Guido Buettgen, geboren 1967, wohnt mit seiner Frau und zwei Kindern am Starnberger See. Obwohl seit über 20 Jahren Werber mit Herz und Seele, nahm er Mitte 2010 eine berufliche Auszeit, begab sich auf eine mehrmonatige Weltreise und widnet sich anseitdem einer weiteren Leidenschaft, dem Schreiben. Dieser Reisebericht ist sein literarisches Erstlingswerk.
„Als deutscher Tourist im Ausland steht man vor der Frage, ob man sich anständig benehmen muß – oder ob schon deutsche Touristen dagewesen sind.“
Kurt Tucholsky, Journalist und Schriftsteller
Ausgangssituation
6. Oktober, 1. Tag: München – Frankfurt – Sao Paulo
7.Oktober, 2. Tag: Sao Paulo – Rio de Janeiro
8. Oktober, 3. Tag: Rio de Janeiro
9. Oktober, 4. Tag: Rio de Janeiro
10. Oktober, 5. Tag: Rio de Janeiro
11. Oktober, 6. Tag: Rio de Janeiro
12. Oktober, 7. Tag: Charlotte – Miami
13. Oktober, 8. Tag: Flamingo – Florida Keys
14. Oktober, 9. Tag: Key West
15. Oktober, 10. Tag: Key West
16. Oktober, 11. Tag: Key West
17. Oktober, 12. Tag: Florida Keys – Miami Beach
18. Oktober, 13. Tag: Miami – New York
19. Oktober, 14. Tag: New York
20. Oktober, 15. Tag: New York
21. Oktober, 16. Tag: New York
22. Oktober, 17. Tag: New York
23. Oktober, 18. Tag: New York – Las Vegas
24. Oktober, 19. Tag: Las Vegas
25. Oktober, 20. Tag: Las Vegas
26. Oktober, 21. Tag: Las Vegas
27. Oktober, 22. Tag: Las Vegas – Palm Springs
28. Oktober, 23. Tag: Palm Springs – Temecula
29. Oktober, 24. Tag: Temecula – San Diego
30. Oktober, 25. Tag: San Diego
31. Oktober, 26. Tag: San Diego – Long Beach
1. November, 27. Tag: Long Beach – Santa Monica
2. November, 28. Tag: Santa Monica – Malibu
3. November, 29. Tag: Malibu – Morro Bay
4. November, 30. Tag: Morro Bay – Monterey
5. November, 30. Tag: Monterey – San Francisco
6. November, 31. Tag: San Francisco
7. November, 32. Tag: San Francisco
8. November, 33. Tag: San Francisco
9. November, 34. Tag: San Francisco
10. November, 35. Tag: San Francisco
11. November, 36. Tag: San Francisco
12. November, 37. Tag: San Francisco – Honolulu
13. November, 38. Tag: Honolulu – Lahaina
14. November, 39. Tag: Lahaina
15. November, 40. Tag: Lahaina
16. November, 41. Tag: Lahaina – Kapaa
17. November, 42. Tag: Kapaa
18. November, 43. Tag: Kapaa
19. November, 44. Tag: Kapaa – Volcano Village
20. November, 45. Tag: Volcano Village
21. November, 46. Tag: Volcano Village – Waimea
22. November, 47. Tag: Waimea – Honolulu
24. November, 48. Tag: Auckland
25. November, 49. Tag: Auckland
26. November, 50. Tag: Auckland – Wellington
27. November, 51. Tag: Wellington
28. November, 52. Tag: Wellington
29. November, 53. Tag: Wellington – Nelson
30. November, 54. Tag: Nelson – Awaroa
1. Dezember, 55. Tag: Awaroa
2. Dezember, 56. Tag: Awaroa – Torrent Bay
3. Dezember, 57. Tag: Torrent Bay
4. Dezember, 57. Tag: Torrent Bay – Nelson
5. Dezember, 59. Tag: Nelson – Cairns
6. Dezember, 60. Tag: Cairns
7. Dezember, 61. Tag: Cairns
8. Dezember, 62. Tag: Cairns
9. Dezember, 63. Tag: Great Barrier Reef
10. Dezember, 64. Tag: Great Barrier Reef
11. Dezember, 65. Tag: Great Barrier Reef – Palm Cove
12. Dezember, 66. Tag: Palm Cove
13. Dezember, 67. Tag: Palm Cove
14. Dezember, 68. Tag: Palm Cove – Sydney
15. Dezember, 69. Tag: Sydney
16. Dezember, 70. Tag: Sydney
17. Dezember, 71. Tag: Sydney
18. Dezember, 72. Tag: Sydney
19. Dezember, 73. Tag: Sydney
20. Dezember, 74. Tag: Sydney
21. Dezember, 75. Tag: Sydney
22. Dezember, 76. Tag: Sydney – Singapur
22. Dezember, 77. Tag: Singapur – München
Epilog
Danke
Manche Dinge kommen plötzlich und völlig unerwartet.
Ein Verkehrsunfall.
Ein Wasserrohrbruch.
Oder ein vorzeitiger Samenerguss.
Ein Burnout dagegen kündigt sich lange vorher an – auch, wenn man – die Symptome geflissentlich ignoriert.
Ausgebrannt? Ich?
Lächerlich! Schließlich lief mein Leben absolut nach Plan.
Ich wohnte mit meiner Familie in einer geschmackvollen Wohnung am Ufer des Starnberger Sees, meine eigene Werbeagentur befand sich in einem schicken Penthouse mit Blick über die Alpen, jeden Monat flatterte ein Scheck mit einer erfreulichen Anzahl von Stellen vor dem Komma ins Haus und auf dem Parkplatz warteten rund dreihundert Pferde – kompakt verstaut in der Karosserie eines Sportwagens – darauf, die Sporen zu bekommen.
Wie gesagt: Alles lief prima!
Gut, um ehrlich zu sein: Hin und wieder fühlte ich mich etwas schlapp, aber das war bei Arbeitszeiten von mehr als siebzig Stunden pro Woche ja auch kein Wunder. Die zunehmenden Kopfschmerzen schob ich auf den bayrischen Föhn. Drei, vier Aspirin, und es ging mir gleich wieder besser. Gegen die Nebenwirkungen der Acetylsalicylsäure an Magen und Schleimhäuten hatte ich ebenfalls passende Medikamente.
Und damit alles im Griff.
Glaubte ich zumindest.
Doch wer hätte mich auch vom Gegenteil überzeugen sollen?
Meine Familie? Die sah ich angesichts meiner zahlreichen Termine nur noch sporadisch. Und auf geselliges Beisammensein mit Bekannten hatte ich schon längst keine Lust mehr. Selbst die gut gemeinten Ratschläge meiner besten Freunde empfand ich inzwischen als unerwünschten Eingriff Einmischung in meine Intimsphäre.
Am liebsten war ich völlig alleine.
Wenn nicht am Schreibtisch, dann beim Sport. Ich lief jeden Tag, oft mitten in der Nacht und nicht selten bis zum Erbrechen. Auf den Sandsack schlug ich ein, bis mir die Sinne schwanden, und meine Solo-Kajaktouren nahmen zunehmend expeditionellen Charakter an.
Ich wollte nur noch weg.
Und zwar von allem.
Auch mein Gesundheitszustand veränderte sich zusehends.
