Über das Buch

Jack Robbins ist Entertainer, Ronnie Dean ist Zauberer. Gemeinsam steigen die Freunde Anfang der Fünfzigerjahre in Brighton ins Showgeschäft ein. Als Evie White zu ihnen stößt, kommt der große Erfolg. Aber dann beginnt Evie – erst nur Ronnies Assistentin, dann seine Verlobte – eine Affäre mit Jack. Wenig später verschwindet Ronnie während eines Auftritts und bleibt verschwunden. Als könnte er wirklich zaubern.

Hypnotisch und verführerisch elegant erzählt der große englische Romancier Graham Swift von den magischen Momenten im Leben, die sich selten im Rampenlicht abspielen. Von Liebe und Freundschaft. Von Schein und Schönheit einer Welt voller Wunder.

Von Graham Swift ist bei dtv außerdem lieferbar:
Das helle Licht des Tages
Schwimmen lernen
Wasserland
Im Labyrinth der Nacht
Letzte Runde
England und andere Stories
Ein Festtag
Wärst du noch hier
Einen Elefanten basteln

 

 

 

 

Für Candice

Doch das war nicht alles. Das war nur das anfängliche Zurückstutzen. Das kleine Haus in Bethnal Green – wie klein es ihm vorkam – umgab ihn wie ein Gefängnis. Es war weitgehend unverändert, auch unbeschädigt (andere Häuser in der Straße waren verschwunden), und dass es demütig solche Standfestigkeit bewies, wie seiner Mutter auch, hätte ihn beeindrucken können. Aber er fühlte sich eingesperrt. Er hatte Schuldgefühle – wie auch nicht, schließlich kehrte er in eine Gefängniszelle zurück. Für ihn als kleiner Junge war es sein Zuhause gewesen und für kurze Zeit das Zuhause eines Papageis, der, wenn man der schamlosen Lüge seiner Mutter glaubte, entflogen war. Aber jetzt hatte sie recht, gekränkt zu sein.

Wie sehr, dachte er, glich sein Schicksal dem des eingesperrten Vogels!

Es folgte ein Jahr, in dem Mutter und Sohn – irgendwie – ein Zusammenleben versuchten. Die unumstößliche Tatsache war, dass sie einander nicht kannten. Oder vielmehr kannte Mrs Deane ihren Sohn nicht wieder, und das musste Ronnie akzeptieren. Sie war nicht weggewesen, sie war dageblieben. Sie arbeitete immer noch als Putzfrau. Er hingegen sehnte sich nach den Lawrences und allem, was er jetzt nicht mehr hatte. Das verstand sie nicht, und hätte sie es verstanden, hätte sie kein Mitgefühl gehabt. Aber sie wusste, dass er ein anderes Zuhause gefunden hatte, ein anderes, besseres Leben. Das empfand sie gleichermaßen als beschämend und schmerzlich.

All das war ihm bewusst. Er hatte ihr das angetan. Aber er war lediglich als Unschuldiger (und zum Glück nicht als Opfer) in eine große historische Notsituation hineingeraten. Er empfand sich – was für ein schreckliches Eingeständnis – gegenüber seiner eigenen Mutter als Fremder. Sie kannten sich nicht? Mehr noch, sie gehörten nicht zusammen. Ja, sie sagten sich voneinander los.

Es folgte eine Zeit, in der Ronnie abermals »von zu Hause wegging«, obwohl er nie weit von Bethnal Green entfernt war, und manchmal schlich er sich, zu seinem eigenen Unbehagen, zurück, schließlich musste er irgendwo schlafen. Hätte er sich zu den Lawrences zurückstehlen können und hätten sie ihn willkommen geheißen? Ja, unter Schwierigkeiten, aber ja – mit großer Freude.

Doch Ronnie wusste – er war jetzt sechzehn, bald siebzehn –, dass er auf eigenen Füßen stehen musste.

