Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© 2018 – Peter Walther, Göttingen (www.irrationale.net)
Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-7481-3714-6
„Peter, Peter, Peter.“ Ernst-August gab mir seine feuchtwarme Hand, drückte schlaff zu und keuchte: „Schön, daß du mich mal hier oben besuchst.“ Dabei hätte ich keuchen müssen, denn ich war gerade die Treppen zu seinem Reich unter dem Dach des Futtermittelwerkes, in dem wir beide beschäftigt waren, hochgelaufen.
„Schön, daß du mich mal hier oben besuchst.“ Und ohne Übergang im gleichen Atemzug: „Uelzen, guck mal hier“, wobei er mit ausladender Geste auf Dutzende von Ansichtskarten wies, mit denen er Tür und Fenster seiner Dienstbutze inmitten des Betongraus bepflastert hatte, „Uelzen, Perle der Lüneburger Heide, aber du kommst zu spät“, mit Blickwendung zu den kreisrunden Löchern im Boden und dem an einem Seil befestigten Lot, mit dem er in regelmäßigen Abständen die Füllhöhe der Zellen genannten Silobehälter messen mußte, „alles erledigt, alles in Ordnung, keine Probleme.“
Ernst August, einziger Sohn des welfisch gesonnenen – „da legen sogar die Hühner gelbe Eier“ – Schlossermeisters meines Heimatdorfes sah zwar aus wie die Erstausgabe von George Clooney, aber da er sich nichts aus Frauen machte und dies erfolgreich vor sich selbst und weniger erfolgreich vor seiner Umwelt zu verbergen suchte, konnte er nie in irgendeiner Weise Kapital daraus schlagen. Als Ernst-August 13 Jahre alt war, hatte ihn sein Vater mit einer Eisenstange verprügelt und ihm dabei Kopfverletzungen beigebracht, die fortan sein geistiges Vermögen stark beeinträchtigten und ihn zu jenem Original werden ließen, dem ich hier in den „Schrägen Gestalten“ an erster Stelle ein Denkmal setzen möchte.
Ernst-August und die Frauen. Als sein Vater starb, zog seine Schwester mit Mann und Kindern ins Elternhaus ein, man brauchte Platz, Ernst-August wurde das eigene Zimmer genommen, er mußte fortan bis zu seinem frühen Tod mit 60 Jahren im Ehebett neben seiner Mutter auf dem Platz seines Vaters schlafen.
Ernst-August und die Frauen: „Peter, wenn ich einmal heirate, dann muß das eine Frau sein, die Hühner rupfen kann“, vertraute er mit in der Frühstückspause an, „und die findest du heutzutage nicht mehr. Neulich war ich in Rehburg und keine von den beiden Töchtern konnte das Huhn rupfen, ich mußte das machen. Kein Wunder, daß die schon über 30 sind und immer noch keinen Mann haben.“
Ernst-August und die Frauen. Die Arbeitskollegen glaubten, man könne ihn heilen, wenn er nur einmal in seinem Leben mit einer Frau zusammen wäre. Deswegen legten sie zusammen und bugsierten ihn unter einem Vorwand in ein Bordell, wo sie ihn zu seinem geschlechtlichen Glück zwingen wollten. Der Versuch mußte abgebrochen werden, weil Ernst-August verstört vor dem Angriff auf seine Unschuld davonlief. Bezahlt werden mußte trotzdem. Von nun an verschaffte Kollege Horst ihm hin und wieder während der Arbeitszeit Erleichterung, indem er Ernst-August mit einem Handfeger zwischen den Beinen herumfuhrwerkte, bis es ihm kam. Vor diesen Attacken flüchtete Ernst-August seltsamerweise nie.
Mochte Ernst-August auch sonst ziemlich beschränkt sein, in punkto Heimatkunde konnte ihm niemand etwas vormachen. Das östliche Niedersachsen von der Weser bis an die Elbe kannte er wie seine Westentasche, besonders die Lüneburger Heide und Uelzen, weil seine Mutter daher stammte. Er hatte sich seine Kenntnisse in unzähligen Touren im buchstäblichen Sinn erfahren und war eine Art lebendes Lexikon für dieses Spezialgebiet.
