Jesus und seine Welt

Eine historische Spurensuche

Cay Rademacher

Ellert & Richter Verlag

Meinen Eltern
Gisela und Frank Rademacher

Der geheimnisvolle Mann aus Galiläa

Pontius Pilatus will kein Risiko eingehen. Die Lage in Jerusalem ist angespannt: Die Soldaten des römischen Präfekten haben deshalb alle strategisch wichtigen Positionen besetzt, vor allem an den Stadttoren und in der Festung Antonia oberhalb des Tempelbergs. Die Einheiten sind keine regulären Legionen, sondern Hilfstruppen, rekrutiert aus einheimischen Völkern, Samaritern und anderen palästinensischen Stämmen, traditionellen Gegnern der Juden.

Doch die heilige Stadt der Juden ist schwer zu kontrollieren. Rund um das gewaltige Plateau des noch unvollendeten Tempels erstrecken sich über Hügel und Täler flache, zumeist zweigeschossige Häuser. Dazwischen ein Gewirr aus Gassen, Plätzen, schmalsten Durchlässen. Rund 40 000 Menschen leben normalerweise in Jerusalem, doch nun drängen sich fast viermal so viele durch die Stadt. Das Passahfest naht, eine der wichtigsten religiösen Feiern im Jahr.

Aus Jodefat und aus Gamla auf dem Golan kommen die Pilger, aus Kapernaum und Nazareth in Galiläa, aus Jericho, aus Alexandria, aus Griechenland und Rom. Hunderte, die zu Fuß aus Galiläa gekommen sind, waschen den Staub der Wege im Schiloach-Teich ab, andere suchen Gasthäuser für die nächsten Nächte. Manche Juden, die in der Diaspora leben und nur einmal im Jahr, vielleicht noch seltener, nach Jerusalem reisen, haben sich zusammengeschlossen und unterhalten eigene Herbergen in der Stadt – die jüdische Gemeinde von Rhodos etwa.

Seit zwei Wochen haben Händler im Vorhof des Tempels ihre Stände zum traditionellen Markt aufgebaut. Auch auf den anderen Märkten der Stadt werden Getreide, Vieh, Früchte und Holz angeboten; Sklaven müssen sich auf Auktionssteine stellen und werden zur Versteigerung feilgeboten. Aus der Oberstadt – jenem Hügel westlich des Tempelberges, wo Priester und Adelige residieren – weht der Duft der Spezerei-Manufaktur der Priesterfamilie Kathros hinüber.

Doch hinter der Betriebsamkeit und Ausgelassenheit lauert die Rebellion. Wird das Passahfest nicht zum Gedenken an die Befreiung des Volkes Israel aus der ägyptischen Knechtschaft begangen? Und jetzt leidet dieses selbe Volk seit Jahrzehnten unter dem römischen Joch. Eine religiös erregte Menge, verhasste Besatzungstruppen, ein heiliger Tag, eine unübersichtliche Stadt – es fehlt nur noch ein Funke, um den Flächenbrand auszulösen.

Da beobachten die Soldaten auf der Jerusalemer Stadtmauer einen Mann aus Galiläa, der mit einer großen Anhängerschar über den Ölberg kommt und in die heilige Stadt einzieht – einen Mann, den sie nie zuvor in Jerusalem gesehen haben. „Hosanna!“ rufen die vielen Menschen, die dem Unbekannten vorauseilen. „Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!“

Irgendeiner der Soldaten wird Pilatus diesen spektakulären Einzug an einem der südlichen Stadttore gemeldet haben. Es gibt keinen Bericht über die Reaktion des Präfekten, doch einiges spricht dafür, dass er zunächst abwarten will. Aber er dürfte nun alarmiert sein und noch nervöser als zuvor.

Es ist der 9. Nisan des jüdischen Kalenders, das 17. Jahr der Herrschaft des römischen Kaisers Tiberius – Sonntag, der 2. April des Jahres 30. Jener Mann, den sie im Süden Jerusalems feierlich preisen und der die Römer in Alarmbereitschaft versetzt, ist Jesus von Nazareth, und er hat noch rund 120 Stunden zu leben.