Es waren seine Wanderjahre, eine Zeit, die sich von allem, was vorher gewesen war, unterschied und in der er sich mit einfachsten Tätigkeiten an Theatern einen Hungerlohn verdiente. Er lernte dabei, wie man dort arbeitete, und manchmal ließ er durchblicken, dass er selbst auch etwas zu bieten hatte – also, auf der Bühne. So erfuhr er, was es bedeutete, da oben zu stehen, was sie von einem verlangte und wie hart ihre Bretter sein konnten. Dazu wurde er in das umfassende Geflecht des Theaters eingeweiht, das komplexe, unbeständige Netz von Verbindungen. Er lebte, wo er Platz fand, schlief an sonderbaren Orten und – schließlich war er ein junger Mann – mit jedem Mädchen, das ihn nahm und ihm helfen konnte. Oder umgekehrt. Mit jedem Mädchen, und es gab etliche in diesem rauen, glitzernden, hoffnungsvollen, trügerischen, theaterversessenen, undankbaren, magischen Betrieb.

Es sei ein hartes Geschäft, hatte Eric Lawrence gesagt. War Ronnie dazu bereit? Eric hatte über die Doppeldeutigkeit seiner eigenen Worte gelächelt. »Es gibt keine Zauberstäbe, Ronnie. Es gibt welche, und es gibt sie auch wieder nicht. Verstehst du, was ich meine?« Zeit und Entschlossenheit seien nötig, hatte Eric Lawrence erklärt und mit Nachdruck hinzugefügt, Ronnie habe die Grundzüge der Zauberkunst erlernt, jetzt müsse er lernen, dass sie ihn ins Unterhaltungsgeschäft führte.

Zauberei und Entertainment waren nicht immer dasselbe, aber er musste sie miteinander verbinden, wollte Ronnie seinem Ruf ernsthaft folgen. Außerdem bedeutete Entertainment, dass man den Menschen gab, was sie wollten, und nicht unbedingt das, was er selbst wollte und wozu er in der Lage war. Es bedeutete, das Publikum zu verstehen und sich vor ihm (»in jeder Beziehung, Ronnie«) zu verneigen. Aber vor allem bedeutete es, dass man lernte, was es mit »den Brettern« auf sich hatte. Und das könne er Ronnie in Evergrene nicht beibringen.

Also musste Ronnie diese Erfahrungen selber machen.

Doch damit Ronnie von all diesen Ermahnungen nicht zu sehr entmutigt wurde, sagte Eric Lawrence dann: »Du brauchst einen Künstlernamen. Auf der Bühne brauchst du einen Namen – so wie ich Lorenzo war. Welchen Namen möchtest du dir zulegen?«

Als hätte er die Frage allein der Form halber gestellt, ließ er nur eine kurze Pause für Ronnies Antwort (der ohnehin keine Idee hatte).

»Ich finde, du solltest dich ›Pablo‹ nennen, was meinst du? Findest du nicht, dass Pablo ein guter Name für dich wäre?«

Wie konnte Mr Lawrence das wissen? Wusste er es denn? Ronnie hatte den Papagei nie erwähnt. Selbst als sein Vater starb – vielleicht danach mit noch größerer Entschlossenheit –, hatte er nie von dem Papagei gesprochen, den es immer noch irgendwo in einem Käfig geben musste, bei einem neuen Besitzer oder einem Tierhändler (wie überstanden Tierhändler den Krieg?). Oder er war, falls es ihm doch gelungen war zu entfliegen, an einem anderen Ort, den nur er selbst kannte.

»Wo ist Pablo? Da bin ich!«

Oder vielleicht – aber darüber wollte Ronnie nicht nachdenken – war er umgekommen, ein Opfer feindlicher Angriffe. Ein Papagei im Käfig wäre möglicherweise der Erste, der zu leiden hätte und sogar brutal geopfert würde, wenn die Bomben pfeifend auf Menschen fielen.

Aber natürlich hatte Eric Lawrence einen anderen Grund.

