Herausgegeben in
Kooperation mit dem
Christine Koch-Mundartarchiv
am Dampf Land Leute-Museum Eslohe
© 2019
Peter Bürger
„VOLL BEREIT FÜR DIE NEUE ZEIT“
Deutschnationale, militaristische und
NS-freundliche Dichtungen Christine Kochs 1920-1944
Ein Beitrag zur Erforschung
des südwestfälischen Rechtskatholizismus
edition leutekirche sauerland 15
Alle Bilddaten: CKA
Satz & Gestaltung: www.sauerlandmundart.de
Herstellung & Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7494-8724-0
„Was siehst du aber den Splitter in
deines Bruders Auge, und wirst nicht
gewahr des Balkens in deinem Auge?“
(Matthäus Evangelium 7,3)
Im Oktober 1945 ist die sauerländische Mundartlyrikerin Christine Koch um entlastende Zeugnisse für zwei westfälische Nationalsozialisten gebeten worden, nämlich für den „S.G.V.-Führer“ und SS-Brigadeführer Regierungsvizepräsident Karl Eugen Dellenbusch (1901-1959) und den westfälischen Landeshauptmann Karl Friedrich Kolbow1 (1899-1945), seit 1921 Mitglied der NSDAP. Zu Kolbow schreibt die Dichterin aus Bracht folgende ‚Referenz‘: „Ich selbst, die ich nie auch nur das Geringste mit der Idee des Nationalsozialismus zu schaffen hatte, sondern stets mit aller Konsequenz all ihre üblen und Verderbnis bringenden Auswirkungen ablehnte, glaube ehrlich sagen zu dürfen, daß mancher tiefe Blick, den ich in Kolbow’s Seele tun konnte, Anspruch darauf erhebt, Kolbow nicht als ‚Nazi‘ schlechthin anzusehen, und wenn schon dem Namen nach, dann doch nur als einen von jenen, die von hoher Warte aus zu retten suchten, was noch zu retten war.“2
Dieses Votum enthält weniger als die halbe Wahrheit. Karl Friedrich Kolbow war überzeugter und prominenter Nazi, auch wenn er sich als Verteidiger des westfälischen ‚Regionalismus‘ innerhalb seiner Partei nicht nur Freunde gemacht hat. Mit seinem Selbstverständnis als ‚Wandervogel‘-Nazi und Anwalt von sogenannter „Volksgesundheit“ konnte Kolbow es bedenkenlos vereinbaren, ‚von hoher Warte aus‘ die systematische Ermordung selektierter „Behinderter“ und Kranker mit zu betreiben.
Unter Berufung auf die Befähigung zur ‚Kardiognosie‘3 schickte sich Christine Koch also 1945 an, u.a. einem verbrecherischen Mörderfunktionär ein gutes Führungszeugnis auszustellen. Sie selbst war keine Nationalsozialistin und – anders als etwa Karl Wagenfeld, Heinrich Luhmann, Georg Nellius, Josefa Berens oder Maria Kahle – auch nicht Mitglied der NSDAP. Aber die Behauptung, dass sie – als überzeugte und streng kirchentreue Katholikin – „nie auch nur das Geringste mit der Idee des Nationalsozialismus“ zu tun gehabt hätte, lässt sich im Licht historischer Quellen zuverlässig widerlegen.
1. Das Anliegen dieser Quellenstudie
Die entsprechenden Befunde, die im Rahmen unserer 1987 aufgenommenen Arbeit am Christine Koch-Mundartarchiv (Museum Eslohe) erschlossen worden sind, kann man seit 1993 vor allem im biographischen Ergänzungsband zur Esloher Werkausgabe nachlesen.4 Neue Textfunde haben wir danach in den „Esloher Museumsnachrichten“5 und später in zwei Ausgaben unsrer Internetreihe „daunlots“ zugänglich gemacht.6 Durchweg handelt es sich bei den ‚brisanten‘ Primärquellen um verstreute Veröffentlichungen oder unveröffentlichte Handschriften von Gebrauchstexten etc. Selbst die zur NS-Zeit 1938/41 edierte Sammelausgabe der Mundartlyrik7, die laut Vorwort von Josefa Berens-Totenohl „alles enthalten“ sollte, „was an bleibender Gültigkeit von der Dichterin geschaffen worden“ ist, gibt für das Kernthema dieses Buches rein gar nichts her. Nur der Umstand, dass zur Autorin der Nachlass gesichtet, ein eigenes Archiv – zeitweilig mit einem hauptamtlichen Mitarbeiter8 – begründet, eine kritische Werkausgabe konzipiert und eine umfangreiche Biographie erarbeitet worden ist, ermöglichte eine solide Darstellung zur Rolle der Autorin im Dritten Reich. Ein ‚Glücksfall‘ aus Forschersicht …
1993 und auch noch vor zwanzig Jahren war in der Vermittlung von regionaler Literatur ein ideologiekritischer Blick, wie wir ihn auf die Namensgeberin unseres Archivs geworfen haben, keineswegs ganz selbstverständlich. Willy Knoppe hat 2005 auf der Grundlage unserer Primärquellen-Recherchen und Veröffentlichungen in seiner Dissertation über Christine Koch alle Ergebnisse im Kern bestätigt.9 Dass er dabei mit erneutem Zeitabstand in seinen gründlichen Textanalysen die Ideologiekritik sprachlich noch schärfer fasste, war sehr in unserem Sinne.10
In einer durch das Internet neu strukturierten Öffentlichkeit ist dafür Sorge getragen, dass ein kritischer Forschungsstand relativ schnell Eingang findet in das allgemeine enzyklopädische Wissen. Dabei kommt es – vor allem durch einen oberflächlichen Rückgriff auf Sekundärquellen – leicht zu Verkürzungen und Zerrbildern. Dreißig Jahre alte Forschungserkenntnisse werden z.B. als etwas ganz Neues präsentiert. Im Einzelfall verfolgen regional Forschende durch Wikipedia-Einträge ganz bestimmte Interessen, die man z.T. nicht unbedingt als ehrenwert bezeichnen kann (→VII).
