Katrin McClean
Das Kind
in der
Speicherstadt
Ein Ellert & Richter Krimi
1
Veronika Dorn schloss ihr Fahrrad an, richtete sich auf und musterte das Gebäude, das sie gleich betreten sollte. Ein Blockbau aus roten Klinkersteinen, wie sie für fast alle Nachkriegsbauten in Hamburg verwendet worden waren. Die Fenster reihten sich quadratisch und in immergleichen Abständen aneinander.
Sieht ja wie ein Knast aus, dachte Veronika. Eine Assoziation, die ihrem momentanen Gefühl entsprang. Schließlich fürchtete sie, in den nächsten Minuten zu etwas verdonnert zu werden, das sie als Eingriff in ihre persönliche Freiheit empfinden würde.
Seit einem Jahr war Veronika Dorn arbeitslos, und nun hatte sie ein Schreiben vom Arbeitsamt bekommen, mit der Bitte um ein persönliches Gespräch. Ein bestimmter Grund war nicht angegeben. Wahrscheinlich war sie gerade in die Statistik der Langzeitarbeitslosen gerutscht und jetzt wollte man ihr einen von diesen Ein-Euro-Jobs aufbrummen.
Sie stieg die Treppe zum „Team akademische Berufe“ hinauf. Hoffentlich fallen mir ein paar gute Argumente ein, um den Sachbearbeiter von seinem Vorschlag abzubringen, dachte sie.
Als sie an der angegebenen Tür klopfte, wurde sie sofort hineingerufen. Hinter einem Schreibtisch saß ein Mann im kurzärmeligen Hemd, der sie begrüßte, ohne von seinem Computer aufzusehen. Womöglich las er dort ihren Namen ab: „Frau Doooorn.“
Er war nicht der Erste, der ihren kurzen Namen genussvoll in die Länge zog.
Veronika las das Namensschildchen, das an der Brusttasche seines Hemdes steckte.
Jetzt sei wenigstens so höflich und sieh mich an, Doberenz, forderte sie ihn in Gedanken auf. Manchmal halfen solche stummen Ansprachen. Bei dem Hemdsärmelmann tat sich nichts. Noch immer starrte er auf seinen Computer, als hätte Veronika sich dort versteckt.
Dann kehren wir das Rollenverhältnis doch einfach mal um, dachte Veronika und tat etwas, das für sie reine Routine war: Sie eröffnete das Gespräch, als wäre es eine therapeutische Sitzung.
Sie sagte: „Bitte“, als wäre Herr Doberenz ein Klient. Mit einer gewissen Forderung im Unterton. „Bitte, Herr Doberenz.“
Es wirkte. Der Mann nahm seinen Blick vom Bildschirm und sah sie an. Ich bin wohl die Erste, die du heute ansiehst, fragte Veronika ihn in Gedanken und beobachtete lächelnd, wie ihr Gegenüber nervös mit dem rechten Augenlid zuckte.
„Ich habe ein Angebot für Sie“, sagte er.
„Das dachte ich mir bereits“, erwiderte sie und lächelte weiter. Er konnte ihr jetzt unmöglich einen entwürdigenden Vorschlag machen, ohne dabei rot zu werden.
Doch nun begann dieser Herr Doberenz zu grinsen. „Ich glaube, Sie sind sogar bestens für diesen Job geeignet“, sagte er und schob seine Mundwinkel noch einen weiteren Zentimeter auseinander.
Er sollte sofort damit aufhören. Es gab nur eine Möglichkeit, ihn dazu zu bringen. Selbst grinsen. Veronika machte ihren Job-Vermittler nach, so gut sie konnte. Treffer. Herr Doberenz guckte wieder ernst. Er räusperte sich und sagte: „Ermittlungsassistentin.“
„Ich bin Psychologin“, wies sie ihn zurecht.
„Ja“, bestätigte er. „Mit abgeschlossener Polizeiausbildung.“
„Ja“, sagte sie. Und nicht mehr. Nur ihre innere Stimme raste am Geschehen vorbei und hielt einen stummen Monolog.