»Das ist doch dein zweiter Vorname, Ronnie, oder? Dein richtiger Name. Paul. So wie mein richtiger Name Lawrence ist. Ich habe mich für ›Lorenzo‹ entschieden. Aber ich finde, ›Pablo‹ klingt besser, meinst du nicht?«

Wäre es mit seiner Karriere als Zauberer weitergegangen, wenn er sich einfach »Ronnie« genannt hätte?

Dann kam die Zeit des Militärdienstes, und er wurde eingezogen. Das mit Pablo und anderen Namen war schön und gut, aber jetzt war er der Gefreite Deane und bekam eine Nummer. Er hatte das Glück, seine Militärzeit recht bequem und mit wenig soldatischen Tätigkeiten absolvieren zu können, das Zaubern gehörte freilich nicht dazu.

Und wenigstens war seine Mutter halbwegs ausgesöhnt. Endlich hatte er eine ordentliche Arbeit und bekam regelmäßig seinen Lohn, von dem er ihr pflichtbewusst abgab. Und vielleicht würden anderthalb Jahre in der Armee den ganzen Zauberunsinn aus seinem Kopf vertreiben und ihn auf den Boden der Tatsachen zurückholen.

Während seiner Militärzeit konnte er am Wochenende sogar nach London fahren und seine Mutter besuchen. Der Armee war es zu verdanken, dass sein Leben in so gewöhnlichen Bahnen verlief wie nie zuvor. Und er lernte sogar dazu und wurde auf den Umgang mit der überwältigenden Normalität des Lebens vorbereitet und darauf, wie man ein braver kleiner Bürojunge wurde. Aber woraus seine militärischen Pflichten in Wirklichkeit bestanden, verschwieg er seiner Mutter (»Na ja, das Übliche. Marschieren und so.«), und er erzählte weder ihr noch Jack von den Wochenenden, die er bei den Lawrences verbrachte. Er nahm dann einen anderen Zug. Von Bournemouth gab es eine günstige Verbindung.

Meine Güte – Gefreiter Deane. Wie erwachsen ihr kleiner Ronnie geworden war! Während des ganzen Krieges hatte er hier bei ihnen gelebt, und jetzt war er selbst Soldat. Er setzte sich wieder auf die niedrige Mauer des Frühbeets. Auch Ingwerbier gab es noch. Tranken Soldaten Ingwerbier? Mrs Lawrence hatte sich diese Frage vielleicht selbst gestellt und Bier von der Marke White Shields gekauft. Woher wusste sie, dass das schon jetzt sein Lieblingsbier war? Später trank er es im Walpole.

Seiner Mutter erzählte er, dass er an den Wochenenden, die er bei den Lawrences verbrachte, zu Sonderübungen musste. Das war nicht gelogen. »Übung« war ein praktisches Wort. Für ihn selbst war es eher ein »Auffrischungskurs«.

Beim Militär hatte er Jack Robbins kennengelernt, später als der Flinke Jack bekannt. Die meisten freien Wochenenden verbrachte er mit Jack in London, wo sie sich auf verschiedenste Unternehmungen einließen. Manchmal gingen sie einfach ihrem Vergnügen nach, manchmal waren es auch nützliche Geschäftsunternehmungen. Hätte er Jack seiner Mutter vorstellen sollen? Hätte Jack sie umgarnen und von den mannigfaltigen Reizen einer Karriere im Unterhaltungsgeschäft überzeugen können?

Oder wäre es selbst Jack schwergefallen, sie für sich einzunehmen? Aber Ronnie lernte umgekehrt Jacks Mutter auch nicht kennen. Es war nicht gerade das, womit Wehrdienstleistende ihre freien Wochenenden verbrachten – mit Besuchen bei den Müttern ihrer Freunde.

Sie taten sich zu einem Doppel zusammen, das von kurzer Dauer war und erfolglos blieb. »Jack und Pablo«? Nein. »Pablo und Jack«? Auch nicht. »Die zwei Amigos«? Ja, aber nicht lange. Es war eine vernünftige und freundschaftliche Trennung.

