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Books on Demand GmbH, Norderstedt
Printed in Germany
ISBN: 978-3-748 195-79-5
Nichts ist verblüffender
als die
einfache Wahrheit!
Egon Erwin Kisch
1885 - 1948
Das herrschaftliche Haus der Familie Kern lag verlassen im verwilderten Garten. Die von großen Laternen geschmückte Einfahrt hatte auch schon bessere Zeiten gesehen. Teile des Glases waren herausgefallen und waren nicht mehr erneuert worden.
Renate Kern fasste die Hand ihres Sohnes Carl-Michael noch etwas fester an. Mutter und Sohn verließen nun endlich das Haus, dass ihnen so viele Sorgen, so viele schlaflose Nächte und so viele Qualen gebracht hatten.
„Mama, ich will zu Ernst!“, schrie der kleine Junge und versuchte sich von der Hand seiner Mutter loszureißen. Vergeblich. Die Mutter war stärker. Das Kind wurde ins Auto gestoßen, die Tür verschlossen. Dann stieg auch Renate in den Opel und man hörte nur noch das Geräusch der Räder im Kiesel.
„Ab jetzt wird alles besser, mein Sohn. Wir fahren in eine bessere Zeit, in ein besseres Leben!“, erklärte Renate ihrem Sohn, der mittlerweile weinend auf der Rücksitzbank saß.
Ernst war der beste Freund des Jungen. Die beiden zehnjährigen Buben trennten nur wenige Monate. Seit dem Sandkasten waren sie unzertrennlich. Ernst Eltern wohnten in derselben Straße, gegenüber und ein paar Grundstücke weiter. Ernst Mutter hatte oft bei den Kerns geputzt oder sich bei großen Empfängen um das leibliche Wohl der zahlreichen Gäste gekümmert.
Renate achtete kaum auf den Verkehr, sie hatte nur noch ihren Neustart und den Wunsch auf eine bessere Zukunft im Visier. Fast wie von selbst chauffierte sie den Wagen voran. Über das Ziel ihrer Reise war sie sich selbst noch nicht im Klaren.
Auch Ernst würde die Trennung schmerzen. Wie sollte er verstehen, warum sein Freund plötzlich abgereist war? Was wusste ein Kind von Sorgen und Nöten der Erwachsenen?
Zurück aber blieb der Patron der Familie Kern. Carl-Michaels Vater, der Chef des mittelständischen Unternehmens in Hamburg. Der gute Chef – so nannten ihn die Angestellten. Im Keller einer alten Wohnung hatte Willi Kern kurz nach dem Krieg angefangen zu experimentieren. Salben, Cremes, Duftwässerchen – alles für die Schönheit! Nach und nach fand er mehr und mehr Abnehmer – die Firma stand auf soliden Beinen. Und er machte gute Umsätze. Willi zog an den Stadtrand, heiratete seine Renate und gründete eine Familie. Wenig später kam Carl-Michael auf die Welt. Das Glück war perfekt, betrachtete man es von außen. Hinter verschlossenen Türen allerdings sah alles anders aus. Willi bestimmte, Renate musste Immer öfter verbrachte er nach der Schule seine Zeit im Hause seines Freundes Ernst. Renate Kern blieb alleine zurück und ertrug, was zu ertragen war!
Bis eines Tages ihr Mann die Hand ausrutschte. Das blaue Auge und der sich langsam ausbreitende Bluterguss auf der linken Wange waren der Anfang vom Ende!
35 Jahre später
Es regnete wie fast auf allen Beerdigungen! Dicht aneinander gedrängt standen die Trauernden unter den schwarzen Regenschirmen. Es war eine kleine Trauergemeinde, gerade mal zehn Personen und der Grabredner. Das Grab ließ keinen Zweifel zu, der Regen hatte schon am Vortag eingesetzt und machte auch hier keine Ausnahme.
Auf Musik hatte man verzichtet. Vielleicht hatten die Musiker auch nur aufgrund des typischen Hamburger Schmuddelwetters abgesagt. Direkt vor der Grube stand ein, in einen etwas zu engen und leicht verschlissenen, dunklen Mantel gezwängter Herr. Den auf dem Kopf befindlichen Hut hatte er tief ins Gesicht gezogen.
