Inhaltsverzeichnis
Wir bedanken uns beim Fußballfachblatt kicker-sportmagazin und der Sportagentur profipartner 24 GmbH für die freundliche Unterstützung.
Dieses Buch widme ich meinen Eltern. Danke Mama, danke Papa, ohne eure Liebe, Unterstützung, Kraft und Euren Beistand wäre ich nie so weit gekommen. Ihr seid immer für mich da und auch ich werde immer für Euch da sein. Für mich seid Ihr die besten Eltern der Welt! Ich danke Gott, dass es Euch gibt. Ich liebe Euch über alles.
Eure Lira
Memoiren mit Anfang 20?
Warum ich ein Buch schreibe
Da war immer diese Angst. Die Angst davor, dass sie meinen Eltern irgendetwas antun.
Ich heiße Fatmire, aber seit ich denken kann, nennen mich alle nur Lira. Ich bin eine gebürtige Kosovo-Albanerin. Wer mich und mein Leben verstehen will, muss in die Geschichte des früheren Jugoslawien eintauchen. Hinein in die Wirren ethnischer Konflikte, in die Wirren des Krieges.
Noch heute läuft es mir eiskalt den Rücken herunter, wenn ich an meine frühe Kindheit zurückdenke. Ich bin unter Umständen aufgewachsen, die sich junge Frauen in Deutschland in meinem Alter kaum vorstellen können. Unser Leben war in Gefahr, deshalb musste meine Familie fliehen.
Ich habe lange überlegt, ob ich mit Anfang 20 schon meine Lebensgeschichte aufschreiben sollte. »Ist das nicht etwas übertrieben, so früh deine Memoiren zu Papier zu bringen?«, fragte mich meine Mitspielerin Anja Mittag aus der Nationalmannschaft. Das hat mich verunsichert, denn auch ich hatte Zweifel. Klar, was habe ich in meinem Leben schon erreicht? Was hat man in meinem Alter überhaupt schon hinter sich? Was habe ich geleistet? Sicher blicke ich nicht auf ein vollendetes Lebenswerk als Sportler oder 50 Jahre Film- oder Gesangskarriere zurück wie andere Stars. Ich bin auch keine alternde Diva, die sich gegen das Faltenzählen entschieden hat und stattdessen lieber ihre Lebensgeschichte erzählt.
Ich fühle mich als Fußballnationalspielerin auch weit entfernt von Ikonen à la Rudi Völler oder Steffi Graf, die unzählige große sportliche Erfolge feiern konnten. Und um in meiner Sportart zu bleiben: Auch mit der ehemaligen Topspielerin Steffi Jones, die heute Präsidentin des Organisationskomitees der WM 2011 ist, oder der ehemaligen Weltfußballerin Birgit Prinz kann ich nicht mithalten. Zudem hoffe ich inständig, dass meine Fußballkarriere trotz Weltmeistertitel 2007 ihren Höhepunkt noch nicht überschritten hat und mein Leben überhaupt noch viele Abenteuer für mich bereithält. Mein wichtigstes sportliches Ziel ist ohne Zweifel das Frauenfußball-Weltmeisterschaftsturnier im eigenen Land 2011. Es wäre wirklich gigantisch, wenn ich das Ticket für die Heim-WM lösen könnte.
So, jetzt kommen sicher die Kritiker und vermuten als Grund für meine Schreibwut viel »Kohle«. Ich darf beruhigen: Das Geld war es auch nicht. Ich habe keinen Michael-Ballack-, Oliver-Kahn- oder Boris-Becker-Status. Für die kleine Lira wird von Verlagsseite in Zeiten von Finanzkrise und wachsender Arbeitslosigkeit nicht mal schnell eine Million locker gemacht. Gut, ich übertreibe, so viel Geld haben die drei wohl auch nicht gesehen. Und tauschen will ich mit diesen Sportlegenden wirklich nicht. So extrem in der Öffentlichkeit zu stehen, wäre nicht mein Ding. Ich möchte weiter meinen Abfall in Schlabberklamotten zur Mülltonne bringen können, ohne dass ich am nächsten Morgen die Titelseiten fülle und den Menschen, die das in der Zeitung sehen, das Brötchen vor Schreck im Halse stecken bleibt. Und wenn ich mir beim Bäcker meines Vertrauens ein Stück Sahnetorte gönne, sollte das nicht unbedingt die ganze Nation wissen. Am Ende bekomme ich noch einen Rüffel von der Bundestrainerin, die sich um meinen Ernährungsplan sorgt.
