Manfred Spitzer

Musik, Meditation und Mittelmeerdiät

Miniaturen zu Geist, Gehirn und Gesundheit

herausgegeben von Wulf Bertram

Wulf Bertram, Dipl.-Psych. Dr. med, geb. in Soest/Westfalen, Studium der Psychologie, Medizin und Soziologie in Hamburg. Zunächst Klinischer Psychologe im Universitätskrankenhaus Hamburg Eppendorf, nach Staatsexamen und Promotion in Medizin Assistenzarzt in einem Sozialpsychiatrischen Dienst in der Provinz Arezzo/Toskana, danach psychiatrische Ausbildung in Kaufbeuren/Allgäu. 1986 wechselte er als Lektor für medizinische Lehrbücher ins Verlagswesen und wurde 1988 wissenschaftlicher Leiter des Schattauer Verlags in Stuttgart, 1992 dessen verlegerischer Geschäftsführer. Im gleichen Jahr gründete er zusammen mit Thure von Uexküll und medizinischen Fachkollegen die Akademie für Integrierte Medizin, deren Vorstand er seitdem angehört. Aus seiner Überzeugung heraus, dass Lernen ein Minimum an Spaß machen müsse und solides Wissen auch unterhaltsam vermittelt werden kann, konzipierte er 2009 die Taschenbuchreihe »Wissen & Leben«. Bertram hat eine Ausbildung in Gesprächs- und Verhaltenstherapie sowie in Psychodynamischer Psychotherapie und arbeitet neben seiner Verlagstätigkeit als Psychotherapeut in eigener Praxis.

Für sein Lebenswerk, seine »wissenschaftlich fundierte Verlagstätigkeit im Sinne des Stiftungsgedankens«, wurde Bertram 2018 der renommierte Wissenschaftspreis der Margrit-Egnér-Stiftung verliehen, deren Ziel es ist, zu einer humaneren Welt beizutragen, in welcher der Mensch in seiner Ganzheitlichkeit im Mittelpunkt steht.

Impressum

Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer

Universität Ulm, Psychiatrische Klinik

Leimgrubenweg 12 – 14

89075 Ulm

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Schattauer

www.schattauer.de

© 2019 by J. G. Cotta‘sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Bettina Herrmann, Stuttgart

unter Verwendung einer Abbildung von © Adobe Stock/Alice Fox

Lektorat: Ruth Becker, Tübingen

Projektmanagement: Dr. Nadja Urbani, Stuttgart

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608-40029-8

E-Book: ISBN 978-3-608-19159-2

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20427-8

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Ulla, Anja, Thomas, Stefan, Markus, Anna, Camillo, Leopold, Sophie & Isabella

Vorwort

Ein Buch mit dem Titel Musik, Meditation und Mittelmeerdiät macht hoffentlich neugierig. Es hätte auch Musik, Wandern und Natur oder Meditation, Mäuse und Myelin heißen können. Es geht wie in den vergangen achtzehneinhalb1 Büchern dieser Art um neue Erkenntnisse aus den Bereichen Psychologie und Gehirnforschung, die aus meiner Sicht wichtig sind und ein breiteres Publikum verdienen oder ganz einfach für neugierige Menschen interessant sein könnten. Alle Beiträge wurden in den Jahren 2017 und 2018 in der Zeitschrift für Nervenheilkunde publiziert.

Die Bedeutung von Pfadfindern und Wandervögeln für die – seelische und körperliche – Gesundheit der Menschen kann man kaum überschätzen, weswegen ich dieses Kapitel an den Anfang stellen musste. Bekanntermaßen kommen viele Leser über die ersten Buchkapitel nicht hinaus, und mir war wichtig, dass sie auch in diesem Fall die sehr gut gemachten Studien zu Natur, Bewegung, Musik und Gesundheit kennenlernen. Dass wir hierzulande Pfadfinder und Wandervögel für antiquiert halten, liegt an der deutschen Geschichte, für die diese Bewegungen nichts können, wie die nach wie vor große Beliebtheit und Verbreitung der Pfadfinder in Großbritannien und den USA zeigen. Ins gleiche Horn stößt Kapitel 2 zum Naturerleben und der Wissenschaft hierzu. Ganz gleich, ob man es nun »Waldbaden« nennt, »Wellness« oder ganz einfach »Wanderung durch Wald und Feld« – rausgehen ist nicht nur gesund, es macht sogar bessere Menschen (in moralischer Hinsicht) aus uns. Dies trifft auch für das Geben zu, das tatsächlich viel besser (seliger) ist als das Nehmen, wenn es um das eigene Glück und die eigene Gesundheit geht, wie schon zum dritten Mal in 20 Jahren hier anhand neuer publizierter Fakten dargestellt wird (Kapitel 3).