„Willi Kern, wir alle haben dir sehr viel zu verdanken. Du warst stets ein treuer Ehemann, ein liebevoller Vater und ein ehrenwerter Geschäftsmann. Einige deiner treuesten Angestellten haben sich heute hier am Grab versammelt um Abschied zu nehmen. Willi Kern, ruhe sanft!“
Vier Schwarzgekleidete ließen den Sarg hinab in die Grube. Der Redner trat einige Schritte zurück und blickte auf den Mann im dunklen Mantel. Scheinbar wusste er nicht, wie er sich verhalten sollte. Schüchtern blickte er sich um, nach rechts und links. Vorsichtig, so als hätte er Angst selbst in die Grube zu fallen, machte er einen Schritt nach vorne. Den Kopf leicht gebeugt verharrte er einen kurzen Moment, vermutlich in stiller Andacht. Es folgte ein angedeutetes Nicken, dann drehte er sich um und schien froh zu sein, dass ihm nichts passiert war. Der Trauerredner drückte ihm die Hand. Damit war das Zeichen gegeben, die Beerdigung war beendet. Einige der Trauergäste näherten sich dem Herrn mit dem Hut. Sie drückten ihm die Hand und bekundeten ihm ihr Mitgefühl.
„Wann dürfen wir Sie in der Firma erwarten?“, fragte einer der Anwesenden.
„Ich denke am Montag. Ja, am Montag werde ich in der Firma sein. Bitte bereiten Sie alle erforderlichen Unterlagen vor. Ich habe nicht viel Zeit!“
Danach drehte sich der Mann um und verließ mit forschem Schritt den Friedhof in Richtung Parkplatz.
Carl-Michael Kern war mit dem Taxi zur Beisetzung seines Vaters gekommen. Jetzt allerdings versuchte er noch den an der Haltestelle stehenden Bus zu bekommen, der ihn zur nächsten U-Bahn-Station bringen sollte. Von dort aus fuhr er in die Innenstadt. Um eine Firma zu übernehmen benötigte auch ein Sohn einen Erbschein. Weltmännisch hatte Carl-Michael einen Anwalt beauftragt, alle Formalitäten für ihn zu erledigen. Und genau zu diesem Anwalt war Herr Kern, der neue Chef der Kosmetik-Firma Cosmek, jetzt unterwegs.
Es war nur eine Formsache. Die Sterbeurkunde lag vor, der Ausweis des Sohnes war in Kopie mit der Post gekommen. Schnell waren die nötigen Unterschriften geleistet. Als neuer Chef von Cosmek verließ der immer noch in den verschlissenen, schwarzen Mantel gezwängte Mann die Kanzlei an der Börsenbrücke.
Sein nächstes Ziel war die Villa der Kerns. Das Taxi hielt und der Fahrer warf einen fragenden Blick auf seinen Fahrgast, so als wollte er sagen: was wollen sie denn hier?
Carl-Michael öffnete das verrostete Tor, welches knarrend hinter ihm zufiel. Wie oft war er diesen Weg gegangen? Bei jedem Schritt, den er sich dem Haus näherte, kamen ihm neue Erinnerungen. Er blieb stehen und suchte nach der alten Eiche. Hier hatten sie als Kinder immer die Früchte gesammelt um sie im Tierpark Hagenbeck abzugeben. Er lächelte. Dann besann er sich kurz und schritt forsch über die Auffahrt zur Haustür. Er läutete und eine krumme Frau öffnete die Tür.
„Sie sind?“, fragte die Stimme.
„Ich bin Carl-Michael Kern. Der neue Eigentümer dieser Villa!“
„Ich habe Sie schon erwartet. Bitte treten Sie ein. Ich möchte Ihnen mein ganz persönliches Beileid aussprechen. Ihr Vater war ein so guter Mensch“, erklärte die Frau.
