Impressum
© 2018 Heike Achner
www.heike-achner.de
Umschlagfoto: Heike Achner
Lektorat und Korrektorat: Martina Takacs, dualect
Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 9783752827842
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
Für Frigga und Ranaa
Ihr bereichert mein Leben jeden Tag.
Ein Wort vorweg: Vielen Leser/-innen werden Szenen bekannt vorkommen. Das ist nicht weiter verwunderlich, da Hundehalter/-innen ähnlichen verbalen Angriffen jeden Tag ausgesetzt sind. Dennoch: Ähnlichkeiten mit real existierenden lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Landeshundegesetz Nordrhein-Westfalen (Stand 2017)
§2 (LHundG NRW)
Allgemeine Pflichten
Im Wald dürfen Hunde außerhalb von Wegen nur angeleint mitgeführt werden (§ 2 Landesforstgesetz NRW)
Kerstin träumte. Große Hunde, kleine Hunde, dicke und dünne Hunde, Hunderudel, einzelne Hunde, Streuner, Familienhunde – sie alle wuselten durch ihre Traumwelt. Dann riss sie das Klingeln des Weckers unsanft in den Tag.
Sie mummelte sich noch einmal tief in ihre Bettdecke, aber es nützte nichts, der Tag wartete. Sie rappelte sich auf, lief mit nackten Füßen ins Bad, duschte rasch, stellte den Wasserkocher an und fischte das Glas mit den Haferflocken aus dem Regal.
Von Jess war nichts zu sehen und nichts zu hören. Sie schaute ins Schlafzimmer, und da lag er mit hochgestreckten Beinen auf dem Rücken in seinem Körbchen und schlief tief und fest.
Belustigt zuckte sie mit den Achseln, ging zurück und frühstückte zu Ende, putzte sich die Zähne und zog ihre Hundejacke an.
»Auf, Faulpelz!«, rief sie dann. Als nichts geschah, lugte sie um die Ecke ins Nachbarzimmer.
Der Hund öffnete ein Auge, drehte sich langsam auf die Seite, kam gemächlich hoch, gähnte und streckte sich ausgiebig. Nach einem herzhaften Schütteln kam er endlich schwanzwedelnd angelaufen.
»Na, du bist wirklich eine Schlafmütze, Jess.« Liebevoll streichelte sie das kurze braune Fell. Jess wedelte schneller, und sie musste lachen. »Das war kein Kompliment, Schatz.«
Kerstin entschied sich spontan, heute einmal zur Abwechslung nach Waltrop an den Dortmund-Ems-Kanal zu fahren. »Mal wieder einen neuen Weg ausprobieren, hm, Junge? Immer die gleichen Wege ist ja auch wirklich zu langweilig.«
Sie parkte an einem verlassen daliegenden Hundeplatz und ging in den Wald. Der Herbstwind hatte die Wege mit buntem Laub bedeckt, und es war eine Freude, die herrlichen Farben ringsum zu sehen, während die Blätter unter ihren Schritten knisterten. Jess hatte die Nase am Boden und lief voraus.
Wie gut, dass ich ihn gefunden habe, dachte sie. Jess war ein Häufchen Elend gewesen, als sie ihn bekommen hatte. Zum Glück hatten sich in Italien liebe Menschen seiner angenommen. Und inzwischen verstand er sich auch mit Tom richtig gut. Bei dem Gedanken an ihren Lebensgefährten musste sie lächeln. Wie er darum gekämpft hatte, das Vertrauen des langohrigen Jagdhundmixes zu gewinnen. Was für ein Glück sie mit beiden doch hatte.
Zügig lief Kerstin mit Jess quer durch den Wald. Unter ihren Schritten wirbelten bunte Blätter hoch. Sie genoss es, morgens, wenn noch alles still war, allein mit ihrem Hund durch den Wald zu streifen.
Was für ein Glück auch, dass seine Jagdhundgene nur selten durchschlugen und er so gut abrufbar war. Na ja, fast immer. Sie schmunzelte. Wenn Wild direkt vor seiner Nase aufsprang und flüchtete, lief er schon hinterher, aber er gab die Jagd nach zwei, drei Minuten auf und kehrte zufrieden hechelnd zurück. Kein Grund, einen Hund nur an der Leine zu führen, dachte sie. Schließlich braucht auch ein Hund Freiheit und ein bisschen Abenteuer.
Sie lief einen schmalen Pfad entlang, der zum Kanal führte, erklomm die Stufen zum Deich und blieb stehen, um auf das Wasser zu schauen und die weite Aussicht zu genießen.
»Komm, Jess, wir gehen hier herum.«
Der Rüde folgte ihr, immer wieder am Grasrand verharrend, um zu schnüffeln und nach Mäusen Ausschau zu halten.
»Verdammt, aus dem Weg!«, schnauzte plötzlich jemand hinter ihr.
Kerstin fuhr herum. Ein Fahrradfahrer sauste in einem Affentempo heran und kam im nächsten Moment schlitternd vor dem Hund zum Stehen, ein durchtrainierter, schlanker Mann auf einem Rennrad.