Dass die Ostsee, an der ich gerade dieses Vorwort schreibe, der weltweite Hotspot der Blauäugigkeit ist, und warum dies so ist, schildert Kapitel 4. Es handelt sich um ein besonders schönes Beispiel für das Zusammenspiel von Kultur und Biologie und sollte eigentlich Einzug in unsere Biologie-Lehrbücher halten. Die Kapitel 5 und 6 ebenso, wobei es egal wäre, ob sie im Musik-Lehrbuch (da fällt mir auf: wir hatten im Fach Musik nie ein Lehrbuch wie beispielsweise immer in Mathe, Deutsch, Englisch, Physik oder Biologie. Warum eigentlich nicht?) oder im Biologie-Lehrbuch abgedruckt werden. Wichtig ist, dass wir den Kindern – und übrigens auch den (Bildungs-)Politikern! – klarmachen, wie wichtig Musik ist!

Nicht weniger deutlich wird der Zusammenhang zwischen Biologie und Kultur in Kapitel 7, geht es doch um die Hypothese (und um Fakten, die für sie sprechen), dass eine Infektion mit dem Parasiten Toxoplasma gondii das menschliche Verhalten in einer Weise beeinflusst, die den Kapitalismus begünstigt. Man kann dies zunächst gar nicht glauben, aber die Fakten sind nun einmal, wie sie sind. Man wird dennoch weitere Erkenntnisse abwarten müssen, bevor man sich dazu entschließt, das Ganze in Lehrbüchern abzudrucken. Sollte sich der Zusammenhang jedoch bestätigen, dann wäre dies ein paradigmatisches Lehrstück allererster Güte.

Dass man die Frage, warum und wie Meditation beim Menschen wirkt, auch mithilfe von Mausmodellen beantworten kann, halte ich für bemerkenswert. Dazu müssen die Mäuse nicht einmal meditieren, man braucht vielmehr nur bei ihnen den gleichen Theta-Rhythmus zu implementieren, den man bei meditierenden Menschen auch finden kann. Dann kann man dessen neuronalen Auswirkungen nachgehen und auf diese Weise die neuronalen Mechanismen von Meditation beim Menschen besser verstehen. Das ist kein Hokuspokus, sondern clever angewendete Neurobiologie, die zudem noch ganz praktische Auswirkungen für das Erlernen von Meditation haben könnte.

Schon mehrfach habe ich Reiseerfahrungen für die Nervenheilkunde aufbereitet und niedergeschrieben, vor allem dann, wenn sie von allgemeinem Interesse sein könnten und beispielhaft für allgemeine Sachverhalte stehen. Da in Qatar demnächst eine Fußballweltmeisterschaft stattfinden wird, gibt es ein allgemeines Interesse, und was man in Kapitel 9 lesen kann, sollte Pflichtlektüre für die anreisenden Fans sein. Je nachdem, wie sich die Polizei in dem kleinen Land während der paar Wochen Trubel verhalten wird, könnte es auch Tausenden einen Gefängnisaufenthalt ersparen. Wenn das keine praktische Konsequenz ist . . .

Das 10. Kapitel über die Mittelmeerdiät könnte das Leben sehr vieler Leser verlängern (und vor allem, wie man heute sagt, die gesunde Zeit des Lebens) und ist daher an praktischer Relevanz ebenfalls kaum zu überbieten. Für mich persönlich gilt jedenfalls, dass ich seit seiner Abfassung mehr Olivenöl und mediterranes Gemüse esse als vorher. Mit der Paläo-Diät (Kapitel 11) ist das anders. Sie muss im Grunde nur als Ausrede herhalten, um sich einzureden, Fleisch in großen Mengen essen zu dürfen, obwohl dies weder für den eigenen Körper noch für den Planeten gesund ist.

Wenn es um Diät geht, dann geht es auch immer um den Darm, dessen Bewohner seit einigen Jahren in immer neuen Schlagzeilen wissenschaftlicher Literatur von sich reden machen (Kapitel 12). Man spricht mittlerweile nicht mehr von Darmflora, sondern vom Microbiom, was zwar nicht ganz korrekt ist, dafür aber umso besser zum »-omics-Hype« passt, der sich krebsgeschwürartig durch alle Zweige der Biologie frisst. Die Krebsforschung (sic!) hat er längst erreicht, das Gehirn auch. Man spricht mittlerweile von der Darm-Gehirn-Achse, und die Krankheiten, um die es dabei geht, decken das Spektrum der Nervenheilkunde nahezu vollumfänglich ab: Parkinson, Alzheimer, Multiple Sklerose, Autismus, Depression – hat jemand noch ’ne Idee?

