Roman
Ins Deutsche übertragen
von Ralph Sander
Titel
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Epilog
Stammbaum Argeneau
Impressum
Roman
Ins Deutsche übertragen
von Ralph Sander
1
Am Rand des kleinen Hains blieb Nicholas stehen und fluchte leise. Irgendwie musste ihm der Abtrünnige entwischt sein, möglicherweise war er geradewegs an ihm vorbeigegangen. Dieser Gedanke veranlasste ihn dazu, sich umzudrehen und in die Richtung zu schauen, aus der er gekommen war. Dennoch war es genau genommen völlig ausgeschlossen, dass er ihn nicht bemerkt haben sollte. Das Grün entlang der Straße war gerade mal drei Meter breit, und er war bewusst langsam gegangen, um jeden Baum abzusuchen. Er konnte ihn nicht übersehen haben, und doch war das die einzige sinnvolle Erklärung.
Er zog den Empfänger aus der Tasche und warf einen Blick auf das Display. Der blinkende Lichtpunkt, der anzeigte, wo sich der Wagen des Abtrünnigen befand, hatte sich nicht von der Stelle bewegt. Der Kerl hatte also nicht gewendet, um wieder wegzufahren. Nicholas steckte den Empfänger weg und suchte abermals die Zufahrt ab.
Auf keinen Fall konnte der Abtrünnige den Weg zu Fuß zurückgelegt haben, dessen war er sich absolut sicher. Die Zufahrt führte zum neuen Hauptquartier der Jäger, sozusagen ein Polizeirevier für Vampirjäger, das nach allem, was er sehen konnte, besser gesichert war als jedes Gefängnis für Sterbliche. Ein drei Meter hohes schmiedeeisernes Tor schützte vor dem Zutritt durch Unbefugte, und zu beiden Seiten erstreckte sich eine genauso hohe Mauer, die sich nach etlichen Metern zwischen den Bäumen verlor. Im Abstand von höchstens dreißig Zentimetern ragten Metalldorne aus dem Mauerwerk, zwischen denen drei Reihen Stacheldraht gespannt waren, die jeden abschrecken sollten, der mit dem Gedanken spielte, über die Mauer zu klettern. Warnschilder wiesen zudem darauf hin, dass der Zaun unter Strom stand. Als wäre das alles nicht schon genug, fand sich gut fünf Meter hinter dem ersten noch ein zweites Tor aus Maschendraht und ebenfalls mit Stacheldraht gesichert, der ganz sicher auch unter Strom stand.
Nicholas schüttelte kurz den Kopf. Dass er so etwas jemals zu sehen bekommen würde, hätte er nicht für möglich gehalten. Bislang hatten die Vollstrecker keine feste Basis gehabt, sondern waren von Lucian Argeneaus Haus aus losgeschickt worden. Offenbar war sein Onkel nun aber zu dem Entschluss gekommen, das Ganze offiziell zu machen und es besser zu organisieren. Das wurde auch Zeit, fand Nicholas, und eigentlich hätte man so was schon vor Jahrhunderten in Angriff nehmen sollen.
Sein Blick wanderte fort vom Tor und hin zu den Bäumen auf der anderen Seite der Zufahrt. Es war eigentlich undenkbar, dass der von ihm verfolgte Abtrünnige den breiten, ungeschützten Bereich überquert haben sollte, befand sich doch hinter dem Tor ein Wachmann. Und dann war da auch noch die Rufsäule mit Kamera und Sprechanlage vor dem Tor. Der Abtrünnige wäre nicht das Risiko eingegangen, am Tor vorbeizulaufen und dabei von der Kamera erfasst zu werden. Aber entweder hatte er das Risiko trotzdem für vertretbar gehalten, oder Nicholas war tatsächlich an dem Mann vorbeigegangen, ohne ihn zu bemerken.
Während er einen Blick über die Schulter hinter sich warf, sagte ihm sein Verstand zwar, dass er den Abtrünnigen auf keinen Fall übersehen haben konnte, doch insgeheim geriet er in Sorge, seine Instinkte könnten nachgelassen haben.
