ALLES NUR
EINE PHASE
Meine Familie und ich gegen den Alltag
Originalausgabe
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Lizenz der Marken ELTERN und ELTERNfamily
Durch Gruner + Jahr AG & CO KG
Alle Rechte vorbehalten
Illustration und Umschlaggestaltung: Daniel Balzer / www.dbsign.de
Umschlagmotiv: Fotos der Familie Grüneberg © Michela Morosini
E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN (E-Book): 978-3-451-80184-6
ISBN (Buch): 978-3-451-06728-0
FÜR CHARLIE,
den geduldigsten und verständnisvollsten Menschen
an meiner Seite
FÜR MEINE KINDER,
die auch viel Verständnis aufbringen
und ansonsten dafür sorgen, dass mein Leben
großartig lebenswert ist
Inhalt
ANFANGSPHASEN
Alles nur eine Phase · Oxytocin · Baby bekommen, Gedächtnis verloren · Schlafen I: Schlimmer geht immer · Kinderarztbesuche · Essen I: Tiere bei Tisch · Herdentrieb · Supermütter · Mütter-Hobbys · Shopping mit Kind · Muttitasking
FREMDELPHASEN
Väter und Zeit · Mütter und Zeit – Charlies Antwort · Aufopferungsgene · Weihnachten ist relativ · Hello-Kitty-Hass-Club · Morgenwahnsinn · Balla-Balla · Verreisen mit Kind · Binde-Entzündung · Vater-Tochter-Beziehung
EXPERIMENTIERPHASEN
Erziehungsweisheiten · Sauber werden · Homöopathie · Weihnachtswahnsinn · Schlafen II: Immer einer zu viel im Bett · Naturgesetze · Essen II: Meckern statt essen · Kindergeburtstage · Schuld sind immer die Eltern · Kleine Langfinger · Kinderhotels
TROTZPHASEN
Schokolade · Gelassenheit · Restaurantbesuche · Putzen · Medienerziehung · Kindergeburtstagseinladungen · Die Haustierfrage · Joghurt-Tage · Heiraten · Das Jugendamt ist überall · Mütterdialoge
LERNPHASEN
Denk doch mal an dich · Fruchtbarkeitsfragen · Basteln · Nikolaus · Feste · Schwimmen lernen · Hausteufel – Gassenengel · Jungsmütter – Mädchenmütter · Geschwisterliebe · Schulreife · Eltern versus Kein-Kind-Paare
Sie halten sich für normal? Dann haben Sie keine Kinder. Denn mit Kindern ist nichts mehr normal. Es ist größer und weiter, lustiger und lauter, anstrengender und manchmal schmerzt es auch ein wenig: Das Kindergroßziehen.
Seit nun vier Jahren schreibe ich Kolumnen übers Elterndasein, am Beispiel meiner Familie. Zu ihr gehören: Marlena (mittlerweile 5 Jahre alt), Laurin (gerade 8 geworden), Jonas (14) und mein Mann Charlie (so jung wie am ersten Tag). Dieses Buch ist auf vielfachen Leserwunsch entstanden. Enthalten sind in ELTERN erschienene, ergänzte, aber auch neue, unveröffentlichte Geschichten rund um den ganz normalen Familienwahnsinn. Und ich hoffe sehr, dass ich ein wenig dazu beitragen kann, das ganze Eltern-Kind-Ding mit Humor zu nehmen.
Denn ernst ist Elternsein von ganz allein. Als ich selbst zum ersten Mal Mutter wurde jedenfalls, nahm ich meine neue Rolle sehr ernst. Ich war damals sehr jung und umgeben von Menschen, die ihre Rolle als Eltern ebenfalls sehr ernst nahmen. Sie impften mich mit Literatur von Leboyer bis Remo Largo. Sie erklärten mir die Vorzüge von Tragetuch und Familienbett. Sie wollten zur Geburtstagseinladung ihrer eigenen Kinder keine Hörspielkassetten, aber Spielzeug aus Holz geschenkt bekommen, was mich bei einem erwünschten Arztkoffer zwei Tage Suchen und 59 Euro kostete. Ich war fest entschlossen, es bei meinem Kind auch »richtig« zu machen und sog diese neue Welt in mich ein. Zur Geburt bekamen wir Kuschelschafe aus Naturschurwolle und das herzliche Angebot, »jederzeit um Rat fragen zu können«.