2011 ist Christine Koch in einem Beitrag zur Straßennamen-Debatte ohne weitere Differenzierungen in einer Reihe mit nationalsozialistischen Kulturschaffenden aufgeführt worden: „Vielerorts wird erbittert gestritten um Straßenschilder für den Sportfunktionär Carl Diem, für den Psychiater Hermann Simon, für Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie Agnes Miegel, Josefa Berens-Totenohl, Christine Koch, Maria Kahle, Friedrich Castelle oder eben Karl Wagenfeld.“11 In einer wichtigen wissenschaftlichen Veröffentlichung12 wurden die Leser beim Namen „Christine Koch“ dann nur auf diese Internetressource und einen im Netz nicht mehr abrufbaren Lokalzeitungsbeitrag verwiesen. Es bestand also zu Beginn dieses Jahrzehnts Bedarf an leicht zugänglichen und fundierten Informationsangeboten für die Internetrecherche. Deshalb stellte unser Archiv 2012 die im Zusammenhang mit der Straßennamen-Debatte wichtigsten Kapitel der Christine Koch-Biographie von 1993 ins Netz; außerdem dokumentierten wir in der gleichen digitalen Publikation vollständig alle Texte der Dichterin aus unserer Archivsammlung, in denen nationalistische, militaristische oder NS-freundliche Tendenzen zu finden sind – sowie in Auswahl zeitgleiche Veröffentlichungen oder Manuskripte, die als Vergleichstexte ohne die besagten Tendenzen von Interesse sein können.13
Eine neue Debatte des Jahres 2014 folgte, nachdem Roland Klose eine Umbenennung der Christine-Koch-Schule und Christine-Koch-Straße in Schmallenberg vorgeschlagen hatte (→VI.1-3).14 Ich selbst saß zu diesem Zeitpunkt „zwischen allen Stühlen“, da ich einerseits die von Klose vorgebrachten Bedenken als begründet ansah, andererseits aber eine Straßenumbenennung in diesem konkreten Fall als möglich, jedoch nicht unbedingt als zwingend erachtete. Ein Verehrer der Dichterin aus der plattdeutschen Szene kündigte mir ein bis dahin gutes Verhältnis auf.
Im 150 Geburtsjahr Christine Kochs gibt es keinen Anlass, einen Jubelbeitrag zu schreiben. Das hier vorgelegte Buch erschließt – in gründlicher Neubearbeitung und erweiterter Form – die unbequemen Kapitel der biographischen Darstellung von 1993 (→II) und enthält zudem u.a. einen neuen – skandalösen wie aufschlussreichen – Primärtext des Jahres 1934. Ich habe versucht, mögliche „blinde Flecken“ und apologetische Tendenzen in meinen zurückliegenden Arbeiten15 aufzuspüren. Insbesondere bin ich auch der Frage nachgegangen, ob Willy Knoppe mit seiner kritischen Analyse von vier Gedichten aus den Hauptwerken bis 1929 nicht doch klarer sieht als ich in Darstellungen ab 1993.
Heute erscheint manchem die Beschäftigung mit plattdeutschen Texten fast schon wie eine Geheimwissenschaft. Mit einer chronologisch angelegten, vollständigen Quellendokumentation (Stand: 20. 02.2019) und durchgehender Übersetzung der herangezogenen niederdeutschen Gedichte ermöglicht diese Arbeit hingegen allen Lesern eine Überprüfung der Forschungsergebnisse.
Gerne lasse ich mir den Vorwurf gefallen, einem gewissen „Quellenpositivismus“ zu frönen. Die Auseinandersetzung mit alten und neuen Rechten im Rahmen der sauerländischen Straßennamendebatte hat meine Hochschätzung der grundlegenden „bürgerlichen Kulturtechniken“ noch einmal tiefer verankert. Wer lesen kann, braucht sich nicht auf Erfindungen oder bloße Behauptungen zu verlegen.
2. Ein Überblick über zentrale
Fragestellungen und Textbefunde
Mit einem vierten Band der von unserem Archiv vorgelegten Sauerländischen Mundartliteraturgeschichte16 wird die Zeit bis 1918 abschließend dargestellt. Eine mit gründlichen Einleitungen versehene Editionsreihe zu den Mundartdichtungen des Sauerlandes könnte im Verlauf des Jahres 2019 mit weiteren Bänden so weit gedeihen, dass der nachfolgende Zeitabschnitt bis zum Ende der Weimarer Republik erschlossen ist. Trotz optimistischer Vorankündigungen steht im Rahmen des regionalen Literaturprojektes eine kritische Forschungsarbeit zur gesamten plattdeutschen Textproduktion im ‚Dritten Reich‘ also noch aus.17
Bezogen auf Christine Koch liegen die Dinge jedoch anders. Die wesentlichen Ergebnisse einer soliden Forschungsarbeit lagen schon 1993 gedruckt vor, wurden fortlaufend durch die Edition neuer Textfunde ergänzt und 2005 im Rahmen einer Dissertation einer gründlichen Überprüfung unterzogen. Auf erweiterter Basis können nun in diesem Buch die zentralen Fragestellungen und Textbefunde noch klarer herausgearbeitet werden. Für Schnell-Leser bietet das Nachfolgende auch eine gute Orientierung zur Nutzung der dokumentarischen Primärquellen-Edition (→III):
2.1 Christine Koch
als „deutsch-nationale“ Katholikin
Christine Koch, im Kaiserreich ausgebildete Lehrerin, hat während des Ersten Weltkrieges auf eine Anlage des familiären Geldvermögens in Kriegsanleihen gedrängt – ein verhängnisvoller Schritt, wie sich später zeigen wird. Sie tritt auch zu Beginn der Weimarer Republik als „deutsch-nationale“ Patriotin in Erscheinung. Nationalistische Anschauungen, wie sie in zwei „Heldengedichten“ des Jahres 1920 aus ihrer Feder nachzulesen sind (→II.2; →III: Nr. 1 und Nr. 2), stehen im Einklang mit der deutschen ‚katholischen‘ Kriegstheologie 1914-1918. Zum zweiten Text vermerkt Arnold Maxwill: „Christine Kochs nach 1918 verfasstes Gedicht Totenfeier artikuliert […] in paradigmatischer Weise den zuvor skizzierten Diskurs einer Neugeburt der Nation aus der Niederlage mittels mustergültiger Opferbereitschaft und kämpferischer Absicht aller in der deutschen Gemeinschaft: ‚Wir, die leben, haben ernste Pflicht. / Noch ist nicht das Ende alle Tage: / Deutschlands Helden starben – Deutschland nicht!‘“18
Gerade auch im Verlag des katholischen Volksvereins (Mönchengladbach) erschienen Schriften, die einem kaisertreuen Kriegswahn huldigten, darunter die „Gedichte einer Deutschen“ (1916) von Maria Weinand, die den Weg der Deutschen wörtlich als „Kreuzweg“ bezeichnete.19 Die Verfasserin widmete im Erscheinungsjahr ein Exemplar ihres Werkes „Frau Christine Koch“. So gab es also nachweislich zumindest ein weibliches Vorbild für die ‚deutsch-katholische Laientheologie‘ aus Bracht, die sich nicht von der Bibel, sondern vom preußischen Militarismus leiten ließ.
