ISBN 978-3-492-96423-4
Juni 2017
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München 2012
Karte: Daniel Ernle
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München
Umschlagabbildung: Dirk Schulz
Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck
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Dramatis Personae
Menschen
Daghan von Ansun, genannt Dag | Erbe von Ansun |
Lavan | König von Tirgaslan |
Aryanwen | seine Gemahlin |
Osbert | Dags Vater |
Alured | Vertrauter Dags |
Gorwyn | Krieger Ansuns |
Gladwyn | sein Bruder |
Terric | Bogenschütze |
Henquist | ein Veteran |
Anghas Ca’Dur | Clansherr, Lord von Tarnag |
Catriona Ca’Dur | seine Tochter |
Cailan Ca’Dur | sein Sohn |
Ferghas Ca’Dur | sein Bruder |
Dugay | Clansmann |
Eidard | Clansmann |
Thinon | Lordrichter von Tirgaslan |
Dermot von Camory | Ritter des Reiches |
Acha | Mutter des Elfenhains |
Mila | Hebamme des Elfenhains |
Fulk | Hauptmann der königlichen Wache |
Zwerge | |
Winmar von Ruun | König von Erdwelt |
Vigor | Oberhaupt der königlichen Geheimpolizei |
Ansgar | oberster Hofalchemist |
Dalfin | Rebell |
Bertin | sein Bruder |
Dado | dessen Freund |
Besso | Kapitän der königlichen Kriegsflotte |
Orks | |
Krushak | Handlanger Vigors |
Rammar | ein Ork |
Balbok | sein Bruder |
sowie | |
Dwethan | ein alter Druide |
Prolog
Der Stollen war fertiggestellt – und es war kein Zufall, dass seine Erbauer ihm den Namen »Zor« gegeben hatten.
Zor stand für das dunkle Ende.
Es war die letzte Rune im zwergischen Alphabet.
Das letzte Zeichen.
Die letzte Warnung.
Nie zuvor war ein Stollen dunkler gewesen, nie zuvor hatte Zwergenhand dem Jahrtausende alten Gestein eine tiefere Wunde beigebracht, nie zuvor hatte ein Pfad weiter ins Innere des Berges geführt. Viele Hundert Klafter tief reichte er in die abgründige Schwärze, hinab zu den Fundamenten, die einst von den Riesen der Vorzeit gefügt worden waren und auf denen nicht nur die Gipfel und Klüfte des Scharfgebirges, sondern ganz Erdwelt ruhte. Der Stollen führte ins dunkle Herz des Kontinents, nach Gorta Ruun.
Es hatte lange gedauert, ihn in den Fels zu treiben, und zahlreiche Opfer waren dafür nötig gewesen, unzählige Sklaven, die man zur Arbeit in der taglosen Tiefe verurteilt hatte. Und es waren Rückschläge zu verkraften gewesen: Einstürze, die vieler Wochen Arbeit innerhalb weniger Augenblicke zunichte gemacht hatten; Schichten harten Gesteins, das selbst den härtesten Werkzeugen zähen Widerstand geleistet hatte; Höhlenwürmer, die nach Blut der Arbeiter gedürstet hatten; und schließlich eine Springflut, die den noch unfertigen Gang überschwemmt hatte.
Nun jedoch war der Bau vollendet – und kein anderer als Winmar, der Herrscher des Zwergengeschlechts, würde der Erste sein, der in den Stollen einfuhr. Denn nur aus einem einzigen Grund war diese bislang tiefste Kerbe in den Berg geschlagen worden, nur zu einem Zweck waren all die Mühen aufgewendet und Opfer gebracht worden: Damit der Zwergenkönig endlich das tun konnte, wonach die Stimme in seinem Kopf seit Monaten unablässig verlangte, bei Tag und Nacht, mit immer noch wachsender Beharrlichkeit.