»Oh, Entschuldigung.«
»Nehmen Sie gefälligst Ihren Hund an die Leine!«, brüllte er.
»Das ist ja gemeingefährlich.«
»Entschuldigung, ich habe Sie nicht gesehen, und übrigens auch nicht gehört«, sagte Kerstin. Ihr Ton war um einiges kühler geworden.
Der Mann musterte sie verächtlich. Ja ja, dumme kleine Blondine, dachte er jetzt bestimmt. Zumindest traute sie es ihm zu, und nicht nur das. Sag es nicht, beschwor sie ihn still. Sag es bloß nicht.
»Hier ist Leinenpflicht«, schnauzte er und schnaubte wütend.
»Nehmen Sie Ihren Köter an die Leine oder ich zeig Sie an.«
Rote Schlieren zogen vor ihren Augen auf. Sie versuchte, sie wegzublinzeln, aber es wurden immer mehr. Sie kannte dieses Phänomen bereits. Vor ein paar Wochen war es zum ersten Mal aufgetreten, als ein griesgrämiger Rentner meinte, sie wegen Jess blöd anmachen zu dürfen. Sie war es so unendlich leid, dass die Leute sie und Jess nicht einfach in Ruhe ließen.
Tief atmete sie ein und aus, ihr Blick fokussierte sich. Sie sah das schmale Gesicht des Mannes, die kleine Schramme auf seinem Handrücken, sogar den schmalen Silberring am Mittelfinger. Ihre Augen zoomten sein Gesicht ganz nahe heran. Sie hörte seinen keuchenden Atem, wie er der Lunge entströmte, und meinte sogar, ihn riechen zu können.
»Fahren Sie einfach weiter.« Es war ein letzter Versuch. Ihre Stimme klang gepresst und tief, ein ganz schlechtes Zeichen, das wusste sie. Schon seit ihrer Kindheit. Die Stimme kippte immer eine Oktave tiefer, wenn sie wütend war. Richtig wütend. Mörderisch wütend.
»Jetzt nehmen Sie schon Ihren Hund an die Leine. Sind Sie taub? Wenn meinem Fahrrad was passiert ist, kriege ich Sie dran. Immer diese Scheißköter.«
Er stieg ab und begutachtete die Bremsen. Durch einen roten Schleier hindurch sah Kerstin, wie er sich hinhockte. Sie lächelte vage. Irgendwie fühlte sie sich plötzlich ganz leicht. Alle Emotionen waren mit einem Mal verschwunden. Da war nur ein kleiner, heißer Knoten auf der Höhe ihres Solarplexus.
Mit nur einem Schritt war sie bei ihm, holte noch in der Bewegung aus und ließ die Handkante mit großer Wucht auf seine Halsschlagader niedersausen. »Durch«, zischte sie, wie sie es von Tobi, einem Kampfsportler gelernt hatte. Durch – dieses Wort war einfach fantastisch. Damit erhöhte sie ihre Durchschlagskraft um ein Vielfaches. Der Mann sackte ohne einen Laut in sich zusammen.
»Wow, das klappt ja wirklich«, murmelte sie erfreut. Der kleine heiße Knoten in ihrem Bauch machte einen Hüpfer und verschwand. Diesen Schlag hatte sie schon immer einmal ausprobieren wollen. Die Bewusstlosigkeit würde nicht lange anhalten. Suchend blickte sie um sich und bückte sich nach einem Stein von der Größe einer Männerfaust. Sie kniff die Augen zusammen und knallte dem am Boden liegenden Mann den Stein an die Schläfe. Sicher ist sicher, dachte sie.
Rasch blickte sie nach rechts und links. Wie fast immer um diese Zeit herrschte gähnende Leere am Kanal. Schnell griff sie dem Mann unter die Achseln und zog ihn mühsam zur Spundwand. Er stöhnte leise. Blut lief über sein Gesicht.
»Jess, du könntest mir echt ein bisschen helfen«, scherzte sie. Mit einem Platschen schlug der Körper fünf Meter tiefer auf das Wasser auf. Sie lächelte den irritierten Jess aufmunternd an: »Die Aale werden sich bestimmt freuen. Ein Scheißkerl weniger. Komm, mein Junge, weiter geht‘s.«
Rasch umwickelte sie die Hände mit ihrem Halstuch, packte das Fahrrad und warf es hinter dem Mann her. Anders als der Betäubte versank es schnell. Den Stein nahm sie mit, um ihn später im Wald zu entsorgen. Sie war sich ziemlich sicher, dass der Mann nicht mehr rechtzeitig zu sich kommen würde, um sich vor dem Ertrinken zu retten. Im Stillen dankte sie ihrem Ex-Freund Tobi, der ihr ein paar wirkungsvolle, alltagstaugliche Tricks beigebracht hatte. Schließlich musste seine zierliche Freundin sich doch verteidigen können in dieser bösen Männerwelt. Noch ein schneller Blick in die Runde, aber niemand war zu sehen und auch kein Schiff weit und breit.