Der soziale Aspekt unserer Existenz war schon immer Thema in meinen Beiträgen zur Nervenheilkunde, und um ihn drehen sich auch die Kapitel 13 (wie man kompetent erscheinen kann ohne anzugeben) und 14 (warum Schmerzen mit sozialem Lernen zu tun haben, ansteckendes Jucken aber nicht). Krawatten können die Durchblutung des Gehirns tatsächlich einschränken (Kapitel 15), wobei der Effekt meist klinisch wenig relevant sein dürfte. Bei Daimler jedenfalls lief das Geschäft trotz deren Abschaffung in den letzten Jahren nicht besser. Dem gegenüber schmecken Zimtsterne an Weihnachten nicht nur gut, sondern sind auch gut für das Gehirn (Kapitel 16), und wo wir gerade bei Weihnachten sind, wird im Kapitel danach die Frage diskutiert (Kapitel 17), was dieses Fest mit Sex zu tun hat (mehr als Sie denken!). Dass Menschen gar nicht fähig sind, mehrere Gedanken zugleich explizit zu denken, wurde schon vor zehn Jahren in der Nervenheilkunde diskutiert. Daher mussten auch jüngere Daten, die dies belegen, und solche, die dem scheinbar widersprechen, erneut aufgegriffen und diskutiert werden (Kapitel 18).

In der Nervenheilkunde und der ihr zugrundeliegenden Gehirnforschung ist nach wie vor sehr viel los. Man sagt, dass in den letzten 20 Jahren mehr Wissen auf diesem Gebiet zutage gefördert wurde als in den 2000 Jahren davor. Aus meiner Sicht ist das sogar eher noch untertrieben.

Als ich vor 20 Jahren das Vorwort zur ersten Sammlung meiner Beiträge zur Zeitschrift für Nervenheilkunde schrieb, wäre es mir nicht im Traum eingefallen, dass ich diese Aufgabe nun jährlich haben würde. Dieses Buch stellt daher für mich ein kleines Jubiläum dar: 20 Jahre Nervenheilkunde und 20 Bücher mit etwa 400 Beiträgen, die ich für diese Zeitschrift verfasst habe (vgl. Tabelle 1).

Tabelle 1: Übersicht zu den 20 Büchern mit meinen Beiträgen zur Zeitschrift für Nervenheilkunde (Editorials und Rubrik Geist & Gehirn).

Beiträge aus NHK-Jahrgang

Titel (Erscheinungsjahr)

Anzahl Beiträge

Beiträge zu Medien & Digitalisierung

1999

Geist, Gehirn & Nervenheilkunde (2000)

19

1

2000

Ketchup und das kollektive Unbewusste (2001)

23

2

2001

Schokolade im Gehirn (2001)

18

0

2002

Verdacht auf Psyche (2003)

22

2

2003

Von Geistesblitzen und Hirngespinsten (2004)

20

1

2004

Frontalhirn an Mandelkern (2005)

22

3

2005

Gott-Gen und Großmutterneuron (2006)

22

4

2006

Vom Sinn des Lebens (2007)

22

0

2007

Liebesbriefe und Einkaufszentren (2008)

22

1

2008

Das Wahre, Schöne, Gute (2009)

20

1

2009

Aufklärung 2.0 (2010)

22

2

2010

Dopamin und Käsekuchen (2011)

20

5

2011

Nichtstun, Flirten, Küssen (2012)

21

3

2012

Das (un)soziale Gehirn (2013)

19

9

2013

Rotkäppchen und der Stress (2014)

17

4

2014

Denken – zu Risiken und Nebenwirkungen (2015)

17

5

2015

Gelegenheit macht Liebe (2016)

21

7

2016

Früher war alles später (2017)

18

7

2017/18

Die Smartphone-Epidemie (2018)

15

15

2017/18

Musik, Meditation und Mittelmeerdiät (2019)

18

1

Gesamt

398

73

Die neunzehnte Aufsatzsammlung erschien nicht im Schattauer Verlag, sondern bei Klett-Cotta, und hatte die Beiträge aus den Jahren 2017 und 2018 aus der Nervenheilkunde, die sich mit dem Thema »Smartphone« und im weiteren Sinne »Digitalisierung« beschäftigten, zum Inhalt. Das Buch hat den Titel Die Smartphone-Epidemie. Gefahren für Gesundheit, Bildung und Gesellschaft und war also einerseits wie die 18 Bücher davor – und das (hier vorliegende) zwanzigste danach – eine Sammlung (mehr oder weniger stark überarbeiteter) Beiträge aus der Nervenheilkunde. Andererseits war es zugleich ein eigenständiges Buch und es erschien nicht bei einem Spezialisten für medizinische Wissenschaft wie dem Schattauer Verlag, sondern beim Publikumsverlag Klett-Cotta – und damit »außer der Reihe«.