Und so gingen Ronnies Wanderjahre in der Wildnis des Westends und in den Schuppen der Provinz weiter, während Jack erste Erfolge hatte, sich zum Flinken Jack wandelte und es zu etwas brachte, bis er eines Tages seinem alten Freund – und Amigo – anbot, wenn der sich eine Assistentin zulegte …

Leicht gesagt, und vielleicht war er selbst schon darauf gekommen. Da war nur ein Haken.

Doch dann starb Eric Lawrence. Die Lawrences waren keineswegs alt, andererseits waren sie auch keine jungen Leute mehr. Eric Lawrence erwähnte manchmal – ein weiterer Grund, warum er der Bühne den Rücken gekehrt hatte – sein schwächelndes Herz. Sein Tod war ein Schlag, der eine riesige Kluft in Ronnies Welt riss und zugleich Klärung bedeutete – Zauberer starben –, und während Ronnie seine Trauer vor seiner Mutter verborgen hielt, war er, auch das im Verborgenen, zu Penny Lawrence gefahren, um sie zu trösten und bei der Beerdigung an ihrer Seite zu sein. Er dachte wieder an den Abend, als er vom Tod seines Vaters erfuhr und Eric Lawrence zu ihm ans Bett gekommen war, um ihn zu trösten, und dann das Zimmer verlassen hatte. Wie er plötzlich von einer Tränenflut überwältigt worden war.

Auf die Anzeige meldete sich Evie White.

Wie ein Geschenk (obwohl sie nicht vorhatte, irgendwelche Dienstleistungen umsonst anzubieten), war sie in das Leben von Ronnie Deane getreten, so wie Ronnie damals wie ein Geschenk in das Leben von Eric und Penelope Lawrence getreten war. Aber davon wusste Evie nichts, auch nichts von dem »Zauberlehrling«, was sowieso nur eine scherzhafte Anspielung von Jack war.

Der Mann, den Evie vor sich hatte, war nicht sehr groß und keineswegs imposant, aber er hatte schönes schwarzes Haar und auffallend dunkle Augen. Etwas ging von ihm aus, das man mit der Zeit schätzen lernte.

Er sagte: »Eine günstige Fügung hat mir einen kleinen Betrag zugespielt, Miss White.«

Das klang ermutigend und interessant – einmal, dass er das überhaupt sagte, und dann, dass er es so schnell nach der Begrüßung sagte. Das wäre nicht nötig gewesen. Sie musste nicht wissen, wovon er ihr Gehalt bezahlen würde, solange er es bezahlte.

Sie brauchte auch nichts Genaueres über diese günstige Fügung zu wissen und wäre zu diesem Zeitpunkt auch nicht so dreist gewesen, danach zu fragen, obwohl sie neugierig war. Deshalb wusste sie auch nicht – würde es aber mit der Zeit erfahren –, dass Eric Lawrence, früher als Lorenzo bekannt, gestorben war und Ronnie Deane in seinem Testament (mit Zustimmung seiner Frau) eine beträchtliche Summe sowie einen großen Teil seiner professionellen Ausrüstung vererbt hatte. Auch wusste sie nicht, dass er der Zauberer war, bei dem Ronnie seine Lehre gemacht hatte.

»Fügung«, dachte sie später, war ein bisschen wie das Wort »Zauberer«. Eine Art Hokuspokuswort, das mit allen möglichen Bedeutungen schillern konnte. Jeder konnte behaupten, eine günstige Fügung habe ihm etwas zugespielt. Und wenn man Zauberer war, vielleicht konnte man dann eine aus dem Nichts herbeizaubern.

Das Wort »Zauberer« war es gewesen, das sie an der Anzeige gelockt hatte – Assistentin konnte jede sein –, und deshalb war sie hier an diesem Oktobertag. Mit Zauberei zu tun zu haben. Warum nicht? Einen Versuch war es wert.