Henriette Müller, sie war in den letzten Jahren die Haushälterin des Firmenchefs gewesen. Längst konnte Willi nicht mehr so wie er wollte. Einsam und traurig hatte er die letzten Jahre in seiner Villa verbracht. Ohne Frau und ohne Kind. Vor über fünfzehn Jahren war Renate, seine Frau verstorben. Von seinem Sohn hatte Willi nie wieder etwas gehört. Nur zu den Feiertagen, wie Weihnachten, Ostern und zum Jahreswechsel hatte der Alte all die Jahre einen Brief erhalten, von Ernst! Der beste Freund seines Sohnes hatte an ihn gedacht!
Neugierig schritt der neue Eigentümer durch die altersschwache Villa. Hier und da blieb Carl-Michael stehen, verweilte einen Moment in Gedanken. Oft endete so eine Sinnespause mit einem Kopfschütteln. Die Haushälterin folgte dem Herrn Kern in einem angemessenen Abstand. Sie schien das Haus und all sein Inventar beschützen zu wollen – wovor auch immer! Die meisten Räume glichen mehr einem Museum als einer bewohnbaren Villa. Carl-Michael ließ sich nicht entmutigen, er wollte heute einmal durch das ganze Haus gehen, es sollte so aussehen, als würde er Abschied nehmen!
„Seit wann haben Sie für meinen Vater gearbeitet?“, fragte er interessiert.
„Ihr Vater, Gott hab´ ihn selig, hat mich vor neun Jahren zu sich geholt. Seit dem Tag bin ich immer an seiner Seite gewesen. In den letzten beiden Jahren ging es ihm immer schlechter. Er konnte kaum noch sehen. In der Firma gab es einen langjährigen Mitarbeiter, der sich um die Belange kümmerte.“
Während Frau Müller erklärte, blieb sie stehen und hielt die beiden Hände vor ihren Bauch, Fingerspitze auf Fingerspitze, so als können sie sich dann besser konzentrieren.
Carl-Michael hatte es bemerkt, aber es interessierte ihn nicht wirklich. Auch die Antwort der Haushälterin war ihm egal.
„Ich werde das Haus verkaufen. Ich will hier nicht leben, ich habe bereits ein Leben! Sie können Ihre persönlichen Dinge packen und dann zum Monatsende das Haus verlassen. Den Lohn werde ich Ihnen noch drei Monate weiter überweisen. In den nächsten Tagen werde ich einen Makler schicken, den Sie bitte ins Haus lassen. Name und Termin werde ich Ihnen telefonisch mitteilen“, erklärte Herr Kern.
Ohne eine Antwort abzuwarten ging er Richtung Ausgang und verließ das Haus. Noch in der geöffneten Tür blieb er stehen und fügte hinzu:
„Ich denke, es ist selbstverständlich, dass Sie keinerlei Dinge entwenden und sich daran bereichern. Ich werde am Wochenende die persönlichen Dinge meiner Vaters sichten. Auf Wiedersehen.“
Dann schritt er zur Pforte zurück und bestieg das Taxi, welches auf ihn gewartet hatte.
Der Weg führte zurück ins Hotel. Von dort aus wollte Carl-Michael mit einigen Maklern Kontakt aufnehmen und Termine vereinbaren. Zufrieden lehnte er sich im Taxi zurück und ließ die Stadt, die Alster und die wenigen Sonnenstrahlen des Tages, die sich durch die Wolkendecke quälten, auf sich wirken.
Carl-Michael hatte sich in einer kleinen Privatpension an der Alster einquartiert. Hier konnte er in mehr Ruhe die wenigen Tage verbringen und lief nicht Gefahr von irgendeiner Person erkannt zu werden. Carl-Michael Kern scheute ab jetzt die Öffentlichkeit in Hamburg!
Seine Gedanken kreisten um sein bisheriges Leben. Nach Hannover, wo er bisher lebte, wollte er auf keinen Fall zurück. Die Welt war so groß und versauern wollte er auf keinen Fall. Und schon gar nicht in der Provinz.
Am Abend verließ der neue Firmenchef die kleine Bleibe an der Alster. Er schlenderte gedankenversunken durch die Straßen und blieb dann vor einem kleinen und eher unscheinbaren Lokal an der Mundsburger Brücke stehen. Zwei Stufen ging es hinab, eine schummerige Beleuchtung und es roch nach abgestandenem Bier. CM, so nannten ihn Freunde, suchte sich einen freien Tisch, legte seinen Mantel ab und schaute sich neugierig um.
