Der kleine Prinz
Deutsche Neuübersetzung
ANTOINE DE SAINT-EXUPÉRY
Der kleine Prinz, A. de Saint-Exupéry
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster, Loschberg 9
Deutschland
ISBN: 9783849652609
www.jazzybee-verlag.de
admin@jazzybee-verlag.de
I. 1
II. 3
III. 7
IV. 10
V. 13
VI. 17
VII. 18
VIII. 21
IX. 25
X. 27
XI. 31
XII. 33
XIII. 34
XIV. 37
XV. 40
XVI. 43
XVII. 44
XVIII. 47
XIX. 48
XX. 49
XXI. 50
XXII. 55
XXIII. 56
XXIV. 57
XXV. 59
XXVI. 62
XXVII. 68
Einmal, als ich sechs Jahre alt war, sah ich in einem Buch mit dem Titel "Erlebte Geschichten" ein großartiges Bild vom Urwald. Es war ein Bild einer Boa constrictor beim Verschlucken eines anderen Tieres. So sah die Zeichnung aus:
In dem Buch stand: "Boa-Constrictor verschlucken ihre Beute, ohne sie zu kauen. Danach können sie sich nicht mehr bewegen und schlafen die sechs Monate durch, die sie für die Verdauung brauchen."
Ich dachte dann angestrengt nach über die Abenteuer, die der Dschungel wohl bot. Und nachdem ich einige Zeit mit einem Farbstift zugebracht hatte, gelang es mir, meine erste Zeichnung zu machen. Meine Zeichnung Nummer eins. Sie sah ungefähr so aus:
Ich zeigte mein Meisterwerk den Erwachsenen und fragte sie, ob die Zeichnung sie erschreckte.
Aber sie antworteten: "Erschrecken? Warum sollte sich jemand vor einem Hut erschrecken?"
Meine Zeichnung war aber gar kein Bild eines Hutes. Es war das Bild einer Boa constrictor, die einen Elefanten verdaute. Aber da die Erwachsenen das nicht verstanden, machte ich eine weitere Zeichnung. Ich zeichnete das Innere einer Boa constrictor, damit die Erwachsenen alles deutlich sehen konnten. Immer muss man ihnen alles erklären. Meine Zeichnung Nummer zwei sah so aus:
Die Antwort der Erwachsenen war dieses Mal der gutgemeinte Rat, keine weiteren Zeichnungen von Boa constrictor zu machen, und zwar egal ob von innen oder von außen, sondern mich stattdessen der Geographie, Geschichte, Arithmetik und Grammatik zu widmen. Deshalb habe ich bereits im Alter von sechs Jahren eine vielleicht großartige Karriere als Maler aufgegeben. Ich war entmutigt vom Scheitern sowohl meiner Zeichnung Nummer eins, als auch meiner Zeichnung Nummer zwei. Erwachsene verstehen nie etwas von selbst, und es ist lästig für Kinder, ihnen immer und ewig irgendwelche Dinge zu erklären.
Also wählte ich einen anderen Beruf und lernte, wie man Flugzeuge fliegt. Ich bin ein wenig über alle Teile der Welt geflogen, und es ist wahr, dass Geographie mir sehr nützlich war. Auf einen Blick kann ich nunmehr China von Arizona unterscheiden. Wenn man sich in der Nacht verirrt, ist dieses Wissen wertvoll.
Im Laufe dieses Lebens habe ich sehr viele Begegnungen mit sehr vielen Menschen gehabt, die sich mit Fragen der Konsequenz beschäftigt haben. Ich habe viel unter Erwachsenen gelebt. Ich habe sie ganz genau betrachtet, sozusagen aus nächster Nähe. Und das hat meine Meinung über sie nicht wesentlich verbessert.
