die Menschen ihre einzige Waffe gegen sie verloren? Konnte das sein? Alles schien darauf hinauszulaufen, aber wahrhaben wollte Addy es nicht. Niemals hätte sie sich in Casimir so täuschen können. Nicht in ihm.

Sofort saß sie aufrecht. Es kam ihr vor, als würde der Schuss, der Casimir niedergestreckt hatte, noch immer in ihr widerhallen. Ihr Puls raste und ihr Atem hetzte. Das durfte einfach nicht passiert sein!

Das Bild, wie Ben die Waffe abgefeuert hatte, war so klar vor ihr, dass es alles andere verdrängte. Addy presste die Hände fest gegen ihre Schläfen und versuchte, die Szene aus ihrem Kopf zu verbannen.

Nachdem sie sich einigermaßen gesammelt hatte, schaute sie sich um und stellte fest, dass sie wieder im Militärstützpunkt war. Sie saß auf dem Sofa in General O’Reillys Büro. Eilig tastete sie ihren Körper ab, um ganz sicherzugehen, dass sie ihn fühlen konnte. Sie war kein Geist, alles wirkte real auf sie. Also musste das, was sie gerade erlebte, die Wirklichkeit sein. Ihre Welt, die Welt der Menschen und der Materie und nicht Terra Maters Sphäre der Träume.

Aber wieso? Hatte man sie wiederbelebt? Anders konnte sie es sich nicht erklären.

Schwerfällig kam Addy auf die Beine, schwankte und fing sich am Schreibtisch. Eine Uhr stand darauf, durch die sie feststellen konnte, dass es spät am Abend war. Viele Stunden, nachdem Casimir ihr Herz zum Stehen gebracht hatte.

Das Gefühl der Machtlosigkeit war erdrückend. Als hätte man ihr das Herz aus der Brust gerissen und sie mit dem Schmerz alleingelassen. So fühlte es sich an.

Ihre Finger verkrampften, gruben sich ins Holz der Tischplatte und Tränen überkamen sie. Schluchzend krümmte sie sich, schrie vor Wut und Verzweiflung und drohte zusammenzubrechen. Casimir zu verlieren, tat so unheimlich weh. Ohne ihn wollte sie nicht mehr sein und sie hasste sich selbst dafür, dass sie ihn von sich gestoßen hatte, statt um das, was zwischen ihnen war, zu kämpfen. Hätten sie doch nur früher über alles reden können! Jetzt war es zu spät.

Sie fiel auf ein Knie, klammerte sich weiter an den Schreibtisch und hatte das Gefühl, innerlich zu einem Häufchen Asche zusammenzuschrumpfen.

Nichts würde ihn ihr zurückbringen und alles, was ihr blieb, war der Schmerz und das Gefühl, leer und ausgebrannt zu sein.

Eine ganze Weile saß sie zusammengekauert vor dem Schreibtisch und weinte, bis sie keine Tränen mehr hatte, um sie zu vergießen, und sich endgültig ausgehöhlt und verlassen fühlte.

Es war still. Niemand kam, niemand sah nach ihr, keine Stimmen drangen vom Korridor aus zu Addy vor. Was, wenn es niemanden mehr gab, der nach ihr sehen konnte? Wenn Terra Mater unaufhaltsam weitergemacht und die Menschheit vernichtet hatte?

Der Drang, aufzustehen und herauszufinden, was mit der Welt um sie herum geschehen war, war bald zu groß, um ihn zu ignorieren. Addy musste in Erfahrung bringen, warum die Natur sich noch immer gegen die Menschen richtete, obwohl sie aufgehört hatten, die Meliad zu töten. Noch einmal atmete sie tief durch und wischte sich die Tränen von den Wangen.

Sicher warteten vor der Tür Wachen auf sie. Nachdem das Abschalten der Kraftwerke nicht die erhoffte Rettung gewesen war, konnte Addy sich gut vorstellen, wieder eine Gefangene zu sein und wie eine Terroristin behandelt zu werden. So ruhig war es sicher nur, weil man den Korridor gesperrt hatte und niemanden zu ihr ließ.

