Mein Dank geht an Peter Windsheimer für das Design des
Titelbildes.
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Da Anion immer wieder sagte, dass manchmal okkulte Geschichten am besten irgendwelche hermetischen Probleme beleuchten, haben wir uns entschlossen, eine wirklich gute Sammlung von okkulten Geschichten und wirklich interessanten und wahren Berichten zu veröffentlichen. Vorab muss ich noch sagen, dass es leider nur sehr wenig okkulte Literatur gibt, die aussagekräftig wäre. Manch ein Buch wird zur Zeit publiziert. Aber unsere kleinen Romane, Kurzgeschichten und Tatsachenberichte würden leider untergehen, da sie großteils unbekannt sind. Sie wurden in den frühen 20igern in okkulten Zeitschriften wie „Psyche“, „Zentralblatt für Okkultismus“, „Prana“, „Weiße Fahne“ und anderen veröffentlicht und wer kann heutzutage schon behaupten, er hat sich da durchgelesen. Wohl die Wenigsten. Aus diesem Grund veröffentlichen wir alle die Geschichten, die gut, sinnreich und die wir gefunden haben. Ich hoffe, unser Leser ist mit dem 15. Band dieser Reihe der Literatur zufrieden.
Anonym
Ein gewisser Mann aus Shen-yu konnte sich an seine frühere Existenz erinnern. Er erzählte: Er war ein Gelehrter gewesen und in mittlerem Alter gestorben, und als er vor dem Richter der Unterwelt erschien, sah er dort die Kessel mit kochendem Öl und andere Folterinstrumente, genau wie es auf Erden geschildert wird. In einer Ecke der Halle standen Gestelle, an denen die Häute von Schafen, Hunden, Ochsen und Pferden aufgehängt waren. Wurde irgendjemand dazu verurteilt, unter einer dieser Formen wieder ins Leben zu treten, zog man seine Haut ab, und eine Tierhaut wurde von dem entsprechenden Gestell genommen und auf seinen Körper geklebt. Dieser Mann nun wurde dazu verdammt, ein Schaf zu werden. Die Teufel hatten ihm bereits eine Schafhaut übergezogen, da teilte der Angestellte, der die Aufzeichnungen über gute und böse Taten führte, dem Richter mit, dass der Verbrecher, der vor ihm stand, einst das Leben eines anderen Menschen gerettet habe. Der Richter studierte die Aufzeichnungen und sagte: „Ich begnadige ihn; zwar sind seine Sünden zahlreich, doch diese eine gute Tat wiegt sie wieder auf.“ Nun versuchten die Teufel, die Schafhaut wieder abzuziehen, doch sie klebte so fest an ihm, dass sie nicht abging. Erst nach großen Mühen – der Mann litt grausame Schmerzen dabei – gelang es ihnen, sie Stück um Stück abzureißen. Nur einen Fetzen, so groß wie eine Menschenhand, mussten sie wohl oder übel auf seiner Schulter lassen. Und als er als Mensch wiedergeboren wurde, trug er sein Leben lang einen großen haarigen Fleck auf der Schulter. Er konnte ihn scheren, so oft er wollte, die Wolle wuchs immer wieder nach.
Anonym
Ein taoistischer Mönch, der unterwegs von der Dämmerung überrascht wurde, suchte Zuflucht in einem kleinen buddhistischen Kloster. Da die Mönchszelle verschlossen war, breitete er seine Matte in der Vorhalle aus und ließ sich darauf nieder. Mitten in der Nacht hörte er, wie jemand die Tür hinter ihm öffnete. Er drehte sich um und sah einen buddhistischen Mönch, der von oben bis unten mit Blut beschmiert war. Dieser schien ihn nicht wahrzunehmen und stieg die Stufen zum Altar hinauf. Dort umarmte er den Kopf einer Buddhastatue und lachte vor sich hin. Als der Morgen anbrach, versuchte der taoistische Mönch, die Mönchszelle zu öffnen. Sie war noch immer verschlossen. Da in ihm der Verdacht aufstieg, dass irgendetwas nicht in Ordnung war, ging er zum nächsten Dorf und erzählte, was er gesehen hatte. Ein paar Männer begleiteten ihn zurück zum Kloster und brachen die Tür der Mönchszelle auf. Da lag der buddhistische Mönch, blutverschmiert, vor ihnen. Er war offensichtlich von Räubern ermordet worden. Sie hatten alles mitgenommen, was nicht niet- und nagelfest war. Doch warum hatte das Gespenst des Mönchs, als es die Buddhastatue umarmte, gelacht? Sie untersuchten die Statue am Altar und entdeckten an ihrem Hinterkopf ein kleines Zeichen. Sie bohrten weiter und fanden im Kopf des Buddhas über dreißig Unzen Silber. Von diesem Geld erhielt der ermordete Mönch ein stattliches Begräbnis.
Anonym
Für die Gläubigen der jahrhundertealten Religion des tibetanischen Buddhismus ist der Dalai-Lama, ein Wesen, halb Mensch und halb Gott, die Verkörperung von spirituellem Führertum und Vollkommenheit. Seine Bedeutung rührt von der buddhistischen Lehre der Reinkarnation her.
Das Endziel der Reinkarnation ist für die Buddhisten das Nirwana, ein Zustand, in dem alle karmischen Bedürfnisse des menschlichen Lebens befriedigt sind und die Seele in einem Zustand der Erleuchtung Ruhe findet. Fortgeschrittenere Seelen können jedoch auch zu dem Entschluss kommen, im Kreis der Reinkarnationen zu bleiben, um anderen Seelen auf ihrem Weg ins Nirwana zu helfen. Der Heiligste dieser sogenannten Bodhisattwas ist Awalokiteschwara, der Bodhisattwa des Mitleids. Jeder Dalai-Lama in der Geschichte des Buddhismus ist nach diesem Glauben eine Reinkarnation des Awalokiteschwara.
Beim Tod eines Dalai-Lama befragen die Mönche Orakel, um herauszufinden, in welchem Kind der Geist des Awalokiteschwara wiedergeboren wurde. Sobald das Kind gefunden ist, wird es Prüfungen unterzogen, um festzustellen, ob der Geist wirklich in ihm wohnt, und um festzulegen, ob es der neue Dalai-Lama werden kann. Das Ritual verlangt von dem Kind, aus einer bunten Mischung von Gegenständen die Habseligkeiten seines Vorgängers herauszufinden. Dies ist möglich, weil Bodhisattwas, im Gegensatz zu anderen Sterblichen, die Erinnerung an ihr vergangenes Leben behalten.