„Nationalkonservativ“ wird als Zuschreibung gerne zur Verharmlosung der nationalistischen Ideologie herangezogen. Deshalb bezeichne ich jetzt in dieser neuen Studie (2019) die Grundhaltung Christine Kochs als „deutsch-national“, was nicht im engen Sinne einer DNVP-Bindung zu verstehen ist. Im Hintergrund bleibt stets festzuhalten, dass die kurz nach dem Ersten Weltkrieg sicher belegte nationalistische ‚Disposition‘ aus der Zeit des Kaiserreiches Voraussetzung ist für eine spätere Radikalisierung der Dichterin noch vor 1933.
2.2 Zur Einordnung und Rezeption
der Hauptwerke (1924-1929)
Alle drei plattdeutschen Hauptwerke Christine Kochs sind zur Zeit der Weimarer Republik erschienen: der Lyrikband „Wille Räusen“ (1924), der Prosaband „Rund ümme’n Stimmstamm rümme“ (1927) und der Lyrikband „Sunnenried“ (1929). Mit diesen drei Büchern, besonders dem ersten und dem dritten Titel, ist der ‚literarische Ruhm‘ Christine Kochs verbunden.20 Für das 1929 abgeschlossene plattdeutsche Hauptwerk der Dichterin konstatiere ich in meinen Arbeiten, dass es keine nationalistische oder ausgeprägt völkische Linie verfolgt.21 Diese Einschätzung der Dichtungen bis 1929 wird von Willy Knoppe allerdings nur mit einer Einschränkung geteilt. Er schreibt in seiner Dissertation: „In den 1924 (Wille Räusen), 1927 (im Stimmstamm) und 1929 (Sunnenried) veröffentlichten Mundartgedichten Christine Kochs begegnet man der völkischen Ideologie nur an relativ wenigen Stellen und einer etwaigen frühen Parteinahme für den Nationalsozialismus gar nicht.“22 Den denkbar überschaubaren Kreis der von Knoppe in diesem Zusammenhang angeführten Gedichte habe ich in den Quellenteil aufgenommen (→III: Nr. 3-5; Nr. 7).
Dass etwa die zwei aus heutiger Sicht nicht unproblematischen Textbeispiele zur „Westfalen- bzw. Sauerlandsart“23 für sich genommen noch keine hinreichende Basis für eine Einordnung der Dichterin in das Fach „völkische Ideologie“ hergeben, geht aus Knoppes Textuntersuchungen deutlich hervor. Für seine Bedenken sprechen zunächst neue Hinweise zur Rezeptionsgeschichte. So taucht das Gedicht „Ik wait en Land“ aus ‚Wille Räusen‘ (1924) z.B. im Soldatenheft „Stimme der Heimat“ (Januar/Februar 1943) der NSDAP-Ortsgruppe Finnentrop auf. Rektor Hans Ballhausen aus Hamm zitiert auf dem Warsteiner Heimattag 1944 das Christine Koch-Gedicht „Siuerlandsart“ aus ‚Sunnenried‘ (1929) im Rahmen seiner kriegerischen Ausführungen über „Schicksals- und Blutgemeinschaft“.24 Noch aussagekräftiger ist aber eine Zusammenschau der von Knoppe in vier (bzw. drei) Gedichten eingekreisten Zeilen mit späteren Texten der Dichterin ab 1932, wie ich sie bei der Bearbeitung des Hauptteils (→II) zugrunde gelegt habe. Die markierten Wendungen tauchen nämlich später – keineswegs randständig – wieder auf in Gedichten, die zweifelsfrei eine „völkische Radikalisierung“ anzeigen.25 Der Argwohn Knoppes erweist sich also – rückblickend – als berechtigt. Entsprechendes gilt auch für den Titel „Allwiäg duitsk!“ von 1924, denn sein Motto ,auf allen Wegen deutsch‘ wird 1934 im Kontext von gleich zwei Propagandagedichten erneut variiert (→III: Nr. 5, Nr. 28-29).
2.3 Gegenmodelle zum „Völkischen“ –
Unterschlagungen durch rechte Editoren?
Bei der sachgerechten Beurteilung der plattdeutschen Werke aus Weimarer Zeit (→II.8) hilft besonders ein hervorstechendes Motivfeld in den Mundartgedichten bis 1929, das „in Opposition“ steht „zum völkischen Denken, speziell zum Sozialdarwinismus: das Leiden mit den kranken, sich in Not befindlichen, ausgegrenzten und schwachen Menschen“26. Sympathie und Solidarisierung mit den Landfahrenden, „Randgruppen“, Ungebundenen und Heimatlosen, die Gottes Menschenrechtssiegel tragen und auch Projektionen für eigene Freiheitssehnsüchte ermöglichen, weisen auf einen kaum zu übersehenden Themenschwerpunkt hin.27 Hier geht es nicht etwa um einen populistischen oder völkischen Sinn für ‚kleine Leute‘. Ein Text wie „Dai van der Strooten“, in dem das – von der Dichterin nachweislich ‚praktizierte‘ – christliche Ethos besonders eindeutig zur Sprache kommt, blieb allerdings in der Schublade. Bezeichnenderweise sind auch die eindrucksvollen, geradezu ‚anarchistisch‘ angehauchten „Vagantenlaier“28 zu Lebzeiten der Autorin nie veröffentlicht worden. Manfred Raffenberg und ich halten es für möglich, dass dies von den rechten Beratern bzw. Editoren der Dichterin (Georg Nellius, Josefa Berens) zu verantworten ist.