Was wir nicht bekamen: das Gefühl, es schon irgendwie hinzukriegen. Das Vertrauen, dass Kinder groß werden, auch ohne unser ständiges Zutun. Dass Elternsein keine Wissenschaft ist, sondern eine Anhäufung von experimentellen Phasen, die manchmal gut ausgehen und manchmal in emotionalem Desaster enden. Es dauerte eine Weile, bis ich das begriffen hatte. Und als ich so weit war, schwor ich mir eines: Wenn ich selbst jemals die Gelegenheit bekäme, frischen Eltern etwas mit auf den Weg geben zu dürfen, dann das: Nehmt es mit Humor.
Ich bin überzeugt, mit weniger Ernst würden wir Eltern vieles »richtiger« machen. Der Erfolg von Die Grünebergs ist darauf begründet. Sobald wir unsere Unzulänglichkeiten und die unserer Kinder zugeben, fliegen uns die Herzen entgegen. Und mehr Spaß macht es obendrein. Den wünsche ich Ihnen nun mit der Lektüre!
Das Leben ist eine Phase. Eltern wissen, wovon die Rede ist. Es gibt die Nichtschlaf-Phase und die Schreiphase. Es gibt die Fremdelphase und die Trotzphase. Schon in den ersten Tagen des Wochenbetts erfahren Mütter und Väter aus einschlägiger Literatur oder auch von es »gut meinenden« Schwestern und Hebammen: Die Meilensteine der Entwicklung finden nicht ohne eine vorherige »schwierige« Phase statt. Ihr Kind spielt verrückt? Alles, was bisher funktionierte, kann man sich schenken? Keep cool, heißt es dann, ist alles nur eine Phase! Motorische Entwicklung, Sprache und Sozialfähigkeit sind angeblich ohne Phasen gar nicht möglich!
Die Eltern müssen da durch. Und dürfen nicht schlafen und müssen mit der neuen Welt fremdeln und sich wundern und manchmal auch schreien und trotzen. Man macht das schließlich alles zum ersten Mal. Parallel zu den Phasen des Kindes entwickeln nämlich auch Eltern Phasen! Elterliche Stoa, Erziehungskompetenz und die Fähigkeit zu schimpfen sind ohne Phasen gar nicht möglich! Gerade am Anfang sind die Entwicklungsfortschritte von Eltern atemberaubend. Nie wieder im Leben gedeihen Eltern so rasch wie im ersten Jahr.
Ich habe da eine Theorie. So wie jedes Kind seine Phasen durchläuft, gibt es auch bei uns Müttern und Vätern Phasen. Ich brauchte drei Kinder und ein Patenkind, bis ich das begriff. In Phase Eins (ca. erster bis dritter Lebensmonat) beispielsweise legen Mütter eine beeindruckende Sensibilität für Längen an den Tag. Größen einzuschätzen war früher nicht Ihr Ding? Ich schwöre, in Phase Eins sind Sie auf einmal in der Lage, die Größe 50 von 56 per Augenmaß zu unterscheiden, ohne die ohnehin vagen Angaben auf dem Nackenzettel zu bemühen. Außerdem haben frischgebackene Mütter die Fähigkeit, überdimensionale Binden auf Netzunterhosen so zu platzieren, dass sie nicht verrutschen, und pflegen zudem ein ausgesprochen intensives Verhältnis zu Großpackungen in Drogeriemärkten.
Was Eltern noch so lernen?
In Phase Zwei entwickeln sie eine auffällige Affinität zu Zahlen: Sie beginnen vor jeder Autofahrt panisch ihre Habseligkeiten zu zählen, nachdem sie letztens im Parkhaus das Vorderrad des Kinderwagens stehen gelassen haben. Kein Witz! Mir passiert!
Oder: Sie können sich zwar an die Nummer ihres Friseurs nicht mehr erinnern, wissen aber die des Kinderarztes im Schlaf.