»Komm, Schatz«, sagte sie zu Jess. Sie keuchte etwas von der Anstrengung, und doch fühlte sie sich einfach wunderbar. »Wir müssen uns ein bisschen beeilen«.
Zwei Minuten später hatte der Wald Frau und Hund verschluckt.
Eine gute Stunde später ließ sie die erste Patientin in ihre Praxis. »Ist das heute nicht ein herrlicher Tag?«, begrüßte sie die ältere Dame gut gelaunt. »Kommen Sie, ich helfe Ihnen.« Sie begleitete die gehbehinderte Patientin zu einem bequemen Stuhl. »Was kann ich für Sie tun, Frau Berg?«
Die alte Dame lächelte sie an. »Sie haben mir das letzte Mal mit Ihren Kügelchen so geholfen, Frau Krumel. Ich fühle mich einfach gut aufgehoben in Ihrer Praxis. Sie kriegen meinen Rücken bestimmt auch diesmal wieder hin.«
»Geht es dir gut?«, fragte Tom und legte ihr einen Arm um die Schultern.
»Ja, ganz prima.« Sie küsste ihn auf die Wange. »Jetzt, wo du zu Hause bist.«
»Und ich bleibe einen vollen Monat. Hab aber auch genug gearbeitet in letzter Zeit.«
Kerstin kuschelte sich an Toms massiven Körper. »Ich bin so froh, dass du da bist«, sagte sie warm und schlang ihre Arme fester um ihn.
»Ich hab dich auch vermisst.«
Sie löste sich widerstrebend von ihm. »Du, ich hab noch einen Patienten, aber dann bin ich für dich da. Sollen wir es uns heute Abend so richtig gemütlich machen?«
Tom strich ihr sanft übers Haar. »Mhm. Ich koch uns was Schönes und dann …« Er beugte sich zu ihr und küsste sie leidenschaftlich.
Fünf Jahre und immer noch verliebt, dachte Kerstin. Das hängt sicher damit zusammen, dass wir nicht ständig beieinander hocken. Mit Tom hatte sie ihre bisher längste Beziehung. Sie liebte diesen großen, ein bisschen zur Korpulenz neigenden Mann zärtlich. Vor allem auch, weil er mit Jess so gut auskam. Seine Ruhe und Gelassenheit machten ihn zum ruhenden Pol in ihrem Leben.
Das Telefon klingelte. »Krumel?«, meldete sie sich.
»Kerstin, ich bin‘s, Maike. Du, die Mädels und ich wollen heute Abend ins Kino. Kommst du mit?«
»Oh, tut mir leid, Maike, Tom ist gerade nach Hause gekommen und wir wollen es uns heute Abend gemütlich machen. Du verstehst?«
Maike lachte. »Na klar. Aber vergiss nicht unseren Spieleabend am Mittwoch. Kannst Tom ja mitbringen, Jens und Klaus werden wahrscheinlich auch da sein.«
»Ich frage ihn. Und Jess bring ich auch mit, okay?«
»Na klar. Du ohne Jess, das geht doch nicht.«
»Maike, ich muss dich leider abhängen, ich habe noch einen Patienten.«
»Wie, am Samstag?«
»Ja, es geht nicht anders. Er hat vorhin angerufen, weil es ihm wohl richtig schlecht geht.«
»Du bist einfach zu gut für diese Welt«, kommentierte Maike, und Kerstin musste grinsen. »Ich bin ein bisschen neidisch. Einen Beruf zu haben, den man mit einer solchen Leidenschaft ausübt, das ist so toll.«
»Ja, darüber bin ich auch sehr froh. Und vor allem kann ich Jess mit in die Praxis nehmen. So ist er nicht den ganzen Tag allein. Klar, manche Patienten mögen keine Hunde, und die gehen mir verloren, aber was soll’s, um die ist es nicht weiter schade. Den anderen tut er echt nur gut.«
»Ich brauche auch noch mal deinen Rat und ein paar Globuli. Erzähl ich dir aber Mittwoch. Bis dann.«
»Tschüss, und viel Spaß im Kino. Grüß die Mädels von mir.« Kerstin legte auf, rief Jess und fuhr mit ihm in die Praxis. Seitdem sie den Hund hatte, merkte sie, dass ihre Patienten deutlich offener und entspannter geworden waren.
Am nächsten Morgen schaute sie auf den schlafenden Tom, überlegte, ob sie ihn wecken sollte, entschied sich dann jedoch, ihn schlafen zu lassen. Er hatte zwei harte Monate in der Wüste hinter sich und war sicher froh, einmal ausschlafen zu können.
Leise stand sie auf, nahm ihre Kleidung und schlich ins Bad, während Jess ihren angewärmten Platz im Bett einnahm und sich an Toms warmen Körper schmiegte. Tom strubbelte ihm schläfrig über das Fell und schlief wieder ein.
Als Kerstin aus dem Bad kam, schaute sie auf ihre schlafenden Männer, den Zwei- und den Vierbeiner, und ein unbeschreibliches Gefühl der Zärtlichkeit überkam sie. Was für ein harmonisches Bild, dachte sie. Ich bin so froh, diese beiden gefunden zu haben.