Um den Dalai-Lama ranken sich noch viele andere Geschichten. Als etwa die chinesische Rote Armee 1950 endgültig die Herrschaft in China an sich riss, erneuerte sie in einem Vertrag mit dem Dalai-Lama die chinesische Oberherrschaft über Tibet. Die Tibetaner leisteten zwar weiterhin Widerstand, wurden 1959 aber endgültig besiegt. Eine der Folgen des chinesischen Sieges wäre unter anderem die Gefangennahme des Dalai-Lama, des geistlichen Oberhaupts von Millionen von Tibetanern und Chinesen, gewesen. Aber die Chinesen konnten ihn nie gefangennehmen, obwohl er mit großem Gefolge reiste, das die chinesischen Sondereinheiten mit ihren modernen Flugzeugen leicht hätten aufspüren können. Als der Dalai-Lama nämlich den Gebirgspass erreichte, der nach Indien in die Freiheit führte, hüllte plötzlich ein unerwarteter dichter Nebel die Grenze ein, so dass er von den Flugzeugen aus nicht mehr zu sehen war, und ein Schneesturm machte seine Spuren für die Verfolgertruppen unkenntlich.
Er ließ sich in Indien nieder, und dort lebt er auch heute noch, moralisch gestärkt in seinem Anspruch auf die Oberhoheit über Tibet und ganz offensichtlich beschützt von den tibetanischen Göttern des Schnees und des Nebels.
C. A. Smith
Malygris, der Magier, saß im obersten Raum seines Turmes, welcher auf einem konischen Hügel über dem Herzen von Susran, der Hauptstadt von Poseidonis, errichtet war. Gearbeitet aus einem tief in der Erde geschürften dunklen Gestein, dauerhaft und hart wie der sagenhafte Adamant, so ragte dieser Turm über alle anderen empor und warf seinen Schatten weit auf die Dächer und Kuppeln der Stadt, geradeso, wie auch die unheilvolle Macht des Malygris ihre Dunkelheit auf den Verstand der Menschen geworfen hatte.
Jetzt war Malygris alt, und die gesamte verderbenbringende Macht seines Zauberwerks, all die schrecklichen oder sonderbaren Dämonen unter seiner Herrschaft, all die Furcht, die er in den Herzen von Königen und Priestern bewirkt hatte, genügten nicht mehr, die finstere Langeweile seiner Tage zu lindern. In seinem Thronsessel, gearbeitet aus dem Elfenbein des Mastodons, verschönt mit Einlegearbeiten aus bedrohlichen kryptischen Runen aus roten Turmalinen und azurblauen Kristallen, starrte er missmutig durch das einzige rautenförmige Fenster aus rötlich-goldenem Glas. Die bleichen Augenbrauen waren auf dem umbrafarbenen Pergament seines Gesichts zu einem einzigen Strich zusammengezogen, darunter glühten seine Augen kalt und grün wie das Eis uralter frostiger Schollen; sein Bart, halb weiß, halb von einem Schwarz mit bläulichgrünem Schimmer, wallte bis fast zu seinen Knien hinab und verbarg viele der sich windenden, schlangenartigen Buchstaben, welche in geflochtenem Silber quer über die Brust seines violetten Gewandes eingeschrieben waren. Um ihn her fand sich all das Zubehör seiner Kunst verstreut: Die Schädel von Menschen und Ungetümen, Flakons, gefüllt mit dunklen oder bernsteinhellen Flüssigkeiten, deren gotteslästerliche Verwendung niemandem außer ihm selbst bekannt war, kleine Trommeln aus der Haut des Geiers, und aus den Knochen und Zähnen des Cockodrill hergestellte Rasseln, welche ihre Verwendung erfuhren in der Begleitung bestimmter Beschwörungen. Der Mosaikboden war teilweise bedeckt mit den Häuten riesiger, schwarzsilberner Menschenaffen, und über dem Portal, da hing der Kopf eines Einhorns, in welchem der Familiaris-Dämon des Malygris hauste, ein Dämon in Gestalt einer Korallenviper mit hellgrünem Bauch und aschfarbenen Sprenkeln. Allüberall waren Bücher gestapelt: Uralte Folianten, in Schlangenleder gebunden, mit grünspanzerfressenen Schnallen, die das scheußliche überlieferte Wissen von Atlantis beinhalteten; die Pentagramme, die Macht verleihen über die Dämonen der Erde und des Mondes, jene Zauberformeln, die die Elemente wandeln oder zerspalten, und die Runen einer untergegangenen Sprache von Hyperborea, die, wurden sie laut ausgesprochen, tödlicher waren als Gift oder stärker als jeder Zaubertrank.
Doch obgleich diese Gegenstände und die Macht, die sie enthielten oder symbolisierten, der Schrecken der Völker und der Neid aller rivalisierenden Magier waren, wogten die Gedanken des Malygris düster vor unstillbarer Melancholie, und Überdruss füllte sein Herz, wie Asche einen Herd füllt, dort, wo ein großes Feuer erloschen ist. Unbeweglich saß er, unerbittlich sann er, während die Nachmittagssonne, die sich auf die Stadt und auf das Meer vor der Stadt senkte, mit Herbststrahlen durch das Fenster aus grünlichgelbem Glas schlug und seine geschrumpften Hände mit ihrem Scheingold berührte und die Rubinkugeln seiner Ringe entflammten, bis sie glühten wie dämonische Augen. Doch in seinem Sinnen gab es weder Licht noch Feuer; und indem er sich vom Grau der Gegenwart abwandte, von der Dunkelheit, die sich so drohend auf die Zukunft zu legen schien, tastete er in den Schatten der Erinnerung, ganz so wie ein Blinder, der die Sonne verloren hat und sie allüberall vergebens sucht. Und alle Perspektiven auf jene Zeit, die so voller Gold und Glanz gewesen war, die Tage des Triumphes, die gefärbt waren wie emporsteigende Flammen, das Karmesin und der Purpur der reichen, herrlichen Jahre seiner Blütezeit, all dies war jetzt kalt und düster und seltsam verblasst, und das Erinnern daran war nichts weiter als das Stochern in erloschener Glut. Und so tastete sich Malygris zurück in die Jahre seiner Jugend, in die nebelhaften, fernen, unglaublichen Jahre, dorthin, wo, gleich einem fremden Stern, eine Erinnerung noch mit unerschöpflichem Glanz brannte – die Erinnerung an das Mädchen Nylissa, welches er in jenen Tagen, da die Gier nach unerlaubtem Wissen und Herrschaft über die Schwarze Kunst noch nicht in seine Seele eingedrungen gewesen war, geliebt hatte. Jahrzehntelang hatte er sie über den unzähligen Beschäftigungen eines so bizarr mannigfaltigen Lebens nahezu vergessen gehabt – eines Lebens, das so angefüllt war mit okkulten Geschehnissen und Mächten, mit übernatürlichen Siegen und Gefahren; doch jetzt, beim bloßen Gedanken an dieses schlanke und unschuldige Kind, das ihn so inniglich geliebt hatte, als auch er jung und schlank und ohne Falsch gewesen war, und das genau am Vorabend ihres Hochzeitstages an einem jähen, rätselhaften Fieber gestorben war, nahm das mumienhafte Umbra seiner Wangen eine phantomhafte Rötung an, und tief unten, in seinen frostigen Augäpfeln, glomm ein Funkeln wie von Begräbnis-Kerzen. In seinen Träumen erhoben sich die unwiederbringlichen Sonnen der Jugend empor, und er schaute das mythenschattige Tal von Meros und den Bach Zemander, an dessen immergrünem Ufer er zur Abendzeit mit Nylissa spazierengegangen war und die Geburt von sommerlichen Sternen am Himmel gesehen hatte . . . jenen Bach und die Augen seiner Geliebten.