„Was darf ich bringen?“
Mit leerem Blick, fast erschrocken, antwortete er und bestellte sich einen Hausteller und ein Bier. Der Kellner schlurfte davon und ein kühler Luftzug lies Carl-Michael zum Eingang blicken. Eine Frau betrat das Lokal. Ihr Blick blieb auf dem Gast am Ecktisch kleben. CM erwiderte und ihre Augen trafen sich.
„Hier ist noch Platz! Setzen Sie sich zu mir.“
Die Brünette zwinkerte etwas mit dem linken Auge, ob absichtlich oder nicht, war dabei nicht zu erkennen. Sie kam der Aufforderung nach und taxierte ihr Gegenüber.
„Sie habe ich hier noch nie gesehen. Sie wären mir aufgefallen!“, hauchte sie über den abgegriffenen Holztisch.
Carl-Michael zeigte sich von seiner besten Seite; wenn es um Frauen ging war er ganz groß darin. Schließlich wusste man nie, wohin das führen konnte! Gemeinsam wurde gegessen, getrunken und geraucht. Als die ersten beiden Schachteln leer waren brachte der Kellner neue, es sollte den Gästen an nichts mangeln.
„Und Sie kommen aus Hannover? Was hat Sie denn nach Uhlenhorst verschlagen?“, wollte Annegret Dahlmann wissen.
„Ich bin Unternehmer und habe geschäftlich in Hamburg zu tun. Meine Firma expandiert und ich bin immer auf der Suche nach neuen Herausforderungen. Übrigens weltweit, wenn Sie verstehen!“, erklärt Carl-Michael erfahren und mit aufgeblähter Brust.
„Ach, Sie sind Unternehmer? In welcher Branche denn?“, hakte Annegret nach.
„Mein Unternehmen ist im Gesundheitswesen tätig. Ich produziere weltweit die besten Pflegeprodukte und vermarkte diese auch auf der ganzen Welt. Ich habe Kunden in Dubai und auf den Philippinen, in Frankreich und in der Schweiz und sogar in Afrika. Überall möchte man mit meinen Produkten arbeiten. In Hamburg habe ich zurzeit noch eine Niederlassung, die ich aber ins Ausland verlegen möchte. Ich bin mir nur noch nicht sicher, in welches Land.“
Während CM weit ausholte und erklärte, man müsse ja auch an die Steuern denken und wolle schließlich nicht nur für das Finanzamt arbeiten, schaute er immer mal wieder auf seine Armbanduhr. Allerdings nicht, weil er müde war oder gar ins Hotel zurück wollte. Der Grund war die Uhr selbst. Ein Erbstück seines Vaters. Das einzige Stück, was er am Morgen vom Schreibtisch seines Vaters in der Villa eingesteckt hatte. Man sah der Uhr den Wert an. Willi hatte diese Uhr von der Belegschaft seiner Firma zum Jubiläum als Geschenk erhalten. Das wusste CM allerdings nicht – ihm war nur die Wertigkeit der Uhr ins Auge gesprungen. Annegret Dahlmann schien er damit jedoch nicht zu beeindrucken. Sie schenkte der Uhr an seinem Arm keinen Blick.
Kurz vor Mitternacht kam der Kellner an den Tisch der beiden letzten Gäste und brachte unaufgefordert die Rechnung. CM bezahlte für sich und nur für sich. Der Kellner hatte Mühe, er war schon sehr müde, die Gesamtrechnung wieder zu teilen. Vor der Tür wartete Carl-Michael auf seine Tischdame.
„Wir können ja gerne noch einmal etwas zusammen unternehmen, wenn es Ihnen recht ist?“, erklärte Annegret und legte dabei ihre Hand auf den Arm von Carl-Michael.