Meine dörfliche Heimat mag eng sein, aber sie läßt niemanden, den sie als zugehörig zählt, verkommen. Als das Futtermittelwerk geschlossen wurde, hat man Ernst-August deshalb als Gemeindearbeiter eingestellt, obwohl man eigentlich keinen zusätzlichen brauchte. Ich habe auch bis heute nicht herausbekommen, ob die Messerei, die Ernst-August oben über den Silos veranstaltete, wirklich notwendig war. Als Gemeindearbeiter hat er jedenfalls alle Straßen, Wege, Wegränder und vor allem den Wald peinlich sauber gehalten, stets aufgeräumt, den Waldboden sogar gefegt, daß man von ihm essen konnte.
R.I.P.
Da lachen ja die Hünner.
So stand es im Lokalteil der Tageszeitung, Wort für Wort unredigiert abgedruckt, mit allen Rechtschreibfehlern, nicht hinten als Leserbrief unter den Vereinsnachrichten versteckt, nein, gleich links auf der ersten Seite in der Kommentarspalte „Unter der Briefmarke“. Am schlimmsten war, daß jeder im Dorf wußte, wer diesen Brief geschrieben hatte, diesen kompletten Unsinn einer riesigen Verschwörung des Kettensägeherstellers, der Behörden, der Polizei, seines vermeintlichen Vaters und nicht zuletzt der Siegermächte allein gegen ihn, und wir uns deswegen tagelang vor lauter Scham nicht aus dem Haus trauten.
Leider war er unser Onkel, Gartenzwerg, wie ihn alle nannten, ein kleiner, hagerer Mann mit noch kleineren, füchsisch blickenden Augen, der zweite Mann unserer Tante Alma. Auch Erwin, ihren ersten Mann überragte sie um einen ganzen Kopf, aber der machte dabei wenigstens einen wohlgenährten und gemütlichen Eindruck. Onkel Erwin mochten wir, er verdiente sein Geld als Handlanger auf dem Bau, war nicht gerade mit Geistesgaben gesegnet, aber gutmütig. Da er selbst keine Kinder hatte, spielte er gern den Weihnachtsmann für die Cousinen, meinen Bruder und mich und fiel höchstens durch seine hilflosen Versuche auf, Kaffee zu kochen, indem er in einem Dreilitertopf eine Handvoll ungemahlene Kaffeebohnen zehn Minuten in einem Liter siedenden Wasser vor sich hin ziehen ließ.
Aber er starb lange vor der Rente, das Siedlungshaus, das er vorwiegend mit eigenen Händen gebaut hatte, war gerade fertig. Tante Alma wartete das Trauerjahr ab, gab dann eine Heiratsanzeige auf und erwählte unter den zwei Dutzend Bewerbern ausgerechnet Gartenzwerg. Er war der einzige, der ihr mit Schreibmaschine geschrieben hatte, und das imponierte ihr gewaltig.
Da lachen ja die Hünner.
Es war die Geschichte mit der Kettensäge. Niemand wußte, wozu er eine Kettensäge brauchte, aber er bestellte sich eine im Versandhandel und als sie geliefert wurde, packte er sie sofort aus, überprüfte sie, indem er sie in ihre Einzelteile auseinandernahm – und bekam sie nicht mehr zusammengesetzt. Für Gartenzwerg ein willkommener Anlaß für eine wütende Reklamation, einige geharnischte Briefe, eine Klage, die er natürlich verlor, wie alle anderen Klagen auch, und für den peinlichen Brief in der Tageszeitung.
Das wäre ein Grund gewesen, jeden Kontakt mit ihm zu vermeiden. Aber wir hatten keinen Fernseher – unser Vater lehnte die Anschaffung ab, „weil ich dann nur noch vor der Glotze hänge“ – Gartenzwerg und Tante Alma hatten einen und sie waren die einzigen, die meinem Bruder und mir erlaubten, bei ihnen „Simon Templar“ und „Mit Schirm, Charme und Melone” zu sehen. So führte uns der Weg an einem Abend in der Woche zu den geliebten Krimiserien und zu Gartenzwergs Prahlereien und Verschwörungsgeschwurbel.