Heute jedoch, indem sich Malygris der dämonischen Viper zuwandte, welche im Kopfe des Einhorns lebte, sprach er mit dem leisen, monotonen Stimmenklang eines Menschen, der laut denkt:
„Viper, in den Jahren, bevor du kamst, bei mir zu wohnen und deinen Aufenthalt im Kopf des Einhorns zu nehmen, da kannte ich ein Mädchen, welches lieblich war und zart wie die Orchideen des Dschungels, und welches gestorben ist, so wie die Orchideen sterben . . . Viper, bin ich nicht Malygris, in welchem die Beherrschung aller okkulten Lehre, aller verbotenen Macht, vereinigt ist, welcher Gewalt hat über die Geister von Erde, Meer und Luft, über die Sonnen- und Mond-Dämonen, über die Lebenden und die Toten? Wenn es mich danach gelüstet – vermag ich das Mädchen Nylissa nicht zu rufen . . . ganz in Gestalt all ihrer Jugend und Schönheit, vermag ich sie nicht hervorzuholen aus den unveränderlichen Schatten des dunklen Grabes, auf dass sie vor mir stehe in diesem Raum, in ebendiesen Abendstrahlen der herbstlichen Sonne?“
„Doch, Meister“, erwiderte die Viper mit leisem, jedoch einzigartig durchdringendem Zischen, „Ihr seid Malygris, und alle zauberische oder nekromantische Macht ist Euer, alle Beschwörungen und Zaubersprüche und Pentagramme sind Euch bekannt. Es ist möglich, wenn Euch danach verlangt, das Mädchen Nylissa aus ihrer Wohnstatt bei den Toten heraufzubeschwören und sie wieder zu gewahren, wie sie war, bevor ihre Schönheit den lechzenden Kuss des Wurmes erfuhr.“
„Viper, ist es gut, ist es passend, dass ich sie auf diese Art herbeibeschwöre? Wird es nichts zu verlieren geben, nichts zu bedauern?“
Es schien, als zögere die Viper. Dann, mit einem langsameren und gemesseneren Zischeln: „Es ist passend für Malygris, zu tun, wie ihm dies beliebt. Wer außer Malygris vermag zu entscheiden, ob eine Sache gut sei oder schlecht?“
„Mit anderen Worten, du willst mir nicht raten?“ Der Zweifel war genauso sehr eine Feststellung wie eine Frage, und die Viper ließ sich zu keiner weiteren Äußerung herab.
Malygris grübelte eine Weile, das Kinn auf den verschlungenen Fingern. Dann erhob er sich mit einer seit langem nicht mehr gewohnten Schnelligkeit und Sicherheit der Bewegung, die seine Runzeln Lügen strafte, und holte aus verschiedenen Ecken des Raumes, aus Ebenholzregalen, aus Kästchen mit Schlössern aus Gold oder Messing oder Gold-Silber-Legierung die verschiedenen Zubehörteile herbei, welche für seine Magie vonnöten waren. Auf den Boden zeichnete er die erforderlichen Kreise, und als er im mittleren hiervon stand, entzündete er die Weihrauchbehältnisse, in welchen das vorgeschriebene Räucherwerk enthalten war, und rezitierte laut aus einer langen, schmalen Schriftenrolle grauen Pergaments die purpurnen und zinnoberroten Runen des Zauberrituals, welches die Dahingeschiedenen ruft. Die Rauchschwaden aus den Räuchertöpfen, blau und weiß und violett, stiegen in dichtem Wallen empor und erfüllten den Raum sogleich mit sich stets windenden, wechselnden Säulen, zwischen welchen das Sonnenlicht schwand und ersetzt wurde von einem fahlen, unirdischen Glimmen, bleich wie das Licht der Monde, welche aus dem Fluss des Vergessens emporsteigen. Mit außergewöhnlicher Bedachtsamkeit, mit unmenschlicher Feierlichkeit, fuhr die Stimme des Totenbeschwörers in einem priesterhaften Gesang fort, bis die Schriftenrolle gelesen war und die letzten Echos schwanden und in hohlen Grabesschwingungen verklangen. Sodann versiegten die farbigen Dämpfe, als wären die Falten eines Vorhanges zurückgezogen worden. Allein das bleiche, unirdische Leuchten erfüllte nach wie vor den Raum, und zwischen Malygris und jener Tür, wo der Kopf des Einhorns hing, stand die Erscheinung Nylissas, ganz so, wie sie in den dahingegangenen Jahren gewesen war, ein wenig gebeugt, wie eine vom Wind zerzauste Blüte, und mit der sorglosen Schmerzlichkeit der Jugend lächelnd. Zart, blass und einfach gewandet, mit Anemonenblüten im schwarzen Haar, mit Augen, welche das neugeborene Azur von Frühlingshimmeln enthielten, so war sie all das, was in der Erinnerung des Malygris geborgen gewesen war, und sein schwerfälliges Herz wurde von einem alten, herrlichen Fieber beschleunigt, als er sie betrachtete.
„Bist du Nylissa“, fragte er, „jene Nylissa, welche ich im myrten-schattigen Tal von Meros geliebt habe, in den glückseligen Tagen, die mit allen toten Äonen in den zeitlosen Abgrund gegangen sind?“
„Ja, ich bin Nylissa.“ Ihre Stimme war das schlichte und vibrierende Silber jener Stimme, die so lange in seiner Erinnerung gehallt hatte . . . Doch irgendwie, noch während er starrte und lauschte, da wuchs ein winziger Zweifel – ein Zweifel, nicht weniger absurd als unerträglich, jedoch trotzdem beharrlich: War dies ganz und gar jene Nylissa, die er gekannt hatte? Gab es da nicht eine flüchtige Veränderung, zu gering, um genannt oder bestimmt zu werden – hatten die Zeit und das Grab nicht irgendetwas von ihr genommen . . . ein namenloses Etwas, welches von seiner Magie nicht mehr ganz und gar hatte wiederhergestellt werden können? Waren diese Augen so sanft, war das schwarze Haar so glänzend, die Gestalt so sanft und geschmeidig wie die jenes Mädchens, das er in seiner Erinnerung trug? Er vermochte nicht sicher zu sein, und dem zunehmenden Zweifel folgten ein bleiernes Entsetzen, ein schlimmes Verzagen, welche sein Herz wie mit Asche erstickten. Sein prüfender Blick wurde forschend und kritisch und grausam, und augenblicklich war das Phantom immer weniger das vollkommene Ebenbild Nylissas, augenblicklich waren die Lippen weniger liebreizend, weniger fein in ihrer Geschwungenheit; die schlanke Gestalt wurde dünn, die Zöpfe nahmen ein gewöhnliches Schwarz an und der Hals eine ebenso gewöhnliche Blässe. Und die Seele des Malygris wurde abermals krank vor Alter und Verzweiflung – und dem Tod seiner dahinschwindenden Hoffnung. Er konnte nicht mehr an Liebe oder Jugend oder Schönheit glauben, und selbst die Erinnerung an solcherlei Dinge war allein ein zweifelhaftes Trugbild, etwas, das gewesen sein konnte oder auch nicht. Nichts war übrig außer Schatten und Grau und Staub, nichts außer der leeren Dunkelheit und der Kälte und ein drückendes Gewicht unsäglicher Müdigkeit – nicht heilbaren Schmerzes.