»Jess«, rief sie leise.
Der Hund erhob sich ein bisschen widerstrebend, gehorchte aber. »Wir machen eine schnelle Runde und frühstücken dann gemeinsam, ja?« Der Rüde sah sie aus seinen dunklen Augen intensiv an und wedelte mit dem Schwanz. »Komm«, flüsterte sie.
Sie gingen aus der Haustür und wandten sich nach rechts. Nach zwei Minuten überquerten sie eine kleine Straße und erreichten kurz darauf den kleinen Wald, der an die Siedlung grenzte. Sie liefen über weiche Waldwege, bis sie einen Schotterweg erreichten, dessen grobe, fuß- und pfotenfeindliche Struktur sie jeden Tag ärgerte. Sie waren noch nicht weit gegangen, da erhellte Blaulicht den dämmrigen Sonntagmorgen. Durch die Bäume konnte sie drei Polizeiautos und mehrere Menschen erkennen, die auf dem Spazierweg standen.
»Ach«, sagte sie beiläufig und blieb stehen, »das lassen wir heute mal. Komm, wir gehen lieber nach Hause. Vielleicht hat Tom schon das Frühstück fertig.« Sie warf Jess ein Leckerli zu, das er geschickt auffing.
Und wirklich, Tom hatte das Frühstück bereitet. Jess bekam sein Fleisch mit Gemüse und Kerstin schwenkte die frischen Brötchen, die sie auf dem Nachhauseweg vom Bäcker geholt hatte.
»Super, du hast Brötchen mitgebracht. Darauf hatte ich gehofft.« Tom holte den Kaffee und schenkte ein. »Wie war eure Runde?«
»Sehr schön. Wir sind niemandem begegnet, so ist es mir ja am liebsten.« Kerstin langte nach der Butter und strich sie sich zentimeterdick auf das Brötchen. Darauf kam reichlich Sahnequark und dann Erdbeermarmelade.
»Ich werde echt neidisch, wenn ich das sehe«, bemerkte Tom, der auf seine Figur achten musste und sich daher mit Fett zurückhielt.
»Fett macht nicht dick. Aber das willst du mir ja nicht glauben«, entgegnete Kerstin und biss herzhaft in ihr Mohnbrötchen.
»Hm«, machte Tom nur, aber er nahm noch eine zusätzliche Scheibe Käse und drapierte sie liebevoll mit einem Stück Tomate und einem Gurkenscheibchen auf seinem Brötchen. »Weißt du eigentlich, dass ein Mann im Dortmund-Ems-Kanal ertrunken ist? Stand in der Zeitung.«
Kerstin sah auf. Fast hätte sie sich verschluckt. »Echt? Wo denn?«
»In der Nähe der Lohburger Straße. Da gehst du doch auch manchmal spazieren, oder?«
»Stimmt. Weiß man, wie es passiert ist?«
Tom schüttelte den Kopf. »Nein, wohl nicht. Wahrscheinlich zu schnell mit dem Rennrad unterwegs gewesen, einen Moment nicht aufgepasst und schwupp. Die Polizei sucht nach Zeugen.«
Kerstin zuckte die Achseln. »Ich hab jedenfalls nichts gesehen. Die fahren aber auch oft wie die Bekloppten, total rücksichtslos.«
»Hm. Ja, habe ich auch schon erlebt. Auch die Mountainbiker im Wald.« Tom schaute auf den braunen Jagdhund, der selbstvergessen an einem Knochen nagte. »Nicht, dass die Jess mal umnieten.«
»Das würde ihnen nicht gut bekommen«, sagte Kerstin leichthin, aber ihr Herz klopfte heftig.
Tom tupfte sich den Mund mit der Serviette ab, beugte sich über den Tisch, nahm ihr Gesicht zwischen seine großen Hände und küsste sie sanft auf die Lippen. »Nein, das glaube ich, wer deinem Jess etwas tut, der kann sich warm anziehen. Da wird meine sanftmütige Freundin zur Furie.«
»Du bist doch genauso, Tom.«
»Stimmt. Aber meine Beschützerinstinkte beziehen sich mehr auf dich, Krümel.«
Er sprang auf, packte sie und wirbelte sie mühelos durch die Luft. »Wenn jemand dir etwas täte, würde ich glatt zum Mörder.«
Sie hatte ihre Arme um seinen Hals geschlungen. »Gut zu wissen.« Kerstin lachte. »Aber ich hab ja Jess, der auf mich aufpasst, wenn du nicht da bist.«
»Na, hoffentlich musst du nicht ihn beschützen.« Er wurde plötzlich ernst. »Bitte, sei immer vorsichtig, Krümel. Ich habe kein gutes Gefühl, wenn du so oft allein im Wald unterwegs bist.«
»Aber ja, mein Hase«, neckte sie ihn. Er konnte dieses Kosewort nicht ausstehen. Erbost warf er eine Serviette nach ihr. Sie lachte und befreite sich aus seinen Armen.
»Und du hat heute niemanden getroffen auf deinem Spaziergang?« Tom hatte sich wieder hingesetzt und nahm sein zweites Brötchen.