Chronisten, Gläubige und Gegner – eine Spurensuche

Vor rund zwei Jahrtausenden hat ein Zimmermannssohn aus einem entlegenen Randgebiet des Römischen Imperiums die Weltgeschichte verändert. Auf dies zumindest können sich, wenn auch auf wenig sonst, Christen und Nicht-Christen einigen, betrachten sie das Leben des Jesus von Nazareth.

Doch wer ist jener Mann gewesen?

Die Autoren des Neuen Testaments berichten von ihm, dazu einige heidnische oder jüdische Chronisten der Antike, frühe Christen, die Verfasser von unkanonischen, also von der späteren Kirche nicht anerkannten Schriften. Wer aber kennt heute noch alle diese Texte? Mehr noch: Selbst wenn man sie gelesen hat, so trennen uns doch zwei Jahrtausende von jener Zeit. Einer Zeit, in der, beispielsweise, ein „Zimmermann“ keineswegs der Handwerker ist, den wir uns darunter vorstellen, in der man, um böse Dämonen irrezuführen, Kranke nicht durch die Tür ins Haus brachte, sondern sie durch das aufgestemmte Dach hineintrug, in der das Gleichnis vom „barmherzigen Samariter“ eine ungeheure Provokation barg und der römische Stadthalter Pontius Pilatus von seinen Untertanen keinesfalls als ein seine Hände in Unschuld waschender, zögerlicher Gerichtsherr gesehen wurde, sondern als ebenso brutaler wie energischer Abgesandter einer fernen, kaiserlichen Macht.

Seit gut zwei Jahrhunderten versuchen Forscher, die Nebel der Geschichte zu durchdringen, die uns von der Antike trennen. Zunächst vor allem haben Historiker, Theologen und Philologen die christlichen und nichtchristlichen Texte des Altertums studiert, um Wahres von Falschem oder zumindest später Hinzugefügtem zu trennen. Seit einigen Jahrzehnten helfen ihnen zudem Archäologen mit spektakulären Funden. Heute kennen wir ein Fischerboot, ähnlich wie es einst Petrus besessen haben könnte, als er noch zum Fang auf den See Genezareth fuhr. Wir kennen das Grab des Hohepriesters Kaiphas und eine Inschrift, die Pontius Pilatus zu Ehren Roms und des Kaisers errichten ließ. Forscher haben die Leiche eines Mannes gefunden, der ungefähr zur selben Zeit wie Jesus gekreuzigt worden ist, und sie haben, der vielleicht wertvollste Fund von allen, seit rund sechs Jahrzehnten die Möglichkeit, die Textrollen der geheimnisvollen Essener von Qumran zu studieren.

All dies sind bis heute Puzzlestücke geblieben. Indizien nur, die auf bestimmte Ereignisse hindeuten und andere eher unmöglich erscheinen lassen. „Wahrscheinlich“ und „vielleicht“ sind Begriffe, die jeder immer wieder verwenden muss, der diese Zeit beschreiben will. Das mag Laien befremden, wird von ihnen manchmal geradezu als Zeichen dafür genommen, wie wenig wir doch wissen von Jesus. Und viele werden gerade deshalb daran zweifeln, dass es einen solchen Mann je gegeben habe.

Doch diese Vorsicht – diese Indizienketten, die aus dem Chronisten eher einen Detektiv machen, der einen Fall rekonstruieren will, für den er keinen einzigen echten Beweis kennt – ist keineswegs typisch für Jesus und seine Welt, sondern für die gesamte Epoche.