Und sie wissen: Genauigkeit ist für Eltern eine nicht zu unterschätzende Kompetenz. Schon minimalste Unterschiede können über das familiäre Allgemeinbefinden entscheiden: 25 Sekunden in der Mikrowelle sind das Maximum für ein Spinatgläschen, wenn man sich die Finger nicht verbrennen, das Essen aber auch nicht zu kalt servieren will. Pastinake dagegen braucht 30.
Doch lassen Sie uns über Phase Drei sprechen: den Nestperfektionismus. Sobald ein Baby einen irgendwie gearteten Rhythmus hat, verfallen Mütter in Aufräumwahn: Das Baby schläft und anstatt sitzen zu bleiben und zu schlafen oder auszuruhen, beginnt man die Wohnung herzurichten. Das ist menschlich, schließlich will man gerne, dass das Wohnzimmer aussieht wie ein Wohnzimmer, wenn man sich auf der Couch niederlässt. Also legt man die Babydecke heute zum dritten Mal zusammen, räumt das Spielzeug zum x-ten Mal zurück in die Kiste. Die Babydecke auf dem Sofa ablegen? Geht noch nicht, dort hat der Gatte genächtigt. Also erst noch das Bettzeug zurück ins Schlafzimmer, wo man auch gleich noch die Betten macht. Auf dem Weg durch den Flur fällt einem die volle Garderobe auf: Man räumt überflüssige Jacken in den Schrank, selbiges gilt den Schuhen. An der Haustür stehen die Pfandflaschen, die in den Keller müssen. Dabei kann man ja noch schnell den Müll raustragen. Die Küche? Eine Katastrophe aus sterilisierten Gläschen im Abtropfgitter und den Resten vom Abendessen, die noch nicht in die Spülmaschine können, weil sie keiner ausgeräumt hat. Man zwingt sich, das alles zu ignorieren, fällt bei der Rückkehr ins Wohnzimmer aber fast über den vollen Wäscheständer, nimmt gegen das schlechte Gewissen wegen der Küche schnell noch die Wäsche ab, bevor man erschöpft auf die Couch sinkt. Drei Sekunden später schreit das Baby zur nächsten Stillmahlzeit.
Völlig absurd? Sie sagen es. Aber Mütter machen das. Das Gute: Die Phase geht vorbei.
Was darauf drei Jahre später folgt? Das Wohnzimmer sieht immer noch nicht aus wie ein Wohnzimmer: überall liegt das Spielzeug verstreut, und keiner räumt es zurück in die Kiste. Auf der Couch liegt immer noch Papas Bettzeug von letzter Nacht, weil mittlerweile zwar alle Familienmitglieder wieder durchschlafen, aber keiner mehr sein Geschnarche erträgt. Die Garderobe ist weiterhin ein Knäuel aus Wintermänteln, Matschhosen, Frühlingsjacken, Schals, Mützen und Handschuhen, die jetzt im Mai übrigens endlich in den Keller könnten. Das Erscheinungsbild der Wohnung ist, so gesehen, zwar dasselbe. Aber: Man kann einfach daran vorbeigehen! Genauso wie an der Küche, einer Katastrophe aus gespültem Geschirr im Abtropfgitter und den Resten vom Frühstück, die noch nicht in die Spülmaschine können, weil sich der Sohn wieder mal erfolgreich um seinen Spülmaschinendienst gedrückt hat. Man unterwirft sich der neuen Ordnung und lernt, sie zu akzeptieren. Ich für meinen Teil würde da durchaus von einem Entwicklungssprung sprechen. Ich werde zwar wegen der Pfandflaschen an der Tür heute Mittag vermutlich einen Wutanfall bekommen, wenn Jonas sie den dritten Tag ignoriert, obwohl sie seine Aufgabe sind. Und ich werde mich ein bisschen schämen, dass die Betten der Kinder heute wieder nicht gemacht wurden. Aber alles in allem kann ich mit meinem Antiperfektionismus mittlerweile leben.
Wie man diesen Entwicklungssprung nennt? Stoische Phase.
Sie ist hart erarbeitet und so was wie der Olymp in der Elternentwicklung. Doch bis man dorthin kommt, braucht es … sagen wir es so: Erfahrung.