Meine Polizeiausbildung ist fast zwanzig Jahre her, und mir ist inzwischen klar, dass ich damals einer pubertären Phantasie gefolgt bin. Aber das erkläre ich dir jetzt nicht, das wird dich sowieso nicht interessieren.
Während sie ihren Vermittler weiter anlächelte, spulte sich ein Kindheitserlebnis in ihrem Bewusstsein ab. Innerhalb ihrer Ausbildung zur Psychologin hatte sie diese Szene in mehreren Therapiesitzungen aufgearbeitet, sodass jetzt wenige Sekunden genügten, um sie präsent zu haben.
Es lag 27 Jahre zurück, dass ihre Mutter ein paar Monate lang mit einem jähzornigen Trottel zusammen gewesen war, der Möbel und Geschirr zerschlug, wenn sie Streit hatten. Die zwölfjährige Veronika war nie sicher gewesen, wo für diesen Mann die Grenze zwischen Gegenständen und menschlichen Körpern lag. Sie hatte immer das Gefühl, dass seine Schläge eigentlich ihrer Mutter galten und nur mit Mühe auf Stühle und Vasen gelenkt wurden. Die Mutter hatte sie jedes Mal ins Kinderzimmer geschickt. Hinter der Tür verborgen, bettelte und schluchzte Veronika, er möge bitte aufhören. Was er meistens auch tat. Wenige Stunden später heulte er dann vor Reue und versprach, dass er es nie wieder tun würde. Doch je größer seine Versprechungen wurden, desto heftiger wurde sein nächster Wutanfall. Mithilfe einer Therapeutin hatte Veronika später verstanden, dass es die Enttäuschung über sich selbst war, die den Zorn des Mannes bei jeder neuen Entgleisung steigerte. Eines Abends riss er sogar den Kronleuchter von der Decke, ein Erbstück der Großmutter. Funken sprühten, und das Licht flackerte gespenstisch, bevor es ausging.
„Bist du wahnsinnig“, schrie Veronikas Mutter. „Willst du uns umbringen?“
„Dann hol doch die Polizei“, schrie er zurück. Zu Veronikas Verblüffung tat ihre Mutter genau das. Sie hatte den Hörer noch nicht wieder aufgelegt, da war der Mann schon aus der Wohnung verschwunden. Als die Polizisten eintrafen, konnten sie nur noch die Daten des Flüchtigen aufnehmen. Eine der beiden Beamten war eine Frau. Veronikas Mutter entschuldigte sich, dass sie umsonst gekommen waren. Die Polizistin hatte sie nicht nur beruhigt, sie hatte die Mutter sogar dafür gelobt, dass sie die Polizei gerufen hatte. Und dann hatte die Beamtin ihren Kollegen dazu überredet, den Kronleuchter wieder anzubringen, auch wenn das gar nicht seine Aufgabe war. Seitdem hatte Veronikas Berufswunsch festgestanden.
„Was haben Sie denn gegen den Polizeidienst?“, unterbrach Herr Doberenz ihren Gedankenstrom.
„Gar nichts“, antwortete sie. „Die Psychologie liegt mir nur mehr.“
„Soweit ich das beurteilen kann, wird ein Psychologie-Diplom bei einer Mordkommission nicht schaden.“
Sie zuckte zusammen, aber dann kam ihr der Gedanke, dass Doberenz bluffte. „Das heißt doch gar nicht so.“
Doberenz sah in seinen Computer.
„Landeskriminalamt, Spezialeinsätze“, las er vor. „Das ist doch dasselbe, oder?“
Sie begriff. Es ging nicht darum, dass das Arbeitsamt ihr einen Ein-Euro-Job anbieten wollte. Das, worauf Doberenz die ganze Zeit starrte, war ein richtiges Stellenangebot.
Ich geh nicht wieder zur Polizei, sagte sie zu sich, und suchte nach guten Argumenten.