Magisch sah dieser Mann allerdings nicht aus, und von einer günstigen Fügung war auch nicht viel zu spüren. So bescheiden von einem »kleinen Betrag« zu sprechen, konnte bedeuten, dass er so klein nicht war, aber ihn überhaupt zu erwähnen, legte die Vermutung nahe, dass Ronnie normalerweise völlig abgebrannt war, und so sah er auch aus. Hatte er schon in Händen, was ihm die günstige Fügung zugespielt hatte?

Andererseits war sie selbst auch abgebrannt. Ein weiterer Grund, warum sie sich vorstellte.

Sie lächelte. »Das freut mich sehr, Mr Deane.«

Sie schlug die Beine übereinander. Immer lächeln, Evie, und pass auf deine Beine auf.

»Junge Dame bevorzugt. Bühnenerfahrung Voraussetzung.« Welches junge Mädchen – welche junge Dame – meldete sich auf eine solche Anzeige. Nicht viele, dem Anschein nach. Sie war allein da. Und sie erfüllte die beiden Voraussetzungen. Singen wurde offenbar nicht verlangt.

Sie trafen sich in einem Probenraum im Obergeschoss des alten Belmont Theatre. War das ein Vorstellungsgespräch, oder sollte sie vorspielen? Anscheinend nur ein Gespräch.

»Ich heiße Evie«, sagte sie. »Nennen Sie mich Evie.«

Irgendwo unter ihnen hörten sie Bühnenarbeiter hämmern. Evie war mit solchen Orten vertraut. Die Räume wurden stundenweise vermietet, wenn die ansässige Truppe sie nicht brauchte. Offenbar hatte er weder ein Büro noch eine anständige Wohnung. Und welches Mädchen wäre schon in ein ärmliches möbliertes Zimmer gekommen? Der Probenraum mit dem Lärm der Zimmerleute wirkte neutral und sicher. Andererseits war sie allein. Auf der Treppe wartete keine Schlange anderer Bewerberinnen, niemand sonst schien sich gemeldet zu haben. Also keine Konkurrenz?

»Tee?«, fragte er. »Ich mache mir selbst auch welchen. Milch? Zucker?«

Worte ohne Zauber, aber die dunklen Augen hatten etwas. Sie hielt es für das Beste anzunehmen.

Er verschwand in einem Kabuff, das vom Flur abging. Falls ihr das hier nicht behagte und sie sich aus dem Staub machen wollte, war dies ein günstiger Moment. Dann wäre er mit den Teebechern in der Hand zurückgekommen und hätte sie nicht mehr vorgefunden. Möglich, dass er von ihrem Zauberakt des Verschwindens beeindruckt gewesen wäre, aber sie hätte auch die Stelle nicht bekommen.

Und ihr Leben wäre völlig anders verlaufen.

»Ich heiße Ronnie«, sagte er. »Nenn mich Ronnie. Da wären wir. Zweimal Tee.«

Er war freundlich, ganz ohne Allüren.

»Ich probe hier regelmäßig. Ein großer Teil meiner Ausrüstung ist hier.«

Ausrüstung?

»Ich hatte einen Auftritt in einer ihrer Shows. Ein Entgegenkommen der Leute hier.«

Der Raum war karg mit einer Dachluke. Ein paar Stühle, ein Tisch, an dem sie jetzt saßen, ein niedriges Podest, das als Bühne diente. Ein weniger für Zauberei geeigneter Raum wäre schwer zu finden gewesen.

»Bisher habe ich natürlich immer für Soloauftritte geprobt. Ich bin noch nie mit einer Assistentin aufgetreten.«

Ah.

Bei dem Wort »Assistentin« hatte er, so kam es ihr vor, eine kleine Pause gemacht, als hätte ihm ein besseres einfallen sollen, aber wenigstens waren sie jetzt beim Thema. Jetzt hatte sie Gelegenheit, ein paar Fragen zu stellen. Was würde von ihr erwartet?

