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Henrik Berggren

Olof Palme

Vor uns liegen wunderbare Tage

Die Biographie

Aus dem Schwedischen von Paul Berf
und Susanne Dahmann

btb.eps

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Die schwedische Originalausgabe erschien 2010

unter dem Titel »Underbara dagar framför oss.

En biografi över Olof Palme« bei Norstedts, Stockholm.

Die Übersetzung wurde von The Swedish Arts Council gefördert.

Der Verlag bedankt sich dafür.

1. Auflage

Copyright © 2010 by Henrik Berggren und Norstedts, Stockholm

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by btb Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile
Coverfoto: Jonas Sjöberg

Lektorat: Dr. Martina Klüver

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-04500-5
V002

www.btb-verlag.de

»Les beaux jours sont devant nous.«

Französisches Sprichwort, 1968 von Olof Palme zitiert.

»Die Irrungen der Zeit und der Mangel

an zuverlässigen Quellen wird jedem Historiker,

der in seinem Bericht nach einer klaren und

ungebrochenen Linie sucht, Schwierigkeiten bereiten.

Von unvollkommenen Fragmenten umgeben,

die immer zu kurz gehalten, oft obskur und

manchmal auch widersprüchlich sind, ist er gezwungen,

zusammenzustellen, zu vergleichen und zu vermuten.

Und auch wenn er doch niemals seine Vermutungen

mit den Fakten vermischen darf, so kann es dennoch geschehen,

dass die Einsicht in die starken Leidenschaften

der menschlichen Natur in manchen Ausnahmefällen

den Mangel an historischem Material hat ausgleichen müssen.«

Edward Gibbon

Vorwort

AM 1. MÄRZ 1986, einem Samstagmorgen, wurde ich davon geweckt, dass sich der Radiowecker einschaltete. Graues Vormittagslicht sickerte zum Fenster herein, und im Hintergrund hörte man das ferne Rumpeln und Quietschen von Straßenbahnen. Meine Frau und ich waren nach einem zweijährigen Aufenthalt in Kalifornien erst kürzlich nach Schweden zurückgekehrt. Wir wohnten in einer riesigen Altbauwohnung mit dreieinhalb Meter hohen Decken am Järntorget in Göteborg, die von Grund auf renoviert werden musste. Schlaftrunken blickte ich zu dem rissigen, rosengemusterten Stuck an der Decke auf und lauschte zerstreut dem Radio. Nach einer Weile begriff ich, dass etwas nicht stimmte. Eine Reporterin würdigte das Leben des schwedischen Premierministers Olof Palme in jenem sachlichen, gemessenen Ton, der immer dann angeschlagen wird, wenn eine prominente Persönlichkeit unerwartet gestorben ist. Es war unfassbar. Am Abend zuvor war in Schweden noch alles ganz normal gewesen.

Als wir die Tageszeitung gelesen hatten, sahen wir allmählich klarer. Es hatte weder einen Putsch noch eine Revolution gegeben. Olof Palme war am Vorabend um zwanzig nach elf auf dem Heimweg von einem Kinobesuch in der Stockholmer Innenstadt erschossen worden. Der Mörder war noch nicht gefasst. Die Regierung war unverzüglich zusammengerufen und Ingvar Carlsson, der stellvertretende Premier, am Samstagmorgen zum neuen Regierungschef ernannt worden. Im Fernsehen wurden keine Unterhaltungssendungen ausgestrahlt. Aus aller Welt trafen Beileidsbekundungen ein, und Menschen strömten zum Tatort und legten Blumen nieder. Es war verwirrend. In den USA, wo wir auf der Grenze zwischen der idyllischen Universitätsstadt Berkeley und dem sozialen Brennpunkt Oakland gewohnt hatten, waren nachts gelegentlich Pistolenschüsse zu hören gewesen. Aber nun waren wir wieder daheim in Schweden, einem aufgeklärten Land, in dem niemand durch das soziale Netz fallen und dunkle Gassen nachts nicht gefährlich sein sollten.

Während der nächsten Tage wurde beklagt, dass die Regierung keine Staatstrauer angeordnet hatte. Laut schwedischer Verfassung war dies jedoch überhaupt nicht möglich. Dennoch lastete der Verlust schwer auf dem Land. In den Medien bekundeten Staatsmänner und Politiker aus aller Welt ihre große persönliche Trauer. Es hatte den Anschein, als würden die Schweden erst in diesem Moment Olof Palmes internationale Bedeutung verstehen. Am Sonntagabend – achtundvierzig Stunden nach dem Mord − wurde in der Göteborger Innenstadt eine Trauerfeier abgehalten. Vierzigtausend Menschen gingen mit Fackeln in den Händen auf der breiten Prachtstraße der Stadt, der Kungsportsavenyn, zum Götaplatz. Zum ersten Mal in meinem Leben erlebte ich die Kraft der nationalen Zusammengehörigkeit, das Gefühl, mit anderen Menschen in einer Schicksalsgemeinschaft verbunden zu sein. Ich betrachtete die Leute um mich herum − den Arbeiter mit Schirmmütze, die Punkerin, den jungen Einwanderer, das gut gekleidete Ehepaar mittleren Alters – und fühlte mich ihnen allen verbunden. Es spielte keine Rolle, woher wir kamen, zu welchen Göttern wir beteten oder welcher Ideologie wir anhingen. Wir hatten einen Verlust erlitten, der uns vereinte.