„Vielleicht treffen wir und hier wieder? Morgen? Oder lieber an einem anderen Tag?“
CM war unentschlossen. Er wollte auf keinen Fall zu viel Nähe in Hamburg zulassen. Einzig die Abwicklung der Immobilie und die Übernahme der Firma waren für ihn wichtig. Aber gegen einen weiteren gemeinsamen Abend mit dieser jungen und, das musste er zugeben, attraktiven Frau, hatte er nichts einzuwenden. So verabredeten sich die Zwei für den kommenden Abend. Danach ging jeder seiner Wege.
„Was für ein Tag. Ich bin heilfroh, dass ich diese Beerdigung hinter mich gebracht habe. Wenn die armen Menschen, die so traurig waren, wüssten! Ich bin mir sicher, ich habe das am Friedhof hervorragend gemeistert. Na, der Anwalt oder besser gesagt, der Notar hatte wohl auch nur seinen Feierabend im Kopf. Der hat ja nicht einmal meinen Ausweis angeschaut. Das Glück ist eben auf meiner Seite – ich bin eben ein Glückskind! Hoffentlich bleibt das auch so, für die Zukunft. Ich werde auf der Hut sein – Vorsichtig ist bekanntlich die Mutter der Porzellankiste. Der Weg zum Haus der Kerns, ich hatte das Gefühl erst gestern dort gewesen zu sein. Dabei sind schon so viele Jahre vergangen. Viel mehr als ein viertel Jahrhundert. Und im Haus sah es aus, als wäre die Zeit stehengeblieben. Wie man so leben kann? Wie in einem Museum. Nur alter Schrott und Müll. Da ist wirklich keine Mark mehr mit zu machen. Hoffentlich findet der Makler bald einen Käufer für den Kasten – das Geld kann ich besser gebrauchen. Und diese Alte in dem Haus. Wie konnte sich der Kern mit so einer alten Schlampe umgeben? Egal, Hauptsache ich kriege ordentlich Moos dafür. Ob das wohl eine Million bringt? Bin schon sehr auf die Einschätzung des Maklers gespannt.
Und dann habe ich eine Frau kennengelernt. Annegret Dahlmann. Nicht gerade ein Top-Modell, aber immer noch besser als Plastik. Ich werde sie auf alle Fälle wiedertreffen, wer weiß schon, wozu ich sie noch mal gebrauchen kann. Na und auf den nächsten Termin freue ich mich besonders. Die Firma! Bin schon sehr auf die Bilanzen gespannt. Hoffentlich fragt das Personal nicht so viel, aber ich bin ja der Chef, was soll da schon schief gehen.“
Nebel und Regen, typisch für Hamburg. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln war Herr Kern zur Firma seines verstorbenen Vaters gefahren. Man erwartete ihn bereits mit Spannung. Die Chefsekretärin des verstorbene Willi Kern holte ihn am Empfang ab und geleitete ihn in das Büro.
„Hier hat Ihr Vater gearbeitet, wenn er nicht im Labor war. Wir bedauern den Tod Ihres Vaters alle sehr. Ich möchte Ihnen hier noch einmal mein Beileid aussprechen“, erklärte Hanna Licht und wischte sich dabei eine Träne ab.
„Kann ich die Unterlagen einsehen? Haben Sie eine Bilanz für mich erstellt, eine Zwischenbilanz? Kontoauszüge?“
Herr Kern ließ keinen Zweifel zu. Die Firma war ihm wichtig, alles andere prallte an ihm ab. Auch Hanna Licht erkannte es und deute mit dem ausgestreckten Arm auf ein Sideboard, auf dem sie alle Unterlagen für den neuen Chef zusammengestellt hatte.
„Ich schaue mich jetzt um und lassen Sie bitte alle Labormitarbeiter zu mir kommen. Wie viele Angestellte hat die Firma eigentlich?“, wollte CM wissen.
„Nun, da ist Jens Hardenberg, der Fahrer und Hausmeister, die gute Seele des Betriebes. Und dann ist da Erwin Winter. Er ist für die Logistik und den Versand zuständig. Und ich. Mehr Personal gibt es zurzeit nicht. Ab und an hat Ihr Herr Vater eine Aushilfe beschäftigt, aber das ist schon lange her.“
CM schaute ziemlich verwundert und konnte es kaum verbergen.