Farbfolie für ein paar Pfennige von Leseberg
Ein Aufschneider vor dem Herrn war er, darin übertraf er sogar noch Käpt’n Blaubär. Als 1967 das Farbfernsehen aufkam, tönte er, es sei nicht nötig, „zwoeinhalbtausend, wer hat das schon”, für die neue Technologie hinzublättern, er kriege das mit „Ganzzimmerantenne“ und etwas „Farbfolie für ein paar Pfennige von Leseberg” „ganz allein und viel billiger” mit dem alten Schwarzweißgerät hin. Daraufhin wurde das Wohnzimmer ausgeräumt, Wände und Decke mit Aluminiumfolie tapeziert, mit einigen Drähten an die Antennenbuchse angeschlossen – die „Ganzzimmerantenne“ – und Buntpapier in den Grundfarben vor den Bildschirm gehängt. Fertig war der Farbfernseher Marke Gartenzwerg. Selbstverständlich funktionierte das nicht, aber Gartenzwerg war nicht davon abzubringen, auf dem richtigen Weg zu sein, „mit ein paar kleinen Verbesserungen” liefe das irgendwann, wir seien nur zu blöd, das zu erkennen. Nach drei Tagen gab er endlich auf, Tante Alma hatte eine Woche zu tun, Stube und Fernseher in den alten Zustand zurückzuversetzen, und mein Bruder und ich hatten zweimal John Steed und Emma Peel verpaßt.
Ich weiß genau, wo der letzte Zeppelin liegt.
Folgenreicher als solche dummen Streiche war seine fixe Idee, er sei der uneheliche Sohn eines Großbauern, auf dessen Hof seine Mutter gearbeitet hatte, und habe infolgedessen ein Anrecht auf ein beträchtliches Erbe, zu dem vor allem der Acker gehören sollte, unter dem der letzte Zeppelin verborgen sei. Den gelte es zu bergen, in großer Zahl nachzubauen, den zweiten Weltkrieg wiederaufzunehmen und mit dieser unschlagbaren Waffe zu gewinnen.
Oft haben wir auf dem Nachhauseweg über diese Spinnerei gefeixt, aber Gartenzwerg meinte es ernst, fand einen Rechtsanwalt, der die Goldgrube erkannte, die sich ihm da auftat, und führte mehrere Prozesse um sein angebliches Erbe, die er samt und sonders verlor. Eines Tages waren dann alle Ersparnisse von Tante Alma verbraucht und das Häuschen mußte versteigert und gegen eine Bruchbude eingetauscht werden. Gartenzwerg war auch dadurch nicht zu stoppen. Er prozessierte weiter und als auch die Bruchbude unter den Hammer kam, suchte er sich eine neue Frau, die ihm seine Spinnereien abnahm und ihn in der Hoffnung auf das Millionenerbe noch eine Weile finanzierte. Tante Alma aber starb wenig später völlig verarmt und einsam in einem kalten und feuchten Zimmer, das nur mit einem Bett, einem Stuhl und einem kleinen Schrank möbliert war.
Immer, wenn ich nach Feierabend zur Abwechslung einmal meine Eltern besuchen wollte, fuhr ich diesen Schleichweg der Erinnerungen: runter von der Bundesstraße, durch Schessinghausen und den Bruch über den Meerbach und den unbeschrankten Bahnübergang hinein ins heimatlich Gruselige. Oder gruselig Heimatliche? Sei's drum.
Unmittelbar hinter der Bahn begann es sich zu entfalten. Links der Kiefernwald, rechts die Siedlungshäuschen aus den 50ern, im ersten wohnt wohl immer noch mein Freund Richard, sein Vater hat dort seine Mutter mit einem Taschenmesser umgebracht, er seiner ersten Frau im Liebesrausch einen Nippel abgebissen, die Häuser meiner Onkel, Tanten, Cousinen, blitzsauber und gepflegt, Kühlhaus, Schützenhaus, das Dorfgemeinschaftshaus auf dem Gelände der ehemaligen Sauerkrautfabrik. Und nur, weil ich an diesem Tag nicht an der Stelle abgebogen bin, an der einst die Baracke stand, Behelfsunterkunft für Flüchtlinge, und stattdessen Friedhof und Kunststoffklitsche links liegen gelassen habe, wurde mir unten an der Kreuzung, wo die Bundesstraße das Dorf in Ober- und Unterdorf zerschneidet, diese göttliche Szene geboten.