Thukydides etwa, der größte Historiker der Antike, ist modernen Historikern ironischerweise selbst ein nahezu Unbekannter. Wann ist er geboren worden? Wir wissen es nicht. Wann und wo ist er gestorben? Wir wissen es nicht. Ist er verheiratet gewesen, hatte er Kinder? Wir wissen es nicht. Aus wenigen Indizien – Hinweisen in seinem eigenen Geschichtswerk und später überlieferten, eher legendenhaften denn nüchtern-chronistischen Berichten – können Historiker mit vielen „Wahrscheinlichs“ und „Vielleichts“ sein Leben skizzieren.

Über einige römische Kaiser und ihre Familien, über wenige Feldherren, Dichter und Philosophen der Antike sind wir besser informiert als über Jesus aus Nazareth. Von den allermeisten Menschen der Antike aber wissen wir noch weitaus weniger als von ihm. Es fällt uns heute nur selten auf.

Dieses Buch will, bei aller gebotenen Vorsicht, eine Beschreibung dessen liefern, was wir heute vom Nazarener wissen – und von der Welt, durch die er wanderte und in der er predigte. Doch diese Welt – ein kleiner Landstrich im Nahen Osten – war eingebettet in eine viel größere: das Imperium Romanum. Und Jesu Wirken ist eine Episode zweier sehr viel älterer geistig-religiöser Strömungen: des Judentums und der griechisch-antiken Geisteswelt.

Deshalb muss hier auch Rom und sein Reich vorgestellt werden – denn ohne Kenntnisse von dieser luxuriösen, politisch, wirtschaftlich und militärisch höchst durchorganisierten, aber religiös blutleer gewordenen antiken Supermacht blieben viele Lehren und Taten Jesu unverständlich. Und unverständlich bliebe der Nazarener auch, würde man nicht bedenken, dass Jesus Jude war und mithin in einer über eintausendjährigen Tradition stand. Und dass diese Tradition, begünstigt durch Roms Eroberungspolitik und dessen kulturelle Nähe zu Griechenland, von der hellenisch geprägten Nachbarwelt des Nahen Ostens bedroht war. Unverständlich schließlich, weil Jesus nie direkt zu uns spricht, sondern stets in den Aufzeichnungen früher Anhänger, vor allem der Evangelisten und der Apostel Petrus und Paulus, wiedergegeben wird. Die aber, Untertanen, gar Bürger Roms reagierten auf die Herausforderungen ihrer jüdischen und griechisch-römischen Zeitgenossen. Sie predigten für beide Gruppen, sie reisten von entlegenen Fischerdörfern in Galiläa bis zur Metropole Rom – und sie nutzten den Frieden, den das Imperium Romanum garantierte, um Kirchen zu gründen, in denen das Wort Jesu – so, wie sie es verstanden – weitergetragen wurde.

Das Wort und die Welt Jesu: Es ist die Beschreibung einer ungewöhnlichen Zeit, eines außerordentlichen Lebens, einer ebenso tröstlichen wie beunruhigenden Lehre.

Der Mann aus Galiläa stiftet die größte Religionsgemeinschaft der Welt. Heute berufen sich fast zwei Milliarden Christen auf ihn und es werden, da Missionserfolge und Bevölkerungswachstum in den weniger entwickelten Ländern die Kirchenaustritte in den westlichen Industrienationen überwiegen, noch immer täglich mehr. Seit zwei Jahrtausenden gehen Menschen in seinem Namen in den Tod oder begehen in seinem Namen Morde. Zwei Jahrtausende, in denen manche, die ihm nachzufolgen meinen, sich in Askese von der Welt abwenden und andere, sich auf ihn berufend, Weltreiche regieren. Ihm zu Ehren schaffen die besten Künstler aller Zeiten ihre größten Meisterwerke. Und im Glauben, ihm zu dienen, schicken die Inquisitoren Tausende als „Ketzer“ auf die Scheiterhaufen. Entwicklungshelfer und Rettungssanitäter berufen sich heute so selbstverständlich auf ihn wie einst Kreuzritter und Konquistadoren. Und unzählige Namenlose haben zu allen diesen Zeiten als fromme Spender und Helfer Kathedralen errichtet und Hospize unterstützt und all das am Leben erhalten, was wir heute unter „Kirche“ verstehen.