Kerstin reichte ihm den Honig. »Ja, es war angenehm ruhig. Keiner, der irgendwas Blödes von sich geben musste. Kein oberschlauer Rentner und kein wichtigtuerischer Jäger, der meint, er müsste mich auffordern, Jess anzuleinen.«
»Da bist du echt empfindlich. Übertreibst du nicht ein bisschen?«
Kerstin spürte, wie ihre gute Laune verflog. »Wie meinst du das?«
»Ach, na ja, dann nimmst du Jess eben mal an die Leine und lässt ihn nach ein paar Metern wieder frei laufen. Was ist schon dabei? Noch Kaffee?«
Kerstin schüttelte den Kopf. »Ich lasse mir nicht von jedem Dahergelaufenen Anweisungen geben. Und Jess kommt an die Leine, wenn es notwendig ist, nicht, wenn irgendein Idiot es befiehlt. Ich nehme keine Befehle an. Ich hasse Menschen, die mich belehren wollen oder mich überhaupt blöd anquatschen!« Ihre Stimme war immer lauter geworden und sie fühlte, dass sie hektische rote Flecken bekam.
»Na na, ist ja schon gut«, beschwichtigte Tom. »Tut mir leid, ich weiß ja, das ist bei dir ein neuralgischer Punkt.« Er lächelte. »Ich meine ja nur, dass du dir das Leben damit auch ein bisschen schwer machst. Kannst du diese Idioten denn nicht einfach überhören?« Er streckte die Hand aus und versuchte nach ihrer Hand zu greifen.
Sie zog den Arm weg. »Nee, kann ich nicht. Ich bin nicht wie du, Tom. Du bist ein Mann, du bist groß und kräftig gebaut. Bei dir kommen doch die meisten gar nicht auf die Idee, dir blöd zu kommen. Aber so eine kleine Blondine, der kann man ja zeigen, wie toll und wichtig man ist. Das ist doch zum Kotzen!«
Sie zermalmte den letzten Bissen ihres Brötchens, schmeckte aber kaum, was sie aß. Tom würde sie nicht verstehen. Wie auch? Sie verstand es ja selbst oft nicht. Aber so war sie schon als Kind gewesen. Sobald ein Fremder meinte, sie belehren, kritisieren oder anweisen zu müssen, flippte sie aus. Besonders, wenn es ihre Tiere betraf, kannte sie kein Pardon. Sie war als Vierzehnjährige mal fast einem Mann im Restaurant an die Kehle gegangen, weil ihr Familienhund Bella einen fremden Hund angebellt hatte und der Typ meinte, sie vor allen Gästen belehren zu müssen. Sie hatte ihn dermaßen angeschrien, dass sie nachher noch stundenlang am ganzen Leib zitterte und sich kaum beruhigen konnte.
»Ist bestimmt schwieriger für dich«, sagte Tom. »Ich mache mir doch nur Sorgen, Krümel. Ich möchte, dass es dir gut geht.«
Kerstin zwang sich, ihn anzulächeln. »Es geht mir gut, Tom.« Etwas fahrig begann sie, den Tisch abzuräumen. Vielleicht hatte er ja recht. Sie würde versuchen, in Zukunft gelassener zu reagieren.
Der Herbst verabschiedete sich mit Nässe und viel Wind. Der Winter kam früh, war lang und gab im März noch einmal Gas. Aber dann war die Kälte gebrochen.
An einem herrlichen Tag Mitte Mai gingen Kerstin und Tom Hand in Hand mit Jess im Wald spazieren. Jess tanzte begeistert um seine Menschen herum, bis eine Wildspur ihn ablenkte. Er folgte ihr einige Meter ins Unterholz, kam aber auf Kerstins Pfiff sofort zurück.
»Guter Hund«, lobte sie ihn und gab ihm ein Leckerli.
»Er hört wirklich gut«, bemerkte Tom.
»Er ist ein super Hund. Nicht wahr, Jess?« Sie streichelte liebevoll seine langen Segugio-Ohren.
Sie bogen auf einen Schotterweg ab, der durch den Wald führte. Kurze Zeit später hielt ein blauer Geländewagen neben ihnen. Der schnauzbärtige Fahrer ließ das Seitenfenster hinunter. »Sie wissen, dass hier Leinenpflicht besteht?«
Kerstin schloss kurz die Augen. Ich will gelassen bleiben, dachte sie. Gelassen, gelassen, gelassen. »Auf Waldwegen dürfen Hunde frei laufen«, sagte sie beherrscht.
»Es ist Brut- und Setzzeit, und ich habe genau gesehen, wie Ihr Hund vom Weg abgewichen ist. Nehmen Sie ihn also an die Leine.«
Tom fasste ihre Hand fester, denn er fürchtete einen von Kerstins gefürchteten Ausbrüchen. »Machen wir, aber unser Hund gehorcht sehr gut«, sage er ruhig.