„Ich nehme an, dass mir die entsprechende Berufserfahrung fehlt, um den Personalchef im Landeskriminalamt überzeugen zu können“, wandte sie ein.
Doberenz forschte mit gerunzelter Stirn erneut in ihren Daten und begann plötzlich zu lächeln. „Sie haben zuletzt mit Drogenabhängigen gearbeitet.“
Veronika fragte sich, was daran so erfreulich war.
„Die Suchtberatungsstelle wurde auf einen einzigen Festangestellten reduziert. Und da haben wir uns natürlich für unseren ältesten Kollegen entschieden“, erklärte sie ihrem Vermittler. Aber das interessierte den gar nicht. Er legte drei Formblätter aufeinander und reichte sie über den Schreibtisch.
„Ich wette, mein Kollege dort wird Sie gern nehmen. Bei dem, was Sie gemacht haben, wissen Sie ja schon, wie die Kriminellen so ticken.“
„Wie kommen Sie denn darauf?“
Herr Doberenz beugte sich vor. „Na, das Meiste passiert doch sowieso im Suff, oder?“ Er grinste so vertraulich, als säßen sie miteinander am Stammtisch.
Veronika nahm ihm die Papiere aus der Hand. Sie hatte gar keine Wahl.
2
Zwei Tage später stieg Veronika Dorn auf ihr Fahrrad, um zum Vorstellungsgespräch ins Landeskriminalamt zu fahren. Das LKA befand sich zwar am anderen Ende der Stadt, aber sie kam gar nicht auf die Idee, mit der Bahn zu fahren. Sie fuhr immer Fahrrad. Als langjährige Büroarbeiterin nutzte sie jede Gelegenheit, sich fit zu halten. Ihr Bewegungsdrang und ihre Abneigung gegen schweres Essen waren auch der Grund, warum sie mit neununddreißig noch dieselbe Figur hatte wie mit neunzehn.
So schlank wie sie war, hätte sie jeden Modetrend mitmachen können, aber das interessierte Veronika nicht. Das Wort Shoppingvergnügen hatte keine Bedeutung für sie. In ihrem Kleiderschrank hing eine überschaubare Kollektion von Klassikern, verhältnismäßig teure Sachen, die vor allem einen Vorteil hatten: Sie hielten lange. Die Hose und die Bluse, die sie für das Vorstellungsgespräch gewählt hatte, besaß sie seit zwölf Jahren. So pragmatisch wie mit ihrer Kleidung hielt Veronika es auch mit ihren Haaren. Alle vier Wochen ging sie zum Friseur, und zwar immer zur selben Friseurin, und ließ sich einen Bubikopf schneiden. Geschwungene Spitzen über den Ohren und ein ausgefranster Pony. Normalerweise schminkte sie sich auch nicht. Heute hatte sie allerdings Make-up und Lippenstift aufgetragen. Es gab ihr ein Gefühl von Schutz, und das würde sie in der nächsten Stunde wohl brauchen.
Schon beim Frühstück hatte sie in Gedanken auf einen unbekannten Personalchef eingeredet. Ich bin komplett ungeeignet, glauben Sie mir.
Allein der Gedanke, dass sie jeden Tag den Stadtteil verlassen sollte, in dem sich seit fünfzehn Jahren der weitaus größte Teil ihres Lebens abspielte, gefiel ihr nicht. Ihr gesamter Alltag fand in Ottensen statt. Die einzigen längeren Unterbrechungen waren ein jährlicher Spanienurlaub und der Besuch bei ihrer Mutter zu Weihnachten. Auch die Drogenberatungsstelle hatte in Ottensen gelegen, nur zehn Radminuten von Veronikas Haustür entfernt. Tausende Male war Veronika wie jetzt über die Pflastersteine der Ottenser Hauptstraße geradelt. Und ebenso oft war sie auf den Bürgersteigen entlanggeschlendert, um im französischen Weinladen, beim italienischen Gemüsehändler und im Biomarkt einzukaufen.