Wenn man gerade ein Baby bekommen hat, ist man ein bisschen wie auf Droge. Glücksbeseelt sitzt man mit seinem Kind im Tragetuch am Frühstückstisch bei Fencheltee und »Mozart for Babys« und überlegt sich Dinge wie: »Die Wand hinter dem Fernseher könnte ein wenig Ocker vertragen. Oder Maigrün.« Und das trotz Schlafentzug und wachsendem Chaos in der Wohnung. Das liegt am »Kuschelhormon« Oxytocin, ein geiles Zeug!
Davon beflügelt kann man stundenlang verzückt zwei Zentimeter lange Fingerchen betrachten und studiert Hautfältchen, als wären sie die Betriebsanleitung der neuen Waschmaschine. Unter Einfluss dieses körpereigenen Opiats postet man auf Facebook Sinnfreies wie »Eine Runde mit dem Kinderwagen« oder »So süß, sie macht Blubberbläschen!« und bringt sein Handy mit zu vielen Fotos des immer selben Motivs an den Rand seiner Speicherkapazität. Und man heult. Ausgiebig und zu jeder Gelegenheit: Wenn die Schwägerin ein Päckchen mit liebevoll in Seidenpapier eingewickelten Bodys schickt, wenn in den Nachrichten Bilder von hungernden Kindern gezeigt werden oder wenn man Zeilen wie diese ließt: »Für die Welt bist du irgendjemand, doch für uns bist du die ganze Welt.« Schluchz. Mütter im bewusstseinsveränderten Neugeborenen-Zustand fühlen sich ein bisschen wie in »Strawberry Fields Forever« und sind enttäuscht, wenn kinderlose Freundinnen diskret auf Abstand gehen.
Selbst der eigene Ehemann ist befremdet: »Frauen sind Hormonmonster«, seufzt Charlie resigniert und lässt sich erschöpft aufs Sofa fallen. Er hatte einen langen Tag und nein, er möchte jetzt NICHT selig an der Wiege stehen und mit mir gemeinsam dem Atemrhythmus unserer Tochter lauschen. Ich verstehe ihn nicht und heule ein bisschen. Gibt es etwas Spannenderes als dieses kleine Wunder? »Wie schaffst du das nur mit so wenig Schlaf?«, sagt er müde und gähnt. Noch wird er nachts bei jeder Stillmahlzeit von Marlena wach. Aber das wird sich erfahrungsgemäß ändern. In einigen Wochen wird er morgens nur noch fragen: »Und, wie oft kam sie heute?« Zumindest bei den Jungs war das so. Vorläufig jedoch ist meine psychodelische Stimmung auf dem Höhepunkt. Es ist Woche drei nach der Geburt und ich schwebe (noch) auf Wolke sieben. Es ist die Zeit der »ersten Male« und ich könnte die Welt umarmen.
Gleichzeitig macht Oxytocin aber, wie man weiß, auch ein bisschen aggressiv. Was ich im Supermarkt unter Beweis stelle: Eine ältere Dame hinter mir an der Kasse säuselt in die Babyschale hinein: »Ach wie niedlich, der ist aber ganz frisch!« Auf das Laufband hat sie zwei Tütensuppen, Kaffee, Kirschpralinen und eine 1000 ml Flasche Doppelkorn geladen. Ohne zu fragen grapscht sie nach Marlenas Händen und will ihre runzeligen Finger ins Fäustchen schieben. Ich gebe meinem Einkaufswagen einen Stoß und knurre bedrohlich: »ER ist eine SIE. Lassen Sie mal Ihre Finger weg von meiner Tochter!« Dazu denke ich noch: Hast du deine inkontinenzverseuchten Finger nach dem letzten Klogang überhaupt gewaschen? Das sage ich aber nicht laut und im Normalzustand würde ich mich für solch primitive Gedanken schämen. Aber ich stehe ja unter Drogeneinfluss. Ich nehme mir vor, nach dem Bezahlen gleich noch mal reinzugehen und Desinfektionstücher zu kaufen. »Ist ja gut«, sagt die Frau, »man wird doch wohl mal gucken dürfen.« »Gucken ja, grapschen nein«, erwidere ich schnippisch und rausche mit meinem Wagen ab, ohne mein Verhalten auch nur zu überdenken. Wie gesagt, meine kognitiven Fähigkeiten sind durch die Überflutung des Stirnhirns eingeschränkt.