»Das behaupten alle«, knurrte der hagere, nicht mehr ganz junge Mann. »Und dann haben wir den Schlamassel. Leinen Sie ihn bitte an. Jetzt!«
»Wer sind Sie eigentlich?«, mischte Kerstin sich ein und machte sich ungeduldig von Toms Hand los. Sie fühlte das Anströmen dieser tiefen Wut, aber noch hatte sie sich im Griff.
Das Gesicht des Fahrers verfärbte sich indes vor Zorn. »Wenn Sie’s genau wissen wollen«, schnauzte er, »ich bin der Jagdpächter. Und ich sage Ihnen eines – wenn ich Ihren Hund abseits der Wege erwische, erschieße ich ihn.«
Kerstin verlor den Kampf. Sie spürte kaum, dass Tom ihr beruhigend den Arm um die Schulter gelegt hatte. Wie konnte dieser armselige Wichtigtuer von Jäger es wagen, ihren Jess zu bedrohen?
»Sie müssen uns nicht drohen, wir leinen den Hund ja an.« Toms Stimme war noch immer sehr ruhig und völlig aggressionslos. Vor Kerstins Augen tanzten dagegen bereits rote Schlieren.
»Jess, hier.« Tom nahm den Hund an die Leine, der neugierig das Auto beschnüffelte. »Na komm«, wandte er sich wieder an Kerstin, »hier gibt es nichts mehr zu sagen.« Er hatte wieder nach ihrer Hand gegriffen und zog sie mit sich, während der Jäger befriedigt nickte.
Sie drehte sich im Gehen noch einmal kurz um und lächelte ihn an. Ihre Lippen enthüllten nur die Schneidezähne. So fletschte ein Hund die Zähne, der es wirklich ernst meinte.
»Komm, ärgere dich nicht«, sagte Tom besänftigend. »Solche Idioten gibt es überall. Lohnt sich nicht, sich darüber aufzuregen.«
»Na ja, wahrscheinlich hast du recht«, erwiderte sie. »Er hatte ja auch nicht unrecht mit der Brut- und Setzzeit.« Kerstin staunte, wie normal ihre Stimme klang. In ihrem Innern jedoch tobte die Wut.
Tom küsste sie auf den Scheitel und erzählte ihr eine lustige Geschichte über einen Kollegen, der in der Wüste einen Streit mit einer zornigen Schlange gehabt hatte.
Zwei Tage später reiste Tom für einen Monat nach Saudi-Arabien. Kerstin war es recht. In den nächsten Tagen beobachtete sie, dass der blaue Geländewagen des Jagdpächters oft in der Nähe eines bestimmten Hochsitzes stand. Besonders in der Dämmerung wachte der hagere Jäger über das Wild, für das er jährlich eine Menge Geld abdrückte, um es schießen zu dürfen.
Kerstin konnte Jäger nicht besonders leiden, aber noch mehr verabscheute sie die oberlehrerhaften, engstirnigen Anweisungen an Hundehalter, die diese Spezies so oft von sich zu geben pflegte.
Aus aktuellem Anlass dachte sie im Moment manchmal an den passionierten Bastler Markus, ihre zweite Liebe. Sie hatte noch immer eine gute Beziehung zu den meisten ihrer Ex-Freunde, und Markus bastelte ständig an verschiedensten Dingen herum. Er konnte fast alles reparieren und baute in seiner Freizeit Möbel aus Holz. Sie besaß eine wunderschöne Kommode und einen schweren Eichentisch, die er gebaut hatte. Auch der Schreibtisch in ihrer Praxis war unter seinen begabten Händen entstanden. Markus hatte ihr sogar ein paar Grundkenntnisse über das Hämmern und Sägen vermittelt, denn in dieser Hinsicht hatte sie sich als wenig praktisch veranlagt erwiesen.
In der Garage fand sie schließlich die Säge, die Markus nach ihrer Trennung vor beinahe zehn Jahren bei ihr liegen gelassen hatte, und einen robusten Strick, den sie sich um die Schulter hängte, und als sie mit dem begeisterten Jess am späten Nachmittag in den Wald ging, pumpte das Adrenalin nur so durch ihre Adern.
Sie besah sich den Hochsitz von allen Seiten und nickte dann befriedigt. Beherzt sägte sie los und war erstaunt, wie viel Kraft sie aufbrachte. Dann befestigte sie den Strick am angesägten Bein und verbarg ihn im Gras, bevor sie sich entfernte.
»Das sollte so gehen«, murmelte sie. Jetzt, wo sie zur Tat schritt, war die unangenehme Wut in ihrem Bauch verflogen. Sie fühlte sich super. Ob der Jäger den Tod verdiente, das wollte sie sich gar nicht erst fragen. Der Mann war in ihren persönlichen Freiraum eingedrungen, hatte sie zudem bedroht, das durfte nicht ungesühnt bleiben.
Kerstin holte einen Roman aus ihrer Umhängetasche und setzte sich unter eine alte, gut belaubte Eiche, die sie vor neugierigen Blicken verbarg. Noch einmal lauschte sie und schlug dann das Buch auf. Vom Hochsitz aus würde man sie nicht erkennen. Einen Hund hatte sie bei dem Jäger nicht gesehen, und so war sie guten Mutes, dass er auch diesmal allein unterwegs sein würde.