»Die üblichen Zaubertricks«, sagte er, was ihr nicht unbedingt weiterhalf. Was, bitte schön, verstand man unter den »üblichen Zaubertricks«?

»Tricks, die das Publikum sehen will. Man muss dem Publikum geben, was es sehen will, was es erwartet.«

Diese Lektion hatte sie auch schon gelernt, doch das war nicht der eigentliche Grund, warum sie sich gemeldet hatte. Seine brummige Zutraulichkeit hatte etwas Anrührendes. Aber erwarteten die Menschen überhaupt Zauberei?

»Ich muss ein paar neue Programmpunkte vorbereiten. Aber zugleich beschäftige ich mich mit neuen Illusionen.«

Illusionen?

Er hob den Becher, als wollte er ihr zuprosten. »Das erarbeiten wir zusammen.«

Hieß das, sie hatte die Stelle? Irgendetwas hieß es, so viel stand fest. Zusammen erarbeiten. Über den Rand des Bechers waren seine Augen besonders intensiv. Der obere Teil seines Gesichts war das, was den Blick anzog. Sonst schien er ein eher unauffälliger, wenig bemerkenswerter Mann zu sein, außerdem ein bisschen unterernährt. Vielleicht musste man ein Träumer sein, wenn man Zauberer werden wollte. Andererseits schien er sich seiner selbst recht sicher, und sein Gang – das war ihr aufgefallen, als er mit den beiden Teebechern in den Raum gekommen war – hatte eine gewisse Anmut. Und seine Augen waren geradezu berückend.

Offenbar ging es nicht um die Frage, wurde ihr allmählich klar, was sie tun sollte, sondern darum, was er mit ihr anstellen wollte.

Er taxierte sie, das merkte sie. Na gut. Daran war sie gewöhnt. Sie selbst hatte keine »Illusionen« und vermutete, dass die Rolle der Assistentin eines Zauberkünstlers hauptsächlich darin bestand, schmückendes Beiwerk zu sein. Doch schon jetzt entstand in ihr ein ansteckendes Gefühl von Beteiligung, von Partnerschaft bei dem, was immer es war, das sie zusammen tun würden.

Und sie taxierte ihn doch auch, oder?

»Auch für mich ist das ein neuer Aufbruch, Ronnie.«

Sie war ziemlich zufrieden, dass ihr dieser Ausdruck eingefallen war: »Ein neuer Aufbruch.« Wie war ihr der in den Kopf gekommen?

Aber würde er sie nicht um etwas bitten? Vorstellungsgespräch oder Vorspielen? Dies war ja ein Probenraum. Natürlich hatte sie keine Zaubertricks auf Lager, aber eine Kostprobe ihres Könnens, dazu war sie in der Lage, und warum nicht? Von einem Kostüm war nicht die Rede gewesen, aber wenn sie ihren Rock raffte, ein paar Drehungen machte und die Beine in die Luft warf – damit sicherte sie sich vielleicht die Stelle, falls sie noch gesichert werden musste. Das wäre dann ihr Trick.

Hatte er überhaupt schon an ein Kostüm gedacht? Sie würde ja eins brauchen. Und da sind wir auch schon: In ihrem Kopf fing sie bereits an, gemeinsame Sache mit ihm zu machen, ja, sanft die Führung zu übernehmen. Ganz schön aufregend. Sollte die Frage nach einem Kostüm aufkommen, konnte sie ohne Weiteres eins bereitstellen. Aber war das ihre Aufgabe? Jede Revuetänzerin, die etwas auf sich hielt, wusste, wie man ein Kostüm fand, lieh, stahl oder einfach besaß.

Und als der Moment kam und er das Kostüm – oder sie in dem Kostüm – sah (sie wusste, wie man sich präsentierte) –, glaubte er wirklich, wie deutlich zu sehen war, dass sein Glückstag gekommen sei. Erst die günstige Fügung, dann das hier. Bingo!