Es war nötig geworden, weil nach Digitale Demenz (2012) und Cyberkrank! (2015) sehr viele neue Erkenntnisse zu den negativen Folgen der Digitaltechnik, und insbesondere von Smartphones, publiziert worden waren, die bislang in keiner Zusammenfassung vorlagen und daher einer breiten Leserschaft vergleichsweise unzugänglich waren. Beiträge zum Thema »Computer, Medien und Digitalisierung« gab es in nahezu jedem Jahr und damit auch jedem meiner Bücher. Angesichts der rasanten weltweiten Verbreitung des Smartphones und dessen täglicher Nutzungsdauer und der Tatsache, dass bis heute keinerlei Technikfolgenabschätzung von Smartphones publiziert wurde, die diesen Namen auch zu Recht trägt, erschien es mir – und erscheint es mir noch heute – dringend notwendig, meine Beiträge hierzu gebündelt unter dem Titel Die Smartphone-Epidemie zu publizieren. Dass das Buch bis heute seine Leser findet, bestätigt mich in dieser Auffassung.

An dieser Stelle sei jedoch betont, dass ich weit davon entfernt bin, mich »nur noch« auf die Digitalisierung zu konzentrieren, wenn ich sie auch tatsächlich nach wie vor für über-hyped und hinsichtlich ihrer Gefahren für unterschätzt halte. Vielmehr deckt die Gehirnforschung permanent Neues auf, was für uns – jeden einzelnen und die Gesellschaft – wichtig ist. Dieses Wissen aufzubereiten, zusammenzufassen und im jeweiligen Kontext darzustellen, um damit zur notwendigen Verbreitung dieses Wissens beizutragen, war und ist noch immer für mich letztlich die Triebfeder meiner Arbeit. Das einundzwanzigste Buch ist daher mittlerweile auch schon wieder zu etwa zwei Dritteln bis drei Vierteln fertig. Noch macht das alles sehr viel Freude und verleiht, nicht zuletzt dank der vielen ermunternden Mails, die ich täglich bekomme, tiefe Befriedigung. Dafür danke ich allen Lesern.

Mein Dank geht diesmal in mehrere Richtungen. Zunächst an Frau Dr. Anja Borchers, die ebenso kompetente wie engagierte Redakteurin der Nervenheilkunde, jetzt bei Thieme und unerschütterlicher Fels in der Brandung der vielen Veränderungen der letzten Jahre. Weiterhin danke ich Frau Ruth Becker, die in den vergangenen zehn Jahren meine Bücher bei Schattauer fabelhaft lektoriert hat, und deren organisatorische und sprachliche Fähigkeiten inzwischen der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikums Tübingen zur Verfügung stehen. Glücklicherweise betreut sie freiberuflich weiterhin einige wenige ausgewählte Bücher wie beispielsweise meine.

Das Psychiatrie-, Psychotherapie- und Psychosomatikprogramm des Schattauer Verlages ist unterdessen unter das Dach von Klett-Cotta umgezogen, wobei die »Marke Schattauer« und die Programmorientierung erhalten bleiben. Frau Dr. Nadja Urbani hat zusammen mit Dr. Wulf Bertram diesen Umzug ebenso behutsam wie engagiert begleitet und behütet dort als Lektorin die Kontinuität des organisatorischen und inhaltlichen Rahmens.

Ein ganz besonderer Dank gilt dem langjährigen Inhaber und Geschäftsführer des Schattauer Verlages, Herrn Dieter Bergemann. Unter seiner Ägide sind nicht nur vor 20 Jahren meine ersten Schattauer-Bücher erschienen, sondern er hat alle meine weiteren Publikationen wohlwollend und mit persönlichem Interesse begleitet. Mit inzwischen über 80 Jahren hat er 2016 beschlossen, den Verlag in andere Hände zu übergeben und sich nun in den »wohlverdienten Ruhestand« (dieser etwas abgedroschene Begriff stimmt in Bezug auf Dieter Bergemann tatsächlich!) zu verabschieden. Ich darf ihm von dieser Stelle viel Zufriedenheit und Gesundheit wünschen und noch lange Freude an den neu erscheinenden Schattauer-Büchern wie diesem hier.