Was ich eigentlich damit sagen will: Mit einem Buch verdient man nicht so viel Geld, dass man am Ende saniert wäre und sich und seiner Familie eine Luxusvilla hinstellen könnte. Immerhin kann ich mit dem Geld meine 30 Paar umfassende Schuhsammlung erweitern. Das ist doch was!
Es bleibt also die Frage: Warum schreibe ich ein Buch? Was kann ich denn eigentlich bieten? Eine behütete Kindheit, ein bisschen Pubertät mit vielen (!) Pickeln, eine Menge Sport, ein paar nette Anekdoten. Das Übliche eben? Nein, denn das ist eben nicht alles. Es ist meine Herkunft: Der Kosovo zählt heute noch zu den ärmsten Regionen in Europa. In entsprechend einfachen Verhältnissen spielte sich meine Kindheit ab. Es war für uns Albaner gerade kurz vor unserer Flucht ein Alltag voller Angst, voller Entbehrungen, und dennoch gab es diesen großen Zusammenhalt in der Familie, der mich trägt.
Als »Dreikäsehoch« musste ich mein Geburtsland mit meinen Eltern und zwei Brüdern verlassen, weil wir keine Perspektiven mehr sahen und unser Leben in Gefahr war. Mein Vater hat damals Geld an eine Schleuserbande gezahlt, damit wir aus dem Kosovo rauskommen. Unsere Flucht durch halb Europa war der reinste Horror, besonders die letzte Etappe. Ich träume noch heute vom Gebell der Wachhunde, die mitten in einer unheimlichen Nacht im Grenzgebiet zu Deutschland hinter uns her waren. Heute sind die Grenzen offen, aber damals patrouillierte hier noch der Grenzschutz mit Hundestaffeln.
In unserer Akte in Deutschland stand später das Wort »Flüchtling«. Das ist nicht wirklich der Begriff, mit dem man hausieren gehen will.
Ich fühlte mich damals gefangen zwischen zwei Welten. Ich war fremd in einer neuen Heimat. Sich in Deutschland zu integrieren, ist nicht einfach. Dennoch haben wir es mit bescheidenen Mitteln geschafft.
Ich lebte als Muslima jahrelang mitten in Nordrhein-Westfalen, derzeit wohne ich in Potsdam im Osten von Deutschland – und ich fühle mich wohl. Ich bin ein gläubiger Mensch, und das kann ich dankenswerterweise hier in Deutschland mit kleinen Einschränkungen ausleben.
Wir sind als Familie in Deutschland heute richtig angekommen und integriert. Aber das war ein langer, steiniger Weg. Ich habe den Kosovo aber nicht vergessen: Die Ereignisse in meinem Geburtsland beschäftigen mich und meine Familie noch heute. Wir haben hier in Deutschland, in der Ferne geweint, als der Kosovo im Februar 2008 unabhängig wurde. Ich und wir alle fühlen uns den Menschen dort weiterhin sehr verbunden.
Ein anderer schwieriger, wenn auch deutlich ungefährlicherer Weg war es, meinen Paps davon zu überzeugen, dass Fußball genau das Richtige für die zarten Knochen seines kleinen Mädchens ist. Kein Ballettunterricht (obwohl es von der Statur her ganz gut passen würde) im rosa Gymnastikanzug und Tüllröckchen, keine Leichtathletik oder etwa Turnen. Nee, auf einem Acker im Dreck um den Ball wühlen und Zweikämpfe gewinnen – das war von Anfang an meine Welt. Papa war da zeitweise etwas verkrampft. Der Weltmeistertitel 2007 hat ihn endgültig locker gemacht …
Das alles beantwortet endlich die Frage, weshalb ich mich für ein Buch entschieden habe: Meine schwierige Kindheit im Kosovo, meine Fluchtgeschichte, meine Integration in ein für mich bis dahin fremdes Land, aber auch mein Weg als erste Muslima in die deutsche Frauenfußball-Nationalmannschaft – diese Erlebnisse waren stark – und sie haben mein Leben von Grund auf verändert.