Die Cafés von Ottensen gaben ihrem Single-Dasein ein Zuhause. An einem Tag wie heute würde sie normalerweise an einem der Tische sitzen, die jetzt auf den Gehwegen standen. Mit einer Zeitschrift und einem Kaffee würde sie die pralle Augustsonne genießen, die auf das einstige Arbeiterviertel schien und die Fenster zum Leuchten brachte. Bekannte und Freunde würden vorbeikommen, sich dazusetzen oder zumindest stehen bleiben, um ein paar Worte zu wechseln. Die meisten Menschen hier strebten an einem solchen Tag nach draußen, einen Balkon oder eine Terrasse besaßen die wenigsten. Wenn eine Wohnung über ein richtiges Bad verfügte, war das schon der Gipfel des Luxus. Die Wohnhäuser vom Anfang des letzten Jahrhunderts waren meist nur dürftig saniert worden. Veronika stieg jeden Morgen über ihre Toilette, um in die Dusche zu kommen. Doch um nichts in der Welt hätte sie Ottensen deshalb verlassen.
Ottenser reden nicht über ihr Bad, hatte eine ehemalige Kollegin einmal zu Veronika gesagt. Das stimmte, traf aber nicht den Kern. Ottensen war sich selbst ein Universum. Wer hier lebt, kann auf den Rest der Welt verzichten, hatte Veronika der Kollegin entgegnet, sogar auf ein Vollbad. Sie jedenfalls kannte keinen anderen Ort, der so wie Ottensen dörfliche Idylle und Weltoffenheit vereinte. Das Völkchen, das hier seine Wahlheimat gefunden hatte, hatte für Veronika etwas Besonderes. Kaum trafen sich zwei Ottenser, erzählten sie sich Witze. Etwas Unsichtbares schien sie zu verbinden. Vielleicht war es die Tatsache, dass viele von ihnen Heimatlose waren und nach einem solchen Ort gesucht hatten. Und es war egal, ob diese Suche in der Türkei, in Argentinien oder in einem hessischen Dorf begonnen hatte, so wie bei Veronika. Sie waren Wahlnachbarn in einer Wahlheimat. Zumindest noch.
Veronika hatte jetzt die Fußgängerzone erreicht, die Shoppingmeile vor dem Altonaer Bahnhof. In den letzten Jahren hatte sich viel verändert. Nach und nach waren die letzten privaten Geschäfte verschwunden, verdrängt von den Filialen globaler Kommerzketten. Selbst das alte Jugendstilbad war abgerissen worden, um Platz für einen weiteren Konsumtempel zu schaffen. Erst vor einer Woche war die letzte Bastion der Ottenser Kulturszene aus der Fußgängerzone verschwunden, der Musikladen Zardoz, in dem man Jazz oder Trip Hop hören und dabei den besten Milchkaffee des Viertels trinken konnte.
So aggressiv die Sieger der Marktwirtschaft auch vom Zentrum des Ottenser Dorfes Besitz ergriffen, sein ureigenes Flair ließ sich nicht so schnell zerstören. Die Punks, die hier seit zehn Jahren in aller Öffentlichkeit vor sich hin alterten, besetzten auch weiterhin die Fußgängerzone, die Musiker aus Osteuropa und Lateinamerika erspielten sich immer noch mit denselben Liedern ihren Notgroschen, und da hinter der Shoppingmeile der Bahnhof lag, liefen hier auch alle die Leute entlang, die sich wie Veronika so gut wie gar nicht für die Klamottenläden links und rechts interessierten. Und an den Cafétischen im Schatten der Akazien sah man jede Menge Individualisten, die ihren eigenen Kleidungsstil pflegten.
Veronika bog nach links, um zum Lessingtunnel zu fahren.
Der Bahndamm, unter dem er hindurchführte, war die Grenzlinie, die Ottensen vom Rest von Hamburg trennte, jenem Teil, in den Veronika nur fuhr, wenn es unbedingt sein musste.