Gleiches gilt für den plattdeutschen „Bauernroman“ Truie von 1929, der erst in unserer Werkausgabe zugänglich gemacht worden ist und mit dem völkischen Typus des Genres durchaus nicht übereinkommt.29 Knoppe weist zu Recht in diesem Zusammenhang auch noch auf die in unserem Dritten Werkband erschlossene Erzählung „Gottes Mühlen mahlen“ hin.30 Dieses 1925 in Essen als Zeitungsserie erschienene hochdeutsche Werk zeugt mit seinem leidenschaftlichen Plädoyer für die Rechte der unterdrückten Frauen von einem gemäßigten ‚katholischen Feminismus‘ und ist mit dem Geschlechterrollen-Verständnis der Völkischen ganz gewiss am wenigsten zusammenzureimen. (Wenn man im Übrigen eine Gemeinsamkeit der drei Autorinnen Christine Koch, Josefa Berens und Maria Kahle ausmachen will, so sind an erster Stelle die ‚Frauenfrage‘ und ein Verrat an eigenen Emanzipationsidealen zu nennen.)
2.4 Christine Koch und der Rechtsschwenk
gegen Ende der Weimarer Republik
Gegen Ende der 1920er Jahre kommt es aufgrund der wirtschaftlichen Krisensituation in der Gesellschaft – auch im katholischen Zentrumsmilieu und im Sauerländer Heimatbund – zu einem deutlichen Rechtsschwenk. Während völkische Kräfte und spätere Nationalsozialisten wie Georg Nellius, Josefa Berens oder Maria Kahle über einen Künstlerkreis in der sauerländischen Heimatbewegung verstärkten Einfluss gewinnen, werden Linkskatholiken wie Josef Rüther an den Rand gedrängt.31 Aus dieser Zeit stammt z.B. ein unerträgliches Gedicht „An Christine Koch“ von Maria Kahle, in dem die Brachter Dichterin mit dem Seelenstrom einer mythischen „Urahnin“ in Verbindung gebracht wird (→III: Nr. 47).
Die Textquellen belegen, dass Christine Koch spätestens 1932 den neuerlichen Rechtsruck in breiten Kreisen der Gesellschaft mitvollzieht – und sich ab jetzt „völkisch radikalisiert“ (→III: Nr. 12-15): Der fromme Text „Und alles wird zum Gedicht“ spiegelt vielleicht auch die ganz persönliche – ebenso ökonomische – Krisensituation der Brachter Autorin, während das extrem aggressive „Kampflied“ auf höhere Tröstungen zielt: „Für Gott, Heim und Vaterland, Gut und Blut! / Und ob auch Armut und Elend droht, / Wir bleiben getreu bis in den Tod!“ Erstmalig gibt es mit dem Titel „Häimlek un sachte“ in diesem Jahr auch ein plattdeutsches Heldenkultgedicht, das – kriegsgestimmt – in die gleiche Kerbe haut. 1932 ist der Sauerländische Gebirgsverein (S.G.V.), Träger eines überkonfessionellen und rückwärts gewandten ‚Pansauerlandismus‘ samt Kriegsheldenkult mit Massenauflauf, längst ein bedeutsames Forum für – literarisch völlig wertlose – nationalistische Phrasen. Bei der – allerdings undatierten – „Waldweihestätte“ geht es wohl nicht nur um ein „heimlich Raunen aus vergangenen Tagen“, sondern auch um ein für die Republik tödliches Rauschen (→III: Nr. 15).
2.5 Parteinahme für die „Neue Zeit“
der Nationalsozialisten
Holprige und klischeeüberladene ‚Gelegenheitsdichtungen‘32 demonstrieren dann ab 1933, wie sich Christine Koch nach der Machtübernahme der deutschen Faschisten zum neuen Regime stellt. Zur Einweihung des Kriegerdenkmals in Schliprüthen im November 1933 beschwört die Dichterin die Trias „Ein Lieben, ein Danken, ein großer Wille“ und verkündet: „Wir aber, die leben, sind ihre Erben, / Erben von Treue und Heldenblut. / Und ginge eine Welt darüber in Scherben: / Ungebrochen bleibt deutscher Mut.“ (→III: Nr. 18) – Beim Wort genommen, bedeutet dieses Reim-Gemunkel: Ob die Welt zertrümmert wird, das tut nichts zur Sache; wichtig ist allein, dass deutscher Kriegsmut sich durch nichts und niemanden brechen lässt.
Für den Kriegerverein Beringhausen33, der Christine Koch aus der Zeit als Lehrerin in Padberg vermutlich persönlich bekannt war, heißt es zeitgleich im November/Dezember 1939 in einem von ihr verfassten Prolog zum 40jährigen Bestehen: „Dann warf uns die Welt [1914] die Brandfackel hin … / Im Geiste der alten Germanenrecken / hieß es, die Feinde zu Boden strecken, wie’s uns die Väter gelehrt. / Der Übermacht dann endlich erlegen, / kehrten sie heim auf trostlosen Wegen, / besiegt zwar, doch nimmer entehrt. […] Heil Deutschland! auch dir wird dein Recht.“ (→III: Nr. 19) Deutlicher kann man sich kaum auf die Seite der Dolchstoßlegendenerzähler und kriegslüsternen Revanchisten schlagen.
Im Weihnachtsgedicht 1933 für den ‚Sauerländischen Gebirgsboten‘ (→III: 20) wird dann „Vasallentreue“ noch ‚Christus, dem König‘ gelobt. Doch insgesamt zehn nachfolgende Texte bis 1936 nehmen sehr direkt Bezug auf die neuen nationalsozialistischen Herrschaftsverhältnisse (‚Führer‘34, ‚deutscher Gruß‘, ‚neue Zeit‘, einmal sogar: ‚Rasse‘). In einem hochdeutschen Bundeslied für die kurkölnisch-sauerländischen Schützen wird christliche Glaubenstreue geschworen und schließlich verkündet (→III: Nr. 21): „Soweit kurkölnisches Sauerland / – trarara trarara ra ra – / und alles, was ihm stammverwandt, / – trarara trarara ra ra – / die Hand zum deutschen Gruße hebt, / ein einig Volk von Brüdern lebt, / das warm für Reich und Heimat strebt. / ‚Gott schütze Reich und Heimat!‘“
Erstmals in diesem Buch erschlossen wird für unsere Forschungen ein Anfang 1934 veröffentlichter plattdeutscher Prolog Christine Kochs zum ‚Sauerländer Heimatabend in Menden‘ (→III: Nr. 22): Alle Strophen folgen – unter Hochrecken der Hände – einer ‚revolutionär‘ gefärbten NS-Diktion. Vollkommen im Sinne eines Karl Wagenfeld wird betont: Westfalen ‚schaltet sich ganz besonders gleich‘ (Übersetzung). König ist nunmehr – statt Christus – ein anderer zu den Nationalsozialisten übergelaufener Rechtskatholik, der neue westfälische Oberpräsident Ferdinand Freiherr von Lüninck: „Sieg! Heil! Un allem Schlechten Trutz!“ Mit Blick auf diesen neuen Textfund müssen wir annehmen, dass die Gleichschaltungsbereitschaft der Dichterin Anfang 1934 ziemlich grenzenlos war.