Doch das ist bereits Geschichte. Das ist meine Geschichte. Sie hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin: Ich, Lira. Die Flucht war »mein Tor ins Leben«.
Die nächsten Seiten sollen den Menschen Mut machen, die vielleicht Ähnliches erlebt haben und mit nicht ganz so viel Glück gesegnet waren wie ich, oder die sich noch mitten im Albtraum befinden. Es gibt weltweit Millionen Flüchtlinge, fast täglich sieht man zum Beispiel Bilder von überfüllten Booten aus Afrika in den Nachrichten. Diese Menschen besitzen nichts mehr und sind so verzweifelt, dass sie sich in besseren Nussschalen übers weite Mittelmeer nach Europa aufmachen. Ich kenne diese Verzweiflung. Ich bin mit ihr aufgewachsen. Meine Eltern hat Verzweiflung und Angst zur Flucht getrieben. Sie sind ein unheimliches Risiko eingegangen – und sie wurden belohnt. Andere haben es nicht geschafft. Auch viele von den Bootsflüchtlingen sterben heute oder werden von den Behörden wieder abgeschoben, müssen in ihren Ländern mit harten Strafen rechnen. Dort wartet die bittere Armut.
Ich weiß auch: Nicht jeder Mensch mit Migrationshintergrund in Deutschland hat gleich eine Fluchtgeschichte hinter sich. Dennoch muss jeder sich an einen neuen Alltag gewöhnen, gegen Armut und Anfeindungen kämpfen. Unterschiedliche Glaubensrichtungen, andere Traditionen – das neue Umfeld ist zunächst einmal gewöhnungsbedürftig und befremdlich. Es kann lange dauern, bis Barrieren aufbrechen. Manchmal passiert es nie.
Mich berühren solche Schicksale, weil ich genau weiß, was diese Menschen empfinden. Ich fühle mich ihnen verbunden, verstehe ihre Angst, ihre Hilflosigkeit. Ich will meine Fluchtgeschichte teilen. Nicht nur die schlimmen Dinge, sondern auch das Danach. Denn auf mich und meine Familie wartete zumindest bis jetzt eine schöne Zukunft.
Mein Anliegen ist es, von einem ähnlichen Schicksal betroffenen Menschen zu sagen: Lasst euch nicht abbringen von eurem Weg, geht voller Selbstvertrauen weiter. Es lohnt sich! Es gibt ein Licht am Ende des Tunnels. Ich habe es erlebt. Ich möchte mit diesem Buch meine ungewöhnlichen Erlebnisse, die Höhen und Tiefen, die ich durchgemacht habe, anderen Menschen erzählen. Sie sollen lesen, dass auch für mich die Integration kein Kinderspiel war, dass wir am Anfang in Deutschland von der Hand in den Mund gelebt haben, dass Geduld, eine ordentliche Portion Selbstbewusstsein und Durchhaltevermögen gefragt sind – und dass man das Glück manchmal ein klein wenig erzwingen muss.
Klar, mein literarisches Werk ist auch für all die jungen Menschen – egal welcher Herkunft -, die auf der Suche nach sich selbst sind. Auch ich musste meinen eigenen Weg in der G esellschaft erst finden, meine Persönlichkeit entwickeln. Und der Prozess ist noch lange nicht abgeschlossen. Doch mit der Hilfe meiner Familie und dem Glauben an Gott und mich selbst bin ich trotz widriger Umstände weit gekommen. Mein Buch darf ruhig Ansporn sein für Jugendliche, die noch etwas orientierungslos durchs Leben gehen: Ich bin überzeugt, ihr werdet den richtigen Weg finden, wenn ihr nur fest genug an euch glaubt.