Zittrig, wie sie war, zog sie sich hoch und ging zur Tür. Zu ihrer Verwunderung war nicht abgesperrt und im Korridor empfing sie nur gähnende Leere. Keine Wachen, keine besorgten Freunde, niemand wartete dort auf sie. Allmählich beschlich sie ein ungutes Gefühl.

Das Licht flackerte und ließ den Gang bedrohlich und düster wirken. Addy folgte ihm. Ihr Herz pochte ihr bis zum Halse, dabei wusste sie nicht einmal, was ihr so viel Angst machte. Sie bog um eine Ecke und auch dort war niemand zu sehen. Das Gebäude schien menschenleer. Wie ausgestorben.

Auch im Korridor, an dessen Ende der Ausgang lag, erwartete sie niemand. Er war unbeleuchtet, fensterlos und dadurch stockfinster. Nur durch die Türritzen fiel fahles Licht.

Zögerlich lief Addy weiter. Sie hatte Angst davor zu erfahren, was während ihres Herzstillstands geschehen war. Konnte es sein, dass der Stützpunkt evakuiert worden war und man sie dabei einfach vergessen hatte? Oder schlimmer noch: Sie waren alle tot.

Ihr Puls begann zu rasen und sie hielt die Luft an, als sie die Hand an die Tür legte. Kaum, dass Addy sie berührt hatte, schwang sie mit einem leisen Quietschen auf.

Sonnenlicht blendete sie. Erst nach und nach zeichnete sich die Umgebung vor ihr ab und ihre Brust schnürte sich bei dem Anblick zu. Der Stützpunkt war völlig zerstört worden. Kein einziges Gebäude stand mehr. Kein Stein lag auf dem anderen. Nur ein riesiges Trümmerfeld war geblieben.

Sie trat ins Freie, ließ ihren Blick über die zerstörten Gebäude wandern und wandte sich schließlich um. Selbst der Bungalow, durch den sie gelaufen war, hatte dem Erdbeben nicht standgehalten. Es war ein Wunder, dass sie im Inneren nichts von dieser Zerstörung bemerkt hatte. Wie konnte das sein? Von außen wirkte es, als wäre alles, was von dem Gebäude geblieben war, die Tür, umrahmt von einem Stück Fassade.

Addy stolperte rückwärts und sah sich weiter um. Pflanzen hatten die Trümmer nicht erobert wie sonst. Leichen sah sie auch keine.

»Hallo?«, rief sie, doch lediglich ihr Echo antwortete. Ihr war ganz mulmig. Irgendwie passte das alles nicht zusammen.

Frische Reifenspuren führten zum Haupttor und vom Stützpunkt weg. Vielleicht stimmte Addys Theorie und man hatte sie tatsächlich bei der Evakuierung vergessen. Eine andere Erklärung fand sie nicht. Aber nachvollziehen konnte sie es dennoch nicht. Weder was mit dem Stützpunkt geschehen war, noch dass man sie einfach zurückgelassen hatte. Eine innere Unruhe ergriff sie. Was war in den letzten Stunden wirklich geschehen?

Sie folgte den Reifenspuren, verließ den Stützpunkt und erklomm den Hügel, auf dem sie Casimir zuletzt gesehen hatte. Die Erde war durch das Beben aufgewühlt, aber sie hatte die Folgen weitaus schlimmer in Erinnerung.

Ihr Herz verkrampfte sich, als sie die Blutlache erblickte, dort, wo der tödliche Schuss gefallen war. Das zu sehen, machte es nur noch realer. Sie ging in die Hocke und vergrub ihre Finger in der rot gefärbten Erde.

Erneut überkamen sie die Tränen, als ein plötzliches Geräusch sie aufschrecken ließ. Addy wusste nicht, was es gewesen war, aber es kam von den Trümmern der im Tal liegenden Stadt. Dorthin führten auch die Reifenspuren.

Sie stand auf.

Kam es ihr nur so vor oder war nicht nur der Stützpunkt totenstill gewesen, sondern auch das gesamte Umland? Bis auf dieses eine Geräusch war nichts zu hören. Kein Vogel zwitscherte, nicht einmal der Wind säuselte. Sie rieb sich die Hände an der Hose ab und stieg den Hügel hinab.

Je weiter sie kam, desto mehr beschleunigte sie ihre Schritte. Vielleicht bildete sie sich das mit der Stille nur ein. Vielleicht gelang es ihr, den Militärkonvoi einzuholen, und man würde ihr alles erklären.