Genau dort, wo einst der Laden von Brandts Louise nebst Poststelle und Kohlenhandel sowie Kastanien- und Eichelankauf stand, bewegte Mönchs Karl auf dem Feldweg eine Schubkarre mit Mist in Richtung Friedhof, gut genährt, wie immer in dunklem Anzug, weißem Hemd und dezent gemusterter Krawatte mit doppeltem Windsor. Sein einziges Zugeständnis an den Mist, den er karrte, waren die Gunmmistiefel an seinen Füßen.
Karl gehörte an diesen Ort, ohne Zweifel, das war seine Kreuzung. Schon, als ich noch die gegenüberliegende Zwergschule besuchte, 1. bis 4. Klasse bei Lehrer Marquardt, 5. bis 8. Klasse bei Lehrer Goschke, stand er bei Brandts Louise hinter der Ladentheke und verkaufte uns lose Sahnebonbons für zwei Pfennig das Stück aus dem großen Glas, wenn wir uns in der großen Pause heimlich über die gefährliche Bundesstraße geschlichen hatten. Oder er war in der Poststelle im Nebenzimmer zu finden und Ilona, die sich mit ihrer Farah-Diba-Frisur für die schönste Frau des Dorfes hielt und mit Karl verheiratet war, verkaufte uns Bonbons oder Wundertüten mit Sigurd-Piccolos. Womit Karl auch beschäftigt war und wo er sich auch gerade aufhielt, stets trug er einen dunklen Anzug mit Krawatte, der ihm eine zweite Haut war und in dem er geboren schien.
Als sich der Nachfolger von Brandts Louise von seinen Geschäften trennte, übernahm Karl den Laden, und als wenig später die alte Dame starb, wurde das Haus abgerissen und Karl baute schräg gegenüber einen Supermarkt einschließlich Postamt und einer großzügigen Wohnung im ersten Stock.
Karls große Zeit begann. Ihm gehörte das einzige Lebensmittelgeschäft im Dorf und gleichzeitig leitete er die Poststelle als Beamter. Zu dieser Zeit lohnte es sich, von ihm als Freund angesehen zu werden. Dann mußte man sich im Sandkrug oder in der Linde nur zu ihm setzen und konnte den ganzen Abend saufen, ohne auch nur einen einzigen Pfennig dazubezahlen zu müssen. Ebenso bei den beiden Schützenfesten und beim Kirmes. Am Sonntagmorgen traf man sich in seinem Getränkelager zum Frühschoppen, setzte sich einfach auf die Bierkisten und griff unter sich, wenn man Durst verspürte.
Auch das Nachtleben in der Kreisstadt war ohne Karl und seinen Freundeskreis nicht denkbar, erst in der Bodega-Bar und, als die dann schloß, in der Stern-Bar – aber die strahlte die trostlose Atmosphäre eines Wartesaals dritter Klasse aus mit Animierdamen, die einen Flunsch zogen, wenn man sich ihnen näherte. Wenn die Horde um Karl also etwas mehr wollte, als sich zu besaufen, zog sie weiter ins Eros-Center am Berge, das von der Kaserne bequem über die Fußgängerbrücke zu erreichen war. Und auch hier war Karl großzügig und bezahlte stets die gesamte Rechnung. Dazu fuhr er noch jedes dritte Wochenende nach Polen, wo er eine Geliebte sitzen hatte, von der seine Frau aber nichts wissen durfte.
Ein Leben in Saus und Braus, von Freunden und Frauen umschwirrt, von den Männern im Dorf beneidet. Und jetzt schob dieser Mann schwitzend eine Karre mit Mist den Feldweg entlang und der Supermarkt sah merkwürdig leer und geschlossen aus, obwohl es noch lange nicht 18 Uhr war. Meine Mutter wußte, wie es dazu kam.
Als die Geschäfte für Dorfläden immer schlechter liefen, sah Karl es nicht ein, seinen ausschweifenden Lebenswandel etwas einzuschränken, er hatte ja noch seinen Beamtenposten und konnte lange von der Substanz zehren, und als die aufgebraucht war, machte er eben Schulden. Um doch wieder auf den grünen Zweig zu kommen, spielte er jede Woche für mehrere hundert Mark Lotto, aber der große Treffer wollte nicht glücken und die Schulden wuchsen umso schneller. Deshalb löste er das mehrere tausend Mark schwere Sparbuch der Enkeltochter auf, auch dieses Geld war schnell wieder verbraucht. Die Lieferanten wollten inzwischen nur noch Bargeld sehen und seine Verkäuferinnen bemühten sich deshalb jeden Abend, die Kasse vor Karl in Sicherheit zu bringen, um am nächsten Morgen die Ware bezahlen zu können und dem Dorf die Einkaufsquelle zu erhalten, solange es irgendwie ging.
