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Eine Email aus China
Das netteste Mädchen der Welt
Der verwunschene Garten
Der Mond über Schanghai
Der Neue
Ein besonderer Anruf
Fast ein Anfang
Verregnete Pause
Eine geplatzte Verabredung
Ein Sitzplatz in der Eiche
Gleich zum Übernachten?
Halloween im alten Haus
Die Räuberhöhle
Ein Gespenst!
Geisterstunde
Gespräche in der Nacht
Die beste Überraschung, die es gibt
„Geh doch ein bisschen raus, Jan!“, sagt Mama nach dem Mittagessen.
„Keine Lust“, murmle ich.
Sie lässt nicht locker. „Aber die Sonne scheint.“
Das nervt. Ich gebe keine Antwort.
„Ruf doch Flo an und triff dich mit ihm zum Fußballspielen!“
Mama glaubt, für einen Jungen gibt es nichts Größeres als Fußballspielen. Ich mach’s ja auch wirklich gern. Aber jetzt eben nicht. „Flo ist immer noch auf Teneriffa“, antworte ich.
Sie seufzt. Extra laut, damit ich es auch höre. Dann verschwindet sie in Richtung Arbeitszimmer.
„Kann ich an den Computer?“, rufe ich ihr hinterher.
„Nein, kannst du nicht“, gibt sie zurück. „Ich muss arbeiten.“ Mama schreibt Artikel für eine Zeitung. Und wir haben nur den einen Computer und an dem sitzt meistens sie.
Ich verziehe mich in mein Zimmer und lege mich auf den Fußboden neben mein Piratenschiff. Ich stelle einen Piraten in den Mastkorb und stecke ihm das Fernrohr in die Hand. Mehr fällt mir gerade nicht ein.
Mit Bea habe ich früher gespielt, wir würden ferne Inseln entdecken und das Seeungeheuer besiegen und uns Schlachten mit den Rotröcken liefern und einen Schatz finden und lauter solche Sachen. Und oft haben wir dann gar nicht mehr mit den Figuren gespielt, sondern in echt. Mein Hochbett war der Ausguck oder das Schiff und der Schrank war eine Höhle oder ein dunkles Verlies. Und Bea war eine Entdeckerin, die auf einer einsamen Insel gestrandet war, und ich habe sie gerettet. Oder sie war eine todesmutige Piratin und hat mich aus den Klauen des Seeungeheuers befreit. Oder wir sind aus einem Gefängnis ausgebrochen und haben ein Schiff gekapert und durch einen furchtbaren Sturm gesteuert und gegen unsere Verfolger verteidigt. Gesiegt haben wir jedenfalls immer. Und wenn wir draußen gespielt haben, sind uns noch viel spannendere Sachen eingefallen.
Abenteuer wie mit Bea kann man mit Flo nicht erleben. Ich weiß auch nicht warum – es geht eben nicht. Mit Flo kann man Computerspiele machen, Fußballbilder tauschen oder DVDs anschauen und natürlich Fußball spielen – wenn er Zeit hat. Meistens muss er ja lernen oder üben oder hat Musikstunde oder Schwimmtraining oder Nachhilfe, damit er es mal ins Gymnasium schafft. Und in den Ferien ist er sowieso nie da.
Ich stehe wieder auf und schaue aus dem Fenster. Da drüben in dem Bungalow auf der anderen Straßenseite hat Bea gewohnt.
Früher wäre ich einfach über die Straße gegangen, hätte bei ihr geklingelt und wir hätten zusammen gespielt und uns Geschichten ausgedacht, die keiner wissen durfte. Wir hätten zum Beispiel Geschichten vom bösen Bert erfunden, der lauter freche Sachen macht, die wir nie machen würden – oder fast nie. Ein kleines bisschen ausprobiert hätten wir sie ja vielleicht schon.
Einmal, als wir noch klein waren, haben wir meinem Papa die Sandalen im Schuhregal vertauscht. Wir haben die linke dunkelblaue neben die rechte schwarze gestellt, und morgens vor der Arbeit hat er es in der Eile nicht gemerkt. Es sind nämlich beides die gleichen Sandalen, nur eben in verschiedenen Farben, und vor dem Schuhregal ist es ziemlich dunkel. Er ist den ganzen Tag mit einem blauen und einem schwarzen Schuh durch die Gegend gelaufen. Der war vielleicht sauer, als er abends aus seinem Architekten-Büro heimkam! Als er wissen wollte, welcher Idiot seine Schuhe vertauscht hat, haben wir gesagt, das war bestimmt der böse Bert. Er fand es gar nicht witzig. Wir aber schon und Mama auch. Die hat sich halbtot gelacht und gesagt: „Zwei verschiedene Schuhe – so was merkt man doch!“ Das hat Papa noch wütender gemacht. Vorsichtshalber bin ich dann erst mal mit zu Bea, bei der war ich eh genauso zu Hause wie sie bei mir.