Kopfschmerz und begleitende Medikation erhöhten sich proportional, das erste Magengeschwür wurde diagnostiziert und eine mysteriöse Viruserkrankung zwang mich zu einem längeren Krankenhausaufenthalt. Und dann kam der Tag, an dem mein Immunsystem kollabierte.
Während man mir in jede verfügbare Vene Unmengen pharmazeutischer Mixturen injizierte, wurde meine Familie verständigt, damit sie Abschied von mir nehmen konnte.
Ein schlimmer Moment.
Doch das Erschreckendste an der ganzen Angelegenheit bestand darin, dass mir das alles völlig egal war.
Ich war lebensmüde.
Nicht diese aktive Verrücktheit, die einen so unsinnige Aktionen wie S-Bahn-Surfen oder Kugelfisch-Essen machen lässt, sondern eine absolut geistige wie körperliche Kraftlosigkeit.
Man schläft abends ein und hofft inständig, nie wieder wach werden zu müssen.
Kein Funken Energie mehr.
Der Akku war leer. Und zwar vollständig.
Alle Versuche meiner Familie, mir zu helfen, scheiterten kläglich. Ich wies jede Hilfe, jeden Ratschlag und jedes Gespräch ab.
Ich war gegen alles und jeden.
Und meine Missstimmung schien ansteckend zu sein.
Freunde gingen mir zum Wohle ihres eigenen Seelenheils inzwischen aus dem Weg, und der Psychologe, zu dessen Konsultation ich mich in einem Anfall von Schwäche überreden ließ, verfiel nach einer Viertelstunde Gespräch mit mir selbst in tiefste Depression.
Ich fühlte mich alleine und genoss dieses Empfinden.
Gleichzeitig verfluchte ich es aber auch.
Es war ein Zustand absoluter Hilflosigkeit.
Ich lebte nur noch, um zu leiden.
Den diesem Zustand innewohnenden Egoismus ignorierte ich. Ob bewusst oder unbewusst, vermag ich heute nicht mehr zu beurteilen. Es tut auch nichts zur Sache, denn es ändert nicht das Geringste an der Unerträglichkeit meines Verhaltens für mein persönliches Umfeld.
Und so kam der Tag, an dem meine Familie mir – aller vorhergegangener Unterstützung zum Trotz – die gelbe Karte zeigte.
Mit einer Changierung zum Rot.
Und zwar einer kräftigen.
Die begleitende Ansage war ebenfalls unmissverständlich: Entweder, ich änderte mich, mein Leben und meine Einstellung, oder meine Frau würde gemeinsam mit den Kindern, deren persönliche Entwicklung von der Lebensverachtung ihres Vaters zweifelsohne nicht positiv beeinflusst wurde, entsprechende Konsequenzen ziehen.
Ich reagierte zunächst mit dem mir inzwischen in Fleisch und Blut übergegangenen Zynismus und fragte, was ich denn nun ihrer Meinung nach tun solle. Blumenvasen und Aschenbecher töpfern? Osteuropäische Kreistänze zelebrieren? Sofakissen mit Bauernweisheiten besticken?
Doch mein mich liebendes Eheweib ignorierte meinen destruktiven Sarkasmus und entschied an meiner statt, was für mich das Beste sei: eine Reise.
Kein esoterischer Selbstfindungstrip und keine einsame Bergwanderung in menschenleeren Gegenden, sondern eine inspirierende Reise um die ganze Welt. In Großstädte, in denen das Leben pulsiert, in Regionen, die für Lebensfreude und Vitalität bekannt sind, und in Länder, in denen sommerliche Temperaturen Körper und Geist gleichermaßen erwärmen.
Kurzum: Eine Reise, bei der ich mein Lachen wieder finden sollte.
Das klang alles unheimlich toll, und die meisten Leute hätten nun vermutlich vor Begeisterung in die Hände geklatscht und wären umgehend ins nächste Reisebüro geeilt.
Aber nicht ich.
Ich hasse Reisen.
Und ich hasse Urlaub.
Über zwanzig Jahre lang habe ich mich erfolgreich dagegen gewehrt, das Ausland zu besuchen.
Gut – das eine oder andere verlängerte Wochenende in Italien ließ sich nicht vermeiden, um den Familienfrieden zumindest provisorisch aufrecht zu erhalten. Aber spätestens am dritten Tag saß ich mit gepackten Koffern und laufendem Motor im Auto und quengelte wie ein ungezogenes Kleinkind.
Die zwangsläufig erfolgende Rückfahrt verlief dann in der Regel in feindseligem Schweigen – ein Preis, den zu zahlen ich jedoch gerne bereit war, wenn ich dafür wieder mein eigenes Bett, meine eigene Dusche und meine eigene Toilette benutzen konnte (tagelanges Einhalten führt nämlich erfahrungsgemäß zu heftigen Darmbeschwerden).
Dazu kommt, dass ich ungern fliege.
Ich finde Fliegen zum Kotzen – und das meine ich durchaus im wörtlichen Sinne!
Hat mal jemand darüber nachgedacht, was passieren würde, wenn ich im Flugzeug einen klaustrophobischen Anfall bekäme? Oder einen Wadenkrampf? Und wie bitte sollte ich mich bei akutem Brechdurchfall verhalten? Sie verstehen schon: Zwei Körperöffnungen – aber nur eine Tüte…
Dabei muss ich ganz offen zugegeben: Manche Länder wären vielleicht tatsächlich gar nicht so übel.
Wenn nur die Einheimischen nicht wären.
Zum Beispiel diese penetranten Strandverkäufer, die einem ununterbrochen chemisch kontaminierte Badetücher oder angeblich selbstgeklöppelte Lederarmbänder andrehen wollen. Wenn sie vorher zumindest den Aufkleber „Made in Taiwan“ entfernen würden, um meinen Intellekt nicht völlig zu beleidigen.
Und über das Thema „Essen im Ausland” breiten wir besser auch den Mantel des Schweigens! Grenzwertige Qualität zu Preisen, bei denen man eigentlich ein komplettes Kobe-Rind auf seinem Teller erwarten würde.
Doch wehe, man beschwert sich!
Dann schaltet der Kellner mit dem fettigen Mittelscheitel sofort von perfektem Hochdeutsch um auf „Ich verstehe leider kein Wort Deutsch. Oder Englisch. Oder Französisch.
Oder sonst eine Sprache.“
Nein, Reisen ist definitiv nichts für mich. Dachte ich.
Aber meine Familie sah das anders und duldete inzwischen auch keinerlei Widerspruch mehr. „Entweder, du nimmst eine Auszeit, fliegst um die Welt und kommst mit neuer Lebensfreude zurück, oder du kannst dir dein eigenes Bett, deine eigene Dusche und deine eigene Toilette suchen.
Und zwar in deiner eigenen Wohnung!“
Erpressung ist unfair – aber effektiv.
Am nächsten Tag kaufte ich mir ein „Around-the-World-Flugticket“.
6. Oktober, 1. Tag
Ich will nicht weg. Nicht so lange.
Warum habe ich statt dieser verdammten Weltreise nicht drei Wochen Wellness in den bayrischen Alpen gebucht?
Das ist doch auch erholsam.
Ich würde die vom Reisebüro bestückte Tasche mit allen Tickets und Hotelvouchern für eine Currywurst mit Pommes hergegeben, aber niemand in der Abflughalle des Münchner Flughafens scheint mein Angebot wirklich ernst zu nehmen.