Wann immer ich einen von ihnen traf, der mir so aussah, als ob er den Durchblick hätte, versuchte ich das Experiment, ihm meine Zeichnung Nummer eins zu zeigen, die ich immer bei mir behalten habe. Es war ein Versuch herauszufinden, ob es sich um eine Person mit dem wahren Verständnis handelte. Aber, wer auch immer diese Person war, weiblich oder männlich, sie sagte immer:
"Das ist ein Hut."
Also unterhielt ich mich mit dieser Person niemals über Boa constrictor, Urwälder oder Sterne. Ich begab mich herab auf ihre Ebene und redete mit ihnen über Bridge, Golf, Politik und Krawatten. Und der Erwachsene freute sich jedes Mal, einen so klugen Menschen getroffen zu haben.
Folglich lebte ich mein Leben allein, ohne jemanden, mit dem ich wirklich reden konnte, bis ich vor sechs Jahren mit meinem Flugzeug einen Unfall in der Wüste Sahara hatte. Etwas ist in meinem Motor kaputt gegangen. Und da ich weder einen Mechaniker noch Passagiere bei mir hatte, machte ich mich daran, die schwierigen Reparaturen ganz allein zu versuchen. Für mich war es eine Frage von Leben oder Tod: Ich hatte kaum genug Trinkwasser, um eine Woche zu überleben.
In der ersten Nacht schlief ich auf dem Sand, tausend Meilen von jeder menschlichen Behausung entfernt. Ich war einsamer als ein schiffbrüchiger Seemann auf einem Floß inmitten des Ozeans. Du kannst dir sicher mein Staunen vorstellen, als ich bei Sonnenaufgang von einer seltsamen, leisen Stimme geweckt wurde. Sie sagte:
"Bitteschön – zeichne mir ein Schaf!"
" Was?"
"Zeichne mir ein Schaf!"
Ich sprang völlig verblüfft auf die Füße und blinzelte angestrengt mit den Augen. Sorgfältig schaute ich mich um. Da sah ich einen außergewöhnlichen kleinen Menschen, der vor mir stand und mich mit großem Ernst untersuchte. Hier siehst du das beste Bild, das ich später von ihm gezeichnet habe. Ganz sicher ist meine Zeichnung aber sehr viel weniger entzückend als ihre Vorlage.
Das ist allerdings nicht meine Schuld. Die Erwachsenen brachten mich, als ich erst sechs Jahre alt war, von der Karriere eines Malers ab, und ich lernte nie, etwas zu zeichnen, außer natürlich Boas von außen und von innen.
Nun starrte ich diese plötzliche Erscheinung an, wobei meine Augen vor Erstaunen ziemlich aus ihren Höhlen traten. Erinnere dich daran, ich war in der Wüste tausend Meilen von jeder bewohnten Gegend entfernt abgestürzt. Und doch schien sich mein kleiner Mann weder im Sand verirrt zu haben, noch vor Müdigkeit oder Hunger, Durst oder Angst ausgelaugt zu sein. Nichts an ihm deutete darauf hin, dass ein Kind inmitten der Wüste, tausend Meilen von einer menschlichen Behausung entfernt, verloren gegangen war. Als ich endlich sprechen konnte, sagte ich zu ihm:
"Aber – was machst du hier?"
Und als Antwort wiederholte er, ganz langsam, als ob er von einer Angelegenheit von großer Bedeutung sprechen würde:
"Bitteschön – zeichne mir ein Schaf!"
Wenn ein rätselhaftes Ereignis einfach zu überwältigend ist, wagt man es nicht, zu widersprechen. So absurd es mir auch erscheinen mag, tausend Meilen von jeder menschlichen Behausung entfernt und in Lebensgefahr, nahm ich ein Blatt Papier und meinen Füllfederhalter aus meiner Tasche. Aber dann erinnerte ich mich daran, dass sich meine Studien auf Geographie, Geschichte, Arithmetik und Grammatik konzentriert hatten, und ich sagte dem kleinen Kerl (zugegebenermaßen etwas grollend), dass ich nicht wusste, wie man zeichnet. Er antwortete mir:
"Das spielt keine Rolle. Zeichne mir ein Schaf ...."