Natürlich – und jetzt wird es sportlich – soll mein literarisches Erstlingswerk auch ein bisschen die jungen Frauen motivieren, die oftmals als »Wuchtbrummen« bezeichnet oder mit anderen verbalen Nettigkeiten bedacht wurden: Mädels, es ist gut, für euren Sport zu kämpfen. Egal, ob der Sport Fußball, Rugby, Boxen oder Skispringen heißt. Auch wenn es noch etwas Zeit bedarf, bis diese Disziplinen für das »schwache Geschlecht« in der Gesellschaft so richtig akzeptiert werden: Wer sagt eigentlich, dass wir Frauen das nicht können?!
Viel Freude beim Lesen!
Eure Lira
Ich, Lira
Wer bin ich, was will ich, wohin gehe ich?
Ich liebe Engel. Auf Bildern, aber auch als Statuen. Große, kleine, in verschiedenen Farben. Allein in meiner neuen, gemütlichen Bude in Potsdam stehen sechs solcher Figuren herum. Das sind meine Schutzengel. Bisher haben sie gute Arbeit geleistet. Meine Mama glaubt auch an so etwas. Diese kleine »Macke« ist also Erbmasse. Mama besitzt in unserer Wohnung in Mönchengladbach ganz viele Engel.
Anfang 2009 hatten meine Mutter und ich einen Autounfall. Ich saß am Steuer. Meine Fahrkünste kommen wohl nicht ganz an die des Formel-1-Helden Michael Schumacher heran, aber grundsätzlich kann ich mich schon auf der Straße halten und kenne die wichtigsten Verkehrsregeln. Ich fahre gerne Auto und gar nicht so schlecht. An diesem besagten Wintertag war es glatt, entsprechend vorsichtig habe ich das Fahrzeug bewegt. Trotzdem ist es passiert: In einer Rechtskurve hoben wir ab, direkt ins Feld, und verfehlten einen Strommast nur um Haaresbreite. Da hatten wir wirklich einen Schutzengel! Dieses Erlebnis nahm ich zum Anlass, mir einen weiteren Glücksbringer zuzulegen. Seitdem schmückt meinen Rücken ein Tattoo: »My guardian Angel« steht in dezenter Größe auf Schulterhöhe. Mama musste ich nicht mehr groß überreden, bei Engeln ist sie total flexibel. Und schließlich bin ich auch schon erwachsen, da darf ich ja selbst über meine Körperbemalung entscheiden.
Mama hat schon an die Kraft der Engel geglaubt, da gab es mich noch gar nicht. Seit ich denken kann, gehören diese Figuren zu meinem Leben. Sie haben mich und meine Familie stets beschützt. Geboren wurde ich übrigens am 1. April 1988 in Gjurakovc, einem Dorf nahe Peć (Peja) im Kosovo. Für die Erdkundeinteressierten: Peć liegt gut 150 Kilometer südlich von Sarajevo, der Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina. Heute gehört Peć zur Republik Kosovo.
Bosniens Hauptstadt kennt man in der Regel. Gjurakovc ist mit seinen 90 Einwohnern nicht gerade der Nabel der Welt, aber ich verbinde damit immer noch ein Stück Heimat. Dort habe ich fünf Jahre mit meiner Familie gewohnt. Meine Familie, das sind mein Papa Ismet, meine Mama Ganimet, mein zwei Jahre älterer Bruder Fatos und mein drei Jahre jüngerer Bruder Flakron. Papa arbeitet inzwischen seit fast einem Jahrzehnt als Busfahrer, Mama hilft seit zwei Jahren in einer Backstube aus. Vorher verdiente sie ihr Geld als Putzfrau im Krankenhaus. Flakron geht noch zur Berufsschule und spielt selbst Fußball. Bis zum Sommer 2009 kickte er in der Jugend von Borussia Mönchengladbach. Fatos arbeitet als Kfz-Karosseriebauer in einer Werkstatt.