Doch wer war dieser Jesus von Nazareth, in dessen Namen seit zwei Jahrtausenden Liebe und Leid in die Welt kommen?

Diese Frage hat, überspitzt formuliert, 1800 Jahre lang niemanden interessiert, Christen nicht und ihre Gegner auch nicht. Jesus war der Christus, war der Erlöser, war Gottes Sohn. Kann der Sohn Gottes eine Biografie haben? Diese Frage klang absurd, blasphemisch geradezu.

Erst seit dem Zeitalter der Aufklärung vor rund 300 Jahren schieben Wissenschaftler jene dunklen Schichten der Überlieferung, die uns Heutige von der Antike trennen, nach und nach beiseite, um einen Blick auf den „wahren“, den historischen Jesus zu werfen. Atheisten sind darunter, die mit der Kirche nicht mehr viel zu tun haben, ebenso aber auch überzeugte Christen, die eben jene biblischen Geschichten bestätigt wissen wollen.

Inzwischen haben Historiker und Theologen, Philologen und Archäologen aus verstreuten Funden ein faszinierendes Puzzle zusammengefügt, haben aus wiederentdeckten altjüdischen Texten, aus dem Grundriss eines zweitausend Jahre alten Dorfhauses, aus den mürben Planken eines uralten Fischerbootes, aus den Gräbern von Priestern, den Skeletten von Hingerichteten, haben aus Münzen, Inschriften und steinernen Gefäßen ein Bild wieder entstehen lassen: Ein Bild von jener Gegend am Ostrand des Imperium Romanum, von dem, was die Menschen damals dachten und hofften, woran sie glaubten und was sie hassten.

Dieses Bild ist noch immer nur Fragment, aber doch präzise genug für eine Zeitreise auf den Spuren von Jesus und seiner Welt.

Ein Reich von dieser Welt

Jesu Welt: Das ist eine abgelegene, vergleichsweise arme, ständig unruhige Region in einem der langlebigsten Weltreiche der Geschichte – dem Imperium Romanum.

Jahrhundertelang glich das Mittelmeer einem gigantischen Marktplatz. An seinen Rändern lebten – mal friedlich, oft kriegerisch – unterschiedliche Völker. Das Meer selbst war der Weg für Heere, Waren, Ideen, so dass im Laufe der Jahrhunderte zwar keine gemeinsame Zivilisation, aber doch ein großer Kulturraum entstand.

Vor allem im östlichen Mittelmeerraum – jenem Becken, das von Kleinasien bis etwa zu einer Linie Griechenland-Ägypten reicht – entwickelte sich schon früh eine erstaunliche Vielfalt. Das Reich der Pharaonen, das sich bereits im dritten vorchristlichen Jahrtausend ausgeformt hatte, war 2000 Jahre später immer noch eine Macht, wenn auch eine, die im Untergang begriffen war. In Kleinasien kämpften jahrhundertelang diverse Zivilisationen – die Hethiter etwa, die Lyder, Perser oder das Seefahrervolk der Phönizier – um die Vorherrschaft. Ihre Nachbarn waren die Griechen. Die hatten, zersplittert in Hunderte Stadtstaaten wie Athen, Korinth oder Milet, nicht nur die peloponnesische Halbinsel besiedelt, sondern auch, geschickte Seefahrer, die sie waren, Kolonien gegründet in Kleinasien, an den Schwarzmeerküsten, in Nordafrika und sogar weit im westlichen Mittelmeerraum: in Süditalien, Südfrankreich und Spanien.

Dort, im westlichen Mittelmeerraum, stießen die Griechen auf das Reich der Handelsmetropole Karthago in Nordafrika; auf Etrusker, die Mittelitalien beherrschten; auf Kelten in Frankreich und Iberer in Spanien. Und sie stießen auf eine, zunächst, kleine Stadt an einem Fluss irgendwo in Mittelitalien: auf Rom.