Ein einziges Wort meiner Lieben richte aus, um auf dem Absatz kehrt zu machen und zusammen mit ihnen wieder nach Hause an den Starnberger See zu fahren, doch meine Frau deutet unerbittlich auf die Anzeigentafel, die mich umgehend zu Gate C14 beordert.
Ich würde sie dafür hassen.
Wenn ich sie nicht schon jetzt vermissen würde.
Der Inlandsflug nach Frankfurt verläuft ohne Probleme.
Am dortigen Lufthansa-Schalter wird mir dann jedoch erklärt, dass es für den Flug nach Sao Paulo leider keine A-, C-, D- oder F-Sitze mehr gibt.
„Seat 55 B” klingt für mich verdächtig nach einem Synonym für „Arschkarte”, und ich sehe mich vor meinem geistigen Auge bereits hilflos eingepfercht zwischen zwei übergewichtigen, stark transpirierenden Männern Passagieren sitzen.
Beim Betreten des Flugzeuges stellt sich dann heraus, dass es lediglich einer ist, denn Reihe 55 ist ein Zweiersitz am hinteren Ende der Maschine.
Mein Flugnachbar ist – wenn ich meiner Ausdrucksweise ein gewisses Maß an Kinderstube zugrunde legen möchte – tatsächlich als ausgesprochen korpulent zu bezeichnen, schlecht tätowiert und hat eine Hightech-Kopfhörerausrüstung in einem großen Metallkoffer dabei.
Warum?
Will der während des Fluges Geräusche aus dem All empfangen? Oder erwartet er letzte Anweisungen aus Bagdad?
Wir wechseln bis Sao Paulo kein einziges Wort.
Elf Stunden Schweigen – viele Paare führen auf diese Art ihre Ehe. Im Bord-TV läuft „Karate Kid“ und eine Dokumentation über Pandazucht in China.
Hoffentlich sitze ich überhaupt im richtigen Flieger.
Ich schaue die Filme relativ desinteressiert und ohne Ton, thromboseverhindernde Gymnastik erscheint mir sinnvoller. Die im Vorfeld gekauften Fingerhanteln kraftvoll pressend sitze ich mit rhythmisch zuckenden Unterarmen in dem engen Flugzeugsitz und freue mich, dass die Reisetabletten ihren Zweck erfüllen und jedes Übelkeitsgefühl unterdrücken.
Ich würde meinem Sitznachbarn nur ungern in seinen silbernen Agentenkoffer kotzen.
Zwischendurch werfe ich immer wieder einen Blick auf das Bordpersonal. Die Stewardessen wirken übermüdet, genervt und kämen allesamt problemlos auf jede Ü-50-Party.
War Flugbegleitung nicht irgendwann mal ein Eliteberuf? Was ist nur aus den strengen Aufnahmekriterien bezüglich Alter und Attraktivität geworden?
Oder gab es in den sechziger Jahren von der Öffentlichkeit unbemerkt einen Einstellungsstopp für Stewardessen?
Ich nehme mir vor, nach meiner Rückkehr ein Konzept für die Nachwuchsrekrutierung bei Fluggesellschaften zu schreiben. Wenigstens erfüllt der Purser alle Klischees und säuselt seine Getränkeangebote mit tuntigem Timbre.
Gegen vier Uhr nachts – der Rest der Passagiere schläft aus orthopädischer Sicht in zum Teil besorgniserregenden Körperhaltungen – entfache ich unter der Crew eine heftige Diskussion, ob die in meinem Koffer befindliche 1l-Dose Oktoberfestbier sowie die zehn Tuben Löwensenf beim brasilianischen Zoll zu deklarieren sind oder nicht.
Die Mehrheit entscheidet sich dagegen. Es sei wie beim Schwarzfahren – man müsse es einfach mit entsprechend selbstsicherem Habitus tun.
Ich kreuze auf meinen Zollunterlagen an: „Lebensmittel zu deklarieren”.
Und verfluche gleichzeitig meine Feigheit.
Mittlerweile quälen mich heftige Kopfschmerzen und mein Nacken verkrampft sich zusehends. Ich nehme bereits die dritte Ibuprofen 800 – zuzüglich zu den Reisetabletten. Eine in ihrer Wirksamkeit interessante Mischung, die vermutlich zur Folge haben wird, dass die Maschine nicht das Einzige ist, was am frühen Morgen in Sao Paulo einschwebt.
Irgendwann gelingt es mir dann doch, einzunicken, auch wenn an einen erholsamen Schlaf im Flugzeug nicht zu denken ist.
Zumindest nicht für mich.
Mein Sitznachbar dagegen schnarcht, als bestünde sein gesamter Ehrgeiz darin, ein Sägewerk erfolgreich an die Börse zu führen.
Zum Glück weckt uns die Stewardess kurz darauf mit dem Charme einer Gefängnisaufseherin und serviert uns ein Frühstück, bei dem Rührei, Brot, Käse, Marmelade, Orangensaft und Joghurt interessanterweise den identischen Grundgeschmack aufweisen.
Leider einen höchst chemischen.
Aber vielleicht lagern sie die Lebensmittel ja direkt neben dem Kerosintank.
7.Oktober, 2. Tag
Ankunft in Sao Paulo um 5.25 Uhr. Pünktlich.
Die rote, aufgehende Sonne hinter den großen Maschinen auf dem Flugfeld vermittelt das Gefühl, Kosmopolit zu sein. Die Reiseunlust vor dem Start ist völlig vergessen, ich bin stolz darauf, tausende von Kilometern von zuhause entfernt zu sein.
Eigentlich albern.
Alle Passagiere, die zum Einreiseschalter eilen, haben zwei weiße Dokumente in der Hand.
Ich nur eins.
Die überforderte Stewardess hat offensichtlich vergessen, mir das zweite notwendige Formular zu geben. Unsympathisch und inkompetent – eine gänzlich unvorteilhafte Kombination.
Ich werde auf Nachfrage zu einem Tisch geschickt, der mit verschiedensten Formularen übersäht ist und aussieht wie der Boden vor der Ochsenbraterei auf dem Oktoberfest. Als ich den zweiten Teil des Einreiseantrags endlich gefunden und ausgefüllt habe, ist die Schlange doppelt so lang. Mein dicker Sitznachbar steht ganz vorne und grinst mich hämisch an – man sieht sich also tatsächlich immer zweimal im Leben.
Und das manchmal sogar am Flughafen.
Als ich dann endlich drankomme, versuche ich, der physiognomisch einer Kokosnuss ähnelnden Schalterbeamtin mit dem mühsam einstudierten landestypischen Gruß ein Lächeln zu entlocken.
Vergeblich.
Das Gesicht ist eine wächserne Maske.
Ich bekenne mich zum profanen Touristenstatus und werde daraufhin gelangweilt zum Zoll durchgewunken. Dort belächelt man müde meine Ehrlichkeit bezüglich des Bieres und des Senfs und lässt mich ohne weitere Kontrolle brasilianischen Boden betreten.
Das nächste Mal trage ich auf dem Einreiseformular die Einfuhr einer Neutronenbombe ein.
Nur so aus Neugier.
Es folgen vier Stunden Aufenthalt.
Der Flughafen in Sao Paulo ist gepflegt. Ich genieße das europäische Ambiente – und schäme mich sofort für diesen plötzlichen Anfall von Authismus. Was ist mit meinem hehren Vorsatz, mich Neuem zu öffnen?
Schließlich ist das der Sinn dieser Reise.
Unter anderem.