Worum trauerten wir? Wie immer bei Beerdigungen war die Trauer eine Mischung aus dem Verlust eines Menschen und der Erkenntnis der eigenen Vergänglichkeit. Olof Palme war immer ein Teil meines Lebens gewesen. Ich war ein Jahr alt, als er dreißigjährig 1958 Parlamentsabgeordneter wurde. Als er im Herbst 1969 zum sozialdemokratischen Parteivorsitzenden und Premierminister gewählt wurde, war ich zwölf und zeigte erste Ansätze eines politischen Bewusstseins. In den folgenden Jahren bewunderte ich ihn, weil er kritisch Stellung bezog gegen den Vietnamkrieg. Ich war stolz, wenn ich Ausschnitte aus amerikanischen Fernsehsendungen sah, in denen er in brillantem Englisch Schwedens Recht verteidigte, die USA zu kritisieren. In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre orientierte ich mich wenig originell politisch nach links, aber als das abgehakt war, erschien Olof Palme mir erneut als die selbstverständliche Wahl. Ich gab ihm meine Stimme, als er 1982 die Macht zurückeroberte und dann auch in der Wahl 1985. Da gingen wir im Generalkonsulat in San Francisco zur Wahlurne, und weil wir wussten, dass wir bald darauf heimkehren würden, hatten wir das Gefühl, nicht nur Olof Palme, sondern auch Schweden zu wählen. Jetzt standen wir auf dem Götaplatz und trauerten um Palme – und meine Frau erwartete unser erstes Kind, obwohl wir das damals noch nicht wussten.

Viel zu schnell mündete die Trauer nach dem Mord in Verwirrung und Wut. Die schwedische Polizei erwies sich als inkompetenter, als man es sich jemals hätte vorstellen können. Statt alle Spuren am Tatort zu sichern und Zeugenaussagen auszuwerten, widmete sich die Einsatzleitung fantasievollen Verschwörungstheorien, die sich gegen Ausländer oder schwedische Staatsbürger ausländischer Herkunft richteten. Als im Sommer 1988 in den Medien enthüllt wurde, dass die sozialdemokratische Regierung private Ermittler engagiert hatte, die sich illegaler Methoden bedienten, schien es, als hätte sich der geordnete Staatsapparat Schweden in eine Bananenrepublik verwandelt. Schließlich fiel der Polizei Christer Pettersson ins Auge, ein krimineller Alkoholiker, der vermutlich der Mörder war. Er wurde in erster Instanz verurteilt, in zweiter Instanz freigesprochen und starb 2004. Der Wirbel um den bis heute unaufgeklärten Mord – mitsamt allen wahnsinnigen Verschwörungstheorien und selbsternannten Privatdetektiven – führte dazu, dass Olof Palmes Leben in den Schatten seines Todes geriet.

Wenn mir an jenem Märzabend 1986 auf dem Götaplatz jemand gesagt hätte, dass ich gut zwanzig Jahre später eine Biographie über Olof Palme schreiben würde, hätte ich es niemals geglaubt. Damals sah ich mich noch als angehenden, auf das 19. Jahrhundert spezialisierten Historiker. Aber manchmal kommt es anders, als man denkt. Ich bekam eine Stelle bei der großen Tageszeitung Dagens Nyheter, arbeitete dort zunächst in der Kulturredaktion und später als Leitartikler. Und eines Sonntags Ende Februar 2006 hatte ich Dienst. Ich hatte keine Ahnung, worüber ich schreiben sollte, bis mich jemand daran erinnerte, dass sich in dieser Woche der Mord an Olof Palme zum zwanzigsten Mal jährte. Ich war nicht sonderlich von dem Thema begeistert, da es dazu eigentlich nichts Neues zu sagen gab. Dennoch bestellte ich das Material zu Olof Palme aus dem Archiv und begann zu lesen.

Als ich in den spröden, vergilbten Zeitungsausschnitten blätterte, erkannte ich, dass Olof Palme zu einer anderen Zeit gehörte. In den zwei Jahrzehnten seit seiner Ermordung hatte sich die Welt unwiderruflich verändert. Palme war nunmehr Teil jener Epoche, die man »das kurze 20. Jahrhundert« nannte. Er wurde 1927, neun Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, geboren und starb drei Jahre vor dem Fall der Berliner Mauer. Seine Kindheit fiel in die ersten unbeholfenen Jahre des schwedischen Volksheims. Als die Schlacht um Stalingrad tobte, war er ein Teenager. Pünktlich zum Kriegsende wurde er erwachsen und reiste Anfang der fünfziger Jahre als Studentenführer kreuz und quer durch das zerstörte Europa. Als junger sozialdemokratischer Politiker formulierte er die Wohlfahrtsideologie der sechziger Jahre. In den siebziger Jahren stellte er sich an die Spitze jener Reformen, die die Gleichstellung von Frauen einleiteten und Schweden zu einem der fortschrittlichsten Länder der westlichen Welt machten. Anfang der achtziger Jahre, als die USA und die Sowjetunion sich erneut im Kalten Krieg befanden, setzte er sich für Abrüstung und kollektive Sicherheit ein. Palme, wollte mir scheinen, hatte wie kein anderer Schwede die wichtigsten Konflikte des 20. Jahrhunderts hautnah miterlebt: den Kalten Krieg, das Ende des Kolonialzeitalters, den Wohlfahrtsstaat, den Vietnamkrieg, die Bildungsexplosion, die Studentenrevolte, die Atomenergie, die Ölkrise der siebziger Jahre. Als ich an jenem Abend heimging, nachdem ich einen kurzen und einigermaßen uninteressanten Leitartikel geschrieben hatte, wusste ich, dass ich die Geschichte Olof Palmes und seiner Zeit erzählen wollte, mit all dem Wissen und der Gestaltungskraft, die mir zu Gebote standen.