Ein Motorengeräusch ließ ihn aufhorchen, und als er wieder nach vorn sah, entdeckte er den Transporter eines Catering-Unternehmens, der in die Zufahrt einbog und an der Rufsäule anhielt.
»Ja?«, drang eine blechern klingende Stimme aus der Sprechanlage.
»Cally’s Catering«, antwortete der Fahrer. »Wir möchten unsere Leute und das Geschirr abholen.«
»Fahren Sie durch.« Das erste Tor öffnete sich.
Nicholas ging davon aus, dass der Lieferwagen zwischen den beiden Toren anhalten würde, um dort inspiziert zu werden. Doch dann kam der Wachmann aus seinem kleinen Häuschen und öffnete dem Transporter auch das zweite Tor, und erst nachdem er hindurchgefahren war, gab er dem Fahrer ein Zeichen, damit der anhielt.
Der Wachmann unterhielt sich kurz mit dem Fahrer, ging um den Wagen herum, öffnete die hinteren Türen und warf einen Blick ins Innere. Da er zu sehr auf dieses Geschehen konzentriert war, wäre ihm beinahe der Mann entgangen, der plötzlich unter dem Wagen hervorkam, kurz daneben kauerte und sich dann im Eiltempo in Richtung Wachhaus entfernte.
Fast hätte Nicholas dem Wachmann eine Warnung zugerufen, doch dann hielt er sich noch in letzter Sekunde zurück und griff stattdessen nach seinem Telefon. Dass er soeben den gesuchten Abtrünnigen hatte entwischen sehen, daran bestand kein Zweifel. Der Mistkerl musste am Straßenrand gewartet haben, bis sich ein Fahrzeug näherte, dann hatte er den Fahrer seiner Kontrolle unterworfen, damit der anhielt und er unter den Wagen krabbeln konnte, um sich dort irgendwo festzuhalten, bis sich der Transporter auf dem Grundstück befand.
So ein gerissener Drecksack, dachte Nicholas, während er irritiert weiter nach seinem Handy suchte. Er musste im Haus anrufen, um die anderen zu warnen, damit sie die Schwestern bewachten und das Grundstück nach dem Eindringling absuchten. Und er würde ihnen auch sagen, dass die Wachleute künftig auch einen Blick unter die einfahrenden Wagen werfen sollten. Jedenfalls wollte er das alles machen, sobald er sein verdammtes Telefon gefunden hatte, aber die Suche verlief weiterhin ergebnislos. Was hatte er denn nur mit dem Ding gemacht? Am Abend hatte es zu piepen begonnen, weil der Akku fast leer gewesen war, und daraufhin hatte er es an den Zigarettenanzünder im Wagen angeschlossen, weshalb …
»Verdammt!«, murmelte Nicholas und sah in die Richtung, aus der er gekommen war. Er hatte sein Handy im Wagen liegen lassen. Einen Moment lang überlegte er, ob er zurücklaufen sollte, um es zu holen, aber während der Abtrünnige einfach an den Straßenrand gefahren war und seinen Wagen am Grundstück abgestellt hatte, wollte Nicholas nicht entdeckt werden. Daher stand sein Wagen im Wald in der Nähe des Anwesens, wo er vor wachsamen Blicken gut verborgen war. Der Mann – Ernie Brubaker – stammte aus Leonius’ Brut, und Nicholas hoffte, wenn er ihn lange genug verfolgte, würde er ihn früher oder später zu Leonius selbst führen. Leonius Livius war ein Abtrünniger von der besonders üblen Sorte, der aufgehalten werden musste, und genau das hatte sich Nicholas zur Aufgabe gemacht. Aber seiner vorsichtigen Vorgehensweise bei der Verfolgung verdankte er nun, dass sein Van ein ganzes Stück entfernt geparkt war, und wenn er jetzt erst noch dort hinlief, um sein Handy zu holen und den Anruf zu erledigen, war es Ernie womöglich bereits gelungen, sich eine der Frauen zu schnappen und wieder zu verschwinden.