Im Tunnel hupte ein Autofahrer hinter ihr, um ihr zu signalisieren, dass sie seiner Meinung nach nicht auf die Fahrbahn gehörte. Wahrscheinlich so ein hektischer Großstädter, der grad von der Autobahn kommt, dachte Veronika und wehrte sich laut: „Siehst du irgendwo einen Radweg, du Knallkopf?“ Sobald sie den Tunnel hinter sich hatte, fuhr sie auf den Bürgersteig, damit die Nervensäge sie endlich überholen konnte.
Bis zur Max-Brauer-Allee hatte sie sich wieder beruhigt. Ab hier musste sie immer geradeaus fahren, den dröhnenden Straßenverkehr um die Ohren, während die Sonne ihre dunklen Haare aufheizte und sich die Abgase allmählich mit dem Schweißfilm auf ihrer Haut vermischten.
Bitte, bitte nehmt mich nicht, dachte sie wieder. Doch dann musste sie über sich selbst lachen. Mit fast vierzig wünschte sie sich so sehr, von einem Personalchef abgelehnt zu werden, wie sie mit fünfundzwanzig um eine Zusage gebangt hatte.
Die Stelle in der Drogenberatung wollte sie damals unbedingt haben. Sie fühlte sich zu Menschen hingezogen, die das sogenannte normale Leben nicht ohne Betäubung aushielten. Allerdings hatte sie bald gelernt, dass die Schwierigkeit ihres Berufes nicht darin bestand, ihre Klienten zu verstehen, viel schwerer war es, sich von ihnen zu distanzieren. Es hatte lange gedauert, bis sie für sich eine Form von Autorität entwickelt hatte, die für sie selbst und damit auch für andere annehmbar geworden war. Wozu hab ich diese ganzen Erfahrungen eigentlich gemacht, wenn ich jetzt wieder von vorn anfangen soll, fragte sie sich, während sie unter der Sternbrücke hindurchrollte. Über ihrem Kopf ratterte eine S-Bahn die Schienen entlang. Rhythmisch schlugen die Räder auf die Gleise, und das Brückengewölbe dröhnte.
Die Ex-Junkies in ihrer Beratungsstelle hatte Veronika oft dazu ermutigt, einen neuen beruflichen Anfang zu suchen. Es gäbe keine bessere Chance, um sich zu bewähren. Warum hatten die eigentlich immer so brav zugehört, fragte sie sich jetzt. Für sie war ein Neuanfang das Letzte, was sie sich wünschte. Allerdings halfen ihr solche Überlegungen auch nicht dabei, Gründe zu finden, die gegen sie sprachen. Sie konnte nicht einfach sagen, dass sie den Job nicht wollte. Damit würde sie ihr Arbeitslosengeld aufs Spiel setzen.
Sie bremste vor einer Ampel, die gerade auf Rot schaltete. Es war die Kreuzung zur Schanzenstraße, vor Veronika erhob sich der Hügel des Schanzenparks. Darauf blinkten die Lichter des neuen Hotels im alten Wasserturm. Vor ein paar Jahren war dieser Turm eine leer stehende Ruine gewesen und damit das beste Wahrzeichen für die Bruchbuden des Viertels. In ihrer Unizeit hatte Veronika hier gewohnt, wie viele Studenten, die den nahe gelegenen Campus besuchten und nur die niedrigen Mieten in der Schanze bezahlen konnten. Ihre Nachbarn waren entweder Kommilitonen oder Großfamilien aus Südosteuropa.
Mittlerweile wimmelte es von internationalen Restaurants in Familienbetrieb und von Agenturen, Büros und Boutiquen, die in der Hand von Mittdreißigern waren. Wenn Veronika die Schanzenstraße hinunterblickte, sah sie Jungunternehmer, die je nach Branche in Anzügen oder Markenjeans über den Bürgersteig eilten, vorbei am besten Musikladen, besten Klamottenladen und besten Falafelladen von Hamburg. Junge Mütter, den Bund ihres Sommerrocks knapp über den Hüftknochen, schoben mit entschlossenen Gesichtern ihren Kinderwagen. Einige von ihnen hielten den Kopf in ständiger Schräglage, um zwischen Kinn und Schulter das Handy festzuhalten.