Meine beiden Brüder stehen mir sehr nah, in der Kindheit haben wir viel gemeinsam gespielt. Wir haben uns auch immer gegenseitig bei Problemen geholfen. Auch heute sprechen wir oft miteinander, tauschen unsere Erlebnisse aus. Klar gibt es zwischen uns Geschwistern immer mal kleinere Reibereien, aber im Grunde lieben wir uns sehr. Erlebnisse wie unsere Flucht waren einschneidend und haben uns als Familie eng zusammengeschweißt.
Bis zum Sommer 2009 lebten wir alle noch unter einem Dach in Giesenkirchen, einem Stadtteil von Mönchengladbach. Wir teilten uns zu fünft 110 Quadratmeter, ich hatte davon unglaubliche zehn für mich. Ich fand mein Mini-Zimmer aber immer schön schnuckelig, habe mich stets in meinem kleinen Chaos wohlgefühlt. Ein Bett, zwei Schränke, zwei Regale – und alles picke-packe voll.
Ich und meine Brüder Flakron und Fatos 1996
Ich lese ganz gerne, vor allem Biografien. Lebensgeschichten finde ich spannend. Ich lerne einen wildfremden Menschen innerhalb von 200 Seiten richtig kennen. Ich fiebere in spannenden Augenblicken mit ihm mit, freue mich über gelungene Aktionen und in besonders traurigen Momenten verdrücke ich schon mal ein paar Tränen. Am Ende des Buches fühle ich mich der Hauptperson sehr nah. Berührt hat mich insbesondere die Geschichte von Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo. Wie die Sucht jemanden so kaputtmachen kann, das ist sehr tragisch.
Zum Glück bin ich mit Drogen bisher nie in Berührung gekommen. Ich glaube, das hat auch etwas mit meiner intakten Familie zu tun, für die ich sehr dankbar bin. Meine Eltern haben mir stets Geborgenheit vermittelt, Werte vorgelebt, die ich nachleben möchte. Sie haben mir die Stärke gegeben, Nein zu sagen, meine Grenzen zu erkennen. Meine Eltern sind für mich Vorbild, abheben ist da nicht drin. Meine Familie und mein Freundeskreis sorgen dafür, dass ich die Bodenhaftung nicht verliere. Selbst wenn ich zwei, drei Staatspräsidenten schon die Hand geschüttelt habe oder mit einigen Sportgrö ßen essen war, macht mich das nicht zu einem besseren Menschen. Ich weiß, wo ich herkomme. Meine Familie und mein Zuhause sind mir heilig.
Meine Mama und mein Papa im Jahr 2002 – sind sie nicht ein schönes Paar?
Meine Brüder Fatos und Flakron mussten mich immer beschützen. Das hat ihnen mein Papa auferlegt. Er hatte Angst, dass seinem einzigen Mädchen etwas passiert. Für meine Brüder war es selbstverständlich, und sie sind auch ein bisschen stolz auf mich. Das geht so weit, dass Flakron im Fitnessstudio von Giesenkirchen sogar ein Nationaltrikot mit meinem Namen trägt. Echt süß!
Wir sind eine muslimische Familie, allerdings würde ich uns als sehr gemäßigt bezeichnen. Schon im Kosovo hat meine Mama nie ein Kopftuch getragen, für mich kam das später auch nicht infrage. Das war für uns nie ein Thema. Auch wenn ich gewollt hätte, wäre mein Papa eingeschritten und hätte Nein gesagt.
Ich frage mich manchmal, ob meine Fußballkarriere so verlaufen wäre, wenn ich mit Kopfbedeckung auf dem Platz herumgelaufen wäre. Man muss sich das mal vorstellen: Ich stehe bei einem Länderspiel auf dem Rasen in voller Montur. Kopftuch, lange Hosen, langer Pullover. Geht das? Was würden die Leute sagen? Würden sie es akzeptieren? Ich glaube eher nicht! Es wäre zu fremd für eine Gesellschaft, die noch Probleme hat, sich mit Moscheen in ihrer Nachbarschaft anzufreunden. In einigen Bundesländern gilt ein Kopftuchverbot für Bedienstete des Staates, weil eine religiöse Neutralitätspflicht gewährleistet werden soll. Lehrerinnen dürfen etwa in Bayern und Baden-Württemberg nicht mit Kopfbedeckung unterrichten. Und jetzt stelle man sich mal vor, dass da eine Fußballerin vor einem Länderspiel bei der deutschen Nationalhymne mit Kopftuch in die Kamera lächelt und die Hymne mitsingt! Nein, das würde wohl nicht funktionieren.