An einer exotisch dekorierten Theke erwerbe ich für einen nicht unerheblichen Betrag einen frisch gepressten Orangensaft. Geschmacklich ok – ich verbitte mir selbst, ihn mit dem vom Saftstand am Münchner Viktualienmarkt zu vergleichen.
Obwohl der mindestens genauso gut schmeckt.
Der spontane Versuch, meine Frau anzurufen, scheitert daran, dass man in das Kreditkartentelefon keine Kreditkarte einführen kann – die Prägung der Buchstaben ist zu hoch für den Schlitz. Angesichts dieser produktionstechnischen Unzulänglichkeit überfällt mich ein heftiger Anflug von Heimweh.
Deutsche Ingenieure sind einfach großartig!
Etwas frische Luft wäre angenehm.
Ich ziehe zum sechshundertachtundneunzigsten Mal meine Dokumententasche mit der Bordkarte aus dem tonnenschweren Rucksack, den ich in Anwesenheit des Bordpersonals stets mit vorgetäuschter Leichtigkeit in die Ablagefächer hieve.
Noch zwei Stunden bis zum Weiterflug nach Rio.
Auf dem Vorplatz setze ich mich auf eine mit Liebesbotschaften verzierte Bank – offensichtlich ein landesübergreifender Brauch – und beobachte das geschäftige Treiben vor dem Flughafeneingang.
Die ersten Menschen laufen barfuß vorbei – verdammt, ich habe geahnt, dass Brasilien einen Haken hat (zur Erklärung sei an dieser Stelle angemerkt, dass es nur ganz wenige Dinge auf dieser Welt gibt, die mich so abstoßen wie nackte Füße).
Kurz darauf sehe ich die ersten übergewichtigen europäischen Touristen mit pastellfarbenen Crocs und schäme mich.
Reicht es denn nicht, dass wir schon Christentum, Alkohol und Syphilis nach Südamerika gebracht haben?
Ich versuche in einem Anflug von schlechtem Gewissen, einen Teil der Kollektivschuld zu mindern, indem ich einem blinden Bettler mit einem Begleithund undefinierbarer Rasse zehn Reais schenke. Der bedankt sich nach einem Blick auf den Schein auffallend freundlich.
Ein medizinisches Wunder oder einfach nur maradonna’sche Schlitzohrigkeit?
Vor dem Einchecken zum Weiterflug suche ich nochmals kurz eine Toilette auf – mehr Übersprungshandlung denn wirkliche Notwendigkeit. Bei dem Versuch, die Hände zu waschen, setze ich den kompletten Raum unter Wasser, da die Hähne so montiert sind, dass sich die Hälfte des Wassers nicht in das Becken, sondern auf den Waschtisch ergießt.
Muss der gleiche Ingenieur wie bei dem Kreditkartentelefon gewesen sein.
Ich flüchte mit nassen Händen, bevor mich der elegant gekleidete Toilet-Keeper zum Zwangsputzen verpflichtet.
Man weiß ja nie im Ausland.
In der Schlange beim Check-In habe ich dann Zeit, Muße und Mut, die zunehmend freizügiger gekleideten, weiblichen Passagiere einer genaueren Musterung zu unterziehen.
Allen europäischen Frauen zum Trost sei festgestellt: Die gemeine Brasilianerin wird maßlos überschätzt!
Leggins, Minirock, Highheels und Bustier machen nur dann Sinn, wenn man sie nicht mittels hydraulischer Presse über einen birnenförmigen Körper streifen muss.
Ich werfe einen sehnsuchtsvollen Blick auf die Strandbilder in meinem Reiseführer und betrete den Flieger in der Hoffnung, dass die dort abgebildeten Strandschönheiten nicht nur das Werk eines talentierten Fotoretuscheurs sind.
Ankunft in Rio.
Die ersten, spontanen Assoziationen lauten Chaos und Gelassenheit, Armut und Reichtum, Körperkult und Sklaverei, Verfall und Postkartenidyll.
Der Empfang ist herzlich.
Vor zwei Jahren hatte meine Tochter eine brasilianische Gastschülerin zu Gast. Jetzt erfolgt mein angekündigter Gegenbesuch. Zeca, der Vater des Mädchens, ist ein überaus liebenswerter Gastgeber, der einem von Anfang an das Gefühl vermittelt, in seiner Heimat und seinem Haus willkommen zu sein.
Krankheitsbedingt hat sein Körper in den letzten Monaten die Form des Zuckerhuts angenommen, aber er zeigt mir alte Fotos, auf denen er schlank und sportlich aussieht. Ich drücke ihm die Daumen, dass er baldmöglichst wieder – wie von den Ärzten prognostiziert – fit und vital sein wird.
Der Weg vom Flughafen geht quer durch das Zentrum von Rio nach Ipanema und vermittelt mir einen ersten Eindruck der brasilianischen Fahrweise. Regeln gibt es offensichtlich keine, und falls doch welche existieren sollten, dann hält sich zumindest niemand daran. Spurwechsel im Sekundentakt, rote Ampeln ignorieren, schalten nur, wenn das Getriebe um Gnade winselt. Wer bremst, scheint auch in Südamerika zu verlieren.
Brasilianer hupen.
Und zwar permanent.
Diese Tätigkeit erfolgt beiläufig, nicht zwangsweise situativ. Ich hupe, also bin ich. Parallel dazu wird telefoniert – lenken kann man schließlich auch mit dem Ellenbogen. Dennoch empfinde ich erstaunlicherweise keinerlei Furcht. Die Fahrweise von Zeca wirkt routiniert und sicher, zweifelsohne basierend auf jahrzehntelanger Praxis.
Wir holen Ana, seine Tochter, an der deutschen Schule ab.
Das Wiedersehen ist emotional – unter anderem vermutlich auch deshalb, weil sie angesichts meines Besuchs vom restlichen Unterricht befreit ist.
Während des ersten Austauschs von Neuigkeiten habe ich Gelegenheit, die Umgebung einer genaueren Betrachtung zu unterziehen.
Der Gegensatz von Arm und Reich ist omnipräsent.
Geschäftsleute im edlen Zwirn lassen sich auf der Straße die Schuhe putzen, während keine fünf Meter weiter ein Obdachloser die Mülleimer auf der Suche nach etwas Essbarem durchsucht. Favelas spiegeln sich in hochmodernen, industriellen Glasfassaden und an jeder Straßenkreuzung versuchen abgemagerte Gestalten in zerrissenen Sporthosen, den Fahrern hinter den verspiegelten Scheiben Kokosnüsse, Süßigkeiten oder mittelmäßige Jonglierkunststücke zu verkaufen.
Ich sehe niemanden, der die Scheibe auch nur einen Spalt öffnet.
Was allerdings auch viel zu gefährlich wäre, wie mir mein Gastgeber erklärt. Die Scheiben sind abgedunkelt, die Türen permanent verriegelt und an roten Ampeln wird nach Möglichkeit nicht angehalten. In Taxis steigt man grundsätzlich nur zu zweit, und die Nummer des Fahrzeugs wird vor Fahrtantritt telefonisch an einen Vertrauten übermittelt.
Auch im Wohnbereich herrscht Sicherheitsstufe 1.