Ich gebe dem Ball, der am Boden rumliegt, einen Tritt und schieße ihn gegen das Piratenschiff. Es kippt um, die Piraten und Kanonen fallen heraus und ein Segel bricht ab. Ist mir doch egal – mit dem Schiff will ich sowieso nicht mehr spielen.
Ich habe Herbstferien, die Sonne scheint und alles ist blöd.
„Jan, komm mal her!“, ruft Mama. Ich reagiere nicht darauf. Schließlich ist meine Zimmertür zu und ich kann Mama gar nicht hören.
„Du hast eine E-Mail!“, ruft sie weiter. „Aus China!“
Ich sause los, stolpere über das Piratenschiff, versenke es restlos, reiße die Tür auf, renne durch den Flur, rutsche auf meinen Socken aus und schlittere in Mamas Zimmer.
„Wo?“
„Na hier.“ Sie macht mir Platz am Computer und zeigt auf den Bildschirm. Dann geht sie aus dem Zimmer. Sie hat die Datei schon blau markiert. Da steht es, eindeutig: „Von Bea an Jan.“
Bea hat mir geschrieben. Aus China.
Ein Gefühl ist auf einmal in meinem Bauch, ein Gefühl, wie es bestimmt keiner kennt außer mir. Mit Bea hat es zu tun und damit, dass sie jetzt am anderen Ende der Welt lebt und dass ich schon fast gefürchtet habe, sie hätte mich vielleicht doch vergessen. Aber sie hat an mich geschrieben.
Einen Augenblick warte ich noch, ehe ich die Mail öffne. Weil das Gefühl so schön ist. Aber dann halte ich es nicht mehr aus und drücke auf ENTER.
„Lieber Jan“, steht da, „jetzt bin ich schon 31 Tage in Schanghai. 659 muss ich noch. Ich habe mir einen Kalender gemacht und jeden Abend streiche ich einen Tag durch. Dabei ist es hier nicht schlecht. Es gibt jede Menge Hochhäuser, die sind höher, als du dir vorstellen kannst. Wenn man oben aus dem Fenster schaut, glaubt man, man sitzt in einem Flugzeug, so klein ist unten alles. Die ersten Tage waren wir in einem supertollen Hotel, da kann man vom 53. Stock bis in den 87. hinaufschauen und es kommt einem vor, als würde man mitten in einer riesengroßen Schnecke stehen und von innen zu ihrer Spitze hinaufsehen. Ganz schwindlig war mir davon. Jetzt haben wir aber ein kleines Haus in einer Siedlung mit lauter Deutschen und anderen Ausländern, Franzosen und so. Komisch, früher habe ich immer gedacht, Ausländer, das wären nur andere. Jetzt bin ich selbst einer, oder eine, besser gesagt. So eine Siedlung wie unsere nennt man Compound. Außen herum ist ein Zaun. Es gibt ein Clubhaus und einen Swimmingpool und Tischtennisplatten, bei denen man immer Kinder trifft. Überhaupt sind viele Kinder hier. Langweilig wird einem jedenfalls nicht. Wir waren schon im Zoo und im Yu-Garten und sind auch mal ans Meer gefahren. Ich mag das Meer. Nur richtiges Brot vermisse ich und unsere Leberwurst und Dich. Mama hat aber gehört, dass man das irgendwo kaufen kann, frisches deutsches Brot, meine ich. Dich eben leider nicht. In der deutschen Schule habe ich eine Freundin gefunden, die heißt Liz und ist nett. Sie wohnt in einem anderen Compound, aber sie hat schon bei mir übernachtet und ich auch bei ihr. Nur so wie mit Dir ist es mit ihr nicht. Weißt Du noch, wie wir in unserem verwunschenen Garten gespielt haben und wie wir in unsere Rosenburg eingestiegen sind? An die denke ich besonders oft und wie wir da drinnen immer geredet haben. Ich wüsste gern, wie sie jetzt im Herbst aussieht. Vielleicht ist inzwischen der Eingang wieder ganz zugewachsen? Pass auf, dass Deine Eltern das nicht lesen, weil es ja geheim ist. Wie geht es Dir? Ich schicke Dir zwei Fotos im Anhang. Auf dem einen bin ich mit Liz, auf dem anderen mit dem Fernsehturm, aber den sieht man nicht. Er hat nicht auf das Foto gepasst, er ist viel zu hoch. Denkst Du noch an mich? Ich schon an Dich. Mindestens jeden Tag. Und jeden Abend. Und den Mond schaue ich auch immer an, wenn er scheint, du weißt schon. Deine Bea.“
„Und? Wie geht es Bea? Was schreibt sie so?“, fragt Mama, die wieder ins Zimmer hereinkommt.