Addy verfiel ins Rennen. Die Unruhe, die schon im Militärstützpunkt an ihr genagt hatte, war zu einem quälenden Dröhnen in ihrem Kopf geworden. Ihre Lunge brannte bereits und ihre Gedanken drehten sich um immer mehr Fragen, auf die sie keine Antworten fand. Aber das veranlasste sie nur, noch schneller zu werden.

Sie überwand die ersten Trümmer, stieg über Mauer- und Fassadenreste, über zerstörte Möbel, Fernseher, Radios und andere Überbleibsel der Zivilisation. Überall um sie herum türmte sich der Elektroschrott und anderer Unrat. Computer, Waschmaschinen, Smartphones, so weit das Auge reichte. Wie konnte das alles zu einer einzigen Stadt gehören? Sie stockte, als sie ein klobiges Handy mit einem Blumensticker sah. Genauso eines hatte sie selbst einmal besessen.

Verwirrt lief Addy weiter, ließ ihren Blick über all den Müll wandern und verlor allmählich die Orientierung.

Aus der Ferne hatte sie noch geglaubt, Ruinen eingestürzter Gebäude zu sehen, doch nun waren da nur noch Berge an Metall, Plastik und Kabeln. Als wäre sie auf einer riesigen Müllhalde gelandet.

Vielleicht war sie das ja auch. Vielleicht hatte man vom Hügel aus nicht erkennen können, dass sich eine Mülldeponie am Rande der Stadt befand. Aber hätte Addy das alles wirklich übersehen können?

Ein Gestank stieg ihr in die Nase, von dem ihr übel wurde. Es roch nach Verwesung und kurz darauf fand sie auch die Ursache dafür. Überall um sie herum lagen tote Tiere im Schrott. Ihre Kadaver waren aufgeplatzt und unter Fell und Federn kam kein fauliges Fleisch zum Vorschein, sondern nur noch mehr Müll. Der Anblick ließ Addy erschaudern und sie umschlang ihren Oberkörper mit den Armen.

Ein paar noch lebende Vögel ließen keinen Zweifel daran, was mit ihren Artgenossen geschehen war. Dürr, mit ölverschmiertem Gefieder und trüben Augen pickten sie blind im Müll und verschluckten Plastik, Schrauben und alles, was klein genug war, um hinuntergewürgt zu werden.

Addy legte sich die Hand über Mund und Nase. Der Anblick ließ Galle in ihr hochsteigen. Übelkeit und Ekel übermannten sie beinahe, ihre Knie wurden weich und sie stolperte weiter voran.

Sie erklomm einen der Schrottberge, sah sich um und ihr Atem stockte. Fassungslos drehte sie sich im Kreis. Diese Müllhalde erstreckte sich zu allen Seiten bis hin zum Horizont. Hügel um Hügel an Schrott und Dreck, so weit das Auge reichte.

Was Addy da sah, war ihre Welt und sie war es auch wieder nicht. Sie hatte geglaubt, wiederbelebt worden zu sein, doch alles wies darauf hin, dass sie in Terra Maters Sphäre aufgewacht war. In der Welt der Träume, und zwar mitten in einem Albtraum. Tat ihr Terra Mater das mit Absicht an? Wollte sie Addy für etwas bestrafen?

»Wo bist du?«, rief sie, in der Hoffnung, die Mutter der Natur würde ihr antworten.

Die Vögel ließen sich von Addys Gebrüll nicht aufschrecken. Sie wandten ihr die Köpfe zu, sahen sie mit runden, toten Augen an und Addy war, als würde sich der Dreck, den sie gefressen hatten, darin spiegeln.

Ein kalter Schauer durchfuhr sie.

»ZEIG DICH MIR!«, schrie sie aus voller Kehle. Ihre Stimme hallte durch die endlos scheinende Müllkippe.

Es kam ihr vor, als hätte Terra in dieser Schreckensvision allen Schrott, den die Menschen je achtlos weggeworfen hatten, zusammengesucht und aufgetürmt. Es war für Addy wie ein Schlag ins Gesicht. Wie eine Anklage, gegen die sie sich nicht verteidigen konnte.