Das Grundstück ist komplett von einem hohen Metallzaun umgeben. Auf ein Hupsignal hin öffnet der hauseigene Security-Officer das Tor für einen kurzen Moment, so dass exakt ein Fahrzeug passieren kann. Das Haus meiner Gastfamilie ist rund um die Uhr bewacht, ebenso wie jedes andere im Viertel. Ein Leben wie im Gefängnis – nur mit dem Unterschied, dass die Insassen hier über einen Schlüssel verfügen.
Man stellt mir Mary vor, die Hausdame, die seit fast zwanzig Jahren im Dienst der Familie steht.
Die Definitionen ihrer Position differieren.
Für meine Gastgeber ist sie Haushaltshilfe, mir als Europäer erscheint ihr Status dagegen sklavenähnlich. Natürlich bekommt sie ein ordentliches Gehalt und wird bei eventuellen privaten Problemen von ihren Arbeitgebern großzügig unterstützt, dennoch ist es für mich gewöhnungsbedürftig, ganz bewusst und grundsätzlich alles stehen und liegen zu lassen, damit der dunkelhäutige Schatten es dann schweigend wegräumt.
Etwas fällt auf den Boden? Macht nichts – Mary hebt das auf.
Durst? Kein Problem – Mary bringt dir was Kaltes.
Geschirr wegräumen? Lass gut sein – das ist Marys Job.
Nachts noch Hunger? Mary rufen – sie schläft in der kleinen Kammer neben der Küche.
Dieses Verhalten beschränkt sich im Übrigen nicht nur auf den Haushalt.
Parken? Nicht unser Problem – soll sich doch der Torwächter darum kümmern, wie er den Wagen in der überfüllten Tiefgarage unterbringt.
Getränke nachschenken im Lokal? Hey Kellner – beeile er sich!
Nein, ich will und werde mir diese Umgangsformen nicht angewöhnen, egal, ob den Leuten durch ihre Anstellung ein besseres Leben ermöglicht wird oder nicht.
Nach dem Bezug meines Zimmers, das ich mit Sir Lancelot, einer bemitleidenswerten Wasserschildkröte in einem trostlosen Glasquader, teile, begleitet mich Zeca zum Strand.
Ipanema Beach – keine fünfzig Meter vom Haus entfernt.
Touristenherz, was willst du mehr?
Weißer Strand, türkisblaues Meer, cyanfarbener Himmel. Aber auch hier stelle ich fest: Nicht jeder Körper, der einen Tanga trägt, wurde von der Natur dafür vorgesehen. Dafür fällt der extrem hohe Anteil durchtrainierter Männer auf. Public-Workout-Stationen werden genutzt, um die zum Teil beachtliche Muskelmasse publikumswirksam zu präsentieren.
Wir genießen die abkühlende Luft an einer der unzähligen, signalroten Strandbuden.
Für umgerechnet zwei Euro köpft der Betreiber mit bewundernswertem Geschick und einer Machete eine große, grüne Kokosnuss, die optisch nicht ansatzweise Ähnlichkeit mit der bei uns im Handel erhältlichen hat. Sie ist randvoll mit Wasser, nicht – wie von mir naiverweise erwartet – mit Milch. Dessen Genuss soll mir laut Aussage meines Begleiters Gesundheit, nie endende Jugend, beachtliche Potenz und ähnliche Vorzüge verschaffen.
Man kann es aber auch einfach trinken, weil es gut schmeckt.
Die leere Hülle wird anschließend vom Verkäufer mit drei kraftvollen Machetenhieben zerteilt. Drei weitere Schnitte ermöglichen das Abbrechen schmaler Schalenstücke, mit deren Hilfe das weiche, weiße Fruchtfleisch dann ausgekratzt werden kann.
Die leeren Hüllen werden…? Richtig: liegen gelassen.
Um deren Entsorgung wird sich der dunkelhäutige Budenbesitzer später kümmern.
Diesmal passe ich mich den hiesigen Gepflogenheiten an.
Allerdings nur unter Protest.
Der Abend klingt aus im höchst elitären und feudalen Privat-Sportclub an der Grenze zwischen Ipanema und Leblon. Auch hier tummeln sich tausend dienstbare Geister – fast ausschließlich schwarzer Hautfarbe – die Autos parken, Getränke reichen, Deo besorgen, einem die Badeschuhe vor die Füße stellen und die nasse Badekleidung für die Heimfahrt wasserdicht verpacken.
Das Ambiente der Anlage ist atemberaubend.
Umgeben von der nächtlich beleuchteten Lagoa Rodrigo de Freitas liegen illuminierte Pools jeglicher Größe, exotisch bepflanzte Gärten, eine unüberschaubare Zahl von Tennisplätzen, natürlich mit jeweils einem dunkelhäutigen Balljungen, und zahlreiche einladende Restaurants und Bars. Dahinter die Skyline von Rio und – im wahrsten Sinne des Wortes alles überragend – die strahlend weiße Christusstatue auf dem Gipfel des Corcovado.
Ich genieße den Panoramablick aus Sauna und Whirlpool und lasse mich von der zunehmenden Müdigkeit übermannen. Inzwischen bin ich seit über sechsunddreißig Stunden auf den Beinen und spüre, wie meine Kräfte langsam schwinden.
Aber vor dem endgültigen Feierabend habe ich noch das Vergnügen, Regina, die Frau meines Gastgebers und eine überaus attraktive und liebenswerte Person, kennenzulernen.
Beim gemeinsamen Abendessen werden die europäischen Wurzeln meiner Gastgeber, das Oktoberfest, das kommende Jahr – samt Gegeneinladung – und das Programm der folgenden Tage besprochen.
Bemüht, mir die brasilianische Küche näherzubringen, bestellt Zeca währenddessen so ziemlich jedes Gericht, das auf der Speisekarte aufgeführt ist. Ich bin inzwischen zwar zu müde, um hungrig zu sein, probiere aber dennoch alles, was auf den Tisch, respektive meinen Teller, kommt.
Als ich später völlig erschöpft ins Bett falle, hake ich gedanklich ab: Ipanema Beach gesehen, Kokosnuss und Feijoada gegessen, Mate und Guarana getrunken sowie viele weitere, mir bis dato unbekannte Nahrungsmittel ausprobiert.
Der heutige Reiseauftrag ist damit mehr als erfüllt!
8. Oktober, 3. Tag
Als ich morgens wach werde, habe ich das Gefühl, dass mir der Schädel platzt. Die Kombination aus Tabletten und Jogging scheint mir ein erfolgversprechendes Mittel gegen die quälenden Kopfschmerzen zu sein.
Von Ipanema laufe ich am Strand entlang bis zum Ende von Copacabana. Schöner kann eine Laufstrecke kaum sein: auf der einen Seite urbane Skyline, auf der anderen der weitläufige, weltberühmte Strand und das wild tosende Meer. Die Temperatur beträgt trotz der frühen Uhrzeit und eines böigen Windes fast dreißig Grad im Schatten – wobei der allerdings kaum irgendwo zu finden ist. Eine Kokosnuss an einem der zahlreichen Strandkioske verschafft mir vorübergehend Erfrischung.
Nachdem ich eine kunstvoll tätowierte Strandschönheit mit mitleiderregendem, rudimentärem Portugiesisch dazu bringen konnte, einen wachsamen Blick auf meine Kleidung zu werfen, nehme ich ein erfrischendes Bad im Atlantischen Ozean und fühle mich anschließend großartig.
Die Kopfschmerzen sind wie weggeblasen (und das steht in diesem Fall in keinerlei kausalem Zusammenhang mit der Frau am Strand).