Mit Betonungen, welche schwach und zitternd klangen, ähnlich dem Gespenst seiner vorherigen Stimme, sprach er jenen Zauberspruch aus, der dazu dient, einen herbeigerufenen Geist zu entlassen. Die Gestalt Nylissas schmolz in der Luft wie Rauch, und der Mondenglanz, welcher sie umschmeichelt hatte, wurde durch die letzten Strahlen der Sonne ersetzt. Malygris wandte sich an die Viper und sprach in einem Tonfall melancholischen Vorwurfs:
„Warum hast du mich nicht gewarnt?“
„Hätte diese Warnung denn genützt?“, lautete die Gegenfrage. „Alles Wissen war Euer, Malygris, alles – bis auf diese eine Sache, und auf keine andere Weise hättet Ihr sie erfahren können.“
„Welche Sache?“, fragte der Magier. „Ich habe nichts erfahren außer der Nichtigkeit der Weisheit, der Ohnmacht der Magie, der Wertlosigkeit der Liebe und des Trugs der Erinnerung . . . Sage mir, warum konnte ich nicht dieselbe Nylissa ins Leben zurückrufen, die ich kannte oder die ich gekannt zu haben meinte?“
„Es war leibhaftig Nylissa, welche Ihr gerufen und gesehen habt“, entgegnete die Viper. „Bis zu dieser Stelle war Eure Totenbeschwörung mächtig, doch könnte Euch kein Totenbeschwörungs-Zauber die eigene verlorene Jugend oder das leidenschaftliche und arglose Herz zurückrufen, das Nylissa liebte, oder jene feurigen Augen, die sie damals wahrnahmen. Dies, mein Meister, war die Sache, die Ihr lernen musstet.“
H. P. Lovecraft –
hermetisch abgerundet von H.S.
Ob die Träume das Fieber brachten oder das Fieber die Träume, wusste Walter Gilman nicht. Hinter allem lauerte das bedrückende, schwelende Grauen vor dieser uralten Stadt und dem modrigen, unheimlichen Zimmer unter dem Dachgiebel, in dem er schrieb, studierte und mit Zahlen und Formeln rang, wenn er sich nicht gerade auf dem dürren Eisenbett herumwälzte. Die Empfindlichkeit seines Gehörs steigerte sich in einem übernatürlichen und unerträglichen Ausmaß, und er hatte längst die billige Uhr auf dem Kaminsims angehalten, deren Ticken ihm allmählich wie Kanonendonner vorgekommen war. In der Nacht trugen die gedämpften Geräusche, die aus der schwarzen Stadt zu ihm heraufdrangen, das unheimliche Getrippel der Ratten in den wurmstichigen Trennwänden und das Knarren unsichtbarer Balken in dem jahrhundertealten Haus dazu bei, ihm das Gefühl zu geben, er sei ringsum von unerträglichem Höllenlärm umgeben. Die Dunkelheit war immer von einem Durcheinander unerklärlicher Geräusche erfüllt, und doch zitterte er manchmal vor Furcht, die Geräusche, die er hörte, könnten verstummen und bestimmte andere, schwächere Geräusche an sein Ohr bringen, die er hinter dem Lärm verborgen wähnte. Er war in der zeitlosen, verwunschenen Stadt Arkham mit ihren dichtgedrängten Walmdächern, die sich ausladend über Dachstuben wölbten, wo sich Hexen vor den Häschern des Königs verborgen hatten in längstvergangenen, dunklen Epochen der Geschichte dieser Provinz. Überdies gab es in der ganzen Stadt keinen Ort, der so sehr von makabren Erinnerungen durchdrungen gewesen wäre wie die Dachstube, in der er hauste – denn es waren dieses Haus und dieses Zimmer gewesen, in denen auch die alte Keziah Mason gehaust hatte, deren Flucht aus dem Gefängnis von Salem bis zum heutigen Tage nicht aufgeklärt ist. Das war im Jahre 1692 gewesen – der Gefängniswärter hatte den Verstand verloren und von einem zottigen, kleinen Ding mit weißen Zähnen gefaselt, das aus Keziahs Zelle getrippelt kam, und nicht einmal Cotton Mather konnte die Kurven und Winkel erklären, die mit einer roten, stinkenden Flüssigkeit an die grauen Steinwände geschmiert worden waren. Vielleicht hätte Gilman nicht so angestrengt studieren sollen. Nichteuklidische Geometrie und Quantenphysik reichen schon aus, um ein Gehirn zu strapazieren; wenn man sie aber noch mit Volkskunde vermischt und versucht, einen seltsamen Hintergrund mehrdimensionaler Realität hinter den gräulichen Andeutungen der gotischen Sagen und den abenteuerlichen Geschichten aus der Ofenecke aufzuspüren, kann man kaum erwarten, ganz von seelischen Spannungen verschont zu bleiben. Gilman stammte aus Haverhill, aber er begann erst nach seinem Eintritt in das College von Arkham seine Mathematikstudien mit den fantastischen Legenden uralter Magie zu verknüpfen. Irgend etwas in der Atmosphäre dieser altersgrauen Stadt übte einen seltsamen Einfluss auf seine Vorstellungswelt aus. Die Professoren an der Miskatonic-Universität hatten ihn gedrängt, sich ein wenig Erholung zu gönnen, und von sich aus sein Pensum in manchen Fächern gekürzt. Außerdem hatten sie ihn daran gehindert, weiter in den mysteriösen alten Büchern über verbotene Dinge herumzustöbern, die in einem Gewölbe der Universitätsbibliothek unter Verschluss lagen. Aber all diese Vorsichtsmaßnahmen kamen ein wenig spät, da er bereits aus dem gefürchteten „Necronomicon“ von Abdul Alhazred, dem fragmentarischen „Buch von Eibon“ und aus von Junzts „Unaussprechlichen Kulten“ einige unheimliche Andeutungen entnommen hatte, die er zu seinen abstrakten Formeln über die Eigenschaften des Raums und die Verbindung bekannter und unbekannter Dimensionen in Beziehung setzen konnte.