Als Jesus geboren wurde, war diese vielfältige Mittelmeerkultur noch immer gegenwärtig und doch zugleich Vergangenheit. Gegenwärtig, weil die Völker in verschiedenen Sprachen redeten und unterschiedliche Götter verehrten, weil die Griechen noch in ihren Städten saßen und die Kelten in Südfrankreich, weil phönizische Seefahrer noch immer das Meer befuhren und ägyptische Isis-Priesterinnen in Tempeln Opfer darbrachten.

Vergangenheit aber doch auch, weil alle Menschen des Mittelmeerraumes erstmals in der Geschichte dem gleichen Herrn unterworfen waren: dem Kaiser von Rom.

Vor allem Roms Herrschaft über die östliche Hälfte der Mittelmeerwelt war dabei jedoch ein noch vergleichbar neues Phänomen. Die Tiberstadt war als Republik groß geworden, als „Senatus Populusque Romanus“, „Senat und Volk von Rom“: SPQR. Im Senat bestimmten die Oberhäupter mächtiger Adelsfamilien wie der Scipionen die Politik. Roms Bürger, vor allem die Bauern, dienten als Soldaten in der Legion und erhielten im Falle eines Sieges einen angemessenen Anteil von Beute und Land.

So schwang sich die Stadt, vor allem in den Kämpfen gegen den nordafrikanischen Erzrivalen Karthago, im dritten und zweiten vorchristlichen Jahrhundert in endlosen Kriegen zur Beherrscherin des westlichen Mittelmeeres auf. Im Jahr 146 v. Chr. wurde Karthago dem Erdboden gleichgemacht – und Rom wandte sich endgültig ostwärts.

Während die Legionen Griechenland, den Balkan, dann Syrien unterwarfen, veränderte sich der Staat, der sie ausschickte. Schwere, Jahrzehnte währende Bürgerkriege erschütterten während des ersten vorchristlichen Jahrhunderts nun auch Rom selbst: Kämpfe mächtiger Heerführer, die das Gleichgewicht der Macht im Senat nicht länger akzeptieren wollten, sondern zur Alleinherrschaft strebten. Im Jahr 45 v. Chr. hatte sich Julius Caesar gegen alle Rivalen durchgesetzt. Zwar wurde er schon im Jahr darauf von Senatoren erdolcht, doch die Tage der Republik waren endgültig gezählt.

Nach weiteren Kämpfen um das Erbe Caesars ließ sich dessen Neffe und Adoptivsohn Octavian vom Senat im Jahr 27 v. Chr. den Ehrentitel „Augustus“ verleihen, „der Erhabene“. Von nun an war Rom ein Kaiserreich.

Augustus regierte bis 14 n. Chr. – eine ganze Generation lang, länger, als jemals ein römischer Kaiser auf dem Thron sitzen würde. In diesen Jahren formte er den neuen Staat: Der Kaiser stand allein an der Spitze, war oberster Feldherr, höchster Richter, wichtigster Priester in Person. Der Senat blieb als hoch geachtete Institution bestehen, verlor aber viel von der Macht, die er jahrhundertelang innegehabt hatte. Immerhin erwählte der Kaiser aus seinen Reihen viele Männer, die er als Gouverneure und Heerführer in die Provinzen schickte, um die unterworfenen Länder zu sichern, neue Gebiete zu erobern und die Grenzen zu verteidigen.

Doch insgesamt begann mit seiner Herrschaft, nach Jahrhunderten der Eroberungs- und Bürgerkriege, eine der friedlichsten Epochen, die das Abendland je kennen gelernt hatte. Die Menschen mochten Untertanen eines fernen Kaisers sein und somit nicht „frei“ in einem modernen politischen Sinn. Der großen Mehrheit jedoch – nicht nur der Römer, sondern auch der Germanen, Gallier, Iberer, Afrikaner, Syrer und anderer Provinzialen – ging es besser als je zuvor. Rom beendete die Willkürherrschaft lokaler Potentaten und brachte Rechtssicherheit; es schaffte viele Zollgrenzen und andere Handelshemmnisse lokaler Märkte ab und verteilte den Wohlstand eines Weltreiches in alle Regionen.