Jedenfalls waren die Frauen das einzige Ziel, das Nicholas in den Sinn gekommen war, als er bemerkt hatte, dass er dem Mann zum Jägerhauptquartier folgte.
Seufzend drehte er sich um und betrachtete wieder das Tor und die dahinter liegende Zufahrt. Der Wachmann war in sein Häuschen zurückgekehrt, der Lieferwagen war bereits nicht mehr zu sehen. Zweifellos rannte der Abtrünnige in diesem Moment im Schutz der Bäume zum Haus. Er musste sie warnen, aber ohne sein Handy gab es nur eine Möglichkeit: Ihm blieb nichts anderes übrig, als zum Tor zu gehen und dem Wachmann zu sagen, was er beobachtet hatte. Nur würde er sich damit selbst ans Messer liefern, wie er sich eingestehen musste. Bedauerlicherweise blieb ihm keine andere Wahl. Wenn er nicht …
Die Ankunft eines weiteren Wagens riss ihn aus seinen Gedanken. Ein Van näherte sich der Einfahrt, und als Nicholas darauf den Namen einer Reinigungsfirma las, huschte ein finsteres Lächeln über seine Lippen. Der Wagen fuhr bis zur Säule vor, und das bedeutete, dass er der Kamera die Sicht auf alles nahm, was sich auf der anderen Seite des Vans befand … auch auf Nicholas selbst, wie ihm in diesem Augenblick bewusst wurde.
Ohne erst noch darüber nachzudenken, wie riskant eine solche Aktion für ihn selbst war, verließ Nicholas den Schutz der Bäume und rannte los, bis er sich hinter dem Van befand. Dort hielt er sich am Griff der hinteren Türen fest und stellte sich auf die Stoßstange, wobei er sich bemühte, das Fahrzeug unter seinem Gewicht nicht zu sehr wippen zu lassen. Dann wartete er ab, während der Fahrer dem Wachmann erklärte, dass er gekommen war, um die Reste der Party aufzuräumen.
Der Wachmann bat ihn, kurz zu warten, und Sekunden später öffnete sich das äußere Tor. Der Van fuhr los, und Nicholas klammerte sich wie ein miserabler Spider-Man-Imitator am Wagenheck fest. Ehe er sich darüber im Klaren war, wurde er auch schon von der Überwachungskamera in der Säule erfasst, doch da war es bereits zu spät. Er sagte sich, dass der Wachmann in diesem Moment nicht vor dem Monitor in seinem Verschlag saß und er ihn auch nicht huckepack aufs Grundstück kommen sehen konnte, weil er damit beschäftigt sein musste, das zweite Tor zu öffnen. Kaum hatte der Van das äußere Tor passiert, sprang Nicholas runter und lief zu den Büschen beim Wachhaus, so wie es vor ihm der Abtrünnige gemacht hatte. Dabei konnte er nur hoffen, dass der Wachmann der gleichen Routine folgte wie beim vorangegangenen Wagen. Falls ja, gab ihm der Van Deckung, falls nein, würde er wohl jeden Moment eine Kugel in den Rücken bekommen.
Er hielt so lange den Atem an, bis er sich im Grün hinter der Wachstube in Sicherheit gebracht hatte, ohne dass ihm jemand etwas zurief oder sogar das Feuer auf ihn eröffnete. Erst dann atmete er tief durch und genoss den Schwall frischer Luft, während er den Weg einschlug, den der Abtrünnige vermutlich auch genommen hatte und der geradewegs zum Haus auf dem Hügel führte.
»Oh Mann«, murmelte Jo.
»Was ist?«, fragte Alex und setzte ihr Glas ab.