Im letzten Akt bediente sich Karl bei der Post, leitete das Geld, das für Nachnahmesendungen kassiert wurde, nicht weiter, sondern finanzierte damit seine Lotto-Systemscheine. Diese Unterschlagung flog sehr schnell auf, Karl wurde suspendiert, kam vor Gericht, wurde wegen Betrugs verurteilt und verlor dadurch nicht nur sein Geschäft, sondern auch noch die sichere Beamtenstellung, das Dorf das einzige Lebensmittelgeschäft und die Poststelle. Das Gebäude, in dem einige Jahre der Kindergarten untergebracht war, ist inzwischen an eine „Pizzeria Ivana“ verpachtet.
Karl hatte zwar alles verloren, nicht aber seine Haltung und seinen angeborenen Anzug. Den trug er nun tagsüber, wenn er für ein paar barmherzige Flaschen Bier einem Mondscheinbauern bei dessen Landwirtschaft helfen durfte, und nachts wieder in der Stern-Bar, jetzt allerdings nicht mehr als Stammgast vor der Theke, sondern als Schankkellner dahinter.
Wieder einmal nahm ich den Schleichpfad der Erinnerungen über Schessinghausen und den Nienburger Bruch. Dieses Mal bog ich aber am Sportplatz links ab.
Rechts der Friedhof, auf dem einst meine Großeltern lagen, die aber längst auf den großen Komposthaufen dort hinter der Familiengrabstätte der Gutsbesitzer entsorgt worden waren. Links der Osterberg mit der Todesbahn, die der Maurer und Hausschlachter Heine im Winter mit Wasser aus Zehnlitereimern für uns vereiste. Wenn man schnell und mutig genug war, schaffte man es bis zur Friedhofspforte, war man zu kühn, knallte man gegen einen Baum und wachte im Krankenhaus wieder auf wie Heiner Büschking.
Am Ende eine scharfe Rechtskurve vorbei an Onkel Gerd, dem Briefträger mit der verkrüppelten Hand, der vor dem Krieg wohl Friseur war und uns Kindern immer noch die Haare schnitt, der Pißpottschnitt für eine Mark. Als sich einmal Gleisbauarbeiter an der nahen Bahn auf einem Abstellgleis einen Waggon als Kantine mit Fernseh' eingerichtet hatten, verzichtete ich kurzentschlossen auf den Haarschnitt und gab das Geld für zwei Cola aus. Leider wollten mir meine Eltern das Märchen vom bösen Mann, der mir die Mark mit Gewalt abgeknöpft habe, partout nicht abnehmen.
Nach wenigen Metern hieß es links abbiegen. Linkerhand ein Häuschen mit Glasbausteinen statt Fenstern und einer Betonplatte als Vorgarten. Hier wohnte ein Mann von kurzer, kräftiger Statur mit Oberarmen wie Gerd Müllers Oberschenkel und militärischem Kurzhaarschnitt, der vor allem dadurch auffiel, daß er tagaus tagein einmal zum Bahnhof in die Kreisstadt radelte, immer in einem gelben Ostfriesennerz, nur eine Hand am Lenker, am ausgestreckten Arm einen Koffer, auf dem Hinweg links, auf dem Rückweg rechts. In einen Zug hat ihn nie jemand steigen sehen.
Als sich die Nachbarn beschwerten, „der ist bekloppt, der hat keine Gardinen und putzt seine Fenster nie“, hat er kurzerhand die Fenster herausgerissen und die Öffnungen mit Glasbausteinen zugemauert. Als die Nachbarn sich beschwerten, weil sich in seinem Garten der Müll türmte, schaufelte er eine ein Meter zwanzig tiefe Grube, warf alles hinein, schüttete Erdreich und Kies darauf, verdichtete die Füllung mit einem Handrüttler und versiegelte die Oberfläche mit einem zugegebenermaßen etwas unebenen Estrich.