Aber ich hatte noch nie ein Schaf gezeichnet. Also zeichnete ich für ihn eines der beiden Bilder, die ich schon so oft gezeichnet hatte. Zuerst das der Boa constrictor von außen. Und wie erstaunt war ich, als ich hörte, wie der kleine Kerl dazu meinte:
"Nein, nein, nein! Ich will keinen Elefanten in einer Boa constrictor. Eine Boa constrictor ist eine sehr gefährliche Kreatur, und ein Elefant ist sehr schwerfällig. Wo ich wohne, ist alles sehr klein. Was ich brauche, ist ein Schaf. Zeichne mir ein Schaf."
Dann habe ich diese Zeichnung gefertigt:
Er sah sie sich genau an und sagte:
"Nein. Dieses Schaf ist bereits sehr krank. Male mir ein anderes."
Also habe ich eine weitere Zeichnung gemacht.
Mein Freund lächelte sanft und nachsichtig.
"Du siehst doch hoffentlich selbst", sagte er, "dass dies kein Schaf ist. Das ist ein Bock. Er hat Hörner."
Daraufhin habe ich meine Zeichnung noch einmal überarbeitet.
Aber auch diese wurde abgelehnt, genau wie alle anderen.
"Dieses hier ist zu alt. Ich will ein Schaf, das lange leben wird."
Mittlerweile war meine Geduld erschöpft, denn ich hatte es eilig und wollte meinen Motor auseinandernehmen. Also habe ich diese Zeichnung hingekritzelt:
Dazu habe ich ihm folgende Erklärung angeboten.
"Das ist nur seine Kiste. Das Schaf, um das du gebeten hast, ist drinnen."
Ich war sehr überrascht, als ich sah, wie sich das Gesicht meines jungen Kenners aufhellte:
"Das ist genau so, wie ich es haben wollte! Glaubst du, dass dieses Schaf viel Gras braucht?"
"Warum?"
"Dort, wo ich wohne, ist alles sehr klein ...."
"Es gibt sicher genug Gras für das Tier", sagte ich. "Es ist ein sehr kleines Schaf, das ich dir gezeichnet habe."
Er beugte seinen Kopf über die Zeichnung.
"Gar nicht so klein – Schau! Es ist eingeschlafen ..."
Und so habe ich den kleinen Prinzen kennengelernt.
Es dauerte lange, bis ich herausfand, woher er kam. Der kleine Prinz, der mir so viele Fragen stellte, schien die, die ich ihm stellte, nie zu hören. Zufällig gesprochene Worte offenbarten mir nach und nach die Wahrheit.
Als er zum Beispiel mein Flugzeug zum ersten Mal sah (ich werde mein Flugzeug nicht zeichnen, das wäre viel zu kompliziert für mich), fragte er mich:
"Was ist das für ein Gegenstand?"
"Das ist kein Gegenstand. Es fliegt. Es ist ein Flugzeug. Es ist mein Flugzeug."
Ich war stolz darauf, ihm sagen zu können, dass ich fliegen kann.
Dann rief er:
"Was! Du bist vom Himmel gefallen?"
"Ja", antwortete ich bescheiden.
"Oh! Das ist lustig!"
Da brach der kleine Prinz in ein herzliches Gelächter aus, was mich wiederum sehr irritierte. Ich möchte, dass meine Missgeschicke ernst genommen werden.
Dann fügte er hinzu:
"Dann kommst du auch vom Himmel! Von welchem Planeten?"
In diesem Moment fing ich einen Lichtschimmer in dem undurchdringlichen Geheimnis seiner Gegenwart ein und fragte abrupt:
"Kommst DU von einem anderen Planeten?"
Aber er antwortete nicht. Er neigte seinen Kopf sanft hin und her, ohne seine Augen von meinem Flugzeug zu nehmen:
"Damit kannst du wohl nicht von sehr weit hergekommen sein ..."