Doch auch ohne Kopftuch bin ich gläubig, bete aber nicht täglich, sondern nur vor jedem Spiel und sehr oft für meine Familie. Wir essen auch kein Schweinefleisch. Das führt bei der Nationalmannschaft manchmal zu kleinen Problemen: Spaghetti bolognese etwa kann ich in der Originalversion nicht vertilgen. Meistens wird noch eine eigene Soße für mich gezaubert. Diese Rücksicht schätze ich sehr, schließlich könnte man mir auch Nudeln ohne Soße zumuten.
Zurück zu meinem ehemaligen Zimmer in Mönchengladbach, in dem ich immerhin fast 15 Jahre meines Lebens verbracht habe: In meinem großen Schrank herrschte Chaos. Ich liebe Klamotten – die lagen da wild durcheinander drin. Die feinen Teile hingen auf Bügeln, der Rest wurde drum herum gestapelt. Im anderen Eck stand mein Sportkleidungsregal. In dem steckten die Nationalmannschaftsklamotten. Fein säuberlich aufgereiht hingen die Trikots der Spielerinnen, mit denen ich nach einer Partie mein Shirt getauscht habe. Eines gehört der norwegischen Nationalspielerin Solveig Gulbrandsen. Die hat schon ein Kind und spielt weiter auf hohem Niveau Fußball. So etwas bewundere ich.
Stolz präsentieren Coco und ich unser Vereinstrikot, zusammen mit Bernd Schröder(links), dem Trainer vom 1. FFC Turbine Potsdam, und Reiner Rabe, unserem Hauptsponsor. Die ZAL (Zentrum Aus- und Weiterbildung Ludwigsfelde GmbH) u nterstützt unser Fußballteam von Turbine Potsdam
An meinem Rollo aus Bast baumelte immer meine Ohrringe-Kollektion. Überhaupt besitze ich diverse Sammlungen: Schuhe, Schmuck, Sonnenbrillen, Handtaschen. Das Standardprogramm eben, das die junge Frau von heute bieten muss … Zudem liebe ich alles, was glitzert. Ich informiere mich stets über die neuesten Trends, lese auch gerne mal Mode- und Promi-Zeitschriften, so ein bisschen Klatsch und Tratsch darf doch sein.
Im Sommer musste ich leider aus den elterlichen vier Wänden ausziehen, weil ich nun nicht mehr für den FCR Duisburg, sondern für Turbine Potsdam Fußball spiele. Potsdam ist einfach zu weit weg von Mönchengladbach, dem Ort, der seit 1994 das neue Zuhause meiner Familie ist. Jetzt lebe ich das erste Mal in einer eigenen Wohnung. Wow! Das ist eine heftige Umstellung. Ich habe jetzt mit meiner besten Freundin Corina Schröder eine Wohngemeinschaft in Potsdam. »Coco« spielt auch Fußball und kickt jetzt ebenfalls für den Bundesligisten Turbine. Wir haben uns gemeinsam für einen Wechsel vom FCR Duisburg in den Osten entschieden. Unsere neue Wohnung liegt unglaubliche drei Minuten vom Trainingsplatz entfernt. Im Klartext heißt das: Wir können morgens immer etwas länger schlafen. Besser geht es nicht! Eine WG für zwei Mädels auf 95 Quadratmetern – nicht schlecht, oder?!