»Noch mehr Gäste.« Jo deutete mit einer Kopfbewegung in Richtung der Tür, wo ihre Schwester Sam mit ihrem Verlobten Mortimer stand und einen weiteren Neuankömmling begrüßte, bei dem es sich einmal mehr um einen großen, gut aussehenden Kerl in Lederkleidung handelte. Jeder der anwesenden Männer trug irgendein Teil aus Leder: eine Hose oder eine Jacke, eine Weste oder auch eine Kombination daraus. Hauptsache, irgendetwas war aus Leder. Einige waren sogar von Kopf bis Fuß in Leder gekleidet. Das Ganze wirkte wie ein Bikertreffen, nur ohne Tätowierungen. Diese Tatsache war Jo mit als Erstes aufgefallen. Zwar wirkte jeder dieser finster dreinblickenden Kerle wie ein Schlägertyp, und etliche trugen ihr Haar sehr lang, aber nicht ein Einziger von ihnen wies ein Tattoo auf – zumindest keines, das die unbedeckten Hautpartien schmückte. Das waren die ordentlichsten Biker, die sie je gesehen hatte.
Falls das überhaupt Biker sind, dachte sie. Vielleicht waren sie ja auch so wie Mortimer und seine Freunde Bricker und Decker Mitglieder in verschiedenen Rockbands. Sollte das allerdings zutreffen, dann waren sie die gepflegtesten Rockmusiker, die Jo jemals zu Gesicht bekommen hatte.
»Ach, komm schon, so schlimm ist es gar nicht«, meinte Alex amüsiert.
»Findest du?«, konterte Jo bissig.
»Ja, finde ich«, versicherte ihr Alex. »Sieh dich doch nur mal um. Wir stehen hier in einem Zimmer, in dem es von blendend aussehenden Männern wimmelt. So viele Kerle auf einen Haufen, die ich am liebsten alle mal anknabbern würde, habe ich schon lange nicht mehr zu sehen bekommen.«
»Anknabbern?«, wiederholte Jo.
»Ja, du hast mich richtig verstanden. Sieh dich um, Jo, jeder einzelne Kerl hier ist zum Dahinschmelzen. Breite Schultern, muskulöse Brust, schmale Taille.« Sie schüttelte den Kopf und ließ ihren Blick über die Männer wandern, die in kleinen Grüppchen in dem weitläufigen Zimmer verteilt standen. »Hier hat niemand einen Bierbauch oder schiefe Zähne oder X-Beine.«
»Stimmt, und es könnte richtig nett sein, wenn sie uns nicht wie Aussätzige behandeln würden«, warf Jo ein.
»Das tun sie doch gar nicht«, konterte Alex lachend.
»Willst du mich auf den Arm nehmen? Sag mal, befinden wir uns beide tatsächlich auf derselben Party, oder kriegst du bloß nichts mit?«, fragte Jo verwundert. »Alex, diese Typen kommen rein, Sam und Mortimer begrüßen sie und reden kurz mit ihnen, und dann stellen sie sie uns vor. Aber jeder von ihnen, und damit meine ich jeden Einzelnen, starrt uns eine Minute lang schief an und redet absolut kein Wort mit uns. Dann drehen sie sich zu Mortimer um, schütteln den Kopf und verziehen sich. Ein paar von ihnen machen sogar auf dem Absatz kehrt und gehen gleich wieder. Der Rest steht rum, unterhält sich und nimmt keine Notiz von uns. Findest du das nicht wenigstens ein bisschen seltsam?«
»Na ja, wenn du es so hinstellst, dann ist es schon irgendwie eigenartig«, musste Alex ihr achselzuckend zustimmen.
»Allerdings«, sagte sie. »Und das ist nicht das einzig Seltsame. Was hältst du von den Sicherheitsvorkehrungen? Sind die nicht eine Spur überzogen?«
»Das schon, aber Sam hat ja erklärt, dass Mortimer und die Jungs Ärger mit einem Fan haben, der ein richtiger Stalker sein muss«, betonte Alex.
»Ja, bestimmt.« Jo stieß ein verächtliches Lachen aus. »Eine Band, die sich noch nicht mal auf einen Namen geeinigt hat, wird von einem Stalker verfolgt.«
»Ich dachte, sie wollen sich Morty and the Muppets nennen«, entgegnete Alex verwundert.