An der Einweihung der neuen Schule in Stockum im Oktober 1934 soll sich gemäß Versen aus Bracht „usse [unser] Führer“ freuen, während die Kinder mit „diäm duitsken Gruiße“ (‚mit dem deutschen Gruß‘) und Pflichtgelöbnis die Schlüsselübergabe vollziehen; der Herrgott segnet von oben (→III: Nr. 27). Drei veröffentlichte hochdeutsche Gedichte des Jahres kreisen – passend zur ‚nationalen Erhebung‘ – um Sonnenwendfeier, ‚Weckung von Heldentum‘ und eine neuartige Frömmigkeit: „Dienst am Volk ist Gottesdienst“! (→III: Nr. 24-26; vgl. Nr. 30)
Zur Heldengedächtnisfeier 1934 des Sauerländischen Gebirgsvereins lässt Christine Koch ‚Deutschlands Vater Hindenburg‘ betrauern, um dann denkbar deutlich der neuen Führung zu huldigen (→III: Nr. 28): ‚Und nun zum Abschied: alle Hände hoch! / Deutschland ist frei, von Sklavenseelen leer. / Sein Schild ist blank im schärfsten Auslandsauge. / Für unsern großen Führer Heil und Sieg! / Und allwegs deutsch, und allerwegen treu!“ (Übersetzung)
Im plattdeutschen Prolog zum Obermarsberger Lehrerfest am 5. September 1934, das der ‚Pflege des Deutschtums‘ und den ‚Auslandsdeutschen‘ gewidmet ist, reimt die Dichterin als dritte Strophe (→III: Nr. 29): ‚In Treue verbunden / von Liebe umschlungen, / der Scholle verschworen, / die uns geboren, / stolz, weich und hart / ist deutsche Art. / Ein Volk, ein Land, / ein Führer, ein Band / für alles, was deutsch und stammesverwandt.“ (Übersetzung) Der Komplex ‚Scholle und Stammesart‘ erfährt hier im Vergleich zu den Mundartversen der Zeit bis 1929 eine Aufrüstung sondergleichen.
In einem erstmals 1935 veröffentlichten plattdeutschen Kanon-Text für den Komponisten Georg Nellius spricht die Dichterin dann erstmals (allerdings auch singulär) von der „Rasse“ der blauäugigen und flachshaarigen Sauerländer (→III: Nr. 32); diese ist jetzt durch den Wall der Berge gleichsam ‚erbgutgeschützt‘, wie Willy Knoppe anmerkt.
Hernach marschiert im Prosabeitrag „Poesie des Handwerks“ von 1936 „in kräftigen Wanderschuhen – vom heimischen Schuhmacher gefertigt“ – „stramm in Reih und Glied der neu aufgenommene Hitlerjunge“ (→III: Nr. 37). Zusätzlich ist schließlich noch in zwei harmlos daherkommenden hochdeutschen „Wanderliedern“ von 1935 und 1936 wieder von der „neuen Zeit“ die Rede, die bei „Kampf“ und „Siegeslauf“ das Mit-Schritten-Halten verlangt und jeden im Dienste von Großem „vollbereit“ finden soll (→III: Nr. 31, Nr. 36). Der Terminus „neue Zeit“ bezeichnet bei Christine Koch eindeutig die Herrschaftsepoche des Nationalsozialismus. Die Mundartvariante „nigge Teyt“ taucht ein letztes Mal auf in einem plattdeutsches S.G.V.-Gedicht, das sich überschlägt im Jubel über das Ergebnis der Saar-Abstimmung von 1935 (→III: Nr. 33).
Nach dem Monat Mai 1936 gibt es in den ermittelten Textquellen keine expliziten Bezugnahmen auf „Führer“, „deutschen Gruß“ oder „neue Zeit“ mehr (‚erste Zäsur‘). Die Begeisterung für das neue „Großdeutschland“ hält jedoch unvermindert an, so in der abgesetzten Schluss-Strophe eines 1938 veröffentlichten Gedichtes zur 700-Jahrfeier Arnsbergs (→III: Nr. 39): „Aber inzwischen ist, während Ruinen träumten, / Herrliches viel geschehen im großdeutschen Reiche. / Kräftiges Leben pulst. Machtvolle Wellen schäumten. / Fest und unerschüttert steht die deutsche Eiche.“ Einem bis Ende 1939 mitgeteilten Koch-Mundartgedicht über dem Schuleingang von Arpe zufolge sollen die Kinder es sich gelegen sein lassen, ‚Arpe und Deutschland groß zu machen‘ (→III: Nr. 53).
Hochdeutsche Gedichte der Autorin von 1938/1939 behandeln die Themenkomplexe „Heimatscholle“ und „Heimatart“ mit deutlich schärferer völkischer Diktion als die Mundartlyrik der 1920er Jahre (→III: Nr. 40-41, Nr. 49): „Frisch und gesund pulst in den Adern [der Landsleute] das rote Blut, / täglich an trotzigen Bergen stählt sich der trotzige Mut.“ Die Menschen vom hohen Bergland werden geboren (!) „mit der kühlen Abwehr im Auge / gegen Fremdes, nicht Artverwandtes“, und namentlich die Hochsauerländer „gehen, wenn es sein muß, über Leichen“!