Meine Mama ist allerdings todunglücklich. Vor Kurzem waren wir in einem Möbelhaus. Ich liebe es, herumzustöbern, schöne Dekorationsgegenstände zu entdecken und Sofas auszuprobieren. Das könnte ich manchmal den ganzen Tag tun. Ich fragte dort meine Mama aus Spaß: »Kaufst du mir noch ein paar Einrichtungsgegenstände für die neue Wohnung?« Mama sagte damals nur ganz traurig: »Ich will nicht darüber reden.« Ende der Durchsage!
Ich bin die Erste, die aus unserem trauten Fünf-Personen-Familienglück ausgezogen ist, und das ist heftig für meine Mama. Sie tut mir leid. Ich fühle mit ihr, denn auch ich habe mein Elternhaus nur ungern verlassen.
Papa ist da etwas entspannter. Er sagt, dass mein Wechsel nach Potsdam eine gute Entscheidung war. Schließlich bin ich jetzt fünf Jahre lang für Duisburg auf Torejagd gegangen, und das reicht eigentlich. Ich wollte mich sportlich weiterentwickeln. Aber ich bin schon ein Mensch, der gerne die Familie um sich herum hat. Sie alle fehlen mir: meine Mutter, mein Vater, meine Brüder …
Ein weiterer Nachteil: Ich muss jetzt alles selber erledigen. Putzen, Waschen, Kochen – das volle Programm eben. Meine Mama hat mir viel davon beigebracht, das hab ich soweit schon im Griff. Einzig beim Bügeln streike ich, ich hasse das und befürchte, dass ich in den nächsten Jahren wohl mehr auf T-Shirts anstatt Blusen zurückgreifen muss, da machen die Knitterfalten nicht so viel aus. Allerdings gibt es die Mama, die mich ab und zu mal zusammenstaucht, auch wenn sie nicht mehr in meiner unmittelbaren Nähe ist. Heute geht das dann am Telefon, man erzählt da etwas – und prompt kommt der kritische Kommentar via Satellit.
Wenn meine Mutter früher mit mir geschimpft hat, weil ich irgendetwas nicht weggeräumt oder vergessen habe, dann war Widerrede zwecklos. Da halfen mir auch keine sportlichen Erfolge oder ein Candle-Light-Dinner mit Franz Beckenbauer weiter. Na ja, Kerzen waren nicht dabei, aber eine Menge Leute vom Deutschen Fußball-Bund, als ich mit dem »Kaiser« mal essen war.
An dem besagten Abend im Oktober 2007 besprachen wir noch einmal unsere Vorgehensweise bei der am nächsten Tag anstehenden Bewerbungspräsentation für die Frauenfußball-WM 2011. Deutschland wollte dieses Turnier unbedingt auf eigenem Boden austragen! Ich durfte zusammen mit unserer Rekordnationalspielerin Birgit Prinz, Franz Beckenbauer, der Familienministerin Ursula von der Leyen und einigen anderen in Zürich vor dem Weltverband FIFA für unser Land werben. Der einzige Mitkonkurrent um die Ausrichtung dieser WM war Kanada.
Einen Tag vor der Entscheidung also trafen sich alle Beteiligten unserer Delegation in einem Restaurant. Ich war wie immer die Letzte. Neben der Sportmoderatorin Monica Lierhaus waren auch Günter Netzer und eben Franz Beckenbauer dabei. Ich war völlig baff: Papa redete zu Hause immer so ehrfurchtsvoll über diese beiden ehemaligen Fußballgrößen, jetzt saßen die zwei entspannt an meinem Tisch, gingen auf meine Fragen ein und hatten sogar welche an mich. Unglaublich! Wir hatten am Tisch ein munteres Gespräch, unterhielten uns über meinen Lieblingsverein Borussia Mönchengladbach. Immerhin hatte Günter Netzer dort auch einige Jahre gekickt. Franz Beckenbauer war ein aufmerksamer Zuhörer und schaltete sich immer mal wieder ins Gespräch ein. Ich musste mich ein paarmal unter dem Tisch in den Arm zwicken. Ich, der Franz und der Günter …
Tatsächlich bekam Deutschland am nächsten Tag den Zuschlag. Alle Beteiligten freuten sich riesig, als Sepp Blatter, der Präsident des Fußballweltverbandes FIFA, den Gewinner vor versammelter Meute und den TV-Kameras vorlas. Das war der helle Wahnsinn: Eine WM im eigenen Land, das erlebst du als Sportler wahrscheinlich nur einmal. Ich hoffe, ich darf aktiv dabei sein …
Ich werde auf alle Fälle auch bei meinem neuen Verein Turbine alles dafür tun, um meine Fußballkarriere weiter voranzutreiben. Es wäre wirklich schön, wenn ich mich bei meinem neuen Trainer Bernd Schröder zu einer Führungsspielerin entwickeln könnte.