Wie immer, wenn Veronika hier war, legte sich über die farbenfrohe Gegenwart ein düsteres Bild aus ihrer Erinnerung. Es war genau hier, an dieser Stelle, wo sie vor fast zwanzig Jahren, kurz vor dem Ende ihrer Polizeiausbildung, den Entschluss fasste, die Beamtenlaufbahn niemals anzutreten. Das Geschehen eines einzigen Tages, im Grunde einer einzigen Stunde, hatte diese Entscheidung reifen lassen. Veronika hatte sie getroffen und bis zum heutigen Tag nicht bereut.
Die Ampel schaltete auf Grün. Veronika trat in die Pedale. Jetzt wusste sie, womit sie den Personalchef gegen sich stimmen konnte. Sie würde ihm einfach die Wahrheit erzählen.
3
Sie kam drei Minuten zu spät. Es wäre noch später geworden, wäre sie die letzten fünfzehn Minuten nicht gefahren, als nähme sie an den Cyclassics teil, dem jährlichen Radrennen von Hamburg. Der Schweiß triefte von ihren Schläfen, sie wischte ihn mit einem Papiertaschentuch ab, atmete ein letztes Mal tief durch und klopfte an.
Von drinnen hörte sie Schritte. Die Tür öffnete sich, und Veronika sah einen Mann, der sie überraschte. Unter einem Personalchef der Polizei hatte sie sich einen älteren Beamten vorgestellt, einen Büroarbeiter mit blassem, faltigem Gesicht, Bauchansatz und grauen Schläfen. Stattdessen stand ein Freizeitsportler vor ihr, braun gebrannt und kaum älter als sie, den muskulösen Oberkörper in ein enges, orangefarbenes T-Shirt gezwängt.
Seine dunklen Haare waren bis auf einen Millimeter abrasiert. Er lachte.
„Sind Sie von Altona hierhergerannt, Frau Dorn?“
Sie erklärte ihm, wie sie gekommen war und dass sie die Strecke unterschätzt hatte.
„Dann wollen Sie sich doch sicher erst einmal etwas frisch machen“, sagte der Athlet und zeigte ihr den Weg zu den Toiletten.
Verwundert folgte Veronika seinem Fingerzeig. Erst als sie ihr Spiegelbild sah, verstand sie, worüber er sich amüsiert hatte. Sie sah aus, als hätte ein Kleinkind versucht, sie für Halloween zu schminken. Die Wimperntusche war verlaufen und der Lippenstift verschmiert. Vor Peinlichkeit wurde ihr noch im Nachhinein heiß und kalt.
Schnell wusch sie die Schmiererei ab und verzichtete darauf, sich neu zu schminken. Als sie das Büro wieder betrat, lächelte der Sportsmann immer noch, und der Mann, der neben ihm an einem Konferenztisch saß, schien das auch alles ganz lustig zu finden. Zumindest hatte er die Winkel seines kleinen Mundes ein wenig nach oben gezogen. Der Mund war das Einzige, was klein an ihm war. Seine kurzen, schmalen Lippen schienen vom Rest des Gesichts geradezu eingedrückt zu werden. Dieses Gesicht war massig, voller Wülste und Fettpolster. Die Augen lagen wie kleine, glänzende Eier in dicke Tränensäcke gebettet. Die Wangen fielen schwer herab, sackten an den Mundwinkeln vorbei und gingen in ein gewaltiges Doppelkinn über. Wie ein Berg saß dieser Mann auf seinem Stuhl und ließ seinen Blick auf Veronika ruhen. Sein Lächeln war wieder verschwunden.
„Kommissar Arning“, stellte ihn der Personalchef vor. „Ihr zukünftiger Abteilungsleiter“, fügte er hinzu, als hätte er Veronika bereits eingestellt.
