Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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© 1985/2020 Klaus Ebner, www.klausebner.eu
Covergestaltung: Klaus Ebner unter Verwendung eines Bildes von Hans Braxmeier auf Pixabay (www.pixabay.com)
Herstellung und Verlag: BoD–Books on Demand GmbH, Norderstedt
Printed in the European Union
ISBN: 978-3-750439122
Sie alle kennen diese Situation: In der Schnellbahn, im Zeitdruck oder vielleicht zu früh. Wie auch immer, es war vor ein paar Wochen, als ich mit der Schnellbahn fuhr, ich wüsste gar nicht mehr genau, wann.
Verschiedene Gesichter, griesgrämige, böse und saure (wieso denke ich dabei nur an Zitronentorte?). Ab und zu ein nettes Lächeln, das dann von einem Kind kam. Bedrückte Stimmung lag in der Luft, und die meisten Augenpaare versteckten sich hinter Zeitungen oder Büchern. Kein Wunder zu dieser Zeit! Oder doch? Immerhin war ich ziemlich müde, ebenso der beleibte Herr neben mir, eine jüngere Frau dort hinten, nicht zu vergessen den … aber lassen wir das. Sonst komme ich ja nie zu meiner Geschichte.
Also, ich fuhr mit der Schnellbahn. Von meinem Platz aus konnte ich den ganzen Waggon leicht überblicken, und glauben Sie mir, nichts tue ich lieber, als fremde Menschen zu beobachten.
Wie es in Schnellbahnzügen leider allgemein üblich ist, wurden die Verbindungstüren zwischen den Waggons wiederholt mit aller Wucht zugeknallt. Raucher oder Nichtraucher (da gab es das noch!), das ist hier die Frage. Fürwahr, eine schwierige Entscheidung!
Vielleicht haben Sie schon einmal bemerkt, dass jedem Zug beschieden ist, in mehr oder minder regelmäßigen Abständen ein stotterndes Geräusch von sich zu geben, welches sich auch durch eine gewisse Erschütterung bemerkbar macht. Denken Sie jetzt auch an Schluckauf? Bei uns unter dem Namen Schnackerl bekannt. Dies ist mit einiger Wahrscheinlichkeit auf jenes Türenzuschlagen zurückzuführen.
Wir waren also in der Schnellbahn stehen, ich meine: sitzen geblieben.
Einige Meter vor mir, dort, wo über dem Kopf des Fahrgastes mehrere, im Griff durch Metall verstärkte Lederschlingen baumeln, stand ein Mann.
Oh, ich weiß, das ist nichts Ungewöhnliches, aber es kommt ja noch ...
Dieser Mann, im Grunde passt dieses Wort gar nicht so recht zu ihm, war ziemlich dick. Eigentlich überaus dick. Klar, dicke Leute haben die Gabe, sehr schnell auf sich aufmerksam zu machen. Ungewollt, versteht sich.
Obwohl ich das Aussehen des Mannes für unbeschreiblich halte, will ich versuchen, es zu beschreiben: Wie gesagt, er war auffällig dick. Und nicht nur dick, sondern auch klein. Ein richtiges Hutzelmännchen. Sozusagen.
Nein, da gibt es nichts zu spotten. Haare waren allerdings nur in spärlichem Ausmaß vorhanden, und zahlreiche Falten durchfurchten sein Gesicht. Alles in allem: ein biederer Mittelschulprofessor.
Wieso eigentlich Mittelschulprofessor?, werden Sie jetzt fragen. Hab ich es erraten?
Nun, eigentlich gibt es gar keinen objektiven Grund zu dieser Annahme. Er wirkte einfach wie ein mehr oder weniger gutmütiger Mittelschulprofessor, wie ich meine, und diejenigen unter Ihnen, denen die Schulzeit noch in frischer Erinnerung ist, werden mir keinerlei nähere Erläuterung abverlangen.
Im ersten Augenblick hatte ich diesen Mann lediglich unbewusst wahrgenommen. Mir war klar: Ja, dort steht jemand. Mehr nicht. Ganz sicher nicht. Doch gleich darauf geschah etwas, das meine geistige Trägheit – die sicherlich auf die frühe Stunde zurückzuführen war – urplötzlich ermunterte.
Der Mann kaute.
Lachen Sie nicht! Er kaute tatsächlich. Ich blickte noch einmal hin und konnte mich davon überzeugen, dass er seinen Unterkiefer wirklich bewegte, eben Kaubewegungen ausführte. Vielleicht aß er gerade mit Hochgenuss Käsetörtchen (!) oder auch Kaugummi. Igitt, dachte ich insgeheim, welch schlabbriges Zeug.
Das hängt damit zusammen, dass ich zum Kaugummigenuss denkbar ungeeignet bin, da ich, kaue ich ihn links, Zahnschmerzen bekomme, und er, kaue ich ihn rechts, an meiner Zahnkrone kleben bleibt. So weit so gut.
Der Mann, nennen wir ihn einmal Mister Knoll, kaute. Ah, Sie wundern sich, dass ich plötzlich einen Namen, noch dazu einen eher eigenartig anmutenden Namen verwende.
Persönlich kenne ich Mister Knoll ja nicht, deshalb nutze ich einen mir persönlich zurechtgelegten Namen, damit ich nicht dauernd der Mann sagen muss. Und da seine Nase sehr rund und kurz war, beschloss ich, ihn schlicht Mister Knoll zu taufen.
Außerdem … wer sagt denn, dass er nicht tatsächlich so heißt? Wissen Sie es …? Na eben.
Mister Knoll hielt sich an einer Haltestange fest. Ich denke, er war zu klein, um die Lederschlingen zu erreichen. Bis auf dass er kaute, war nichts Ungewöhnliches an ihm. Außer, dass er ziemlich dick war. Und klein. Er trug eine karierte Jacke oder ein Sakko, eine einfarbige Hose und schwarze Schuhe. Mir fiel dabei auf, dass er weder eine Tasche noch ein Nylonsackerl trug. Wo bewahrte er denn seine Ausweise, das Geld und was man sonst noch braucht auf? Einen ersten Hinweis auf die Lösung dieses Rätsels sollte ich erst später erhalten.
Meine erste Episode endete jedoch damit, dass Mister Knoll gleich in der nächsten Station die Schnellbahn verließ und verschwand. Nirgends konnte ich ihn im Getümmel ausmachen.
Im ersten Moment trauerte ich dem nach, aber dann vergaß ich es völlig.
Wie das Leben so spielt: Wenn man irgendwohin fährt, muss man auch wieder zurückfahren. So fand ich mich am Abend desselben Tages in einer Schnellbahn wieder, die in die entgegengesetzte Richtung fuhr: Griesgrämige Gesichter, böse Blicke … ja, ja, das kennen Sie schon.
Und plötzlich – Sie erinnern sich, dass ich vom Schluckauf sprach – knallte die Verbindungstür zum Waggon hinter meinem Rücken zu. Ich fuhr gehörig zusammen, war jedoch darauf bedacht, mir nichts anmerken zu lassen.
Sicherlich warten Sie schon darauf, auf das jetzt Kommende, das Sie sich in Gedanken bereits zurechtgelegt haben, und Ihr Scharfsinn soll nicht enttäuscht werden: Neben mir watschelte Mister Knoll zu den Türen, wo die Lederschlingen baumelten, die er wegen seiner geringen Körpergröße nicht erreichen konnte.
watschelte