Seit mich mein Freund und Kollege Prof. Dr. Thomas Kammer beim Herausgeben der Nervenheilkunde tatkräftig unterstützt, macht mir die Arbeit noch mehr Spaß, weil wir uns immer wieder inhaltlich mit den Beiträgen auseinandersetzen. Diese Diskussionen sind sehr offen und erfrischend, finden immer im Bestreben statt, der Zeitschrift und damit den Lesern gute Qualität zu bieten und zugleich mit den Autoren in einen produktiven Austausch zu treten. Die Nervenheilkunde hat ein Peer-review-System, es funktioniert auch dank der vielen Kollegen, die uns helfen, die Qualität von Manuskripten zu beurteilen und zu verbessern. Noch können das Algorithmen nicht, und wenn ich meine Diskussionen mit Thomas gedanklich rekapituliere, bin ich mir auch nicht sicher, ob das jemals gehen wird. Und selbst wenn, dann hätten die Algorithmen nicht den Spaß dabei. Lieber Thomas, ich hoffe, Du bleibst noch lange im Nervenheilkunde-Boot und hilfst mir weiter nach Kräften!

Last but not least bedanke ich mich bei meinem Freund Dr. Wulf Bertram. Er hat meine 20 Jahre Nervenheilkunde letztlich auf dem Gewissen, denn er war es, der mir die Herausgeberschaft dieser Zeitschrift vor mehr als 20 Jahren anbot. »Dieses Käseblatt?«, soll ich damals geantwortet haben und habe ich tatsächlich. Mehr als zwei Jahrzehnte und mittlerweile knapp 420 kleine Publikationen weiter muss ich sagen, dass dies mein Leben schon ziemlich verändert hat, denn alle zwei Wochen etwas Neues und Interessantes zu schreiben, ist nicht immer nur eine Freude, sondern zuweilen auch sehr lästig. Aber dann ist es auch wieder gut, dass man einen Schubser von außen hat, und nicht zuletzt deswegen ein Schriftstück dann eben auch zuweilen beendet, obwohl man weiß, dass man mindestens noch zwei Jahre daran arbeiten müsste und sich über den Sachverhalt ein mindestens dreibändiges Werk verfassen ließe.

Im Hinblick auf die Bücher, die aus meinen Beiträgen wurden, hat mich Wulf auch immer unterstützt. Bescheiden wie er ist, schrieb er mir vor einigen Tagen anlässlich der Fertigstellung dieses Büchleins: »Solltest Du das unwiderstehliche Bedürfnis haben, Dich auch bei mir zu bedanken, könntest Du schreiben, dass Du Dich bei Deinem Freund Wulf Bertram nicht zu bedanken brauchst, ebenso wenig wie er sich bei Dir. Wir teilen ja, in unterschiedlichen Funktionen und Positionen, das gleiche Anliegen, nämlich die Befunde aus der hochkarätigen Forschung weiterzugeben, die für einen breiteren Leserkreis interessant sind, weil sie uns gesünder, bewusster, humaner, entspannter und glücklicher machen können; und dass es eigentlich nicht zu verantworten wäre, sie in der akademischen Höhenluft zu belassen. Vielmehr sollen sie als frische Brise das Organ erreichen, um das es in ihnen geht.«

Danke!

Hiddensee, im Juli 2019

Manfred Spitzer

1 Pfadfinder, Wandervögel und seelische Gesundheit

Plädoyer für eine (fast) vergessene Erlebnispädagogik

(1)Pfadfinder und Wandervögel(1) gibt es seit über 100 Jahren. Kein Wunder also, dass sie »in die Jahre gekommen sind«, wie man so sagt, erscheinen sie doch heute Vielen als Relikt aus einer längst vergangenen Zeit.

Und in der Tat: Liest man das Buch des Begründers der Pfadfinderbewegung, des britischen Generals Robert Baden-Powell(1) (1857 – 1941), so ist man über die – heute würden wir sagen – paramilitärische Diktion erstaunt, vielleicht sogar entsetzt (▶ Abb. 1-1). Aber es waren ja auch andere Zeiten und Baden-Powell war nicht nur ein erfolgreicher Militär, sondern auch ein sehr guter Diplomat, und viele seiner im Buch diskutierten »Fallbeispiele« sind Zeugnisse von Weisheit und Menschenkenntnis (und nicht von aggressivem Waffengeklapper).