2.6 Abschied von der „Heimatdichtung“: Kriegspropaganda
Am 9.2.1938 wird Christine Koch im NSDAP-Medium ‚Westfälische Landeszeitung – Rote Erde“ so zitiert: „Ich schreibe wohl noch etwas, aber nicht für die Öffentlichkeit.“35 Sollte dies zu diesem Zeitpunkt Ausdruck eines festen Vorsatzes gewesen sein, so muss die Autorin ihn spätestens 1939 revidiert haben. Im handschriftlich hinterlassenen „Schreibblock 1938-1940“ Christine Kochs spiegeln drei hochdeutsche Gedichte noch einen Widerstreit zwischen den „Kleinen Liedern“ der überkommenen ‚Heimatkunst‘ und einer der „neuen Zeit“ entsprechenden militaristischen Dichtung (→III: Nr. 42-44): Es sprechen noch ‚Wehmut‘ (bzw. Selbstmitleid?) und ein inneres Ringen aus diesen Versen. Aber es kann am Ende kein Zweifel daran bestehen, dass sich Christine Koch an einer „neuen Lyrik“ in „Panzer und Harnisch“ beteiligen wird, die „das deutsche Blut“ aufrütteln und „trotzigen Wagemut“ wecken soll (→II.12).
Ehedem hatte die Dichterin, vor der Ehe als Schulleiterin selbständig im Berufsleben stehend, Texte im Sinne einer ‚gemäßigten‘ katholischen Frauenbewegung verfasst. Nun redet sie einer Geschlechterrollenverteilung von „leisen Frauenhänden“ und „kämpferischer Mannesart“ das Wort (→III: Nr. 46). Im Gedicht „Deutsche Frauen“ von 1940, das in zwei stark voneinander abweichenden Versionen veröffentlicht worden ist, reift dieses ‚Motiv‘ zu einer unerträglichen Form von Kriegspropaganda aus (→III: Nr. 57-58).
In den ersten Kriegsjahren hat Christine Koch weitere, z.T. sehr aggressive hoch- und plattdeutsche Propagandagedichte geschrieben und veröffentlicht (→III: Nr. 50-63). Nach Ende 1941 sieht sie – zumindest in den sicher datierbaren Texten – allerdings keine „gute[n] Geister über Deutschland“ mehr wachen, die mit lautem Geschrei „Heil un Sieg diäm duitsken Heer!“ herbeiführen können (‚zweite Zäsur‘). Jetzt gibt es in den Feldpost-Beiträgen Hinweise auf Trauerverarbeitung, hilflose Trost- und Aufmunterungsversuche, naiv erscheinende Frömmigkeit … oder ‚liebgemeinte‘ Heimatgrüße an die Mitglieder des Sauerländischen Gebirgvereins (→III: Nr. 64-68), außerdem 1944 noch zwei Textbeiträge zu einer Flugschrift Wilhelm Münkers über den „deutschen Laubwald“ [!] (→III: Nr. 69, 70).
2.7 Distanzierung
vom „Turmbau zu Babel“?
1944 übt Christine Koch in einer letzten Begegnung mit Landeshauptmann Kolbow private „Regimekritik“ (→II.11). Vermutlich vom nahen Kriegsschrecken in Bracht zeugt ein undatierter, apokalyptisch gefärbter Prosatext „O Crux ave, spes unika“36 aus dem Nachlass. Drei weitere – erst in der Esloher Werkausgabe veröffentlichte – Nachlasshandschriften von Anfang 1945 thematisieren eine Angst-Nacht der Dichterin und schließlich den „Zusammenbruch“ des deutschen Faschismus (→III: Nr. 71-73): „Nun ist das Spiel zu Ende, / das grausam höllische Spiel. / Vor des zwölften Jahres Wende / der Turmbau zu Babel zerfiel.“ Die Distanzierung vom „Turmbau zu Babel“ ist im Sinne einer sehr späten Erkenntnis durchaus glaubwürdig. Abgesehen von diesen wenigen Zeilen liegen aber keine Zeugnisse vor, die eine kritische Auseinandersetzung mit den Jahren 1933 bis 1944, mit der eigenen Rolle sowie speziell mit den Völkermordverbrechen dieses Zeitraums belegen. Nach dem Wiederaufbau der Dorfkirche von Bracht (→III: Nr. 74) scheint auch die „Welt“ wieder in Ordnung gewesen zu sein.
In der vorliegenden – z.T. durchaus paradigmatischen – Fallstudie zur völkischen Radikalisierung und NS-Kollaboration von „Rechtskatholiken“ werden entlang der Primärquellen folgende biographische Stationen und Wandlungen37 der Westfälischen Literaturpreisträgerin des Jahres 1943 deutlich:
3. Kirchengeschichtliche Hintergründe
und die Herausforderung
einer gründlichen Milieu-Forschung
Viele Versäumnisse der zurückliegenden Regionalforschung gehen auf das „Vorurteil“ oder Missverständnis zurück, dass fromme und kirchentreue Katholiken als Mitwirkende oder ideologische Dienstleister auf dem Feld von Militarismus, Nationalismus oder gar Faschismus von vorherein ausfallen.38 Ich selbst bin im katholischen Milieu des Sauerlandes mit solchen Vorstellungen (z.B. der alternativ geformten Fragestellung „War er Katholik oder Nazi?“) aufgewachsen und habe – auch in religiöser Hinsicht – dann bittere Erkenntnisse als durchaus kirchlich gesonnener Christ nachholen müssen. Im Hintergrund stehen – über Jahrzehnte – schützende „Erzähltraditionen“ eines konfessionellen (Selbstlob-)Kollektivs, nicht jedoch historische Fakten oder eine Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit. Das besagte „Vorurteil“ über eine katholische Unschuld ist jedoch absurd, denn es waren ja zuvorderst deutsche Bischöfe, die aus dem Abfall zu einer antichristlichen Kriegsreligion 1914-1918 rein gar nichts lernen wollten und sich im Dritten Reich als Mitwirkende oder ideologische Dienstleister auf dem Feld von Militarismus, Nationalismus und auch völkischem Wahn betätigt haben. Viele von ihnen kamen als Aufsteiger aus bescheidenen Verhältnissen und wollten dem Staat, der sie wie hohe Beamte besoldete, eifrig ihren Treueeid erfüllen.