Im Anschluss an ein ausgiebiges Frühstück mit frischen Früchten fahren, nein: rasen Zeca und ich zum Pão de Açúcar, dem Zuckerhut.
Bei diesem touristischen Pflichtprogramm gondelt man mit einer Seilbahn zuerst gemächlich auf die Spitze des Morro da Urca, von wo man bereits einen sehr schönen Blick über die Stadt genießt.
Doch erst nach der Weiterfahrt auf den Gipfel des Zuckerhuts präsentiert sich das gesamte, atemberaubende Panorama Rios und des umgebenden Umlandes.
Ich kann mich kaum sattsehen am Anblick der vielen Strände, Inseln, Wolkenkratzer, Ölplattformen, Riesentanker, Militärforts, Brücken und Berge. Ich begeistere mich im Pulk kreischender, asiatischer Teenager für einen freilaufenden Affen, der den Besuchern des Imbissstandes die Pommes Frittes vom Teller klaut, starre den vom Berggipfel startenden Rundflug-Hubschraubern hinterher und fotografiere wie besessen mit dem frustrierenden Wissen, die einzigartige Schönheit und Wirkung dieses Panoramas auf Bildern nicht ansatzweise widergeben zu können.
Irgendwann mahnt mein ungeduldiger Begleiter mit vorwurfsvollem Blick auf seinen knurrenden Magen zum Aufbruch. Verständlich, denn wie so oft bei Unternehmungen, die meine gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, habe ich das Thema „Nahrungsaufnahme“ wieder einmal komplett vergessen.
Die Fahrt zu einem nahegelegenen Restaurant erfolgt deshalb noch rasanter als üblich – kein Einsatzfahrzeug mit Blaulicht hätte die Strecke in kürzerer Zeit zurücklegen können.
Nachdem sich Magen und vestibuläres Empfinden langsam wieder beruhigt haben, kann ich sowohl mein Essen als auch den Blick aus dem gigantischen Panoramafenster genießen. Vor uns liegen der Pão de Açúcar sowie ein vorzügliches Rindersteak – definitiv eine empfehlenswerte Kombination.
Anschließend folgt ein Kurzeinkauf im Supermarkt – und Entsetzen über die hiesigen Preise. Die dringend benötigte Sonnenmilch mit einem ordentlichen Lichtschutzfaktor kostet knapp vierzig Euro.
Wissen die, dass ich mich cremen wollte – und nicht salben?
Die Rückfahrt nach Hause bietet dann Gelegenheit für weitere Sozial- und Milieustudien. Ich sehe verbeulte Polizeiautos, bei denen kein einziges Licht funktioniert. Clevere Teenager, die angesichts der zunehmenden Bewölkung ihr aus Strandtüchern bestehendes Warenangebot blitzschnell gegen Regenschirme austauschen. Und dunkelhäutige Leibeigene, die acht und mehr Hunde gleichzeitig ausführen.
Dass ausgewachsene Hunde ein Stockmaß von maximal fünfzehn Zentimetern nicht überschreiten dürfen, scheint ein brasilianischer Grundsatz zu sein – ich habe bisher noch keinen Vierbeiner gesehen, der nicht problemlos in einer Damenhandtasche Platz gefunden hätte.
Polizei ist überall präsent, und ich fühle mich entgegen aller Warnungen im Vorfeld in keinster Weise gefährdet.
Wieso auch?
Nach dem Erwerb der Sonnenmilch befindet sich mein gesamter pekunärer Besitz sowieso in der Registrierkasse des hiesigen Supermarktes.
Spät am Abend stürzen Regina, Zeca und ich uns ins Nachtleben von Rio.
Es nieselt leicht, als wir mit dem Taxi ins Zentrum nach Lapa fahren. Bekannt ist dieses Viertel neben seiner Vielzahl an Bars und Lokalen vor allem für die „Arcos de Lapa“, ein Äquadukt aus vergangener Zeit, auf dessen obersten Bögen heute Straßenbahnen verkehren. Auf den Gassen darunter pulsiert das Leben, es ist eine Mischung aus internationalem Straßenfest und Kölner Altstadt.
Nur in riesig!
Der gesamte Bereich ist für den Verkehr gesperrt und vor den alten, zumeist mit kunstvollen Graffitis verzierten Gebäuden im Kolonialstil tummeln sich Menschen aller Couleur: Künstler, Selbstdarsteller, Arme, Reiche, Yuppies, Huren, Transvestiten, Türsteher und eine Armada von Polizisten. Vielleicht empfinde ich auch deshalb nach wie vor keine Angst, obwohl meine Gastgeber nicht wirklich glücklich wirken, als ich mich mit meiner Kamera begeistert in die Menge stürze.
Über Beziehungen haben wir einen Tisch in einem der angesagtesten Clubs der Stadt bekommen.
Wir sitzen direkt vor der Bühne und sowohl Geschäftsführer als auch Kellner behandeln uns ausgesprochen zuvorkommend. Die abendliche Salsashow soll zu den besten in ganz Brasilien gehören und außer mir altem Tanzmuffel kann kaum jemand im Raum die Füße stillhalten.
Es gibt schnelle, ruhige, ernste und lustige Lieder. So legen wir voller Ironie eine Schweigeminute für das Schaf ein, das für die Bespannung der großen Trommel sein Fell und damit auch sein tierisches Leben lassen musste.
Bei einem besonders mitreißenden Lied zelebriert eine dunkelhäutige Schönheit an meiner Seite Salsa in Perfektion. Füße und Hinterteil bewegen sich in atemberaubender Geschwindigkeit – unmöglich für einen heterosexuellen Mann, nicht wie hypnotisiert auf die im Takt rotierenden Backen zu starren.
Allerdings werde ich angesichts der aufreizenden Aufmachung der Dame das Gefühl nicht los, dass diese Wirkung ein elementarer Bestandteil ihres Gewerbes ist.
Doch selbst wenn ich darauf hätte eingehen wollen – Zeca lässt mich keine Sekunde aus den Augen und signalisiert mir im Minutenrhythmus seine Wachsamkeit. Ich finde seine Sorge um das Heil meiner Ehe rührend und stoße immer wieder mit ihm an.
Gelegenheit dazu gibt es genug, denn er praktiziert eine Art überaus effektives „Quattro-Trinken“. Jede seiner Bestellungen besteht aus einem Set von vier Bierflaschen, die in einem Sektkübel voller Eis serviert werden. Eine gastronomische Stilistik, die nach dem Erscheinen dieses Buches das Trinkverhalten im Ruhrgebiet nachhaltig revolutionieren dürfte.
Während vor der Tür Schüsse fallen – was außer den Sicherheitsleuten und mir niemand zu beunruhigen scheint – lerne ich die vielleicht vielseitigste Geste Brasiliens kennen: den ausgestreckten Daumen.
Der bedeutet wahlweise: in Ordnung, danke, bitte, entschuldigung, bleib mir vom Leib, hallo, gut gemacht, du kannst mich mal, zahlen, gleich gibt’s Ärger, stimmt so oder tausend andere Dinge – ganz abhängig von der jeweiligen Situation, in der dieses Zeichen angewendet wird.
Der permanent ausgestreckte Daumen Zecas wird auf jeden Fall eines der Bilder sein, die sich unauslöschbar in mein kognitives Brasilien-Album gebrannt haben.
Nach Ende des Konzertes begleitet uns die clubeigene Security zum Taxistand.