„Das ist geheim“, antworte ich und halte die Hände vor den Bildschirm.
Mama strubbelt mir durch die Haare. „Keine Sorge. Ich lese es schon nicht. Druck es dir doch aus!“
Das mache ich. Und die beiden Fotos drucke ich auch aus.
Am liebsten hätte ich auch gleich an Bea geschrieben. Aber Mama hat sich sofort wieder an ihren Computer gesetzt. Wenn sie einen Artikel für ihre Zeitung schreiben muss, wird sie richtig giftig, wenn man sie nicht arbeiten lässt, das kenne ich. Und für Streit mit Mama ist mir der Tag viel zu schade. Solch ein Tag. Außerdem will ich allein sein. Allein kann man viel besser denken.
Also habe ich den Brief und die Fotos genommen, bin in mein Zimmer gegangen und auf mein Hochbett geklettert.
Als Erstes habe ich mir die Fotos angeschaut. Das eine nur kurz, das mit Liz. Die hat einen blonden Lockenkopf und sieht so ganz lustig aus. Bestimmt kichert sie dauernd. Bea hat ihren Arm um Liz gelegt und steht dicht neben ihr. Ich mag diese Liz nicht besonders. Aber das Foto von Bea und dem Fernsehturm, den man nicht sieht, das mag ich. Ich habe es mir lange angesehen. Ganz lange.
Bea ist das netteste Mädchen auf der ganzen Welt. Sie hat dunkle Haare und Grübchen in den Wangen, wenn sie lacht. Sie lacht oft, aber nicht so doof wie andere Mädchen. Bea kann auch sehr ernst sein. Und zuhören. Und Geheimnisse bewahren. Ihr kann man Dinge sagen, die man sich sonst niemandem zu sagen traut. Und – ach, überhaupt. Mit Bea ist es anders als mit jedem anderen Mädchen und anders als mit Flo und meinen übrigen Freunden sowieso.
Ich lese Beas Brief so oft, bis ich ihn auswendig kann. Das Foto, das von Bea vor dem Fernsehturm, kenne ich auch schon auswendig. Aber langweilig wird es mir trotzdem nicht. Unser verwunschener Garten...
Ich bin nie mehr dort gewesen, seit Bea weggezogen ist. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es nicht geht. Weil es eben unser Garten war, auch wenn er uns nicht wirklich gehört hat. Er gehört zu einem uralten Haus, das schon lange leer steht. Der Garten ist fast so groß wie der Park von einem Schloss und völlig verwildert. Außer uns war da bestimmt seit Jahren niemand mehr drin.
Gras, Blumen und Büsche wachsen dort völlig durcheinander, und die Bäume sind alt und wunderschön. In diesem Garten haben wir gespielt, wir wären zwei arme Kinder, die keinen Menschen mehr auf der Welt hätten, und wir müssten uns dort vor einer feindlichen Bande verstecken. Oder wir wären auf der Flucht vor Räubern. Aber die haben uns nie gefunden.
Und dann haben wir das Gartenhäuschen entdeckt, das ganz und gar mit Rosen zugewachsen war. Wir haben es Rosenburg genannt. Wenn wir da drinnen gesessen und die Rosen gesehen haben, die zu den Tür- und Fensteröffnungen reingewachsen sind, und wenn die Sonnenstrahlen durch die Blüten geschienen haben, sodass sie wie Feuer geglüht haben – dann war es, als wären wir in einer anderen Welt. Einer Welt, die nur uns gehört hat, Bea und mir, uns ganz allein.
Plötzlich hält es mich nicht mehr auf meinem Hochbett.
Ich muss wissen, wie es da jetzt aussieht. Und dann muss ich an Bea schreiben und ihr davon erzählen. Das wird ein toller Brief.
Bisher habe ich noch nie so einen langen Brief geschrieben wie sie. Ich bin ja auch eine Klasse unter ihr, weil sie drei Monate älter ist als ich und vor mir in die Schule gekommen ist. Aber im Kindergarten sind wir in dieselbe Gruppe gegangen und waren immer zusammen. Auch als sie schon in die Schule musste und ich nicht, haben wir fast jeden Tag miteinander gespielt. Und als ich dann auch in die Schule gegangen bin und schon Flo und meine anderen Freunde gekannt habe, mit denen ich Fußball spiele, haben wir uns trotzdem immer besucht.