Abb. 1-1 Portrait Robert Baden-Powells(2). Reproduktion eines Ausschnitts vom Cover der Biografie von Tim Jeal aus dem Jahr 1989 (links); Cover eines Nachdrucks der 1908 erschienenen Originalausgabe seines Buchs Scouting for Boys (rechts). © Foto eines Exemplars im Besitz des Autors.

Schon während seiner Militärzeit schrieb Baden-Powell Bücher über das Beobachten und Auskundschaften, zunächst für das Militär, dann auch für männliche Jugendliche. In einer ziemlich ausweglosen militärischen Situation der Belagerung hatte er diese für »Hilfsdienste« eingesetzt und war von Können, Mut und Begeisterungsfähigkeit der jungen Menschen überrascht. Ausgehend von diesen Erfahrungen im zweiten Burenkrieg begann er über sinnvolle zivile Aktivitäten von jungen Menschen nachzudenken, wobei mehr gemeint ist als nur die Spurensuche (daher der Name »Pfad-Finder«, engl.: »Boy Scout«), nämlich z. B. auch:

Ein Zufall wollte es, dass Baden-Powell im Jahr 1907 auf der kleinen britischen Insel Brownsea (wenige Kilometer westlich vom Seebad Bournemouth gelegen) ein Lager mit 21 Jungen durchführte, um seine Ideen zur »naturnahen Erlebnispädagogik(1)« (und wieder: erst heute nennen wir das so!) in der Praxis einmal auszuprobieren. Der Morgen nach der ersten Nacht am Lagerfeuer, der 1. August 1907, gilt seither als Beginn der Pfadfinderbewegung. Diese breitete sich in der Folge weltweit sehr rasch aus, und hatte kurze Zeit später schon tausende Mitglieder in vielen europäischen Ländern, einschließlich Deutschlands.

Abb. 1-2 Zeichnungen von Baden-Powell aus seinem »Pfadfinder-Handbuch(1)«, die das breite Spektrum der Aktivitäten zeigen.

Etwas früher als die Pfadfinder war in Deutschland bereits eine andere Bewegung von Schülern und Studenten entstanden, die den Namen Wandervogel(2) trägt (▶ Abb. 1-3). Hierbei ging es um das Erleben von Natur und das Leben in der freien Natur. Diese hatte einerseits durch die Industrialisierung der Gesellschaft im 19. Jahrhundert als Lebensraum an Bedeutung verloren, wurde jedoch zunehmend verklärt – angeregt durch Ideale der Aufklärung und der Romantik. Konkret begannen im Jahr 1896 in Berlin-Steglitz der damalige Student Hermann Hoffmann(1) und der Schüler Karl Fischer(1) im kleinen Kreise mit anderen begeisterten Wanderern, gemeinsame Fahrten und Wanderungen zu organisieren, woraus am 4. November 1901 die Gründung des Vereins Wandervogel – Ausschuß für Schülerfahrten e. V. resultierte.

Abb. 1-3 Gedenkstein der Wandervogelbewegung im Stadtpark Steglitz, Berlin, im Parkteil zwischen der Sedan- und Klingsorstraße und Emblem der Wandervogelbewegung – der Wandervogelgreif (oben rechts, gemeinfrei).

Die Wandervogelbewegung war damit der Beginn dessen, was man nach dem Ersten Weltkrieg »Jugendbewegung(1)« nannte. Sie spielte im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts (bis 1933) für andere Entwicklungen wie die Reformpädagogik, die Freikörperkultur und die sogenannte Lebensreformbewegung2, eine wichtige Rolle.

Die Wandervogelbewegung breitete sich innerhalb weniger Jahre über den ganzen deutschsprachigen Raum aus3 und war zunächst völlig unpolitisch, wie zeitgenössische Beschreibungen der Anhänger der Bewegung sehr deutlich vor Augen führen: »Der Wandervogel von echtem romantischem Blute, [. . .] Ein brauner dreckiger Kerl mit einem Schlapphut, ein paar grün-rotgoldenen Bändern irgendwo, den Rucksack auf dem Buckel, draußen einen rußigen Kochtopf und auf der Schulter eine Guitarre« (Wolf Meyen, zit. nach Blüher 1913/1963, S. 50).