Zauberei? Konnte sie das nicht selbst auch? Warum, fragte man sich, kam nicht jeder auf dieselbe schlaue Idee? »Zauberer sucht Assistentin.« Als sie – aber das war später – mit Ronnie auf der Bühne stand und Zaubertricks vorführte, fand sie es nicht unbescheiden anzunehmen, dass die Augen aller Männer im Publikum mehr auf sie gerichtet waren als auf Ronnie. Sicher, die Zaubertricks waren gut, aber der beste Trick, der Haupttrick war sie selbst. Oder die Männer dachten: Hätte ich nur die magische Anziehung von ihm.

Und solange das Publikum von ihr gebannt war, beobachtete es Ronnie nicht bei den raffinierten Dingen, die er vollführte. Sie hatte eine Funktion. Man nannte das, erzählte er ihr später in einem Ton, als wäre es eins der offensichtlichsten und langweiligsten Prinzipien der Zauberkunst, »die Aufmerksamkeit ablenken«. In einem ähnlichen, entschuldigenden Ton sprach er von der »Macht der Suggestion«.

An dem Tag damals im Oktober bat er sie nicht darum, ihm etwas vorzuführen. Also war es nur ein »Vorstellungsgespräch« – wenn man es so nennen konnte – mit Tee. Ein kahler, kühler, staubiger Probenraum an einem Vormittag im Herbst. Aber wie seltsam anheimelnd und zweckdienlich er mit einem Mal war. Hatte Ronnie sie beide verzaubert? Sie hielten ihre Teebecher mit beiden Händen, als wären sie Bauarbeiter, die um eine Kohlepfanne saßen.

»Alles zu seiner Zeit«, sagte er. »Wollen wir uns nächste Woche wieder hier treffen? Am Dienstag? Ich kann den Raum dienstags für zwei Stunden buchen. Dann fangen wir mit der Arbeit an.«

Hieß das, sie hatte die Stelle? Er hatte die Ruhe weg, wie jemand, der beim Militär viel Zeit damit zugebracht hatte, sich rauszuhalten, Dinge zu vermeiden, sich nicht freiwillig zu melden. Das konnte man leicht erkennen. Sie waren alle nach einem Muster geschnitzt. Er war bestimmt noch keine dreißig, nicht viel älter als sie. Und sie fragte sich, wie das wohl gepasst hatte: ein Zauberer beim Militär. Man konnte sich ihn schwerlich als Soldaten vorstellen. Andererseits war es auch nicht ganz leicht, sich ihn als Zauberer vorzustellen.

Hätte sie ihn bitten sollen, einen Zaubertrick vorzuführen? Nur so, als Probe?

Endlich, als hätte er es vergessen – sie hatte ein bisschen gehüstelt, und es war deutlich, dass er nie zuvor jemanden eingestellt hatte –, kam er auf den Lohn zu sprechen, den er ihr bezahlen würde. Es war mehr, als sie erwartet hatte. Aber sie tat so, als hätte sie damit gerechnet, und sagte zu.

Er sagte: »Wir können den Winter über eine Nummer ausarbeiten. Ich kenne jemanden, der uns in seiner Show in Brighton nächsten Sommer einen Auftritt gibt.«

Jeder kennt jemanden, der jemanden kennt. Jeder hatte einen Freund. Auch das hatte sie inzwischen begriffen.

»Noch eins«, sagte er, »mein Bühnenname ist Pablo.«

Beinah hätte sie gelacht. Von Ronnie zu Pablo, das war ein ziemlich großer Sprung, aber er sagte es ohne den leisesten Anflug von Peinlichkeit, eher mit einer Spur von Stolz. Und Ronnie, das musste sie zugeben, war kein guter Bühnenname. »Pablo« hingegen – das passte zu den dunklen Haaren und diesen Augen und zu der unerwarteten Anmut.