Er wusste, dass sein Zimmer in einem alten Hexenhaus war – das war sogar der Grund gewesen, weshalb er es genommen hatte. Im Archiv der Grafschaft Essex gab es umfangreiches Material über Keziah Masons Prozess und was sie unter der Folter dem Gericht von Oyer und Terminer gestanden hatte, faszinierte Gilman über alle Maßen. Sie hatte dem Richter Hathorne von Linien und Kurven erzählt, von Runen, die einem den Weg über die Grenzen des Raums in andere Raumsysteme zeigen konnten, und hatte behauptet, dass solche Kurven und Linien oft bei mitternächtlichen Treffen im dunklen Tal des weißen Steins jenseits von Meadow Hill und auf der unbewohnten Insel im Fluss verwendet wurden. Sie hatte auch von dem Schwarzen Mann, ihrem Eid und ihrem neuen Geheimnamen Nahab gesprochen. Dann hatte sie diese Zeichen auf die Wand ihrer Zelle gemalt und war verschwunden.
Gilman glaubte an die seltsamen Geschichten über Keziah und hatte eine sonderbare Erregung verspürt, als er erfuhr, dass ihr Haus nach mehr als zweihundertfünfunddreißig Jahren noch immer stand. Als er hörte, wie man in Arkham über Keziahs beharrliches Spuken in dem alten Haus und in den engen Straßen tuschelte, über die unregelmäßigen Bissspuren von menschlichen Zähnen an Leuten, die in diesem oder in anderen Häusern schliefen, über die kindlichen Schreie, die um den ersten Mai und um Allerheiligen gehört wurden, über den Gestank, der oft kurz nach diesen gefürchteten Tagen im Dachgeschoss des Hauses bemerkt wurde, und über das kleine, zottige, scharfzahnige Ding, das das moderne Gemäuer heimsuchte und komischerweise die Leute in den dunklen Stunden vor Tagesanbruch mit der Schnauze stieß, beschloss er, in diesem Haus zu wohnen, koste es, was es wolle. Ein Zimmer war leicht zu bekommen, denn das Haus war unbeliebt und schwer zu vermieten und wurde schon seit längerer Zeit als billige Unterkunft verwendet. Gilman hätte nicht sagen können, was er dort erwartete, aber er wollte in dem Gebäude wohnen, in dem irgendein Umstand einer ganz gewöhnlichen alten Frau mehr oder weniger unerwartete mathematische Einsichten verschafft hatte, die vielleicht tiefer waren als die modernen Errungenschaften von Planck, Heisenberg, Einstein und de Sitter.
Er untersuchte die Holz- und Gipswände an jeder zugänglichen Stelle, wo die Tapete abgeblättert war, auf Spuren von kryptischen Runen-Zeichnungen, und innerhalb einer Woche gelang es ihm, die östliche Dachkammer zu bekommen, in der nach landläufiger Meinung Keziah ihre Zauberkunststücke vollbracht hatte. Sie stand leer – denn niemand hatte jemals längere Zeit darin wohnen wollen –, aber der polnische Besitzer des Hauses war vorsichtig geworden und wollte sie nicht vermieten. Doch Gilman geschah rein gar nichts – bis sich das Fieber einstellte. Keine geisterhafte Keziah flatterte durch die düsteren Gänge und Zimmer, kein kleines, zottiges Ding kroch in seine triste Behausung unterm Dach, um ihn mit der Schnauze zu stoßen, und seine ständige Suche wurde durch keine Überbleibsel von den rituellen Zauberformeln der Hexe belohnt. Manchmal ging er durch die dunklen Labyrinthe der ungepflasterten, modrig riechenden Gassen, in denen unheimliche, braune Häuser von unbestimmbarem Alter sich windschief aneinanderlehnten und ihn aus winzigen, schmalen Fenstern hämisch anglotzten. Er wusste, dass hier früher einmal seltsame Dinge passiert waren, und er hatte die dunkle Ahnung, dass vielleicht noch nicht alles von dieser ungeheuerlichen Vergangenheit spurlos verschwunden war – zumindest nicht in der dunkelsten, engsten und winkligsten dieser Gassen. Er ruderte auch zweimal zu der berüchtigten Insel im Fluss hinaus und skizzierte die einzigartigen Winkel der bemoosten Reihen grauer, aufgestellter Steine, deren Ursprung sich in dunklen, unvordenklichen Zeiten verliert.
Gilmans Zimmer war geräumig, hatte aber eine seltsam unregelmäßige Form; die Nordwand verlief von der Ecke aus schräg nach innen, während die niedrige Decke in derselben Richtung abfiel. Außer einem klar erkennbaren Rattenloch und weiteren Löchern, die jedoch zugestopft worden waren, gab es keinen Zugang – und auch keinerlei Anzeichen für einen früheren Zugangsweg – zu dem Hohlraum, der sich zwischen der schrägen Wand und der nördlichen Außenseite des Hauses befinden musste, obwohl von außen zu sehen war, dass an dieser Wand vor langer Zeit einmal ein Fenster zugemauert worden war. Der Dachboden über der Decke – der einen abschüssigen Fußboden haben musste – war ebenso unzugänglich. Als Gilman auf einer Leiter in den waagerechten Dachboden über dem übrigen Dachgeschoss hinaufstieg, entdeckte er hinter vielen Spinnweben eine Stelle, wo früher ein Durchgang gewesen sein musste, der aber jetzt mit schweren, alten Bohlen und den für die koloniale Zimmermannsarbeit typischen klobigen Holzpflöcken verschlossen war. Und obwohl er mit Engelszungen auf den phlegmatischen Hauswirt einredete, erlaubte er ihm nicht, diese Hohlräume zu untersuchen. Mit der Zeit beschäftigten ihn die Wand und die Decke seines Zimmers, die beide so unregelmäßig verliefen, immer mehr; denn er las allmählich in diese seltsamen Winkel eine mathematische Bedeutung hinein, die ihm vage Hinweise auf ihren Zweck zu geben schien. Die alte Keziah, so überlegte er, mochte gute Gründe dafür gehabt haben, in einem Raum mit ungewöhnlichen Winkeln zu leben; denn hatte sie nicht behauptet, sie könne durch bestimmte Winkel die Grenzen der uns bekannten räumlichen Welt überschreiten? Nach und nach wandte sich jedoch sein Interesse von den unergründeten Hohlräumen hinter den schrägen Wänden ab, weil es jetzt so schien, als läge der Sinn dieser geneigten Flächen auf der Seite, auf der er sich befand.