Sie startete den ersten Gegenangriff. „Ich glaube wirklich nicht, dass ich für diese Stelle geeignet bin.“ Doch sie spürte gleich, dass die Strategie, die bei Doberenz gewirkt hatte, hier nicht funktionierte. Der Personalchef war viel zu attraktiv. So einem Mann wollte sie normalerweise gefallen. Es widerstrebte ihren natürlichen Instinkten, sich ihm gegenüber aufzuspielen wie eine Gouvernante. Und nun kam ihr der schöne Mensch im Apfelsinenlook auch noch mit einem Beweis von Freundlichkeit entgegen: „Wir haben vom Arbeitsamt bereits erfahren, dass Sie an Ihrer Eignung zweifeln“, sagte er und fügte hinzu: „Das nimmt uns eigentlich gerade für Sie ein. Wer an sich zweifelt, ist ja meistens auch bereit zu lernen. Wir haben hier eher Schwierigkeiten mit Kollegen, die immer glauben, sie wüssten schon alles.“
Er blickte zu Arning. Der versagte ihm ein zustimmendes Nicken und fuhr fort, Veronika mit seinen Eieraugen zu mustern.
Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, von dem Polizeieinsatz im Schanzenviertel zu erzählen, dem einzigen, an dem sie je beteiligt gewesen war.
Es war 1991 gewesen, einen Tag, nachdem die USA den Golfkrieg begonnen hatten. Studenten hatten spontan eine Protestaktion gegen die Bombardierung von Bagdad organisiert. Das Ganze kam völlig unerwartet, und da fast alle Hamburger Polizeikräfte auswärts im Einsatz waren, holte man die letzten Semester der Polizeischule zur Verstärkung in die Schanzenstraße. Auch die Frauen.
Zum ersten Mal stand Veronika außerhalb einer Übung in Reih und Glied, das Gesicht hinter dem Plexiglas ihres Helms verborgen, den Schlagstock griffbereit am Koppel. Aber vor ihr liefen keine Randalierer, vor denen man die Bevölkerung schützen musste. Die Demonstranten, die an ihr vorbeiliefen, vertraten mit ihren Transparenten genau das, was sie selbst dachte. Am liebsten hätte sie Helm und Schlagstock weggeworfen, um wie sie ihre Haltung gegen sinnlose Gewalt zu zeigen. Verborgen hinter ihrem Schild und für niemanden hörbar flüsterte sie: Bitte behaltet die Nerven, bitte lasst mich nicht zuschlagen müssen. Ihre Bitten wurden erhört, zumindest war es friedlich geblieben. Und sie hatte sich an diesem Tag etwas eingestanden, das sie in Wirklichkeit schon lange mit sich herumgetragen hatte. Sie wollte gar keine Polizistin sein.
Der Personalchef und der dicke Herr Arning sahen sie abwartend an.
Ich kann jetzt unmöglich die ganze Geschichte erzählen, dachte Veronika und versuchte, die Sache auf den Punkt zu bringen: „Ich habe dem Arbeitsamt schon gesagt, dass ich keine gute Polizistin bin. Als Psychologin bin ich viel besser.“
An den Mienen der beiden sah sie, dass diese Erklärung nicht reichte. Sie war ja auch dürftig. Veronika setzte von Neuem an. „Meine Fähigkeiten liegen mehr darin zu verstehen, wie Aggressionen in einem Menschen entstehen können. Ich kann jemandem helfen, seine Wut zu bewältigen. Ich kann mit ihm die Gründe für seinen Zorn erforschen. Aber ich bin nicht gut darin, mich mit jemandem auseinanderzusetzen, der von seiner Wut gerade ganz besessen ist.“
Arning und der Personalsportsmann sahen sie unverändert aufmerksam an. Sie versuchte es noch einmal anders: „Es ist doch ganz einfach. Mich interessiert, wie Gewalt entsteht, aber nicht, wie man sie mit Gegengewalt bekämpft. Und das ist ja wohl die Aufgabe der Polizei.“
„Als Ermittlungsassistentin sind Sie doch keine gewöhnliche Polizistin“, wandte der Personalchef ein und lächelte sie wieder an, diesmal ohne sich nach Arning umzusehen.