„Nun, Ihr Vater hat immer alles alleine gemacht. Er kam als erster und verließ den Betrieb als letzter. All die Jahre. Als er an diesem Donnerstag nicht in seinem Büro saß, als ich das Büro betrat, war mir klar, dass etwas passiert sein musste.“
Wieder zog Hanna Licht das Taschentuch aus dem Ärmel ihrer weißen Bluse und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
„Es gibt also keine Mitarbeiter, die das Labor betreut haben?“, fragte CM verwundert nach.
Die trauernde Sekretärin schüttelte den Kopf und verließ den Raum, der ähnlich antiquiert erschien wie die Villa des Verstorbenen.
Der neue Firmenchef kam langsam auf den Boden seiner ganz persönlichen Tatsachen zurück. Wie hatte er annehmen können, es handle sich bei dem Unternehmen um Größe? Mitarbeiter? Umsätze in Millionenhöhe? Seine Hoffnungen waren gerade zerplatzt.
„Dann muss wohl Plan B her!“, sagte er leise aber gerade noch laut genug, um es selbst zu glauben.
Die Ordner und Unterlagen auf dem Schrank raffte CM in eine alte und sehr abgenutzte Aktentasche, die er gefunden hatte. Ebenso verschwand darin der Inhalt des Schreibtisches, der vorsichtig ausgesprochen, sehr übersichtlich war. Nur eine letzte Tür im kleinen Schrank des verstaubten Raumes blieb ihm verschlossen.
„Frau Licht!“, rief CM in seiner ganz persönlichen Art.
Die Tür öffnete sich unmittelbar und Hanna Licht erschien. Sie hielt noch immer das Taschentuch in ihrer Hand.
„Wie komme ich an diesen Inhalt? Gibt es einen Schlüssel?“, fragte CM kurz und nicht gerade freundlich.
„Ich bitte um Entschuldigung. Den Schlüssel zu diesem Schrank hat der Chef an seinem Schlüsselbund. Es befindet sich der Tresor der Firma dahinter!“, erklärte die Sekretärin mit weinerlicher Stimme.
Fast wäre der Stuhl vor dem Schreibtisch umgefallen, so abrupt stand Carl-Michael auf. Mit forschem Schritt und ohne auch nur noch einen Satz zu sagen, verließ er das Büro und die Firma. Nur die alte Aktentasche klemmte unter seinem Arm!
„Geschafft. Diese Frau Licht. Sehr fade und nicht gerade das, was ich mir als Sekretärin wünschen würde. Zum Glück hatte ich den Schlüssel und konnte in der Nacht ungesehen in die Firma zurückkehren. Den Inhalt des Tresors – das ist jetzt mein Kapital. Die Listen mit den Inhaltsstoffen, ich habe gedacht, dass sich da die ganz großen Geheimnisse verbergen. Aber nur Öl und ein paar Kräuter. Das man damit Geld verdienen kann. Ich werde mir eine neue Produktionsstätte im Ausland suchen, dann kann ich noch mehr absahnen! Wäre doch gelacht, wenn ich das nicht hinbekomme. Und diese Annegret kommt mir gerade recht dabei. Warum eigentlich nicht mal eine Annegret? Und die Zeit arbeitet sowieso für mich. Denen werde ich es schon zeigen.“
Am Abend traf sich CM erneut mit der brünetten Annegret Dahlmann in der kleinen Kneipe in Alsternähe. Absichtlich kam er fast dreißig Minuten zu spät. Seine Entschuldigung kam kurz und knapp: ich habe einfach zu viel zu tun!
„Aber, Sie müssen sich doch nicht rechtfertigen! Als Geschäftsmann ist das doch klar. Ich freue mich, dass Sie es überhaupt einrichten konnten!“, erklärte Annegret.
Die beiden begrüßten sich und CM nahm am kleinen Tisch in der Ecke des Lokals Platz. Der gemeinsame Abend des Paares, so könnte es ein außenstehender Beobachter erklären, verlief kühl aber ohne Streitigkeiten. Warum der junge Unternehmer überhaupt zu diesem Treffen erschienen war, konnte sich Annegret nicht so recht erklären. Als sie aufstand um den Abend zu beenden bat CM sie um einen kurzen Moment Geduld.