Als Augustus am 19. August des Jahres 14 n. Chr. starb, hinterließ er seinem Schwiegersohn und Nachfolger Tiberius ein stabiles, prosperierendes Reich, in dem schon lange alle Völker aus den Ländern des östlichen Mittelmeeres ihre Tribute an den Kaiser entrichten mussten. Bereits 30 v. Chr. – und zwar wegen der Kämpfe um Caesars Erbe – war zuletzt Ägypten zur römischen Provinz geworden. Der ganze Nahe Osten war bereits seit gut sieben Jahrzehnten Teil des Imperiums, darunter auch Judäa und Galiläa.

Nach Jahrhunderten der Kriege herrscht in der antiken Welt die Pax Romana. An Spaniens Atlantikküste und in der Judäischen Wüste, am Rhein und am ersten Nilkatarakt – überall stehen Legionen. Überall gelten dieselben Gesetze und zahlt man mit der gleichen Münze. Ein Straßennetz von rund 6000 Kilometer Länge durchzieht das Imperium, im Mittelmeer kreuzen Schiffe fast unbehelligt von Piraten. Die Boten des Kaisers und seine Legionen sind überall im Reich – aber auch Händler, Glücksucher, entflohene Sklaven, Künstler, Touristen. Und mit ihnen zirkulieren Ideen, Gerüchte, Geschichten.

Um zu verstehen, was sich in jenen Jahren Revolutionäres – im Sinne eines neuen Glaubens, einer anderen Spiritualität, anderer Werte, aber auch einer ganz anderen Einstellung zum alltäglichen Leben – im Nahen Osten anbahnte, muss man zunächst den Blick nach Italien lenken, zum Herzen des Imperiums: der Stadt Rom.

Denn Rom – Roms Bürger, Roms Kultur, Roms Reichtum, Roms Moden, Roms Werte – sind Maßstab für die Bevölkerung eines ganzen Weltreiches. Überall in den Provinzen, von Grenzposten wie den späteren Städten Köln oder London bis hin zu den alten Metropolen des Ostens, etwa Athen oder Alexandria, eifern die Menschen Rom nach. Amphitheater und Thermen werden errichtet, um sich so vergnügen zu können wie ein „echter“ Römer, Theater dienen derben Schauspielen, Praetorien der Verwaltung, Kanäle der Hygiene, Basiliken den Gerichtsverhandlungen, Foren dem Markt, dem Klatsch, der politischen Intrige. Rom mit seiner Pracht und Exzentrik, seinem Reichtum und seinem Zynismus, seinen blendenden Tempeln und düsteren Vergnügungsstätten ist weit mehr als „nur“ eine Metropole: Es ist eine geistige Macht, verführerisch und verschlingend. Jede neue Religion, jede strenge zumal, muss mit den gefährlichen Reizen der Tiberstadt konkurrieren – oder lernen, sie sich zunutze zu machen.

Wie aber fühlt sich Rom an, der Mittelpunkt des Imperiums? Wie riecht es? Vielleicht lässt sich der Charakter einer Stadt nur erfassen, wenn man Augen und Ohren für einen Moment verschließt. Wie also fühlt sich Rom an? Wie kühler Marmor? Glatt wie Gold? Warm wie Holz und Ziegel unter der Sonne?

Nein: Rom fühlt sich rau und ein wenig mürbe an wie bröckelnder Beton. Und die Stadt stinkt nicht einfach oder duftet – sie überfordert die Nase mit ihrer Luft. Kot und Urin, Blumen und Honig, Wein und Bronze, der Dunst von Bratenfett und ranzigem Lampenöl, der Staub von zertrümmerten Steinen und Ziegeln, die billigen Duftwässerchen der Straßendirnen und käuflichen Knaben, das sanfte Aroma erlesener Dufthölzer, Pinien in Gärten, Lavendel- und Rosenessenz, Pfeffer, Kardamom und viele weitere Gewürze des Ostens, Blut von Tieren und Menschen – alles schwitzt die Stadt zugleich aus, ohne Unterlass jede Stunde, jeden Tag, Jahr um Jahr, Jahrhundert um Jahrhundert.