»Und du solltest dich Eve nennen.« Auch hier gab es kein Zögern. »Evie hört sich nicht so gut an, oder? Eve. Pablo und Eve.«

Und er hatte recht. »Evie« war wie »Ronnie«. Aber »Pablo und Eve«, das hatte einen gewissen Klang.

Es war sicher nicht am ersten Dienstag, auch nicht am zweiten, sondern an einem anderen Tag, aber sie waren in demselben Probenraum, als sie unvermittelt zu ihm sagte: »Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du umwerfende Augen hast, Ronnie?« Das war ziemlich dreist und gewagt, selbst zu diesem Zeitpunkt noch. Aber sie war Evie White, sie hatte nie lange gefackelt und alles wenigstens einmal probiert.

Es war in einer ihrer Teepausen. Ziemlich seltsam war das jedes Mal. Gerade noch hatten sie gezaubert – sie zauberten wirklich –, dann machten sie Pause und tranken Tee. Manchmal bereitete sie den Tee, manchmal er, abwechselnd. Und es musste auch seltsam ausgesehen haben, eine Frau in Chiffon mit Pailletten und Federboa, die in dem Kabuff mit dem fleckigen, versifften Becken den Wasserkessel füllte und die Teekanne anwärmte. Der Federschmuck war hinderlich, und wenn sie nicht aufpasste, konnte sie Dinge umstoßen, aber sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, sich mit ihrem Beiwerk in Acht zu nehmen, so wie ein Tier mit seinem Schwanz. Revuetänzerinnen hatten dafür einen siebten Sinn.

Mit Ronnie zu arbeiten machte Spaß. Sie hätte nie geglaubt, dass man bei der Zauberei auch lachen konnte, und vielleicht war auch Ronnie früher nie der Gedanke gekommen. Sie konnte oft beobachten, wie sein Gesicht, wenn sie einen Trick ausführten, einen ernsten, geradezu Furcht einflößenden Ausdruck annahm und er ganz verändert war, aber in den Pausen lachten sie viel. Er war Zauberer, trotzdem konnte er auch ganz gewöhnliche Dinge komisch oder lustig finden.

Als sie sich eine Weile kannten, sagte er gelegentlich zu diesem oder jenem: »Heilige Scheiße, Evie, heilige Scheiße.« Das machte ihr nichts aus. Wer sich an deftiger Sprache stieß, sollte nicht beim Theater arbeiten. In gewisser Weise fühlte sie sich privilegiert. Sie hatte das Gefühl, er hätte das gern gesagt, als er sie das erste Mal in ihrem Kostüm sah. »Heilige Scheiße, Evie.« Eigentlich hatte es etwas seltsam Unschuldiges. Und es war kaum anders als der Ausruf ihrer Mutter bei allen möglichen Gelegenheiten: »Holla!«

Hatte sie es gesagt, als sie beide den Dampf von ihren Teebechern bliesen? Keine Frage, auch sie wusste ihre Augen einzusetzen. Inzwischen hatte er sich an sie in ihrem Kostüm gewöhnt. Daran, dass auch er sich vor den Federn in Acht nehmen musste. Sie hatte eine Wolldecke, die sie sich umlegte – das war praktischer als ein Morgenmantel. Als wäre sie ein Pferd.

»Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du umwerfende Augen hast, Ronnie?«

Jetzt hatte sie es gesagt. Und er gab ihr seine Antwort. Hatte sie das provoziert – diese oder eine andere Antwort mit ähnlicher Wirkung? Grund, sich zu beschweren, hatte sie nicht.

»Es sind nicht die Augen, Evie, sondern das, was sie sehen.«

Und dabei blinzelte er kein bisschen. Sie wahrscheinlich schon.

Sein Freund, dieser »Jemand«, der vielleicht Arbeit für sie hatte, war Jack Robbins, Bühnenname der Flinke Jack. Ronnie hatte sich Zeit gelassen, das zu erwähnen.