»Wieso zeigst du mir das?«, rief sie weiter. Ein sich wiederholendes »Wieso« hallte von den Schrotthügeln wider und bildete die einzige Antwort.

Casimir! Der Gedanke an ihn schoss ihr so plötzlich durch den Kopf, dass sie abrupt innehielt. Ihre Augen weiteten sich und ihr Herz begann, schneller zu schlagen. Ben hatte ihn erschossen, also war seine Seele ebenfalls in Terra Maters Welt gelandet. Addy musste ihn finden – ihn und einen Weg, ungeschehen zu machen, was Ben angerichtet hatte!

»Casimir!«, rief sie. »Casimir, ich bin hier!«

Ihr Herz pochte so hektisch, dass es ihr vorkam, als würde es sich jeden Moment überschlagen. Hoffnung hatte sich in der Leere eingenistet. Ein kleiner Funken nur, aber sie klammerte sich mit aller Macht daran.

Sie rutschte den Abhang runter, stieg über einen Berg zerknüllter Einwegflaschen und versank knietief darin. Mühsam watete sie weiter, als sie plötzlich eine Bewegung im Augenwinkel sah und herumwirbelte.

»Hallo?«, fragte sie unsicher.

Wieder war da eine Bewegung, diesmal links von ihr. Sie riss den Kopf herum, konnte jedoch nichts erkennen. Panik stieg in ihr auf. Sie kämpfte sich weiter durch die Flaschen, griff nach den Kabeln einer zertrümmerten Spülmaschine und zog sich daran aus dem Plastikberg.

Kaum, dass sie das getan hatte, raschelte es in ihrem Rücken.

Addy wirbelte herum. Da war wirklich etwas. Irgendetwas bewegte sich unter dem Schrott, ließ den Plastikberg auseinanderstieben und verschwand dann wieder in seinen Tiefen.

Ein Rumoren, weit unter ihr, ließ den Schrott vibrieren. Es klang wie der Ruf eines Ungetüms. In Addys Ohren begann es zu rauschen, sie robbte rückwärts auf die nächste Anhöhe zu, hatte sie aber noch nicht erreicht, als sich die Müllhalde direkt vor ihr teilte und etwas Riesiges aus dem Unrat brach.

Ohne erkennen zu können, was sich mit markerschütterndem Schrei auf sie stürzte, warf sich Addy herum und krabbelte, so schnell sie konnte, den Hügel hinauf.

Immer wieder gaben die Plastikflaschen unter ihr nach. Sie war kaum oben angekommen, da knallte es so laut, dass sie zusammenfuhr. Sie drehte sich auf den Rücken und erkannte gerade eben noch eine Art Flosse, die im Plastiksee versank.

Addy sah sich noch einmal um und musste mit Entsetzen feststellen, dass dieses Monster nicht alleine war. Überall um sie herum bewegte sich der Schrott. Etwas Lebendes schwamm darin wie Haie im offenen Meer. Diese Dinger umkreisten den Hügel, auf dem sie sich in Sicherheit gebracht hatte, und sie zogen ihre Bahnen immer enger.

KAPITEL 3

ADDY

ZU EINER UNBESTIMMTEN ZEIT,
IN DER SPHÄRE DER TRÄUME

Addy erklomm einen Hügel nach dem anderen und warf immer wieder gehetzte Blicke zurück. Die Panik hatte sie fest im Griff und ließ ihren Puls rasen. Ihr Atem überschlug sich beinahe und ihre Lunge brannte.

Von der Welt, die sie kannte, war nichts mehr zu erkennen. Die Müllhalde, in die sie geraten war, lag nicht am Rande einer Stadt, irgendwo in England, sondern erstreckte sich bis zum Horizont. Und wo der Schrott auseinanderdriftete, kamen eisige Fluten zum Vorschein. Es war, als wäre ganz England versunken, und geblieben war nur der Unrat, den die Menschen hinterlassen hatten.

Mehrmals schon war Addy abgerutscht und dabei beinahe ins Wasser gestürzt. Es war dunkel, zäh und von einer schmierigen Ölschicht bedeckt, mit der sich Addys Jeans bis zu den Knien vollgesaugt hatte.