Das Wahrzeichen Roms ist nicht der Jupitertempel auf dem Kapitol, mit seiner Front aus sechs weißen ionischen Marmorsäulen, der den Herrn der Götter verherrlicht. Zwar opfern hier täglich Priester und Bürger, die ihre Köpfe mit ihren Togen verhüllt haben. Und so lange sie Jupiter huldigen, so besagt eine Legende, wird Rom bestehen. Doch mit den Herzen sind sie nicht dabei, ihr Ritus ist Ritual geworden. Ist, wenn überhaupt, Aberglaube, nicht Glaube.

Nein, das echte Wahrzeichen Roms, sind seine insulae – die schäbigen, fünf- bis siebengeschossigen Wohnblocks, die fast alle Straßen und Gassen der Stadt säumen, überwölben. Die Wände aus einer dünnen betonähnlichen Masse (siehe Seite 21), die Decken aus Holzbohlen, die Fensterbänder ohne Glas, die Fassaden mit Putz und Ziegeln geschminkt, um die Risse im Mauerwerk zu überdecken, mit hastig eingeschlagenen Stützbalken in manchen Etagen, ohne fließendes Wasser, ohne Heizung, ohne einen einzigen Kamin; hoffnungslos überfüllt, laut, verwanzt und vom Einsturz bedroht, wann immer nachts ein Karren mit schweren Marmorblöcken auf der Straße vorbeirumpelt – das sind die 46 602 Hochhäuser der Tibermetropole.

Rom um die Zeitenwende: Ungehindert strömen die Reichtümer des Imperiums in die Hauptstadt, ungebrochen ist der Menschenstrom. Manche kommen freiwillig aus den Provinzen hierher, um in der Metropole ihr Glück zu machen. Viele aber sind gegen ihren Willen in der Stadt: Rund ein Drittel der etwa eine Million Einwohner sind Sklaven.

„Echte“ Römer, deren Familien schon seit Generationen am Tiber leben, sind längst in der Minderheit. Denn aus allen Gegenden Italiens, aus Sizilien, Sardinien, Korsika, aus Gallien und Spanien, aus Britannien, Germanien und Raetien, von den Küsten Nordafrikas und aus Ägypten, aus Griechenland und Kleinasien hat es Menschen hierhin verschlagen. Auch viele Juden haben sich in Rom niedergelassen.

Niemand weiß, wie groß Rom genau ist. Kaiser Augustus hat die Stadt in 14 Bezirke eingeteilt, 13 auf dem linken und einen auf dem rechten Tiberufer. Schon damals sind Wohnhäuser und Sportanlagen, Theater und Tempel weit über die alte Stadtmauer hinausgewuchert – sechs Bezirke liegen inzwischen außerhalb der einstigen Grenzen.

Die Juristen haben es deshalb längst aufgegeben, die Größe durch geografische Angaben definieren zu wollen. Sie haben stattdessen eine Regel erdacht, die ebenso praktisch und flexibel wie rücksichtslos und hochmütig ist: Roms Stadtgrenzen verlaufen stets eine Meile (1478 Meter) vor seiner geschlossenen Bebauung, wo immer die auch gerade enden mag – eine Metropole als Organismus, der ohne Beschränkungen sein Umland verschlucken darf.