Die leichten Anfälle von Gehirnfieber und die Träume traten zum ersten Mal im Februar auf. Eine Zeitlang hatten offensichtlich die seltsamen Winkel des Zimmers einen merkwürdigen, beinahe hypnotischen Einfluss auf ihn ausgeübt; und als der rauhe Winter kam, hatte er sich immer öfter dabei ertappt, dass er angestrengt in die Ecke starrte, in der die schräge Wand und die abfallende Decke sich trafen. Zu dieser Zeit machte ihm seine Unfähigkeit, sich auf seine eigentlichen Studienfächer zu konzentrieren, sehr zu schaffen. Und seine Befürchtungen im Hinblick auf die Zwischen-Examina wurden immer schlimmer. Aber kaum weniger lästig war die Überempfindlichkeit seines Gehörs. Das Leben war zu einer andauernden, fast unerträglichen Kakophonie geworden, begleitet von der beunruhigenden Vorstellung, dass andere Töne – vielleicht aus Gegenden außerhalb des Lebens – fast unhörbar in allen Geräuschen mitschwangen. Was die konkreten Geräusche betraf, so waren die Ratten in den alten Trennwänden am schlimmsten. Manchmal schien ihr Gekratze nicht nur heimlich, sondern auch geradezu mutwillig. Wenn es hinter der schrägen Nordwand hervorkam, war es von einem trockenen Geklapper begleitet; kam es aber aus dem seit Jahrhunderten verschlossenen Hohlraum über der geneigten Decke, dann nahm Gilman seine ganze Kraft zusammen, so als ob er ein Ungeheuer erwarte, das nur noch den richtigen Augenblick abpassen musste, um herabzusteigen und ihn zu überwältigen.
Die Träume waren jenseits aller Vernunft, und Gilman meinte, sie seien eine Folge der Verbindung seines Mathematikstudiums mit dem der Volkskunde. Er hatte zu viel nachgedacht über die unbekannten Regionen jenseits der uns bekannten drei Dimensionen, deren Existenz er aus seinen Formeln herauslas, und über die Möglichkeit, dass die alte Keziah Mason – von irgendeiner rätselhaften Macht geleitet – tatsächlich den Zugang zu diesen Regionen gefunden hatte. Die vergilbten Grafschafts-Archive, in denen ihre Aussage und die ihrer Ankläger festgehalten waren, enthielten so dunkle Andeutungen von Dingen jenseits aller menschlichen Erfahrung – und die Beschreibungen des umherflitzenden, zottigen kleinen Dings, das in ihrer Begleitung erschien, waren trotz der unglaubwürdigen Einzelheiten so quälend realistisch.
Dieses Ding – nicht größer als eine ausgewachsene Ratte und von den Leuten in der Stadt kurioserweise „Brown Jenkin“ genannt – schien die Ausgeburt eines bemerkenswerten Falles von Massensuggestion gewesen zu sein, denn im Jahre 1692 hatten nicht weniger als elf Personen bezeugt, es gesehen zu haben. Es gab auch neuere Gerüchte, die einen verblüffenden Grad von Übereinstimmung aufwiesen. Die Augenzeugen sagten, es habe lange Haare und den Körper einer Ratte, aber sein bärtiges Gesicht, in dem es spitze Zähne trage, sei bösartig menschlich und seine Pfoten sähen aus wie kleine Menschenhände. Es fungiere als Nachrichtenüberbringer zwischen der alten Keziah und dem Teufel und nähre sich von dem Blut der Hexe, das es wie ein Vampir einsauge. Seine Stimme sei ein widerwärtiges Gekicher, und es beherrsche sämtliche Sprachen. Von all den monströsen Ungeheuerlichkeiten in Gilmans Träumen erfüllte ihn nichts mit mehr Entsetzen und Ekel, als dieser gotteslästerliche Bastard, dessen Abbild in tausendfach schlimmerer Form durch seine Träume geisterte, als er es sich mit wachem Verstand jemals nach den alten Zeugnissen und den neueren Gerüchen ausgemalt hätte.
Gilmans Träume bestanden großenteils darin, dass er in unendliche Abgründe von seltsam gefärbtem Zwielicht und chaotischen Tönen eintauchte; Abgründe, deren materielle und gravitationsmäßige Eigenschaften und deren Beziehung zu seiner eigenen Existenz er sich nicht im Geringsten erklären konnte. Er ging nicht und kletterte nicht, er schwamm, kroch und schlängelte sich nicht; doch er erlebte immer das Gefühl seiner teils freiwilligen, teils unfreiwilligen Bewegung. Aus seiner Körperhaltung konnte er kaum Schlüsse ziehen, denn durch eine sonderbare Verzerrung der Perspektive war ihm immer die Sicht auf seine Arme, Beine und seinen Körper genommen; aber er spürte, dass seine physischen Anlagen und Fähigkeiten auf eine wunderbare Art verwandelt und verschoben waren – wenn auch nicht ohne eine gewisse groteske Beziehung zu seinen normalen Proportionen und Eigenschaften.
Die Abgründe waren keineswegs leer, sondern wimmelten von unbeschreiblich winkligen Massen seltsam gefärbter Substanz, von denen manche organisch, andere dagegen anorganisch zu sein schienen. Einige der organischen Objekte weckten undeutliche Erinnerungen in seinem Unterbewusstsein, aber er konnte sich keine bewusste Vorstellung davon machen, worin diese irritierende Ähnlichkeit bestand. In den späteren Träumen begann er verschiedene Kategorien zu unterscheiden, in welche die organischen Objekte anscheinend unterteilt waren, und deren jede von einer grundlegend anderen Art von Verhalten und Antrieb gekennzeichnet schien. Eine dieser Kategorien schien Objekte einzuschließen, deren Bewegungen etwas weniger unlogisch und beziehungslos schienen als die der anderen Objekte.
Alle Objekte – ob organisch oder anorganisch – entzogen sich jeder Beschreibung und erst recht jedem Verständnis. Gilman verglich manchmal die anorganischen Objekte mit Prismen, Labyrinthen, Ansammlungen von Würfeln und Flächen und mit zyklopischen Bauwerken; und die organischen Dinge erschienen ihm als Gruppen von Blasen, Oktopoden, Hundertfüßern, lebenden Hindu-Symbolen und Arabesken, die zu einem schlangenhaften Leben erweckt worden waren. Alles, was er sah, war unsagbar bedrohlich und furchterregend; und immer wenn er aus den Bewegungen eines der organischen Wesen schließen konnte, es habe ihn bemerkt, überfiel ihn nacktes Entsetzen, das ihn gewöhnlich schlagartig erwachen ließ. Darüber, wie die organischen Wesen sich bewegten, konnte er genauso wenig sagen wie über seine eigenen Bewegungen. Nach einiger Zeit bemerkte er eine weitere geheimnisvolle Besonderheit – die Neigung mancher Wesen, plötzlich aus dem leeren Raum aufzutauchen oder mit gleicher Unvermitteltheit spurlos zu verschwinden. Das kreischende, dröhnende Durcheinander von Geräuschen auf Tonhöhe, Klangfarbe oder Rhythmus hin zu untersuchen, war völlig unmöglich; es schien aber mit sichtbaren Veränderungen in allen Objekten, organischen wie anorganischen, synchronisiert zu sein. Gilman schwebte ständig in der Angst, es könnte bei einer seiner unerklärlichen, grausam unausweichlichen Schwankungen einmal zu einer Lautstärke anschwellen, die er nicht mehr ertragen würde.