Der Dank besteht…?
Richtig! Aus einem ausgestreckten Daumen von Zeca.
Nur ich verabschiede mich gewohnheitsmäßig per Handschlag. Ich weiß nicht, was den Hünen mehr erstaunt – die persönliche Geste als solche oder die Kraft meines während des Fluges ausgiebig trainierten Händedrucks.
Bei der Rückfahrt passieren wir zahllose Fußballplätze, die die mehrspurige Hauptstraße quer durch die Stadt säumen. Alle Plätze sind vom Flutlicht hell erleuchtet und werden von diversen, bunt gekleideten Teams bespielt.
Nur zur Erinnerung: Es ist ist fast vier Uhr morgens!
Mein Erstaunen ob solcher Spielfreude veranlasst den Taxifahrer zu der gewagten Theorie, dass die Seleção 2010 ohne den in Brasilien höchst unbeliebten „Defensiv-Trainer“ Dunga Weltmeister geworden wäre.
Ich kontere umgehend mit dem deutschen Trumpf „Thomas Müller“ und wir einigen uns diplomatisch auf ein Finale Basilien gegen Deutschland bei der WM 2014 im Land meiner aktuellen Gastgeber.
9. Oktober, 4. Tag
Ich habe wieder Kopfschmerzen.
Und zwar heftige – da hilft nur, Dolomo extrastark einzunehmen und sich wieder hinzulegen.
Der zweite Versuch aufzustehen erfolgt gegen zwölf Uhr und diesmal geht es deutlich besser. Erstaunlicherweise ist außer dem Herrn des Hauses noch niemand auf.
Wir frühstücken gemeinsam – er einen Zigarillo, ich frische Früchte und Joghurt. Die Vorstellungen bezüglich gesunder Ernährung scheinen zu differieren.
Der Rest der Familie trudelt nach und nach schlaftrunken ein. Draußen regnet es, deshalb nehmen wir uns Zeit für eine ausgiebige und unterhaltsame Konversation über Gott und die brasilianische Welt – in der Argentinien übrigens aus Prinzip nicht vorkommt.
Ich beschließe zum allgemeinen Unverständnis, dem schlechten Wetter joggend die Stirn zu bieten, und Petrus scheint meinen sportlichen Aktivismus zu honorieren.
Während ich von Ipanema bis zum Ende von Leblon laufe, bahnen sich tatsächlich erste Sonnenstrahlen ihren Weg durch die dichten, dunklen Wolken.
Der Weg endet am Fuß einer Favela, eine Gegend, die man laut Auskunft meiner Gastfamilie lieber meiden sollte.
Tatsächlich lungern einige zwielichtige Gestalten auf den Hängen des Berges, aber als ich einige Runden kraftvoll schattenboxe, wahren sie respektvoll Abstand.
Zumindest bilde ich mir das ein.
In Wahrheit liegt es vermutlich lediglich daran, dass ich außer einer verschwitzten Laufshorts nichts am Leib trage, was ein größeres Interesse an meiner Person rechtfertigen würde.
Während meines Workouts beobachte ich Surfer, die sich – mit mehr oder weniger Talent gesegnet – in die aufgewühlte See stürzen. Die Wellen sind durchaus respektabel, aber ich schätze, gegen das, was mich im weiteren Verlauf meiner Reise auf Hawaii erwartet, ist dieser Seegang ein maritimer Kindergeburtstag.
Im Anschluss an das Joggen ergibt sich die Gelegenheit zum Skypen mit meinen Lieben in Deutschland.
Ein Hoch auf die moderne Technik – es ist rührend, die vertrauten Gesichter zu sehen. Da mich meine Gastfamilie bei der Kommunikation unterstützt und meine Familie ebenfalls Besuch hat, herrscht vor beiden Webcams ein Tohuwabohu wie auf einem arabischen Wochenmarkt. Grüße und Einladungen werden lautstark ausgetauscht und vor allem meine Tochter und ihr brasilianisches Pendant freuen sich über das Wiedersehen – wenn auch vorerst nur virtuell.
Anschließend wird abermals auswärts gegessen und diesmal lerne ich das landestypische „Churrascaria rodizio“ kennen.
Eingeleitet wird es in diesem Lokal durch ein in Qualität und Quantität äußerst beeindruckendes Buffet, exotisches und sicherlich nur bedingt landestypisches Erdbeersushi inklusive.
Anschließend kommt eine Armada von Kellnern an den Tisch und schneidet von großen Fleischspießen dünne Scheiben ab, die man sich mittels einer Zange dann selbst auf den Teller legt. Mit einer roten, beziehungsweise grünen Karte signalisiert man der Bedienung, ob ein Nachschlag gewünscht ist oder nicht.
Ein Spieß voller Hühnerherzen mutet gewöhnungsbedürftig an, aber ebenso wie bei den zahlreichen anderen, mir gänzlich unbekannten Beilagen öffne ich mich den hiesigen Gebräuchen und greife beherzt zu.
Grundsätzlich vermag ich bereits jetzt zu sagen: Die herzhafte brasilianische Küche sagt mir geschmacklich absolut zu!
Zum Ausklang des Abends flanieren wir dann am nächtlich beleuchteten Strand von Copacabana.
Die Fahrt dorthin erfolgt mit dem Taxi, weil die kurze Stichstraße, die Ipanema und Copacabana verbindet, aus Sicherheitsgründen nachts keinesfalls zu Fuß benutzt werden sollte.
Paranoia?
Der Eindruck liegt nahe.
Aber nachdem Eric, der vierzehnjährige Sohn meiner Gastgeber, dort in jüngster Vergangenheit bereits zweimal überfallen wurde, ist die Anfahrt per Taxi vielleicht tatsächlich die vernünftigere Entscheidung.
Leider verläuft der Spaziergang unerwartet kurz.
Angesichts der arktischen Temperaturen von gerade einmal zwanzig Grad droht Ana auf der Stelle zu erfrieren.
Meinen Protesten und denen ihrer Eltern zum Trotz stoppt sie unter Einsatz ihres jungen Lebens ein Taxi, indem sie wild winkend auf die Fahrbahn springt, und beendet somit zu unserem großen Bedauern eigenmächtig diesen wunderbaren, nächtlichen Strandbummel.
10. Oktober, 5. Tag
Sieben Uhr. Ich wache auf und die Kopfschmerzen sind weg.
Endlich!
Der Rest der Gastfamilie schläft noch, also mache ich mein morgendliches Workout, bestehend aus Seilspringen, Gymnastik und Schattenboxen, auf der kleinen, überdachten Veranda.
Die Sonne scheint strahlend, der Himmel ist tiefblau – echtes Bilderbuchwetter. Nachdem ich ausgiebig trainiert und geduscht habe, trudeln auch die anderen nach und nach in der Küche ein.
Als endlich alle mit ihrem Frühstück fertig sind, ist die Sonne weg.
Da sich die Männer heute als wenig unternehmungslustig erweisen, mache ich mich zusammen mit Mutter und Tochter auf den Weg zu Jesus Christus – nicht in die sonntägliche Messe, sondern auf den Corcovado. Das ist nicht nur für mich, sondern auch für Ana ein spannender Ausflug, da sie die Statue bis dato erstaunlicherweise selbst noch nie besichtigt hat.
Wir fahren wie üblich mit dem Taxi – „Ratsching!“ macht die Urlaubskasse – und ich erlebe im weiteren Verlauf unseres Ausflugs ein Paradebeispiel brasilianischer Organisationskompetenz.