»Alex«, wandte Jo ein, »selbst wenn sie sich inzwischen auf einen Namen geeinigt haben und selbst wenn ihnen ein Fan aus irgendeinem Kuhkaff hinterherrennt und ihnen Ärger macht, möchte ich mal wissen, woher sie das Geld für ein solches Haus und für derartige Sicherheitsvorkehrungen haben. Herrgott, die sind ausgestattet wie ein südamerikanischer Diktator oder ein Drogenbaron. Ich glaube, nicht mal der US-Präsident oder der kanadische Premierminister werden durch so viel Stacheldraht von der Außenwelt abgeschirmt.«
Grinsend sagte Alex daraufhin: »Da hätte ich eine Theorie.«
»Ach ja? Und die wäre?«
»Dass Mortimer eigentlich gar nicht in einer Band spielt und dass das alles nur Tarnung ist, weil er in Wahrheit ein schwerreicher Kerl ist. Vielleicht jemand wie Gates.«
Jo hob die Augenbrauen. »Gates ist ein dürrer alter Typ mit Brille und grauen Haaren. Mortimer ist nicht Bill Gates.«
»Ich hab auch nicht gesagt, dass er Gates ist. Aber vielleicht ist er ja der Sohn von Gates oder irgendeinem anderen reichen Kerl«, stöhnte Alex gereizt. »Ich will bloß sagen, dass er nur so getan hat, als sei er ein mittelloser Rockmusiker in einer erfolglosen Band, damit Sam sich in ihn verliebt, ohne von seinem Reichtum geblendet zu sein.«
»Kann schon sein«, meinte Jo, und genau genommen war das sogar eine viel schlüssigere Erklärung als die Geschichte mit dem Stalker, die ihnen Mortimer, Decker und Bricker auftischten. Vermutlich kannte Sam längst die Wahrheit und würde ihnen früher oder später alles sagen.
Mittlerweile hatten Sam und Mortimer den jüngsten Neuankömmling auf ihrer Party begrüßt und begleiteten ihn zu Jo und Alex. Es war erstaunlich, wie spät die Gäste noch eintrudelten, wo doch schon die Caterer die Reste vom Büfett nach draußen trugen und das Reinigungspersonal sauber machte, wo es nur konnte. Jo drückte Alex ihr Glas in die Hand. »Hier, halt mal, ich muss zur Toilette.«
Alex nahm ihr den Drink ab, sah sie aber argwöhnisch an. »Ich will für dich hoffen, dass du wirklich mal musst. Komm ja nicht auf die Idee, mich mit all diesen Kerlen allein zu lassen.«
»Soweit ich das beurteilen kann«, erwiderte Jo ironisch, »lassen diese Kerle eher dich allein. Du siehst ja, wie sie sich viel lieber untereinander unterhalten, anstatt mit uns zu reden. Bestimmt sind die alle schwul.«
»Meinst du?«, fragte Alex beunruhigt.
Jo verdrehte die Augen und machte sich aus dem Staub, bevor Sam, Mortimer und Mr Zuspätkommer sie erreichen konnten. Während sie sich ihren Weg zwischen den Grüppchen hindurchbahnte, ging ihr eine Sache nicht aus dem Kopf. Diese Männer sahen alle makellos aus. Okay, nicht in dem Sinn, wie ein Unterwäschemodel makellos aussieht. Auch wenn Alex das zwar so meinte, hatten sich nicht nur Traummänner eingefunden. Einige waren ziemlich groß, andere etwas kleiner, manche waren weiß, manche ein wenig dunkelhäutiger, einer hatte eine zu große Nase, bei einem anderen standen die Augen zu dicht zusammen und so weiter. Aber jeder von ihnen war für sich betrachtet makellos: die Haut frei von Unreinheiten, perfekte Haare und ausgesprochen gesunde Körper. Soweit sie das erkennen konnte, gab es nicht einen Pickel zu entdecken, keine Schuppen und nicht ein Gramm Fett. Das genügte, um einer ganz normalen Frau Minderwertigkeitskomplexe zu bescheren. Die meisten Männer, die sie kannte, kümmerten sich nicht um Spliss und hatten auch keine Ahnung von den diversen Gesichtscremes … es sei denn, sie waren schwul.