Aber nicht in diesen Strudeln tiefsten Entsetzens sah er Brown Jenkin. Dieses schreckliche kleine Ungeheuer blieb bestimmten leichteren, schärferen Träumen vorbehalten, die ihn kurz vor dem Abgleiten in den tiefsten Schlaf überfielen. Wenn er so im Dunkeln lag und gegen den Schlaf ankämpfte, schien es ihm dann plötzlich, als erhellte ein züngelnder Lichtschein das jahrhundertalte Zimmer und tauche die Stelle, an der die beiden schiefen Ebenen sich trafen, in einen violetten Lichtschimmer. Und dann erschien ihm das Ungeheuer, es schlüpfte aus dem Rattenloch in der Ecke und trippelte über die breiten, durchgetretenen Dielen auf ihn zu, mit dem Ausdruck bösartiger Erwartung auf seinem kleinen bärtigen menschlichen Gesicht; doch zum Glück löste sich dieser Traum immer auf, bevor das Ding nahe genug war, um ihn mit der Schnauze zu berühren. Es hatte teuflisch lange, spitze, hundeartige Zähne. Gilman versuchte jeden Tag, das Rattenloch zu verstopfen, aber jede Nacht zernagten die wirklichen Bewohner der Trennwände wieder das Hindernis, was immer es auch war. Einmal ließ er vom Hauswirt das Loch mit einem Zinndeckel zunageln, aber in der folgenden Nacht nagten die Ratten ein neues Loch durch die Wand, wobei sie einen merkwürdigen kleinen Knochensplitter hinausschoben oder -zogen.
Gilman berichtete dem Arzt nicht von seinem Fieber, denn er wusste, dass er die Prüfung nicht bestehen würde, wenn er jetzt in das College-Krankenhaus eingewiesen worden wäre, da er jede Minute zum Pauken verwenden musste. So aber fiel er nur in der D-Klasse in Mathematik sowie in fortgeschrittener allgemeiner Psychologie durch, wobei man hoffen konnte, dass er die fehlenden Kenntnisse bis zum Ende des Semesters nach geholt haben würde.
Es war März, als in seine leichten einleitenden Träume ein neues Element eintrat und die Spukgestalt von Brown Jenkin zum ersten Mal von einem verschwommenen Schatten begleitet war, der dann immer mehr den Umrissen einer gebeugten alten Frau zu ähneln begann. Diese neue Figur konnte er nicht deuten, aber schließlich stellte er fest, dass sie wie das alte Weib aussah, dem er schon mehrmals in dem dunklen Labyrinth der Gassen in der Nähe der stillgelegten Kais begegnet war. Dabei hatte ihn jedes Mal der böse, zynische und scheinbar unbegründete Blick dieser Hexe erschauern lassen – besonders das erste Mal, als eine übergroße Ratte, die quer über die Einmündung einer Seitenstraße gehuscht war, ihn unwillkürlich an Brown Jenkin hatte denken lassen. Jetzt, so überlegte er, spiegelten sich diese nervösen Angstzustände in seinen wirren Träumen wider.
Er musste sich eingestehen, dass der Einfluss des alten Hauses ihm nicht gerade zuträglich war, aber Reste seines anfänglichen übersteigerten Interesses hielten ihn noch immer dort. Er redete sich ein, dass das Fieber allein für seine nächtlichen Fantasievorstellungen verantwortlich sei und er von den unheimlichen Visionen befreit sein würde, sobald die Anfälle nachließen. Aber diese Visionen waren von packender Intensität und Überzeugungskraft, und wenn er erwachte, hatte er immer das dumpfe Gefühl, viel mehr ausgestanden zu haben, als er behalten hatte. Ahnungsvolle Gewissheit erfüllte ihn, dass er in vergessenen Träumen sowohl mit Brown Jenkin als auch mit dem alten Weib gesprochen hatte und dass sie ihn gedrängt hatten, mit ihnen an irgendeinen Ort zu gehen und dort mit einem mächtigeren Wesen zusammenzutreffen.
Gegen Ende März hatte er seinen Rückstand in Mathematik aufgeholt, obwohl andere Studien ihn immer mehr beanspruchten. Gefühlsmäßig hatte er sich eine gewisse Geschicklichkeit im Lösen Riemannscher Gleichungen erworben, und er überraschte Professor Upham durch seine Einsicht in vierdimensionale und andere Probleme, mit der er alle seine Kollegen in den Schatten stellte. Eines Nachmittags wurde über mögliche außergewöhnliche Krümmungen des Raumes diskutiert sowie über theoretische Punkte der Annäherung oder sogar des Kontaktes zwischen unserem Teil des Kosmos und verschiedenen anderen Zonen, so weit entfernt wie die fernsten Sterne oder die transgalaktischen Tiefen selbst – oder sogar so weit wie die theoretisch denkbaren kosmischen Einheiten jenseits des ganzen Einsteinschen Raum-Zeit-Kontinuums. Gilmans Behandlung dieses Themas erregte allgemeine Bewunderung, wenn auch einige seiner hypothetischen Illustrationen das ohnehin schon verbreitete Getuschel über seine nervöse, einzelgängerische Überspanntheit noch verstärkten. Was die Studenten den Kopf schütteln ließ, war seine nüchtern vorgetragene Theorie, dass ein Mensch – ausgestattet mit einem mathematischen Wissen, das zugegebenermaßen beinahe nicht menschenmöglich sei – sich absichtlich von der Erde auf einen beliebigen anderen Himmelskörper versetzen könne, der an einem von unendlich vielen Punkten innerhalb des kosmischen Systems liegen könne.
Ein solcher Schritt, so sagte er, könne sich in nur zwei Abschnitten vollziehen; erstens der Austritt aus der dreidimensionalen Sphäre, die uns bekannt ist, und zweitens der Wiedereintritt in die dreidimensionale Sphäre an einem anderen, vielleicht weit entfernten Ort. Dass man dies bewerkstelligen könne, ohne dabei das Leben zu verlieren, sei in mancherlei Hinsicht denkbar. Jedes beliebige Wesen aus irgendeinem Teil des dreidimensionalen Raums könne wahrscheinlich in der vierten Dimension (Akasha) überleben; und ob es den zweiten Abschnitt überleben würde, hinge davon ab, welchen fernen Teil des dreidimensionalen Raums es für seinen Wiedereintritt aussuchen würde. Die Bewohner bestimmter Planeten könnten wahrscheinlich auch auf manchen anderen existieren – sogar auf Planeten, die anderen Milchstraßensystemen oder ähnlichen dreidimensionalen Phasen anderer Raum-Zeit-Kontinuen angehörten – obwohl es zweifellos eine große Anzahl wechselseitig unbewohnbarer, wenn auch mathematisch nebeneinanderliegender Körper oder Zonen oder Räume geben müsse.