Gebaut hatte sich das Häuschen die Familie Quaiser Der alte Quaiser war ein sparsamer Mann und ein wahrer Despot. In den Nachkriegsjahren durfte seine Frau keine neue Bekleidung für sich, die Tochter oder den Enkel kaufen, alles sollte sie aus Lumpen nähen. Für sich selbst machte er aber eine Ausnahme. Ebenso bei der Butter, die für ihn reserviert war, während die Familie sich Margarine aufs Brot schmieren durfte.
Das ist meine Butter von meinem Geld, verdient euch selbst was, dann könnt ihr eure eigene Butter dafür kaufen
Am knausrigsten war er beim Heizungsmaterial. Er kümmerte sich selbst um den Ofen und wenn er wochentags auf Arbeit war, durfte seine Frau genau ein Brikett verfeuern. Damit sie ihn nicht dabei betrog, nummerierte er die einzelnen Stücke im Keller mit Kreide durch und gab morgens Anweisung, welche Nummer an diesem Tag an der Reihe war. Sie führte ihn trotzdem hinters Licht, verfeuerte nach der Nummer 35 noch die Nummer 36, griff nach hinten in den Stapel, wischte die 112 weg und schrieb die 36 darauf.
Kaum bekommt die Alte eine schöne Rente, stirbt mir das Biest weg.
Frau Quaiser war ihre Rente wirklich nur ein paar Monate vergönnt, aber der alte Quaiser konnte sich mit ihrem Tod nicht abfinden, am wenigsten mit dem Verlust der paar Mark, die sie bekommen hatte, deshalb griff er sich eines Nachts eine Schaufel, schlurfte die 150 Meter zum Friedhof und begann bei Mondschein, seine Frau wieder auszubuddeln. Zu seinem Glück blieb das nicht unbeobachtet, er wurde mit sanfter Gewalt gehindert, weiterzugraben, abgeholt, gründlich untersucht, unter Betreuung gestellt und in ein Heim eingewiesen. Das Häuschen kaufte sich dann der Herkules im Ostfriesennerz.
Familie Kuhnt gegenüber übertraf den alten Quaiser sogar noch im Geiz, bewohnte im Haus praktisch nur das Schlafzimmer und hielt sich ansonsten in einer Art Futterküche im Stallgebäude auf. Er arbeitete drei Schichten in der Glasfabrik, dazu die kleine Landwirtschaft: Getreide, Kartoffeln, Gemüse, Schweine, Hühner, Gänse und Kaninchen, aber nicht für den Eigenbedarf, nein, alles wurde verkauft, für sich selbst behielten die beiden nur die Abfälle, bereiteten zum Beispiel aus den abgeschnittenen Gänsefüßen „Wickelpoten“. Daneben wurde von beiden abwechselnd die Zeitung ausgetragen und die Beiträge für Volksfürsorge, Gewerkschaft und SPD kassiert. Trotzdem schimpfte Frau Kuhnt ihren Mann einen Faulpelz, weil er sich für die fünf schichtfreien Tage keine zusätzliche bezahlte Arbeit suchte.
Kinder hatten sie keine. Wie auch, wenn sie Tag und Nacht nur schufteten. Geld brauchten sie auch fast keines, alles legten sie auf die hohe Kante, für später, wenn sie einmal alt seien, sagten sie, damit sie dann nicht darben müßten. Aber wie es so kommt, als sie in Rente gingen, knauserten sie weiter, legten jetzt die Rente auf die hohe Kante ... und das Sparbuch wuchs und wuchs. Sie konnten nicht aufhören mit dieser Lebensweise, getrieben von ihren Hungererfahrungen aus der Kriegszeit sparten sie weiter bis zum letzten Atemzug.
Das Vermögen teilte eine Erbengemeinschaft aus entfernten Verwandten unter sich auf, über das Haus konnte man sich nicht einig werden, so zerfiel es, obwohl bis auf das Schlafzimmer unbewohnt, zu einem Denkmal übertriebenen Fleißes und übertriebener Sparsamkeit.
Und immer, wenn ich auf dem Weg zu meinen Eltern über den holprigen Weg zwischen den beiden Häusern entlang fuhr, ergriffen mich die seltsamen Vibrationen dieses Weltzentrum des Geizes.