Vielleicht hatte sie ja gar nicht so falschgelegen, überlegte sie, während sie sich der Tür näherte. Ein Blick über die Schulter, bevor sie in den Flur ging, zeigte ihr, dass Sam und Mortimer mit ihrem Gast bei Alex angekommen waren, der so wie alle anderen zuvor wortlos auf ihre Stirn starrte, als hätte sie da ein mächtiges Furunkel.
Kopfschüttelnd entschwand Jo in den Flur, ging aber nicht wie behauptet zur Toilette, sondern begab sich in die Küche. Zu ihrer großen Erleichterung war der Raum menschenleer, und sie durchquerte ihn, um zu den gläsernen Schiebetüren im gleichermaßen verlassenen Esszimmer gleich nebenan zu gelangen.
Sie seufzte zufrieden, als sie es geschafft hatte, nach draußen an die frische Luft zu gelangen, ohne von irgendwem entdeckt oder daran gehindert zu werden. Nachdem sie die Tür hinter sich zugeschoben hatte, blieb sie kurz stehen, um sich umzuschauen. Zusammen mit Alex war sie am Abend hier eingetroffen, als es noch hell war. Da hatte die großzügig bemessene Wiese am Haus noch einen friedlichen Eindruck gemacht – ein gepflegter Rasen, gesäumt von Bäumen, deren Laub in einer leichten Brise raschelte. Jetzt dagegen wirkte das Ganze auf sie eher unheimlich.
Die bei Tageslicht idyllische Szene hatte sich in der Dunkelheit zu unheimlich tanzenden Schatten gewandelt, und der nächtliche Wind ließ die Baumkronen beängstigend rauschen. Jo überlegte, ob sie besser ins Haus zurückkehren sollte. Doch dann entschied sie sich dagegen, da sie unbedingt etwas frische Luft schnappen und sich ein wenig die Beine vertreten wollte, ehe sie noch weitere sonderbare Begegnungen über sich ergehen ließ, die der einzige Sinn dieser merkwürdigen Party zu sein schienen.
Viel lieber wäre sie sogar nach Hause gefahren und hätte die Füße hochgelegt. Wäre sie doch bloß selbst mit dem Auto gekommen! Wenn sie jetzt versuchte, früher zu gehen, dann würde Sam ihr ewig in den Ohren liegen und wissen wollen, ob etwas nicht stimmte und warum sie aufbrechen wollte. Und Jo wollte ihrer älteren Schwester nicht wehtun, indem sie ihr erklärte, dass sie noch nie auf einer so langweiligen Party gewesen sei.
Da war ja die Arbeit in der Bar an den meisten Abenden in der Woche aufregender. Im Grunde genommen hatten nur Sam und Mortimer mit ihr und Alex geredet, außerdem seine angeblichen Bandkollegen Bricker und Decker sowie Deckers Freundin Dani und deren jüngere Schwester Stephanie. Die waren zwar alle ganz nett, aber gleich nach der Begrüßung waren Decker, Dani und Stephanie irgendwohin verschwunden, und damit blieben Jo, Alex und Sam als die einzigen Frauen im Raum zurück. Diese Tatsache und die Beobachtung, dass die Männer alle einen großen Bogen um sie machten, nachdem es diese kurze, aber seltsame Begrüßung gegeben hatte, beunruhigten Jo. Etwas frische Luft und Ruhe war genau das, was sie im Moment brauchte, und beides konnte sie hier draußen sogar mitten in der Nacht am besten bekommen. So unheimlich es auch war, dank der umfangreichen Sicherheitseinrichtungen rings um das Grundstück fühlte sie sich nicht wirklich unwohl.