Es sei auch möglich, dass die Bewohner einer Sphäre mit einer bestimmten Anzahl von Dimensionen den Eintritt in viele unbekannte und unbegreifliche Sphären mit zusätzlichen oder unendlich vervielfachten Dimensionen überleben könnten – innerhalb oder außerhalb des angenommenen Raum-Zeit-Kontinuums –, und dass die Umkehrung dieser Behauptung ebenfalls wahr sei. Darüber könne man natürlich nur Vermutungen anstellen, obgleich es ziemlich sicher sei, dass die Mutation, die für das Überwechseln von einer beliebigen dimensionalen Ebene auf die nächsthöhere erforderlich wäre, nicht das uns bekannte biologische Gefüge zerstören würde. Gilman konnte über die Gründe für diese letzte Annahme keine klaren Angaben machen, aber seine Unsicherheit in diesem Punkt wurde durch seine einleuchtenden Darlegungen zu anderen komplizierten Themen mehr als ausgeglichen. Professor Upham war besonders angetan von seiner Darstellung der Verwandtschaft zwischen der höheren Mathematik und bestimmten Phasen magischer Geheimlehren, die durch die Jahrtausende aus einer – menschlichen oder vormenschlichen – Urzeit überliefert worden seien, einer Zeit, in der das Wissen vom Kosmos und seinen Gesetzen größer gewesen sei als heute.
Gegen Anfang April war Gilman ernsthaft besorgt, weil sein schleichendes Fieber nicht nachließ. Außerdem war er beunruhigt über das, was einige der anderen Hausbewohner über sein Nachtwandeln sagten. Es schien, dass er oft nicht in seinem Bett blieb und der Mann unter ihm zu bestimmten Nachtstunden seinen Fußboden knarren hörte. Dieser Bursche sprach auch davon, nachts Tritte von Schuhen gehört zu haben; Gilman war jedoch sicher, dass er sich in diesem Punkt irrte, denn seine Schuhe waren, ebenso wie seine übrige Kleidung, morgens immer genau an ihrem Platz. In diesem Hause erlag man den seltsamsten Hörfehlern – denn war Gilman selbst jetzt nicht sogar bei Tageslicht sicher, dass außer dem Gekratze der Ratten noch andere Geräusche aus den dunklen Hohlräumen hinter der schrägen Wand und über der abfallenden Decke zu hören waren? Seine krankhaft empfindlichen Ohren fingen an, auf schwache Fußtritte in dem seit Urzeiten verschlossenen Dachboden zu horchen, und manchmal waren diese Geräusche qualvoll deutlich zu hören.
Er wusste jedoch, dass er tatsächlich ein Schlafwandler geworden war; denn zweimal war sein Zimmer nachts leer gewesen, während all seine Kleider an ihrem Platze lagen. Das hatte ihm Frank Elwood versichert, der Kommilitone, der wegen seiner Armut gezwungen war, in diesem schmuddeligen, verrufenen Haus zu wohnen. Elwood hatte in den Morgenstunden gelernt und war zu ihm hinaufgegangen, um sich bei der Lösung einer Differentialgleichung helfen zu lassen; er hatte aber bemerkt, dass Gilman nicht im Zimmer war. Es sei ziemlich unhöflich von ihm gewesen, die unverschlossene Tür zu öffnen, nachdem sein Klopfen ohne Antwort geblieben war, aber er habe sehr dringend seine Hilfe gebraucht und sich gedacht, dass es ihm nichts ausmachen würde, wenn er ihn vorsichtig wachrüttele. Aber beide Male war Gilman nicht dagewesen; und als er dies erfuhr, fragte er sich, wo er – barfuß und im Schlafanzug – herumgewandert sein mochte. Er beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen, falls die Berichte von seinem Nachtwandeln sich wiederholten, und dachte daran, den Fußboden im Gang mit Mehl zu bestreuen, um zu sehen, wohin seine Fußspuren führten. Die Tür war der einzige mögliche Ausgang, denn draußen unter dem Fenster gab es keinen Mauervorsprung, auf dem man hätte stehen können.
Im Laufe des April wurden Gilmans vom Fieber geschärfte Ohren durch die weinerlichen Gebete eines abergläubischen Webers namens Joe Mazurewicz belästigt, der ein Zimmer im Erdgeschoss hatte. Mazurewicz hatte lange, weitschweifige Geschichten über den Geist der alten Keziah und über das kleine, zottige Ding mit den scharfen Zähnen erzählt und behauptet, er würde manchmal so sehr von ihnen heimgesucht, dass nur sein silbernes Kruzifix – das er eigens für diesen Zweck von Pater Iwanicki von der St.-Stanislaus-Kirche bekommen habe – ihm Erleichterung bringen könne. Jetzt bete er, weil der Hexensabbat näherrücke. Der Vorabend des ersten Mai sei die Walpurgisnacht, in der die schwärzesten bösen Geister der Hölle auf der Erde umherstreiften und alle Untertanen des Satans sich zu unsagbaren Riten und Untaten versammelten. Das sei immer eine schlimme Zeit in Arkham, obwohl die feinen Leute oben in der Miskatonic Avenue und der High Street und der Staltonstall Street vorgäben, nichts davon zu wissen. Es würden böse Dinge geschehen, und ein oder zwei Kinder würden wahrscheinlich vermisst werden. Er wisse Bescheid über diese Dinge, weil seine Großmutter auf dem Land Geschichten von ihrer Großmutter gehört habe. Es sei klug, zu dieser Zeit zu beten und seine Perlen zu zählen. Drei Monate seien Keziah und Brown Jenkin nun schon nicht mehr aufgetaucht, weder in seinem Zimmer, noch in dem von Paul Chonyski noch sonst wo, und es bedeute nichts Gutes, wenn sie sich so zurückhielten. Sie müssten irgendetwas im Schilde führen.
Am sechzehnten des Monats ging Gilman zum Arzt, und er war überrascht, dass seine Temperatur nicht so hoch war, wie er befürchtet hatte. Der Doktor stellte ihm sehr energische Fragen und riet ihm, einen Nervenspezialisten aufzusuchen. Hinterher war er froh, dass er nicht zu dem noch strengeren College-Doktor gegangen war. Der alte Waldron, der ihm schon früher einmal einige seiner Beschäftigungen untersagt hatte, würde ihm Ruhe verordnet haben – und das wäre jetzt, da er so kurz vor der großartigen Lösung seiner Gleichungen stand, völlig unmöglich gewesen. Er stand zweifellos an der Grenze zwischen dem bekannten Universum und der vierten Dimension, und wer konnte sagen, wie viel weiter er noch kommen würde?
Aber selbst während ihm diese Gedanken kamen, wunderte er sich über seine seltsame Gewissheit. Kam diese unheilvolle Ahnung einer bevorstehenden Gefahr nur von den Formeln, mit denen er Tag für Tag sein Schreibpapier bedeckte? Die leisen, heimlichen, imaginären Schritte in dem verschlossenen Hohlraum über der Decke zermürbten ihn. Und jetzt hatte Necronomicron“