Apropos Gitarre, also »Zupfgeige«: Der Heidelberger Medizinstudent und spätere Arzt Hans Breuer(1) gab im Jahr 1909 die Volksliedersammlung mit dem Namen Zupfgeigenhansl(1) heraus, die traditionelle Volkslieder, Studentenlieder und vieles mehr nach Themen geordnet enthielt – zum gemeinsamen Singen auf den Wanderungen. Diese anlässlich ihres 100. Geburtstags als »Neue Deutsche Welle der Kaiserzeit« (Wetzel 2009) bezeichnete Liedersammlung erreichte eine Gesamtauflage von über einer Million Exemplaren und gilt als das wichtigste deutsche Liederbuch des 20. Jahrhunderts.

Im Grunde genommen gab es vor gut einem Jahrhundert weder den Wandervogel noch die Wandervogelbewegung, sondern unzählige kleine wandernde Gruppierungen mit unterschiedlichen Gedanken und Interessen. »Umstritten waren beispielsweise Fragen der Mädchenbeteiligung und der Alkoholabstinenz«4, später kamen noch Auseinandersetzungen um homoerotische Vereinsmitglieder hinzu (Wikipedia 2016). Bereits im Jahr 1904 wurde der erste Verein – nach nur drei Jahren – wieder aufgelöst und zwei neue gegründet. Trotz weiterer Abspaltungen, Neugründungen, Zusammenschlüssen, Übernahmen etc. nahm die Bewegung insgesamt bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs an Bedeutung (und vor allem an Teilnehmern!) zu.

Den motivationalen Hintergrund (so reden wir heute) der Bewegung beschrieb Ernst Buske(1) im Jahr 1920 wie folgt (das längere Zitat sei erlaubt, werden doch die der Bewegung zugrunde liegenden Ideen und Gefühle sehr eindrücklich beschrieben): »Wen es jahraus, jahrein, Sonntag für Sonntag und in den Ferien auch für mehrere Wochen aus Unnatur und Zwang, aus Hast und Gier des lebenstötenden Stadtgetriebes hinaus in die ewigjunge, spannungsauslösende Natur getrieben hat, wer durch das geheimnisvolle Weben eines Sommermorgens im steilen Walddom geschritten ist, wer über blühende Heide bei totenstiller Mittagszeit durch flimmernde Sonnenstäubchen wanderte, wer auf ragender Bergeshöhe oder am rauschenden Meer oder auf stiller Schneehalde die Sonne sinken sah, wer aus dumpfem Gemäuer verfallener Burgen zum sternenübersähten Nachthimmel aufschaute, wer, wenn das Sonnwendfeuer allmählich verglommen, über den Bergen das Frührot aufsteigen sah – wer so sich selbst als Teil der Natur und die Natur als Teil seines Selbst fühlt, der ist nicht mehr wurzellos wie der Städter, seine Wurzeln senken sich tief hinein in das Land, das er durchwandert, und er umfasst die Heimat mit seiner ganzen Liebe.«

Interessant ist, dass der Autor dieses intensive Naturerleben – ganz im Sinne von Immanuel Kants(1) Kritik der Praktischen Vernunft5 – mit der Ausbildung einer prosozialen moralischen Einstellung in unmittelbaren Zusammenhang stellt, wenn er wie folgt fortfährt: »Aber nicht nur das Land, auch seine Bewohner und ihre Art werden dem Wanderer Leben und Erleben. Wer heut beim Bauer, morgen beim Dorfhandwerker, übermorgen beim Förster, Lehrer oder Pfarrer sein einfaches Nachtlager findet, wer heut hier am Herd sitzt und sich von der freundlichen Großmutter von alten Sagen und Gebräuchen und wunderbaren Menschenschicksalen erzählen lässt, wer morgen mit der Dorfjugend unter der weitausladenden Dorflinde die alten Volkslieder singt oder in lustigen Reigen sich schwingt, wer übermorgen mit dem Bauern aufs Feld geht und bei dringlicher Arbeit fleißig mit Hand anlegt – wer so mit freundlichem Blick und mit helfender Hand den Menschen begegnet, dem bleiben sie nicht fremd. Und aus dem Verstehen der Menschen, ihrer Art und Arbeit kommt Achtung und Liebe, kommt das tiefe Gefühl des Teilseins, das Bewusstsein eines übernatürlichen Zusammenhangs, in dem wir alle umfangen sind« (Buske 1920, zit. nach Kindt 1963, S. 198 f.).

Nach dem Ersten Weltkrieg kam es zu einer Annäherung von Pfandfinder- und Wandervogelbewegung, was zunächst einmal beiden gut tat, dem Wandervogel die Diszipliniertheit, Selbstkontrolle und Verantwortung (für andere) und den Pfadfindern die Konzentration auf die Natur und deren Erleben.