Aufgabe Nummer eins besteht in dem Ignorieren und unfallfreien Umkurven der zahllosen halbnackten Halbstarken aus der Corcovado-Favela, die mit allen Tricks und Mitteln versuchen, die ankommenden Autos in verwinkelte, düstere Sackgassen zu locken.
Ich gehe davon aus, dass sie das mitnichten machen, um anschließend eine freundliche Überprüfung des Ölstandes und des Reifendrucks anzubieten.
Die zweite Aufgabe – der Ticketerwerb – ist dann ungleich anspruchsvoller. Endlose Schlangen reihen sich vor dem Schalter der Bergbahn.
Und das, obwohl alle Tickets für diesen Tag bereits längst ausverkauft sind.
Eine willkommene Gelegenheit für etliche zwielichte Gestalten, uns diverse andere Transportmöglichkeiten zu offerieren – natürlich zu maßlos überhöhten Preisen.
Mangels offizieller Alternativen fällt unsere Wahl auf einen bestenfalls als „semi-seriös“ zu bezeichnenden Fahrer eines Minibusses, der uns daraufhin zu einem gerade noch erträglichen Preis in halsbrecherischem Tempo zur Mittelstation der Bahn auf halber Höhe des Berges chauffiert.
Hier gilt es nun abermals, Tickets für eine wie auch immer geartete Fahrtmöglichkeit bis zum Gipfel zu beschaffen.
Endlose Schlangen bilden sich in alle Himmelsrichtungen.
Beschilderung? Fehlanzeige!
Verkehrschaos. Um uns herum tummeln sich fliegende Händler, die Limonade aus gesundheitsgefährdend dreckigen Bechern anbieten. Andere dubiose Gestalten versuchen uns wort- und gestenreich davon zu überzeugen, dass wir in der falschen Reihe stünden und nur sie die ultimative Abkürzung kennen würden. Gegen Zahlung eines kleinen Obolus würden sie sich allerdings generös dazu bereit erklären, uns an ihrem wertvollen Wissen teilhaben zu lassen.
Wir sind ob der gleichermaßen ver- wie zerschlagenen Gesichter etwas skeptisch und teilen uns stattdessen auf unterschiedliche Schlangen auf, um die Wahrscheinlichkeit, in der richtigen zu stehen, zu potenzieren.
Es wird inzwischen deutlich kälter.
Die Menschen vor und hinter uns sind ungepflegt und übergewichtig. Laut meinen Gastgebern ein sicheres Indiz dafür, dass sie nicht aus Rio stammen.
Ist das Menschenkenntnis oder Arroganz?
Ana friert und quengelt schon wieder – ein abermaliger Abbruch unserer Unternehmung scheint unausweichlich.
Doch dann werden wir unvermittelt in einen zweiten Minibus gestoßen und jagen abermals ohne Rücksicht auf Verluste – und den Gegenverkehr – die Serpentinen hoch Richtung Gipfel.
Dort empfängt uns neben dem eisigen Wind eine riesige Menschenmenge.
Es bleibt uns nichts anderes übrig, als uns von der Masse treiben zu lassen. Der einzige Vorteil, wie ein Sandwichbelag zwischen einem bulligen Amerikaner und seiner amorphen Gattin eingeklemmt zu sein, besteht in diesem Fall darin, dass einem der kalte Wind rein physikalisch nur wenig anhaben kann.
Der Rest des Weges zu Jesus ist dann nicht mehr allzu beschwerlich – man legt ihn einfach per Rolltreppe zurück.
Nach insgesamt fast zwei Stunden chaotischer Anfahrt stehen wir endlich am Fuß der weltbekannten Figur, voller Bewunderung für ihre Wirkung, der man sich auch trotz der Masse an Touristen nicht entziehen kann.
Die Größe ist beeindruckend und die Geste der ausgebreiteten Arme wirkt erstaunlicherweise selbst auf weniger christlich orientierte Menschen gütig und einladend.
Um uns herum fotografieren sich die Leute, die Haltung der Statue imitierend, mit ausgestreckten Armen – eine Szenerie, die in ihrer absenten Originalität an die vielen „Turmhalter“ erinnert, die in Pisa den Piazza del Duomo bevölkern.
Es ist fast unmöglich, sich angesichts der vielen Leute bis zur Ballustrade vorzuarbeiten. Aber als wir es dann doch mit viel Mühe und Körpereinsatz geschafft haben, liegt uns ganz Rio zu Füßen.
Wir genießen einen atemberaubenden Blick über diese Elf-Millionen-Metropole mit ihrem gigantischen Häusermeer, den vielen Grünflächen und den zahlreichen umgebenden Stränden. Das Maracana-Stadion fällt ebenso ins Auge wie die riesige Pferderennbahn im Zentrum der Stadt, und auch die Favelas, die an den Berghängen kleben wie kleine, flache Schwalbennester, sind trotz des leicht diesigen Nebels bestens zu erkennen.
Das Verweilen auf der Aussichtsplattform wäre sicherlich bei Sonnenschein noch um einiges attraktiver, so aber treibt uns der eiskalte Wind kurz darauf wieder Richtung Bus-Sammelplatz.
Die Fahrt zur Mittelstation verläuft überraschend glatt und gibt Anlass zur Hoffnung auf eine problemlose Heimreise.
Ein wahrlich naiver Gedanke.
Der Parkplatz ist überfüllt mit Menschen, nur die zugehörigen Fahrzeuge für den Transport derselben sucht man vergeblich.
Eingemummt in Tücher und – soweit dank weiser Voraussicht vorhanden – Pullover und Jacken warten wir im Kreise der Leidensgenossen über eine Stunde auf eine geeignete Fahrgelegenheit.
Zum Glück befindet sich der Warteplatz unmittelbar vor den Ruinen eines ehemaligen Luxushotels und bietet so eine gute Gelegenheit, den spannenden Kontrast zwischen verfallender Prunkarchitektur und lebendigem, üppigem Regenwald zu betrachten.
Unaufhaltsam überwuchern die Ableger der Pflanzen die verzierten Rundbögen, Wurzeln brechen sich ihren Weg durch den farbenprächtig gefliesten Boden des damaligen Ballsaals, und große, buntgefiederte Vögel nisten im Gebälk der Veranda, die trotz ihres Verfalls immer noch einen faszinierenden Blick über die Innenstadt von Rio de Janeiro bietet.
Es ist nicht nur mir unverständlich, dass man ein so großartiges Bauwerk kampflos der Natur überlässt.
Als wir viel, viel später wieder zurück in der Stadt sind, folgt der obligatorische Restaurantbesuch.
So nett meine Gastgeber auch sind – ich wette, sie könnten mir nicht sagen, in welchem Küchenschrank sich bei ihnen zuhause die Pfannen befinden.
Heute essen wir japanisch – „Ratsching!“ macht die Urlaubskasse auch diesmal.
Zeca ist bereits vor Ort und hat mittels alkoholischer Getränke eine solide Grundlage für Sashimis und Nigiris geschaffen. Sein erhobener Daumen bedeutet heute ausschließlich: „Noch ein Bier – aber flott!”
Die Qualität des Sushis ist höchstens mittelmäßig und liegt damit um Klassen über der des Servicepersonals, aber aus Höflichkeit stimme ich artig in die bewundernden Lobpreisungen meiner Gastfamilie ein.