Sie ging gerade ein Stück über den Rasen, als ihr einfiel, dass Bricker heute Nacht am Tor Dienst schob. Er hatte sich freiwillig für den Job gemeldet, da er – nach seinen eigenen Worten – Alex und Jo bereits kannte. Jo war diese Bemerkung etwas eigenartig vorgekommen. Zugegeben, Sam hatte gesagt, sie wolle sie beide auf der Party mit Mortimers Freunden bekannt machen, und Mortimer kannten sie tatsächlich schon. Aber trotzdem …
Vielleicht sollte sie zum Tor gehen und nachsehen, ob Bricker sich langweilte oder ob er irgendetwas haben wollte. Sie machte kehrt, um zur Vorderseite des Hauses zu gelangen. Jo mochte Bricker. Okay, nicht so sehr, dass sie sich ihm am liebsten an den Hals geworfen und ihn geküsst hätte. Er war wirklich ganz süß, und sie verstanden sich auch gut, aber gefunkt hatte es zwischen ihnen definitiv nicht. Bricker verkörperte für sie mehr den zu Streichen aufgelegten jüngeren Bruder oder einen guten Freund. Er war einfach ein lässiger und umgänglicher Typ, von dem sie aber nicht mehr wollte. Und das war auch in Ordnung, denn auf der Suche nach einer festen Beziehung war sie nicht. Dafür fehlte ihr nun mal die Zeit. Neben dem Vollzeitjob in der Bar und Vorlesungen in Meeresbiologie, die sie an der Universität besuchte, hatte sie kaum Gelegenheit, sich mit ihren Freunden zu treffen. Wo hätte sie da noch die Stunden abzweigen sollen, die ein aktives Liebesleben in Anspruch nehmen würde?
Vielleicht konnte Bricker ihr ja verraten, was es mit den Männern auf dieser Party auf sich hatte, überlegte sie, als sie um die Ecke bog. Er wusste bestimmt, ob diese ganze Truppe schwul war oder nicht.
Jo hatte nur ein paar Schritte zurückgelegt, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Sie drehte sich um und schnappte überrascht nach Luft, als sie den blonden Mann sah, der aus der Dunkelheit auf sie zugerannt kam. Aus ihrem Keuchen wurde ein Schmerzensschrei, als der Unbekannte mit ihr zusammenprallte und sie von ihm gegen die Hauswand geschleudert wurde. Sie schlug so hart mit dem Kopf gegen die Fassade, dass sie Sterne sah, während die Schmerzen ihr den Atem raubten.
Der Mann sagte irgendwas, Jo konnte ihn einige Worte murmeln hören, die von seinem unangenehm riechenden Atem in ihre Richtung getragen wurden, aber sie ergaben keinen Sinn. Und dann war er auch schon wieder verschwunden.
Da sie von ihm nicht länger gegen das Mauerwerk gedrückt wurde, sackte sie zu Boden und stöhnte auf, als ihr Knie auf etwas schrecklich Hartem aufschlug, was nur noch mehr Schmerz durch ihren Körper jagte. Jo brauchte ein paar Sekunden, um sich in den Griff zu bekommen, erst dann fragte sie sich, wohin ihr Angreifer entkommen sein mochte. Der Schmerz ließ allmählich nach, und sie nahm in unmittelbarer Nähe angestrengtes Schnaufen und wilde Flüche wahr. Sie zwang sich, die Augen zu öffnen, und sah, dass sich ein paar Meter von ihr entfernt zwei Männer prügelten.
Jo erkannte in keinem von beiden einen der Gäste von der Party, und sie war sich ziemlich sicher, dass sie ihr dort aufgefallen wären. Der Blonde, der sie angegriffen hatte, schaute recht wild drein, er trug seine Haare lang und glatt. Seine dunkle Kleidung machte einen ungepflegten Eindruck, und sie wies etliche Flecken auf, die fast wie getrocknetes Blut aussahen. Der andere Mann hatte dunkles, mittellanges Haar, er trug eine verwaschene, aber saubere Jeans und ein dunkles T-Shirt.