Der Moloch hat schon rund 2000 Hektar Fläche okkupiert und ist ständig vom Infarkt bedroht. Denn seine Straßen, obwohl sie aneinandergelegt rund 85 Kilometer lang wären, sind zu eng und verwinkelt. Auf den Tiber, auf 14 Fernstraßen, acht Brücken und rund 30 Tore verteilt sich der aus allen Provinzen heranbrandende Menschen- und Güterstrom: zu wenig. Und obwohl rund ein Dutzend Aquädukte täglich fast eine Milliarde Liter kaltes, glasklares Nass aus dem Apennin heranschaffen, haben die meisten Römer in ihrem Leben noch nie eine Wohnung mit fließendem Wasser betreten.

1797 domus listet ein antikes Verzeichnis für Rom auf: einzeln stehende Häuser, vom kleinen Alterssitz über die Villa eines reichen Händlers bis hin zum Palast des Kaisers auf dem Palatin. Viele Hausherren genießen Privilegien, die für die meisten Römer undenkbar sind: Ruhe – weil geschlossene Haus- oder Hofmauern und dichtes Buschwerk den ewigen Lärm dämpfen. Wasser – weil Bleirohre das Nass von Verteilerstellen bis direkt ins Haus spülen. Wärme – weil Glasfenster Sonne, aber nicht Kälte hineinlassen. Platz – weil sich nur eine Familie mit ihren Sklaven die Wohnfläche teilt.

Wer nicht reich ist – und das ist jeder, der nicht über ein Vermögen verfügt, das dem eines heutigen Multimillionärs entspricht –, der muss sich mit einer Bleibe in einer der 46 602 insulae begnügen. Ein Bauer aus Gallien oder ein aus Germanien verschleppter Sklave mag beim ersten Blick auf die Stadt ehrfürchtig denken, dass hier selbst die gewöhnlichen Bürger in himmelstürmenden Palästen leben: Fast überall überwuchern die dicht gedrängten Hochhäuser die Tempel, Lagerhäuser und Theater, und viele dieser rund 20 Meter hohen insulae stehen auf nur 300 bis 400 Quadratmeter Grundfläche.

Wer vor einem Mietshaus steht, muss den Kopf in den Nacken legen, um bis zum Rand des flachen, mit Schindeln gedeckten Daches zu blicken – und oft wird er selbst so nichts sehen können. Denn Säulengänge und Balkons aus Ziegeln und Holz kleben an der Fassade, und manchmal bleibt zwischen den Balkons zweier gegenüberliegender Blocks kaum ein halber Meter Luft.

In den Erdgeschossen, hinter Rundbögen, die sich zur Straße öffnen, liegen Tavernen, wo ein Becher Wein oder ein Brot für ein as zu haben sind, ein warmes Gericht für zwei und eine Prostituierte für acht – so viel, wie ein Lehrer pro Schüler monatlich an Gebühren einstreicht und doppelt so viel wie der Tageslohn eines Lastenträgers im Hafen.

Hinter anderen Rundbögen arbeiten tonsores und stutzen mit Messern Männern den Bart oder drehen ihnen mit Eisenstäben, die in glühender Asche erhitzt wurden, Locken ins Haar. Die Messer werden von Gehilfen geschärft, die auf den Wetzstein spucken, bevor sie die Klinge anlegen. Blutungen nach einem Schnitt stillen sie mit einem öl- und essiggetränkten Knäuel aus Spinnweben.

Neben den tonsores bieten Metzger Schweinezitzen oder Rinderlungen feil, die an Haken von der Decke baumeln. Daneben haben Blumen-, Obst-, Gemüse- und Honighändler ihre Läden, Spiegel- und Perlenhändler, Elfenbeinschnitzer, Pastetenbäcker, Stiefelmacher. Und manchmal wohnt der Besitzer einer insula selbst im Erdgeschoss und hat es zu einer Art luxuriösem Stadthaus ausgebaut.

Wie auch immer das erste Geschoss genutzt wird – prächtig ist es allemal: Reliefs aus Stein und Holz zieren die Fassade, über die blühende Ranken meterhoch wuchern. In vielen Fenstern stehen Blumentöpfe. Manche Böden und Wände sind mit Mosaiken und Fresken geschmückt, die andernorts kaum in Palästen zu finden sind.