Eine Stunde später setzte die Dämmerung ein, und kurz darauf hörte sie das Geräusch eines näher kommenden Dieselfahrzeugs. Mit einem bedauernden Seufzer klappte sie das Buch zu – sie war gerade an einer sehr spannenden Stelle – und rief Jess zu sich.
Das Gewehr über der Schulter kam der Jäger über das Feld, blieb kurz stehen, um sich umzuschauen, und kletterte dann schnaufend den Hochsitz hinauf. Kurz fürchtete Kerstin, dass sie zu viel gesägt hatte, aber die Strebe hielt dem Gewicht stand.
Sie zog ihre Handschuhe an, nahm das Seil in die Hände und stand auf. Sie fühlte sich völlig ruhig, fast heiter. »Schön still sein, Jess«, flüsterte sie. Der Rüde stupste sie sanft an, und Kerstin lächelte. »Guter Junge«, hauchte sie fast unhörbar.
Der Jäger hatte es sich bequem gemacht und hielt sein Fernglas vor die Augen. Auf dem Feld würden schon bald die ersten Rehe auftauchen.
»Na denn«, murmelte Kerstin, stemmte die Füße in den Boden und riss mit aller Kraft am Seil.
Erschrocken sprang der Jäger auf, als das Holz ächzte. Sie zog noch einmal mit aller Kraft, und endlich bewegte sich der Hochsitz wie in Zeitlupe, neigte sich langsam zur Seite, und mit einem unschönen Knirschen gab das hölzerne Bein nach. Der Mann schrie auf, klammerte sich an das schwankende Holz und krachte im nächsten Augenblick mitsamt dem Hochsitz zu Boden.
Sofort sprang Kerstin vor. Der Jäger stöhnte, er war nicht tot, nicht einmal besonders schwer verletzt. Sie sah sich rasch um, ergriff sein Gewehr, das wenige Meter weiter geschleudert worden war, und ließ den Kolben beherzt auf seinen fast kahlen Schädel krachen.
Jess winselte unsicher. Kerstin hob die Hand. »Still, Jess.« Der Hund fiel vor Aufregung zitternd ins Platz.
Noch einmal ließ sie den Gewehrkolben auf den Schädel krachen. Der Jäger rührte sich nicht mehr, und so, wie sein Kopf aussah, würde er es auch nie wieder tun.
Befriedigt ließ sie das Gewehr fallen und zog die Handschuhe aus. Auf ihren Schuhen sah sie einige Blutspritzer, die sie sorgsam abwischte. »Hm, ich glaube, die Hose ist hin«, murmelte sie. »Na, macht nichts, die gebe ich morgen in den Kleidertransport nach Rumänien. Das bisschen Blut lässt sich bestimmt rauswaschen, und sonst ist sie ja noch gut.«
Sie schaute auf Jess, der aufgeregt an dem zerschmetterten Kopf des Jägers schnüffelte. »Komm, Kleiner, ab nach Hause und aufs Sofa, und endlich das Buch weiterlesen. Wir machen uns einen richtig schönen Abend.«
Rasch verstaute sie Seil, Buch und Säge. Auf der Lichtung erschienen ein paar Rehe und sie nahm Jess an die Leine. Dem Körper des toten Jägers gönnte sie keinen einzigen Blick mehr.
Zwei Tage nach der Sache mit dem Hochsitz traf Kerstin ihre Bekannte Martina mit ihrer Dalmatinerhündin Mara im Wald. Jess liebte Mara und begrüßte sie begeistert. Bald tobten die beiden Hunde ausgelassen über das Feld.
Kerstin seufzte. »Wenn das der Bauer sieht.«
»Ach, hier kommt er selten hin«, meinte Martina. »Sag mal, hast du das von dem Jäger gehört?«
»Welchem Jäger?« Kerstin sah Martina aufmerksam an.
»Der hier vor zwei Tagen ermordet wurde.«
»Nee, hier? Im Wald?«
»Ja, da hinten. Ist noch alles abgesperrt.«
»Das ist ja ein Ding.«
»Mein Mann möchte eigentlich nicht, dass ich noch mit dem Hund hier hingehe. Aber wohin soll ich sonst gehen, und es ist ja helllichter Tag.«
»Da hätte ich auch keine Bedenken. Wir haben ja auch die Hunde dabei.«
»Aber ob die auf uns aufpassen würden …« Martina zog zweifelnd die Stirn kraus.
Die Hunde hatten sich ausgetobt und kamen hechelnd zurück zu ihren Zweibeinern. Kerstin kraulte Mara am Kopf und wehrte Jess sanft ab, dem das gar nicht recht war. »Gut sieht sie aus, geht es ihr besser?«
»Hast ja gesehen, sie kann schon wieder toben. Danke für deinen Rat, es hat echt Wunder gewirkt.«
Kerstin winkte ab. »Wo gehst du jetzt lang? Wollen wir ein Stück gemeinsam gehen?«
»Ich wollte bis zur Straße und dann zurück durch den Wald.«
»Prima, da komme ich mit.«
Jess und Mara liefen voran. Als sie auf einen landwirtschaftlich genutzten Weg kamen, sahen sie einen Polizeiwagen auf sich zukommen. Der Wagen hielt kurz vor ihnen und zwei Polizisten stiegen aus.