„Annegret. Ich weiß, dieser Abend ist alles andere als berauschend. Sie müssen mich entschuldigen, die Beerdigung meines Vaters … Ich muss immer daran denken, wie die Träger den Sarg in dieses dunkle und tiefe Loch gleiten ließen! Es war so schrecklich.“
Während dieser deutlich inszenierten Erklärung schaute Carl-Michael auf den Tisch, nicht zuletzt damit sein Gegenüber nicht in seine Augen schauen konnte.
„Aber, ich bitte Sie! Dafür habe ich doch Verständnis. So etwas hinterlässt Spuren. Bei jedem Menschen.“
So war die angespannte Atmosphäre schneller erklärt, als es sich Herr Kern erhofft hatte. Die beiden nahmen einen gemeinsamen Whisky als letzten Drink und verabschiedeten sich dann. Der Unternehmer ging zurück in sein Hotel und war in seinen Gedanken mit den nächsten Schritten beschäftigt.
Sechs Monate später
Die Hochzeit des deutschen Unternehmers Carl-Michael Kern hatte es nur mit einem kleinen Bericht in die Spalte „Vermischtes“ in der Times geschafft. Die Londoner Bürger interessierten sich nicht für ihren neuen Mitbewohner und seine Frau. In dem unscheinbaren Haus am Rande der Londoner City bewohnten die Frischvermählten nur eine kleine möblierte Wohnung. Annegret vertraute ihrem Mann, der ihr täglich erklärte, dass sich die Fertigstellung ihres neuen gemeinsamen Hauses noch verzögerte. Eigentlich hätte es ja schon vor Wochen bezugsfertig sein sollen, aber die bestellten Fliesen aus Italien wären auf der Überfahrt auf unerklärliche Weise abhandengekommen. Und CM erklärte immer wieder mit ausschweifenden Hand- und Armbewegungen, so könnten sie das Haus auf keinen Fall beziehen.
„Lass uns doch mal hinfahren. Auch wenn das Haus noch nicht fertig ist, ich bin so neugierig. Ich verstehe dich nicht, Carl-Michael. Deshalb ist doch die Überraschung nicht geringer!“, versuchte sie es immer wieder mit Engelszungen.
Aber Carl-Michael blieb stur. Annegret kannte weder die Adresse noch die Pläne für ihr zukünftiges Heim. All ihre Versuche, ihren Mann doch noch dazu zu bringen, ihr das zukünftige Haus zu zeigen, verliefen im Nichts. Wenn Carl-Michael nicht wollte, dann hatte auch seine Frau keine Chance ihn umzustimmen.
„Warum müssen Frauen immer so anstrengend sein? Sie hat doch nun mehr als sie vorher hatte. Ich versorge sie mit Essen und Trinken. Sie hat ein warmes Dach über dem Kopf und was Frau sonst noch so braucht, bekommt sie auch. Besser als vielleicht früher! Warum bohrt sie immer wieder wegen des Hauses? Langsam gehen mir die Argumente aus. Ich werde mir wohl etwas Besseres einfallen lassen müssen. Die Geschichte mit Litauen hat ja geklappt. Billiger geht nicht. Wer weiß, vielleicht fahre ich mal hin und schaue mir vor Ort an, was die da so treiben. Geld stinkt nicht – egal woher es kommt!“
Tagsüber verbrachte der Ehemann seine Zeit an seinem Computer. Er müsse sich ja um die Belange seiner Firma kümmern, erklärte er immer wieder. Schließlich würde sich das ganze Geld ja nicht von alleine verdienen.
Auf der Suche nach einer Stätte für die Produktion der Produkte seiner neuen kleinen Firma Cosmek hatte CM unzählige Telefonate geführt. In Hamburg hatte der Makler bereits kurz nach seiner Abreise einen Käufer für die Immobilie gefunden. Die Produktion wurde dort eingestellt. Sie sollte aus Kostengründen ins Ausland verlagert werden – war die kurze Erklärung, die man auch im Hamburger Abendblatt hatte lesen können. Wie CM es geschafft hatte, einen Kontakt in den Baltischen Staaten zu finden, hatte er seiner Frau nie erklärt. Sie durfte sich grundsätzlich um die Küche und um das Putzen kümmern. Geschäftliche Belange waren Männersache!