Der Dicke hatte sie ohnehin längst durchschaut, das spürte sie. Ihm war klar, dass sie einfach nicht wollte. Aber diese Erkenntnis schien ihm nicht zu genügen. Veronikas Ablehnung musste in seinen Augen etwas Unlogisches haben. Schließlich wurde der Job gut bezahlt.
Sie dachte, das Einzige, womit sie noch überzeugen konnte, war wohl, einfach zu sagen, was sie wollte beziehungsweise nicht wollte. So wie sie es in ihrer Therapeuten-Ausbildung gelernt hatte: Direkte Kommunikation spart Zeit und Nerven und verhindert Missverständnisse.
Also sagte sie: „Ich möchte nie wieder mit einer Waffe in der Hand Menschen bedrohen. Menschen, von denen ich noch nicht einmal weiß, aus welchen Gründen sie etwas vermeintlich Kriminelles tun.“
Arning gab ein Schnaufen von sich. Wahrscheinlich hatte sie gerade seine Berufsehre angegriffen, dachte Veronika und fügte schnell hinzu: „Ich will nicht bestreiten, dass die Öffentlichkeit manchmal mit Waffengewalt geschützt werden muss. Nur ich persönlich, ich kann das nicht.“
Der schöne Personalmensch lenkte ein: „Soweit ich informiert bin, ist für Sie gar keine Dienstwaffe vorgesehen.“ Er sah zu Arning, und zum ersten Mal rührte sich der Kommissar.
„Nur im äußersten Notfall“, antwortete er und beugte sich ein wenig zu Veronika vor. „Zur Selbstverteidigung.“
Kam es ihr nur so vor, oder hatten sich seine Mundwinkel eine Sekunde lang in leisem Spott verzogen?
„Was wir brauchen, ist jemand, der die Kollegen auf der psychologischen Ebene der Ermittlungen unterstützt“, erklärte der Personalmann. „Sie sind doch Expertin auf dem Gebiet der Gesprächsführung, oder nicht?“
„Ich habe therapeutische Gespräche geführt, keine investigativen.“
„Gerade deshalb wissen Sie wahrscheinlich besser als wir, was in einem Täter vorgeht“, sagte der Sportler und erinnerte dabei unangenehm an Doberenz. „Sehen Sie, die Verbrechen haben sich in den letzten Jahren geändert. Es gibt völlig neue Fälle. Nehmen Sie die Amokläufer in den Schulen. Der normale Kriminalbeamte steht ratlos davor. Und da haben wir jetzt, wo gerade wieder eine Stelle frei geworden ist, Ihr Profil beim Arbeitsamt gesehen und uns gesagt: Nehmen wir doch mal eine Psychologin ins Team.“
So war das also. Nehmen wir doch mal die Veronika Dorn ins Team, als Versuchskaninchen. Die haben das längst beschlossen, stellte sie fest, da kann nicht mal mein verschmiertes Make-up was dran ändern, nicht mal mein Pazifismus.
„Also ein Arbeitsverhältnis auf Probe“, vergewisserte sie sich.
„Natürlich“, bestätigten Arning und der Personalsportsmann gleichzeitig.
Letzterer schob ihr die Vertragspapiere zu.
„Denken Sie in Ruhe darüber nach.“
Mit dem Vertrag in der Tasche schloss sie ihr Fahrrad auf. Bevor sie losfuhr, zog sie die Papiere noch einmal hervor und suchte den Absatz, in dem ihr Gehalt angegeben war. Es war doppelt so viel Geld, wie sie zur Zeit im Monat hatte.
Sie trat in die Pedale. Ich mach das nicht, redete sie beim Fahren auf sich ein, nicht für Geld, nicht für gute Worte. Und wenn sie mir hundert Mal versprechen, ich muss keine Gewalt anwenden. Das ist Quatsch. Polizei bleibt Polizei.
Außerdem ist es viel zu weit, dachte sie, merkte aber, dass dieser Einwand der schwächste von allen war.