Der kritische Blick nur auf individuelle Biographien ist unzureichend. Die keineswegs selbstverständliche Militarisierung – und nationalistische Aufladung – des katholischen Milieus mag an manchen Orten des Sauerlandes über patriotische Komitees oder Kriegervereinsgründungen direkt zu Beginn des Kaiserreiches einen erheblichen Schub gemacht haben und war dann – nach einer vermutlich sehr allgemeinen Stagnation während der Kulturkampfjahre – bis um 1900 wohl schon weit gediehen. Christine Kochs „deutschnationale“ – nationalistische – Haltung in und nach dem Ersten Weltkrieg ist alles andere als ein Einzelfall.39 Propaganda-Assistenz und Kriegspredigt 1914-1918 der vorgeblich ‚romtreuen‘ Amtskirche rechtfertigen es bereits, von einer deutsch-katholischen oder germanisch-katholischen Nationaltheologie zu sprechen, die mit Christentum freilich nichts mehr zu tun hatte.40 Es ist allgemein kaum bekannt, wie weitgehend danach die deutsche römisch-katholische Theologie während der Weimarer Republik bereits von völkischem Gedankengut beeinflusst war.41 Für die Regionalforschung vor Ort ist es von höchster Bedeutung, für diese Zeit eine genaue Scheidung der Geister im sauerländischen Katholizismus vorzunehmen – etwa zwischen entschiedenen Zentrums-Demokraten und Kollaborateuren der Rechten.42
Jedenfalls stammen auffällig viele profilierte Rechtskatholiken – darunter Franz von Papen, die Brüder von Lüninck und auch Carl Schmitt – aus Südwestfalen. Während sich der Katholizismus 1933 ohnehin sehr bereitwillig den neuen Verhältnissen anpasste43, war ihr Metier das – oftmals vorauseilende – Überlaufen zur anderen Seite. Wenn man das Phänomen „Rechtskatholizismus“ nicht per definitionem auf römisch-katholische DNVP- und NSDAP-Mitglieder eingrenzt, kommt ein stattlicher Kreis weniger prominenter Persönlichkeiten zum Vorschein, zu dem nach 1929 auch Christine Koch gehört. Ihre 1932 einsetzenden Voten zugunsten von Rechtsschwenk und „neuer Zeit“ müssen – ebenso wie spätere NS-Protektion – auch unter dem Aspekt einer – sehr wahrscheinlichen – Vorbildfunktion für das konfessionelle Heimatkollektiv betrachtet werden.
Speziell bezogen auf das kölnische Sauerland kann für die Ära des Nationalsozialismus allenfalls von einer religiös motivierten Unangepasstheit des katholischen Milieus, nicht jedoch von einer allgemeinen Widerstandshaltung die Rede sein.44 (Die Ausnahmen45 sind leider kaum im öffentlichen Bewusstsein verankert, denn das Gedächtnis der Märtyrer wurde in der frühen Nachkriegszeit von vielen katholischen Mitläufern und Mittätern als zu kompromittierend empfunden.) Im „Dritten Reich“ stellten die deutschen katholischen Bischöfe ihren Gläubigen den Führer Adolf Hitler als die rechtmäßige staatliche Obrigkeit (!) vor Augen, der nach göttlichem Gebot Gehorsam zu leisten sei.46 Sie empfahlen als Gesamtepiskopat ein Handbuch von Erzbischof Conrad Gröber, in dem zahlreiche Anschauungen der extremen Rechten Aufnahme gefunden hatten.47 Sie schwiegen zum Massenmord an den Juden, wie Konrad Adenauer nach 1945 beklagte. Sie knüpften zugunsten Hitlers ab 1939 an ihre wahnhafte Kriegspredigt aus dem Ersten Weltkrieg nahtlos an und qualifizierten den Kriegsdienst als eine vaterländische Pflicht jedes Katholiken.48 In ihren Reihen hatten selbst Ausnahmeerscheinungen wie der von den Nazis 1938 vertriebene Antifaschist Bischof Johannes Baptista Sproll (Rottenburg) und der mutige Euthanasie-Gegner und militaristisch ambitionierte Clemens August Kardinal Graf von Galen (Münster) keinerlei Zweifel an der Berechtigung von Hitlers Kriegsführung (in bewusster Zurückhaltung übte sich an dieser Stelle lediglich Konrad Graf von Preysing, ab 1935 Bischof von Berlin). Der Münchener Kardinal Michael Faulhaber, der 1914-1918 einen quasi-religiösen Kaiserkult betrieben, hernach die Weimarer Demokratie verachtet und schließlich den Führer Adolf Hitler – auch schriftlichen Selbstaussagen zufolge – verehrt hat, konnte sich 1945 erfolgreich als Widerstandskämpfer präsentieren.49
Es kann freilich keine Entlastung für die ausgesprochen kirchentreue Mundartdichterin Christine Koch aus dem Sauerland darin liegen, dass die Hierarchen das Morden im Osten guthießen und die Anpassungsleistungen einiger – bis heute „gut beleumundeter“ – Bischöfe im deutschen Faschismus ihre in dieser Veröffentlichung dokumentierten Huldigungen für die „neue Zeit“ an Scheußlichkeit übertreffen.50 Im Gegensatz zu manchen amtlichen „Apostelnachfolgern“51 hat Christine Koch in den Jahren 1933 bis 1945 oder früher nach derzeitigem Forschungsstand auch kein einziges judenfeindliches Wort geschrieben oder drucken lassen. Dies nun ist keine Nebensächlichkeit. Sofern es nicht missbräuchlich als „Freispruch“ angeführt wird, darf nach wie vor auch die „kirchlich-katholische Differenz“ Kochs zu sauerländischen Nationalsozialisten wie Josefa Berens-Totenohl, Maria Kahle, Georg Nellius oder Lorenz Pieper zur Sprache kommen.52
1 Zu Kolbow liegt inzwischen zwei unverzichtbare neuere Veröffentlichungen vor: DRÖGE 2009 (Tagebücher-Edition); DRÖGE 2015.
2 Zit. BÜRGER 1993a, S. 119.
3 griechisch – Herzenskenntnis, Herzensschau. In Theologie und Mystik steht das Wort für eine besondere Fähigkeit, das seelische Innere eines anderen Menschen zu schauen bzw. zu erkennen.
4 BÜRGER 1993a.
5 BÜRGER 1999; BÜRGER 2002.
6 DAUNLOTS 02* (2010); DAUNLOTS 59* (2012).
7 KOCH 1938/41 (zwei Auflagen).
8 Alfons Meschede; vgl. seinen Arbeitsbericht: MESCHEDE 1989.
9 KNOPPE 2005, bes. S. 275-319.
10 Vgl. meine Rezension der Dissertation: BÜRGER 2005a; erneut dokumentiert in diesem Buch →V.
11 ELLING 2011.
12 FRESE 2012, S. 149.
13 DAUNLOTS 59*.
14 Um der undifferenzierten Einreihung Christine Kochs in den Kreis antisemitischer Nazi-Literaten etwas entgegenzusetzen, veröffentlichte unser Archiv 2014 noch ein Internet-Dossier zur Solidarisierung der Dichterin mit ‚Menschen von der Straße‘, Heimatlosen und Außenseitern: DAUNLOTS 72*.