Zwei Wochen später ist mein Trip vorbei. Genervt rufe ich Charlie bei der Arbeit an. »Ich bin müde, ich bin ausgelaugt und deine Kinder brüllen. Alle drei. Du musst nach Hause kommen. Jetzt gleich.«
»Alles klar«, sagt er nur. »Biste wieder normal? Halte durch, ich mach heut früher Schluss.«
Stillen macht blöd. Mich zumindest. Meine grauen Zellen haben das Arbeiten eingestellt. Absolute Funkstille. Vielleicht ist mein Hirn ja in den Busen gerutscht. Mein Gedächtnis klebt in Form von gelben Zetteln an der Wohnungstür: »Haustürschlüssel?!?!«, »Herd?!?!«, »Handy dabei?!?!«, »Laurin dabei?!« Und an der Küchentür: »Milch und Brot kaufen«, »Bücherei!«, »Jod heute schon genommen?«.
Meine beste Freundin Anja meldet sich am Telefon schon gar nicht mehr mit Namen, wenn sie meine Nummer im Display sieht, sondern fragt amüsiert in den Hörer: »Und, was hast du heute vergessen?« Dazu muss man zwei Dinge wissen. Erstens: Ich rufe Anja immer an, wenn ich verzweifelt bin. Sie kennt meinen Haushalt wie den ihren und hat mir mit ihren Geistesblitzen schon in diversen aussichtslosen Situationen geholfen. Beispielsweise »fand« sie Laurins überlebenswichtigen Schnuller wieder, den sie richtigerweise am Schlüsselbrett vermutete. Meinen Autoschlüssel hatte ich dafür auf den Wickeltisch neben das Nachtzeug gelegt.
Zweitens war auch Anja bei ihrem ersten Kind vergesslich. Sie verlegte ihren Geldbeutel und suchte ihn fünf Tage lang. Als das Bankkonto gesperrt, die Versicherungskarte neu beantragt und die Kundenkarten gedanklich abgeschrieben waren, tauchte er wieder auf: im Gefrierfach. Dafür fand sie verschimmelte, triefende Tiefkühlerbsen in ihrer Handtasche, was nur verstehen kann, wer weiß, dass Handtaschen von Müttern kaum noch benutzt werden. Sie laufen ja immer mit der Wickeltasche herum. Anja erzählt diese Geschichte gern jeder Schwangeren und Bald-Schwangeren zur Abschreckung.
Aber das ist nichts gegen meine Geschichte von vergangener Woche. In der Früh war Isabell, unsere Nachsorgehebamme, bei uns. Sie hatte Marlena gemessen und gewogen, mich versorgt und wollte die Kompressen in den Mülleimer werfen. Dort waren jedoch keine Mülltüten. Sie fragte, wo ich sie aufbewahre und – was soll ich sagen: Ich hatte es vergessen. Gemeinsam fanden wir sie in der Schublade unter dem Herd. Glauben Sie nicht? Es kommt noch schlimmer. Nachdem Isabell gegangen war, sprach mich die Nachbarin an, ob ich schon wieder im Stande sei, auf einen Kaffee bei ihr vorbeizukommen. Sie hatte zwei Tage zuvor Geburtstag. Wir wohnen seit sechs Jahren nebeneinander und ich schwöre, früher konnte ich mir nicht nur die Geburtstage der Nachbarschaft und meiner Kollegen in der Arbeit merken, ich hatte auch alle Durchwahlnummern im Kopf. Doch weil jede Stillmahlzeit dieses kleinen Wesens an meiner Brust mindestens 1400 Zellen im Hippocampus zu vernichten scheint, hatte ich während des Gesprächs den Namen meiner Nachbarin vergessen! Ich war so geschockt von mir, dass ich krampfhaft zu vermeiden versuchte, ihren Namen zu nennen. Damit war ich so beschäftigt, dass ich überhaupt nicht mitbekam, wie sie sich verabschiedete. Glauben Sie immer noch nicht? Geht weiter.