Die Kreaturen, die es auf sie abgesehen hatten, gaben nicht auf. Ob es Haie oder etwas anderes war, wusste Addy nicht. Sie wusste nur, dass sie keinen Ausweg sah. Es schien nur sie, das von Müll geprägte Meer und diese Monster zu geben.

Casimir hatte gesagt, dass es in Terra Maters Sphäre keine Zeit gab. Sie hätte eine Ewigkeit in dieser Welt verbringen können, während bei den Menschen erst eine Sekunde vergangen war. Bis man ihr Herz wieder zum Schlagen brachte, wäre sie vielleicht schon Hunderte Tode gestorben. Vielleicht aber auch nur einen, endgültigen, durch den es für sie kein Zurück mehr in ihre Welt gab. Dieser Gedanke legte sich so schwer auf ihre Brust, dass sie kaum noch atmen konnte.

Tränen sammelten sich in ihren Augenwinkeln, aber sie gab nicht auf. Sie durfte nicht aufgeben! Irgendwo in diesem Höllenloch wartete Casimir auf sie und sie hatte nicht vor innezuhalten, bis sie bei ihm war.

Sie rief nach ihm, erklomm einen weiteren Hügel und griff nach einer rostigen Duscharmatur, doch dabei gab der Schrott unter ihren Füßen nach und sie stürzte schreiend ins pechschwarze Wasser.

Die Fluten verschluckten sie und Addy tauchte für einen Moment komplett unter, bevor sie sich wieder an die Oberfläche kämpfen konnte. Sie griff verzweifelt um sich, versuchte, irgendwo Halt zu finden, da krachte es hinter ihr so laut, dass sie vor Schreck herumwirbelte und geradewegs in den Schlund einer Bestie blickte.

Panisch krallte sich Addy an den Schrott, versuchte, sich wieder auf den Hügel zu ziehen, und trat nach dem zahngespickten Maul des Monsters.

Der lose Berg aus aufgehäuftem Müll trieb einfach unter ihr weg. Wieder verschlang sie das Meer, doch diesmal schaffte sie es nicht, zurück an die Oberfläche zu gelangen. Sie wusste nicht einmal, wo oben und wo unten war.

Es war so kalt, dass Addy ihre Arme und Beine kaum noch spüren konnte. Hilflos schwebte sie im Wasser, hielt die Luft an, bis ihr Körper so sehr nach einem tiefen Atemzug gierte, dass ihr Verstand aussetzte und sie den Mund aufriss. Das Wasser füllte ihre Lungen. Es brannte darin wie Feuer und ließ sie noch tiefer sinken.

In dem Moment berührte sie etwas am Bein, und ihr wurde schlagartig bewusst, dass das Monster noch da sein musste. Und es würde sie bei lebendigem Leib auffressen! Todesangst ließ ihr Herz hektisch pochen. Noch einmal versuchte sie, es an die Wasseroberfläche zu schaffen, doch mehr als ein paar hilflose Zuckungen bekam sie nicht zustande.

Erneut streifte etwas ihren Körper. Es mussten mehrere dieser Wesen sein, die sie umzingelt hatten, denn sie spürte ihre Berührungen überall. Sie umschlangen Addy regelrecht, drohten sie zu zerquetschen und hoben sie dabei so weit an, dass ihr Kopf durch die Wasseroberfläche brach.

Sie schnappte nach Luft, spuckte schwarzen Schlick und hustete. Ein öliger Film klebte ihr auf den Augen und machte es ihr schwer, etwas zu erkennen. Doch was sie verschwommen sah, war keine riesige Müllhalde mehr und auch nicht das offene Meer. Sie trieb in einem Becken, über und über mit wuselnden Fischen gefüllt. Und es war auch kein Öl, das ihr am Körper klebte. Es war nicht einmal Wasser, in dem die Fische schwammen. Es war Blut!

Addy konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Sie wollte schreien, doch dazu fehlte ihr die Kraft. Es war in diesem Becken zu eng, um sich auch nur zu bewegen. Allein das Wuseln der Fische hielt sie an der Oberfläche und immer wieder sackte sie bis zum Kinn ab.

Sie musste raus aus dieser Hölle! Raus aus dem Blut, dem Gestank nach totem Fisch und Verwesung. Aber wie?