Zurück zum Privaten: Meine WG-Mitbewohnerin in Potsdam kenne ich schon seit fünf Jahren. Coco und ich sind zwei völlig verschiedene Menschen. Sie ist zwei Jahre älter als ich und eher die Ruhigere von uns beiden. Mich kennt man mehr als Temperamentsbolzen. Aber das ergänzt sich anscheinend ganz gut. Seit drei Jahren sind wir eng befreundet.
Ein inniges Verhältnis pflege ich auch zu meinen vielen Cousinen. Allein sechs davon leben hier in Deutschland. Fünf wohnen ganz in der Nähe von Mönchengladbach, entsprechend viel haben wir zusammen angestellt. Meine engste Vertraute dabei ist Mimoza, genannt Mimi. Durch sie bin ich eigentlich zum Fußball gekommen. Sie ist drei Jahre älter als ich. Sie hat damals schon beim DJK/VfL Giesenkirchen gespielt und zu mir gesagt: »Hör mal, du musst auch im Verein spielen.« Mimi spielt heute immer noch gut Fußball. Dennoch hat sich meine Cousine für einen anderen Weg entschieden und wollte ihren Sport nicht professionell betreiben.
Coco und Mimi kennen sich gut, auch sie haben mal zusammen im Verein gespielt. Die beiden sind so etwas wie mein zweites Standbein neben meiner Familie. Sie geben mir Halt. Unter der Woche war ich in den vergangenen Jahren in Mönchengladbach vor allem mit Coco unterwegs. Das hat sich durch unseren gemeinsamen Wechsel nach Potsdam natürlich intensiviert. Da wir zusammen wohnen und trainieren, sehe ich sie logischerweise jeden Tag. Wir kochen zusammen, wir quatschen viel. Mimi muss seit ein paar Jahren regelmäßig arbeiten, da läuft man sich nicht mehr so oft über den Weg. Und jetzt ist es durch die räumliche Distanz eh schwieriger geworden. Trotzdem: Coco und Mimi sind meine Vertrauten. Den beiden kann ich alles erzählen.
Auch wenn ich jetzt in Potsdam lebe und kicke, begann meine Fußballkarriere in Mönchengladbach. Erst heimlich. Ich musste meinen Vater sanft überzeugen. Es war für ihn früher undenkbar, dass seine einzige Tochter Fußball spielen würde. Na ja, und nun bin ich Weltmeisterin. Wenn auch 2007 bei der WM in China nur als Ersatzspielerin. Bei den Begegnungen der deutschen Nationalmannschaft gegen England, Japan, Norwegen und im Finale gegen Brasilien wurde ich eingewechselt. Es war ein Riesen-Erlebnis: Das Land China, das für mich schon sehr gewöhnungsbedürftig war. Überall Menschenmassen, Lärm und ziemlich viel Luftverschmutzung. Hinzu kam merkwürdiges Essen wie etwa Schlangensuppe oder Affenhirn, was wir natürlich nur angeschaut und nicht verzehrt haben. Die Chinesen pflegen auch noch andere für uns merkwürdige Angewohnheiten wie das Rotzhochziehen aus der Tiefe des Rachens und das darauf folgende Ausspucken auf die Straße. Dieses Ritual soll auch im Restaurant zum guten Ton gehören. Schleim auf dem Fliesenboden und daneben essen – Mahlzeit!