„Das geht dich gar nichts an. Ich kümmere mich um die Geschäfte, du kümmerst dich um mich!“, hörte Annegret immer wieder, wenn sie sich bei ihrem Mann nach seinem Erlebten erkundigte.
Irgendwann gab sie auf. Sollte er doch machen, was er wolle. Hauptsache er sei zufrieden und gewähre ihr die freie Zeit, die sie für sich benötigte. Das Geld aus dem Verkauf der Hamburger Villa sollte nun in das neue Haus in England fließen, das hatte Carl-Michael seiner Ehefrau kurz nach der Heirat mitgeteilt. Das Geld war zwischenzeitlich auch auf seinem Privatkonto eingegangen. Die erhoffte Million war es nicht geworden, aber einem geschenkten Gaul, schaut man nicht ins Maul! Herr Kern war nicht dankbar, auch nicht zufrieden, er nahm, was er bekommen konnte.
Annegret war es Leid auf die Traumvilla zu warten und dabei in der kleinen Wohnung zu versauern. Bei ihren Einkäufen, die sie täglich erledigte, es gab keinen Kühlschrank in der kleinen Wohnung, hatte sie ein kleines Café in einer Seitenstraße entdeckt. Dort traf sie sich täglich, außer am Wochenende, mit einem Deutschen auf einen Kaffee und auf ein intensives Gespräch. Sie hatte keine Lust mehr, immer nur den Rücken ihres Frischvermählten zu sehen, der sich krumm vor der Tastatur seines Computers räkelte. Genaugenommen war es CM egal, was seine Frau trieb während sie nicht bei ihm war.
Wen wunderte es da, dass diese Ehe nicht von Erfolg gekrönt war. Annegret war enttäuscht auf alles was sie in London erfahren und erlebt hatte. Immer häufiger ging auch Carl-Michael in der Nacht aus dem Haus. Klar, er blieb seiner Ehefrau die Erklärung für seine nächtlichen Ausflüge schuldig. Kam er in die eheliche Wohnung zurück umgab ihn ein Duft aus Nikotin und Parfüm. Der Duft wechselte, was auf den Besuch eines entsprechenden Etablissements schließen ließ.
Eines Nachts, Annegret hatte wach im Bett gelegen, nahm sie sich vor, diesen Zustand zu beenden. So dürfte es nicht weitergehen. Sie setzte sich auf und wartete auf CM. Als der pfeifend gegen fünf Uhr am Morgen die Wohnung betrat schaute er in das Gesicht seiner Frau, die aufrecht im Bett saß.
„Hattest du schöne Stunden?“, fragte sie schnippisch.
„Was geht dich das an? Ich frage dich auch nicht, was du so machst, wenn du dich in der Stadt rumtreibst. Also, halt die Klappe und lass mich in Ruhe.“
„Ab sofort lasse ich dich für immer und für alle Zeiten in Ruhe! Ich werde dich verlassen und nach Deutschland zurückkehren. Du und England, das sind die größten Fehler meines Lebens!“
Sie fasste auf das kleine Tischchen, das neben dem Bett stand und griff, was sie gerade erreichte. Es war einer der Aschenbecher, die CM überall in der kleinen Wohnung verteilt hatte. Der Ascher traf Carl-Michael am Kopf. Blut spritze und es gab einen unheimlichen Knall, als das Teil auf den Boden schlug. Er blieb unversehrt, zumindest der Aschenbecher. CM hielt sich ein Taschentuch gegen seinen Kopf um das Blut aufzufangen. Am Rande seiner Glatze klaffte eine Wunde, die ihn auch Jahre später noch an diese Nacht erinnern würde.
Am Morgen packte Annegret ihre wenigen Habseligkeiten und verließ London mit dem Zug in Richtung Heimat.
Sie veranlasste die Scheidung, die im gegenseitigen Einverständnis erfolgte. Die beiden Eheleute sahen sich nie wieder.