Noch einmal sammelte sie all ihre Kraft und versuchte, die Arme zu heben. Sie griff um sich. Die glitschigen Fische schlüpften ihr unter den Händen weg, doch irgendwie gelang es ihr, sich durch die Masse bis zum Beckenrand zu kämpfen, wo sie sich hochzog und auf den Boden sank.

Dort blieb sie liegen. Ihr Kopf war leer und ihr Inneres aufgewühlt. Sie schluchzte leise und wagte es nicht, sich zu bewegen. Wieso tat Terra ihr das an? Wieso quälte sie Addy mit diesem nicht enden wollenden Albtraum? Sie hielt das einfach nicht länger aus. Sie konnte nicht mehr.

Alles, was sie wollte, war Casimir zu finden. Wie gerne hätte sie seinen Namen gerufen – ihn wenigstens geflüstert. Doch ihr Körper versagte ihr den Dienst. Ihre Stimme gehorchte ihr nicht. Sie lag einfach nur da und alles, was sie tun konnte, war atmen.

»Das ist nicht mein Körper.« Addy sagte sich das immer wieder. Sie lauschte diesen Worten, klammerte sich daran fest und hoffte, sie dadurch endlich wahr werden zu lassen. Ihr wahrer Körper war in der Sphäre der Materie. Sie hatte ihn in der Menschenwelt zurückgelassen und nur ihre Seele war auf Terra Maters Ebene gewechselt.

Die Schmerzen, die sie fühlte, die Kälte und sogar der Gestank waren nicht echt. Das alles war nur ein Traum.

Wieso gelang es ihr dann nicht aufzuwachen?

Addy blinzelte. In ihren Ohren dröhnte es, sie zitterte am ganzen Leib und alles, was sie hören konnte, war das stete Tropfen des Blutes, das von ihr zu Boden fiel.

Sie wusste nicht, wie viel Zeit sie hatte. Jede Sekunde könnte man sie wiederbeleben. Ebenso hätte es Jahrhunderte dauern können. Wenn es ihr nicht gelang, ihre Angst und Verzweiflung zu überwinden, würde sie noch bewegungslos daliegen, wenn es so weit wäre. Das durfte nicht passieren. Sie musste Casimir finden, bevor man sie zurückholte, sonst wäre er für immer verloren.

Dieser Gedanke schenkte ihr neue Kraft. Erst krümmte sie nur ihre Finger, und als ihr das gelang, versuchte sie, sich hochzustemmen, und kam wackelig auf die Knie.

Ein Blick zurück verriet ihr, dass dieser Ort aus unzähligen Fischbecken bestand, in denen es von Lachsen, Thunfischen und Heringen nur so wimmelte. Sogar Delfine und andere Meeresbewohner konnte sie im Gewusel entdecken. Über ihr flimmerten Neonröhren, aber von Wänden war in der drum herum liegenden Dunkelheit nichts zu erkennen.

Wo war sie bloß gelandet? Sie verstand nicht, warum Terra Mater ihr das alles zeigte.

Auch vor ihr lagen unzählige weitere Becken. Das verwässerte Fischblut, das ihr von der Kleidung tropfte, führte in einer Spur zwischen ihnen hindurch. Es wirkte, als hätte eben noch jemand neben Addy gesessen und wäre geflohen, bevor sie die Augen aufgeschlagen hatte. Ihr schauderte bei dem Gedanken, doch dann kam ihr etwas ganz anderes in den Sinn und ihr Herz schlug schneller.

»Casimir?«, rief sie.

Sie hatte das unbändige Gefühl, ihm ganz nahe zu sein. Es war fast so, als könne sie seinen Blick auf sich spüren. Aber wieso hätte er sich vor ihr verstecken sollen? Wieso hatte er nichts gesagt, als er bei ihr gewesen war?

Bibbernd schlang sie sich die Arme fest um den Körper, nahm allen Mut zusammen, stand auf und folgte der Spur – fort von dem albtraumhaften Anblick.

Bei dem fahlen Licht konnte sie kaum sehen. Ihre Schritte hallten durch die Dunkelheit und eine Art Nebel zog sich knöchelhoch über den Boden. Er wirbelte auf, wo Addy entlanglief, und machte es ihr schwer, der Blutspur weiter zu folgen.