Beide hatten eindeutig vor, den jeweils anderen niederzuzwingen, und das nicht nur für den Moment, sondern für immer. Zumindest war das Jos Eindruck, als sie sah, wie der Blonde die Hände um den Hals ihres mutmaßlichen Retters legte und ihn zu erwürgen versuchte. Im nächsten Augenblick landeten die beiden auf dem Rasen und rollten hin und her.
Jo beschloss, Hilfe zu holen, und versuchte aufzustehen, als sie mit dem Knie abermals auf den Stein geriet, auf dem sie gerade eben gelandet war. Wieder schoss ein Schmerz durch ihren Körper, der ihr den Atem raubte. Als sie nach unten schaute, entdeckte sie, dass der Übeltäter ein gerade mal handtellergroßer Stein war. Instinktiv hob sie ihn auf und suchte mit der anderen Hand an der unebenen Wand in ihrem Rücken Halt, um sich aufzurichten.
Nachdem ihr das gelungen war, musste sie feststellen, dass sie noch sehr wacklig auf den Beinen war und der dunkle Rasen dazu neigte, sich erschreckend schnell vor ihren Augen zu drehen. Ins Haus zurückzukehren und Hilfe zu holen, schien unter diesen Umständen nicht länger sinnvoll, da der Kampf vermutlich schon beendet sein würde, bevor sie die anderen alarmieren konnte – und wer von den beiden am Ende als Sieger dastehen würde, darüber war sie sich keineswegs im Klaren. Also musste sie eingreifen und helfen. Sie atmete tief durch, stieß sich von der Wand ab und stakste mit unsicheren Schritten auf die Männer zu, die inzwischen über die geteerte Auffahrt rollten. Als sie gut zwei Meter von den Kämpfenden entfernt war, gelang es dem Dunkelhaarigen, den Blonden von sich wegzustoßen, dann sprang er auf und packte den Langhaarigen, um ihn vom Boden hochzuziehen und weiter auf ihn einzuprügeln.
Jo stand da und blinzelte verwundert. Die Männer hatten sich so schnell bewegt, dass ihre Augen den beiden nicht hatten folgen können. Es war wie bei einem Film, der im Zeitraffer ablief: Eben noch lag der Dunkelhaarige auf dem Asphalt, dann stand er da, und im nächsten Moment beugte er sich über ihren Angreifer, um ihn auf die Beine zu zerren. Sie musste sich den Kopf schlimmer angestoßen haben als vermutet, überlegte sie, wenn ihre Augen ihr derartige Streiche spielten. Trotzdem ging sie Schritt für Schritt weiter und sah, dass der Dunkelhaarige den Blonden soeben so gedreht hatte, dass der mit dem Rücken zu ihr stand. Schnell holte sie aus und ließ den Stein mit aller Kraft auf den Kopf des Angreifers herabsausen. Eine Sekunde lang fürchtete sie, sie könnte zu heftig zugeschlagen haben, als sie den lauten Aufprall hörte. Hatte sie ihn etwa schwer verletzt oder sogar getötet? Aber dann stellte sich heraus, dass weder das eine noch das andere eingetreten war. Sie hatte den Blondschopf lediglich auf sich aufmerksam gemacht … und ihn gleichzeitig unglaublich sauer gemacht, was ihr klar wurde, als er sich ihr zuwandte und sie wie ein Hund anknurrte und dabei die Zähne fletschte.
Fassungslos starrte Jo ihn an. Seine goldenen Augen, glühten vor Zorn. Erschrocken wich sie vor ihm zurück, doch bevor er ihr etwas tun konnte, verpasste der Dunkelhaarige ihm einen weiteren Schlag. Zumindest schien das der Fall zu sein, da sie sah, wie er ausholte, und fast im gleichen Moment den Treffer hörte. Auf jeden Fall genügte diese Aktion, um den Blonden von ihr abzulenken. Der drehte sich wieder zu dem Dunkelhaarigen um und wollte sich für den Schlag revanchieren, doch der andere Mann war schneller und landete einen weiteren Hieb. Diesmal kam ein leises Röcheln über die Lippen des Blonden, dann sackte er in sich zusammen und stürzte zu Boden.