»Wir würden Sie gern etwas fragen«, sagte einer der Beamten.
»Gehen Sie hier öfters spazieren?«
Sie nickten. Kerstin rief Jess zurück, der vorsichtig an der Hose des Polizisten schnüffelte. Ihr Herz schlug ruhig und gleichmäßig.
»Sie haben sicher von dem Tötungsdelikt gehört?«
Wieder nickten sie beide.
»Ist Ihnen in den letzten Tagen hier etwas aufgefallen?«
»Was denn zum Beispiel?«, fragte Kerstin interessiert.
»Vielleicht irgendwelche Fremden? Oder irgendetwas, das Ihnen merkwürdig vorkam?«
Kerstin zuckte die Achseln. »Also, mir nicht. Was ist denn genau geschehen?«
Der Polizist antwortete nicht auf die Frage. »Und Ihnen?«
Auch Martina schüttelte den Kopf. »Das war der Jagdpächter, oder? Ein unangenehmer Mensch. Hat mich ein paar Mal zusammengestaucht, weil ich Mara ohne Leine laufen ließ.« Sie streichelte den Kopf ihrer Hündin.
»Also ist Ihnen beiden nichts aufgefallen?«, fasste der Polizist zusammen.
Noch ein Kopfschütteln.
»Wir würden dann gern ihre Personalien aufnehmen, falls wir später noch Fragen haben.« Er wandte sich zu seiner Kollegin um.
»Bärbel, kannst du dich darum kümmern?« Die Polizistin hob eine Augenbraue, kam der Aufforderung aber nach.
Kurze Zeit darauf sahen sie zu, wie der Polizeiwagen die schmale Straße hinauffuhr und neben einem Jogger anhielt.
Martina sog hörbar die Luft ein. »Ist schon ein komisches Gefühl, oder? Vielleicht nehme ich doch lieber das Auto, bis sie den Mörder erwischt haben, und fahr mit Mara ein Stück weiter raus.«
»Ja, das überlege ich auch«, erwiderte Kerstin. »Man muss es ja nicht herausfordern.«
»Man kann sich nirgendwo mehr sicher fühlen.« Martina seufzte. »Was für eine Welt.«
»Ach was, mach dir nicht zu viele Gedanken. War bestimmt ein Tierschützer oder so. Das könnte ich sogar ein bisschen verstehen. Wie viele Jäger hier in unserem kleinen Waldgebiet herumlaufen, das geht ja auf keine Kuhhaut.«
»Ich kann Jäger auch nicht leiden. Wie kann man Spaß daran haben, auf Lebewesen zu schießen?«
»Und jetzt hat es einen von ihnen erwischt. Irgendwie ausgleichende Gerechtigkeit.«
Eine Joggerin kam ihnen entgegen. Sie rief schon von Weitem »Nehmen Sie bitte Ihre Hunde an die Leine! Ich habe Angst.«
Selbstverständlich kamen sie der Aufforderung unverzüglich nach. Wenn jemand Angst hatte, nützte es wenig, ihm »Die tun nichts« zuzurufen. Wie einfach wäre doch das Leben, wenn jeder etwas Rücksicht nähme, fand Kerstin. Rücksicht und sich nicht in das Leben anderer Menschen einmischen. Warum fiel das so vielen Menschen so schwer? Warum mussten sich so viele Menschen aufspielen und einen auf wichtig machen? Immer wieder hatte Kerstin in ihrem Leben erfahren müssen, dass ihre Grenzen nicht respektiert wurden, dass auf ihren Gefühlen herumgetrampelt wurde. Sie hatte alles geschluckt, wieder und wieder, bis sie irgendwann wie ein Vulkan geplatzt war. Diese Ausbrüche kosteten Kraft, zu viel Kraft, wie sie fand. Aber sie würde nicht mehr schlucken, und schon gar nicht, wenn es um Jess ging. Diese Zeiten waren vorbei.
Als die Joggerin sie passiert hatte, ließen sie die Hunde wieder frei laufen.
»Ich würde hier gern abkürzen, ich muss in die Praxis«, sagte Kerstin an der nächsten Biegung.
Martina nickte zustimmend. »Okay, ich komme mit. Ich geh ja heute Nachmittag noch eine lange Runde.«
Die Polizei wandte sich an die Öffentlichkeit und bat alle Personen, die zwischen dem 13. und dem 16. Mai im Wald verdächtige Beobachtungen gemacht hatten, sich zu melden. Es gingen jedoch keine brauchbaren Informationen ein. Dabei wurde eine Belohnung von zehntausend Euro für die Hilfe zur Ergreifung des Täters ausgesetzt. Das BKA stellte einen Aufruf und einige Informationen über den Fall ins Internet. Auch das führte zu keinem Erfolg.
»Sollen wir ein paar Tage ins Sauerland fahren?«
Kerstin sah von ihrem Roman hoch.