Flüchtig warf sie einen Blick zurück. Von den Becken war nichts mehr zu sehen, und als sie sich wieder nach vorne wandte, erhob sich neben ihr ein monströses Gebilde. Beinahe wie ein Berg inmitten einer Lagerhalle.

Mit Ehrfurcht näherte Addy sich dem grauen Etwas und blieb abrupt stehen, als ihr klar wurde, was sie dort liegen sah. Ihr Inneres verkrampfte sich.

Es war ein Wal. Ein riesiger Blauwal. Addy schluckte schwer und konnte sich kaum regen.

Leblos lag er auf dem blutbesudelten Fliesenboden. Sein Leib war von der Rückenflosse bis hin zum Schwanz aufgeschlitzt und seine Gedärme quollen daraus hervor. Addy wurde schlecht bei dem Anblick und sie musste sich die Hand vor Mund und Nase legen. Alles in ihr drängte darauf, auf dem Absatz kehrtzumachen und davonzulaufen, doch gerade als sie einen Schritt rückwärtsmachte, bemerkte sie, wie sich das Auge des Tieres bewegte. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Der Wal sah sie an! Er lebte.

Der Blick des Tiers war trübe und lag schwer auf ihr. Er war von so viel Trauer und Leid geprägt, dass Addy nicht fähig war, auch nur zu atmen, während er sie so ansah. Es zerriss sie förmlich.

Wie fremdgesteuert ging sie auf das Tier zu, hob die Hand und legte sie auf seine von Narben überzogene Haut. Sein großes, mondrundes Auge ruhte weiter auf Addy und er stöhnte auf eine Weise, dass es einem Klagelied glich.

Addy war wie versteinert. Sie konnte nichts tun, ihm weder die Schmerzen nehmen noch ihn retten. Wie lange sie neben ihm stand und hoffte, ihm dadurch ein wenig Trost spenden zu können, wusste sie nicht. Irgendwann glitt sein Blick von ihr ab, verlor sich in der Ferne und alles Leben wich aus ihm.

Addy zog die Hand wieder weg. Sie zitterte und konnte gar nicht aufhören damit.

»Das …«, stotterte sie und stolperte rückwärts. »Das ist nicht echt!« Sie schrie die Worte in die Dunkelheit, wo sie sich als leises Echo verloren.

Das alles waren nur Träume! Es waren keine echten Tiere, die sie leiden und sterben sah, keine echten Monster, die es auf sie abgesehen hatten. Terra quälte sie, folterte sie und zeigte ihr die schlimmsten Seiten der Menschheit, doch wozu? Wieso – wo Addy doch alles daran gesetzt hatte, Elekreen aufzuhalten. Womit hatte sie das verdient?

Addy rannte weiter, rannte blindlings an Dutzenden toter, aufgeschlitzter Tiere vorbei, an Bergen aufgehäufter Robben, an Delfinen und Schildkröten, bis sich das Bild änderte, sie keine Meeresbewohner mehr sah, sondern Schweine und Kühe, die dicht an dicht in viel zu kleinen Ställen zusammengepfercht waren.

Addy hörte ihre Schreie, ihr Quieken, Stöhnen und Ächzen, ihre verzweifelten Hilferufe. Sie sah im Augenwinkel tote Körper an Ketten von der Decke hängen, hetzte durch stinkende Gehege voller Hühner, vorbei an Fließbändern, über die in rasender Geschwindigkeit Küken an ihr vorbeiflitzten, zerschreddert wurden und die Luft mit ihren Daunen füllten.

Addy rannte immer weiter, presste sich die Hände auf die Ohren, kämpfte gegen ihre Übelkeit an, zwang sich, geradeaus und nicht zur Seite zu blicken, und erkannte schließlich ein Licht, auf das sie zusteuerte.

Sie brach aus der Dunkelheit, stolperte ins Freie und fand sich auf einem Feld wieder. Als sie sich umdrehte, war von den Hallen, dem Schlachthaus und den viele toten Tieren nichts mehr geblieben. Und sie schämte sich dafür, dass sie weggesehen hatte. Nicht nur in diesem Albtraum, sondern ihr ganzes Leben lang.

Schwerfällig wandte sie sich wieder nach vorne. Das Feld, auf dem sie gelandet war, schien ausgedorrt. Fugen zogen sich durch die trockene Erde, nur hier und dort erhob sich struppiges Unkraut und über allem lag der chemische Geruch nach Pestiziden.