Entsprechend änderte sich das Erscheinungsbild der Beteiligten, »[. . .] die Jugendherberge hat Heulager und Zelt abgelöst, in der Kleidung ist man [. . .] zu sachlicher Schlichtheit gekommen [. . .]« merkt der Pädagoge Erich Weniger(1) hierzu im Jahr 1928 an, und beschreibt das Erscheinungsbild der Wanderer sehr schön wie folgt: »[. . .] die eigentümlich aufgelöste Form des Tippelns – die weit auseinandergezogene Gruppe [. . .], von Ferne an den Zug von Wildvögeln erinnernd und ein merkwürdiges Ineinander von trotzigem Individualismus und von selbstverständlicher Gebundenheit – ist unter dem Einfluss der Pfadfinder [. . .] abgelöst durch die geschlossene, marschierende Gruppe [. . .]« (Weniger 1928, zit. n. Kindt 1963, S. 546).

Was nach 1933 sowohl mit der Pfadfinder- als auch mit der Wandervogelbewegung geschah, ist hinlänglich bekannt: Da es sich immer um einzelne kleine lokale Gruppen handelte, konnten sie entweder verboten bzw. unterdrückt werden oder sie wurden in die Hitlerjugend integriert bzw. gingen in ihr auf. Nicht zuletzt deshalb gelangten beide Bewegungen hierzulande nach dem Zweiten Weltkrieg nie mehr zu der Bedeutung, die sie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts hatten.

Damit könnte dieser Bericht enden, wären da nicht eine ganze Reihe neuer Daten und Erkenntnisse zur Bedeutung des Erlebens von Natur für die seelische Gesundheit ganz allgemein sowie das Funktionieren höherer geistiger Leistungen im Besonderen. In den USA untersuchten Jang und Mitarbeiter im Rahmen einer Gallup-Umfrage Eagle Scouts(1), also eine Untergruppe besonders herausragender Pfadfinder und verglichen sie mit normalen Pfadfindern (Scouts) sowie Personen, die nicht bei den Pfadfindern waren. Zwischen dem 12. Oktober und dem 20. November 2010 wurden 2489 – davon 134 Eagle Scouts, 853 (non-Eagle) Scouts und 1502 non-Scouts – männliche erwachsene Amerikaner telefonisch befragt.

Man erhob zunächst (unabhängige Variable), wie viele Jahre die Männer früher (d. h. vor ihrem 18. Lebensjahr) bei den Pfadfindern waren (von »0« bis »5 und mehr«).

Tab. 1-1 Die sozialen Variablen wurden dadurch erfasst, dass man einerseits das soziale Netzwerk (links) erfragte und zum zweiten die Zeit bestimmte, die mit Gruppenaktivitäten (rechts) verbracht wurde (Jang et al. 2014).

Soziales Netzwerk

Gruppenaktivitäten

Wie oft sprechen Sie oder besuchen Sie die Nachbarn in den zehn bis zwanzig Ihnen am nächsten stehenden Haushalten?

  • nie

  • weniger als einmal im Jahr

  • mehrmals pro Jahr

  • einmal im Monat

  • mehrmals pro Monat

  • mehrmals pro Woche

  • etwa täglich

Wie vielen formellen oder informellen Gruppen, die sich mindestens einmal im Monat treffen, gehören Sie an?

  • keiner

  • einer

  • zwei

  • drei

  • vier

  • fünf

  • sechs

  • sieben und mehr

Danach wurden (als abhängige Variablen) die Fähigkeiten zu Zielorientierung und Vorausplanung erfasst sowie das soziale Netzwerk und das Eingebundensein in soziale Gruppen (▶ Tab. 1-1). Auch das Freizeit- und Gesundheitsverhalten sowie das subjektive Wohlbefinden wurden mittels standardisierter Verfahren erfasst. Man erfragte dazu einzeln zwölf Freizeitaktivitäten, die man draußen ausführt (z. B. Wandern, Kanufahren, Fischen, Camping, Wintersport) sowie vier weitere Freizeitbeschäftigungen (z. B. Besuch von Veranstaltungen wie Theater, Konzerte, Besuch von Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen, ein Instrument spielen, Bücher lesen). Sportliche Aktivitäten wurden dadurch erfragt, dass man die Anzahl der Tage/Woche (von »0« bis »7«) erhob, an denen der Proband mindestens eine halbe Stunde Sport trieb.

Das subjektive Wohlbefinden wurde in soziales, emotionales und körperliches Wohlbefinden eingeteilt und einzeln erfasst (▶