15 nämlich: eine sprachlich zu milde oder gar beschönigende Bewertung bzw. Klassifizierung der – fast ausnahmslos von mir selbst erschlossenen – Textbefunde.
16 BÜRGER 2012.
17 Vgl. aber schon meine „Problemanzeige zu Forschungen über ‚Niederdeutsch im Nationalsozialismus'“: BÜRGER 2015a. – Für das Sauerland sind demnächst die Werke von explizit nationalsozialistischen Mundartautoren wie Franz Rinsche zu erkunden.
18 MAXWILL 2015, S. 455
19 WEINAND 1916; vgl. BREUNING 1969, S. 40-41.
20 Hernach ist zu Lebzeiten kein weiteres eigenständiges Werk mehr gedruckt worden; in die Folgeauflagen bzw. Sammelausgaben der Gedichte hat allerdings noch eine Reihe neuer Texte Aufnahme gefunden. In den beiden Lyrikbänden von 1924 und 1929 gibt es zwar sehr zahlreiche Textbeispiele, die das Niveau von Gelegenheitsoder Zweckdichtungen kaum überschreiten, doch eben auch jenen Kanon von Gedichten, der ob seiner literarischen Qualität in der sauerländischen und westfälischen Mundartliteratur eine wirklich besondere Stellung einnimmt und noch immer Beachtung verdient. Vgl. jetzt auch eine kleine „Lesebuch“-Auswahl mit durchgehenden Übersetzungen: KOCH 2017.
21 Hierzu kann sich jeder anhand der ersten beiden Bände der Werkausgabe, die die Mundartdichtungen bis 1929 vollständig enthalten, ein eigenes Bild verschaffen. – Zum Prosaband „Rund ümme’n Stimmstamm rümme“ (1927) vgl. CHR.K.-WERKE 2, S. 8 und 19-74 (Text); BÜRGER 1993a, S. 70-74. Zweifellos wird darin eine Variante des ideologischen westfälischen Stammesdenkens ausgebreitet; der Adel der ‚Westfalenseelen‘ ist aber eben nicht genetischer Natur.
22 KNOPPE 2005, S. 299.
23 CHR.K.-WERKE 1, S. 36 und 182-183. – Die in allen Lagern der Heimatbewegung gängigen Klischees zu einem Regional- oder Stammescharakter zeugen ja per se schon von einer Schnittmenge mit dem völkischen Denken.
24 BALLHAUSEN 1944.
25 Die Textbelege hierzu werden auch im Hauptteil jeweils in den entsprechenden Zusammenhängen angeführt (→II.2; II.8; II.12).
26 KNOPPE 2005, S. 300.
27 CHR.K.-WERKE 1, S. 154-168.
28 CHR.K.-WERKE 1, S. 162-168.
29 CHR.K.-WERKE 2, S. 8f, 75-116; vgl. KNOPPE 2005, S. 300.
30 CHR.K.-WERKE 3, S. 125-141; KNOPPE 2005, S. 300.
31 BÜRGER 1993a, bes. S. 93-97; BÜRGER 2010, S. 544-549.
32 Es geht in allen entsprechenden Quellen um ideologische Mitarbeit. Die Autorin beendete ihre Textproduktionen auch dann nicht, als sie selbst die Lebensphase mit dichterischer Inspiration für schon abgeschlossen erklärte. Bei Festgedichten z.B. für den S.G.V. konnte sie ziemlich sicher sein, dass diese im Vereinsorgan auch veröffentlicht würden. – Vgl. aber auch Christine Kochs eigene, 1948 niedergeschriebene Aussagen zu ‚Zweck‘-Gedichten: →III: Nr. 75.
33 Vgl. zum Kriegerverein Beringhausen: BÖDGER 1999, S. 270-275.
34 Insgesamt kommt der ‚Führer‘ dreimal vor und zwar in drei Gedichten, die alle in das Jahr 1934 fallen.
35 HACHENBERG 1938. Vgl. in BÜRGER 1993a, S. 127-128 dieses und andere Voten mit gleicher Aussagerichtung für 1938, 1940 und auch noch 1947. In der Tat hat die Autorin keine Bücher mehr veröffentlicht, aber neue Texte kommen bis 1944 zum Druck.
36 CHR.K.-WERKE 3, S. 172.
37 Die beiden Zäsuren 1936/37 und 1941/42 sind kaum zufällig. Ende 1936 wurde von den Nazis die vom Schwager herausgegebene Kirchenzeitungsbeilage „Kindersonntag“ verboten, an der Christine Koch regelmäßig mitgearbeitet hatte; Anfang April 1937 wurde dann die Enzyklika „Mit brennender Sorge“ verbreitet, in der u.a. die staatlichen Repressionen gegen die Kirche zur Sprache kamen. Jetzt entfremdeten sich dem Regime auch einige rechte, ‚deutsch-nationale‘ Katholiken mit betont kirchentreuer Einstellung, die zuvor den neuen nationalsozialistischen Staat ausdrücklich begrüßt hatten. Für das Ausbleiben aggressiver und anfeuernder Kriegsverse nach 1941 könnte die militärische Lage schon eine hinreichende Erklärung bieten (die SGV-Feldpostgaben, für die Chr. Koch Texte verfasste, erschienen jeweils zum Jahresende).
38 Vgl. zum Sauerland die NS-Kapitel in BÜRGER 2016a.
39 Vgl. BÜRGER 2012, S. 234f und 423-552; HAHNWALD 2015. In den vergangenen Jahren sind im Sauerland zahlreiche lokalgeschichtliche Beiträge über die Zeit des Ersten Weltkrieges erschienen, deren Auswertung für eine Gesamtbild der Landschaft noch aussteht.
40 Primärquellen z.B.: PETERS 1915; LEICHT 1917/1918. Forschungsliteratur: MISSALLA 1968/2018; HAMMER 1974; RECKINGER 1983; KOCH 2009.
41 RUSTER 1994.
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