Danach wollte ich aus dem Haus, um Milch und Brot zu kaufen. Bis man drei Kinder in die Gänge bekommt, dauert es ein Weilchen. Und wer schon mal gestillt hat, weiß: Die Uhr tickt. In zwei Stunden müssen alle wieder zurück sein. Die nächste Mahlzeit ruft. Zwei Stunden – wenn es gut läuft. Also hektisch Einkaufszettel ( ja, auch für nur zwei Dinge brauche ich einen gelben Zettel) abgepflückt, Kind eins den Kinderwagen holen geschickt, Kind zwei aufs Klo gesetzt, Kind drei das Jäckchen übergestülpt (habe ich Geldbeutel, Hausschlüssel … wo ist denn nun der Einkaufszettel?). Kind in den Kinderwagen gelegt, Kinderwagen aus dem Flur bugsiert, dabei noch das Mützchen aus der Schublade links oben geangelt, den Großen gebeten, die Tür zuzuziehen. Auf dem Straßenabsatz vor unserem Haus spürte ich die Blicke von Jonas in meinem Rücken.
»Mama?!«
»Was ist denn noch?«
»Äh, willst du SO gehen?«
Ich sah in sein völlig verdattertes Gesicht und blickte an mir herunter. Nun ja. Ich stand da in Unterhose und Strümpfen. Kein Scherz. Die Hose lag noch im Schlafzimmer.
Jetzt habe ich einen weiteren Zettel an meiner Haustür kleben: »Angezogen?!?!« Charlie glaubt, der Zettel stünde für Mütze, Schal etc. der Kinder. Ich habe ihm das wahre Ausmaß meiner Demenz verschwiegen. Damit ich nicht noch mehr vergesse, habe ich eine Großpackung dieser gelben Wunderblöckchen angeschafft. Wo ich den Kugelschreiber hingelegt habe? Puh. Keine Ahnung.
Hopsen Sie noch oder schlafen Sie schon?
Eltern tun manchmal Dinge, die seltsam sind. Am Anfang nicht nur manchmal, sondern sehr oft. Wir zum Beispiel sind gehopst. Auf einem lila Gymnastikball. Abends um zehn, nachts um halb eins. Und morgens um vier. In den Schlaf. Besser gesagt, in den Schlaf unseres Sohnes. Um ihn zur Ruhe zu bringen, bedurfte es eines ganz bestimmten Arrangements. Die erste Hürde war, sich selbst mit Kind auf dem Arm so auf dem Gymnastikball zu platzieren, dass keiner ins Rutschen kam – bei Plastik auf Fischgrät-Parkett keine Leichtigkeit. Als Nächstes deckten wir Jonas mit einem Tuch ab wie einen Kanarienvogel. Zwar fing er beim Anblick des Tuches schon an zu jaulen, doch das Teil zeigte jedes Mal seine Wirkung und das Kind nickte nach wenigen Minuten unter dem Zelt ein. Die Kunst bestand folgend darin, den richtigen Hops-Rhythmus zu finden, sodass das Kind tief genug einschlief, die Nachbarin in der Altbauwohnung darunter aber nicht aufwachte. Hatte man Glück, schlief das Kind nach einer Viertelstunde so fest, dass man vorsichtig den Rhythmus verlangsamen und schließlich zum Stillstand kommen konnte. Dann der Höhepunkt im Schlaf-Drama: Zusammen mit dem Kind ins Schlafzimmer schleichen, dabei die dritte Diele von links auslassen (sie knarzt!), in Zeitlupe, das Kind immer noch auf der Brust, ins Bett sinken (vergiss deine Bandscheiben!) und dann, sobald der Atem sich stabilisiert hatte, ganz langsam Stückchen für Stückchen das Baby von sich herunterschieben. War es bis dahin nicht aufgewacht, war der Rest im Vergleich ein Klacks: Die vorher zurechtgelegte Attrappe aus (gewärmtem) Kirschkernkissen, Mamas Schlaf-T-Shirt und Papas Kopfkissen ans Kind schieben, langsam aus dem Bett schälen, leise aus dem Zimmer schleichen (Vorsicht, die dritte Diele!) und – geschafft. Das ganze Prozedere dauerte fast eine Stunde, ein Drittel der gesamten Schlafphase, und war natürlich extrem fehleranfällig.