Addys Atem ging stoßartig, ihre Knie zitterten und die Seite tat ihr weh. Sie hielt sich die Rippen, beugte sich vor und versuchte, zur Ruhe zu kommen.

Als sie wieder hochblickte, erkannte sie Gestalten in der Ferne. Waren das Menschen? Verwundert sah sie sich um und bewegte sich langsam auf sie zu. Doch erst, als sie sehr viel näher war, bestätigte sich Addys Vermutung.

Ihre Körper waren ebenso ausgedörrt wie das Feld, das sie im Gleichtakt mit ihren Hacken bearbeiteten. Dass diese Menschen überhaupt noch stehen konnten, glich einem Wunder. Die Knochen stachen aus ihren Körpern hervor, um ihre Hüften trugen sie nichts weiter als einen Fetzen Stoff und ihre Arme und Beine waren beinahe dünner als die Stiele ihrer Werkzeuge.

Addy war sich sicher, dass auch sie zu diesem Albtraum gehörten. Das waren keine echten Menschen. Zumindest hoffte sie das, denn andernfalls musste sie sich fragen, ob auch sie irgendwann so enden würde.

»H-hallo?«, sprach sie einen der Arbeiter an. Sie konnte nicht einmal sagen, ob es ein Mann oder eine Frau war. Ihre Körper waren kaum noch von Mumien zu unterscheiden.

Der Fremde reagierte nicht, also versuchte Addy es weiter. »Ich suche Terra Mater.« Noch immer bekam sie keine Reaktion. »Sie muss irgendwo sein. Sie versteckt sich vielleicht, aber sie muss da sein. Wisst ihr, von wem ich spreche? Wisst ihr überhaupt, wo ihr seid?«

Sie griff nach der Schulter eines Arbeiters, der daraufhin zu ihr aufsah. Erschrocken stolperte Addy vor ihm zurück. Wo seine Augen hätten sein sollen, waren bloß leere Höhlen.

Auch die anderen hatten zu hacken aufgehört und starrten Addy blind an. Sie nahm all ihren Mut zusammen und fuhr fort. »Es muss in dieser Welt ein mächtiges Wesen geben. Mächtiger als alles andere. Vielleicht ist es wütend, gefährlich. Ich weiß es nicht. Versteht ihr mich überhaupt?«

Fragend sah sie von einem Arbeiter zum nächsten. Waren sie nicht nur blind, sondern auch stumm und taub? Addy wollte gerade aufgeben, da hoben sie alle zeitgleich ihre Hacken und deuteten auf Berge, die Sekunden zuvor noch nicht da gewesen waren.

»Dort entlang?«, fragte sie.

Die Fremden antworteten nicht. Reglos hielten sie ihre Hacken erhoben und starrten Addy durch schwarze, leblose Augenhöhlen an. Sie taten das so lange, bis Addy sich gezwungen fühlte, in die Richtung zu blicken.

»Also gut«, sagte sie und wandte sich den Arbeitern wieder zu, doch die waren verschwunden.

Addy stand allein auf diesem toten, von Chemikalien verseuchten Acker, der Wind pfiff über den staubigen Boden und die Berge erhoben sich bedrohlich am fernen Horizont. Sie waren der einzige Fixpunkt in dieser trostlosen Welt und Addy wurde das Gefühl nicht los, von ihnen angezogen zu werden.

Alles in dieser Sphäre schien darauf ausgelegt zu sein, dass man sie durchwanderte. Man wurde immer weitergetrieben – aber was wartete an ihrem Ende? Das Vergessen? Der endgültige Tod? Mit Sicherheit gab es dann kein Zurück mehr. Man würde sich auflösen und aufhören zu existieren. Das wurde Addy beim Anblick der Berge bewusst.

Aber sie war noch nicht bereit, zu sterben und ein Teil des Energiefeldes der Erde zu werden. Ihr Körper wartete darauf, dass sie jemand wiederbelebte.

Dennoch konnte sie nicht einfach still stehen und hoffen, zurückgeholt zu werden. Sie hatte keine andere Wahl, als weiterzugehen. Nur so konnte sie Casimir finden und Terra Mater zur Rede stellen.