Von außen betrachtet ist das komplett gaga, Sie haben recht. Doch für Baby-Eltern ist es völlig normal.
Dabei haben wir von dem schwierigsten Moment noch gar nicht gesprochen. Dem nämlich, wenn die Eltern selbst sich zur Ruhe legen wollten und behutsam zu ihrem Kind schlüpften, das in der Mitte des Bettes residierte. Irgendwann einmal hatten sie gedacht, es sei eine gute Idee, nur ein 1,40-Bett anzuschaffen, weil die Liebe so groß und das Platzbedürfnis so klein war. Wäre ihnen damals schon bewusst gewesen, was auf sie zukommen würde, hätten sie sich nicht für »Bett Alfa« entschieden, sondern für »Ramon – die familiäre Schlaflandschaft in XXL, mit der jede Nacht zu einem Erlebnis im Schlaf-raffenland wird«. Schrecklich. Aber wahr.
Beim zweiten Kind ist man dann ja schlauer und schafft sich nicht nur ein größeres Bett an, sondern auch den Gymnastikball ab. Und legt sein Kind – wach – ins eigene Bettchen.
Ich dachte lange Zeit, wir wären im »Zirkus ums Kind« schon sehr schlimm gewesen. Was ich jedoch seit vergangenem Wochenende deutlich revidieren muss: Unsere Freunde, beide Mitte 30, erstes Kind, legten sich um 19 Uhr BEIDE mit Söhnchen Nathanael, 18 Monate, ins Bett. BEIDE hatten ihr Tablet dabei. Der eine, um zu lesen, die andere, um Mails zu checken. BEIDE waren der Meinung, ein Kind fühle sich sonst allein. Es war 21.30 Uhr, als sie wieder auftauchten. Da war unser Geburtstagsessen mit Freunden schon fast wieder vorbei. Und ich hatte gelernt: Schlimmer geht bei Eltern immer.
Wie viel Kilo Schleim kann so ein kleiner Mensch produzieren? Falls jemand dazu eine Studie machen will – bei uns findet er passable Studienbedingungen. Und wer ist schuld? Die Kinderärztin. Kinderarztbesuche sind Bazillenbeschleuniger in Reinform. Und die Höchststrafe für Eltern. Mir hätte schon bei der telefonischen Terminvereinbarung klar sein müssen, dass es keine gute Idee ist, eine U-Untersuchung im November anzuberaumen. Doch ich hatte das Zeitfenster schon fast verschwitzt, mir blieb keine Wahl.
Meine Kinder waren alle die letzten Monate gesund. Bis wir das Wartezimmer betreten haben. Schon im Auto bekomme ich Aggressionen, weil ich daran denken muss, wie mir Sprechstundenhilfe Hedwig lächelnd die Krankenkassenkarte über den Tresen schieben wird: »Nehmen Sie Platz. Es kann dauern.«
Wir haben den Termin um 11 Uhr. Pünktlich um 11.01 Uhr hieve ich mein eines Kind in der Babyschale auf den Tresen und ziehe dem anderen Kind einhändig die Winterjacke aus. Hedwig ist nicht da, dafür eine blonde Neue, die schnippisch meint: »Aus der Puste, wa?« »Ja«, sollte man ihr entgegenfauchen, »weil Kinderärzte ihre Praxis grundsätzlich im zweiten Stock ohne Lift einrichten und Mütter allein vom Kinderschleppen ihrem Bandscheibenvorfall mit Mitte 40 so ein sicheres Stück näherkommen«. Fällt mir aber in dem Moment nicht ein. Die Neue zeigt wortlos aufs Wartezimmer.
Neben uns liest eine hörbar genervte Mutter ihrem Vierjährigen seufzend vor: »Löffelbagger, Schaufelbagger, Raupenbagger. Marcel, wollen wir nicht lieber das Sockenmonster lesen?« Schnief. Marcel schüttelt energisch den Kopf. Die Mutter seufzt: »Schnäuz noch mal.« Ich frage: »Wie lange warten Sie schon?« »Seit einer Dreiviertelstunde.« Großartig. »Schürfkübelraupe, Schreitbagger …« Schnief.