»Komm zu mir!«
Vielleicht hätte sich Winmar dem Ansinnen der Stimme verweigert, hätte sie ihn nicht zu dem gemacht, was er war: Die Stimme war es gewesen, die ihm den Weg zur Macht geebnet und ihm schließlich die Zwergenkrone eingetragen hatte.
Sie hatte ihm gezeigt, wie er sich das Vertrauen seines Vorgängers Reginald von Ruun erschlich; sie hatte ihm Mut gemacht, als es darum gegangen war, den Dolch zu nächtlicher Stunde in Reginalds Herz zu senken; und sie hatte ihm neue, mächtige Waffen an die Hand gegeben, damit er die Menschen besiegen und Herrscher über ganz Erdwelt werden konnte.
Dies alles hatte die Stimme ihm versprochen. Und sie hatte ihren Teil der Abmachung erfüllt – nun würde Winmar seinen erfüllen, der Furcht zum Trotz, die er tief in seinem Inneren empfand.
»Komm zu mir …«
»Es ist alles vorbereitet, mein König.«
Ansgars näselnde Stimme riss Winmar aus seinen Gedanken. Der Hofalchemist, der die schwarze Robe seiner Zunft trug, verbeugte sich tief. Für einen Zwerg war Ansgar ungewöhnlich hager, mit kantigen, schädelhaften Gesichtszügen und tief liegenden Augen; seine Haut hatte die Farbe von Asche, und ihm war anzusehen, dass er lange kein Tageslicht mehr gesehen hatte.
Winmar bemühte sich erst gar nicht, seine Abscheu zu verbergen. Er mochte Ansgar und seine Gefolgschaft, die sich in dunkle Roben hüllte und beständig in Rätseln zu sprechen schien, nicht besonders. Gleichwohl sah er ein, dass sie ein notwendiges Übel waren, denn aufgrund ihrer Fähigkeiten waren sie in der Lage, das verbotene Wissen, das die Stimme ihm offenbarte, nutzbringend umzusetzen.
Die Kaldronen waren auf diese Weise entstanden, jene eisernen Kampfmaschinen, vor denen ganz Erdwelt zitterte. Und Winmars Zorn, die furchtbare Waffe, die den Krieg mit den Menschen auf einen Schlag beendet hatte, weil sie in der Lage war, Häuser, Mauern und Türme im Bruchteil eines Augenblicks zu zerstören. Und auch jene neueste Erfindung, die Winmar in kürzester Zeit in die Tiefen des Berges hinabtragen würde, stammte aus den dunklen, rauchverhangenen Grüften der Alchemie. Winmar konnte nicht behaupten, dass er ihr voll und ganz vertraute, aber er hatte keine Wahl, denn die Stimme wurde immer drängender.
»Komm«, verlangte sie wieder.
»Worauf wartest du noch?«, fuhr er Ansgar mit dünner Stimme an, die in seltsamem Widerspruch zu seinem mächtigen Körper zu stehen schien. »Bringt mich zum Einstieg. Ich bin bereit, die Reise anzutreten.«
Ansgar klatschte in die Hände, und die Träger nahmen die königliche Sänfte wieder auf, trugen sie durch den Stollen in das angrenzende Gewölbe. Hier huschten, von Lichtsteinen beleuchtet, noch mehr in dunkle Roben gewandete Alchemisten in hektischer Betriebsamkeit umher. Der Vergleich mit einer Meute Höhlenratten drängte sich Winmar unwillkürlich auf.
In der Mitte des Gewölbes stand die Maschine, die ihn in die Tiefe tragen sollte. Auf den ersten Blick sah sie wie eine Kaldrone aus, eine jener kugelförmigen, gepanzerten Kampfmaschinen, die auf jedem Schlachtfeld Angst und Schrecken verbreiteten; mit dem Unterschied, dass diese keine Beine hatte, sondern wie ein Minenwagen auf Schienen lief. Zudem war das Innere, das einem Zwergenkämpfer Platz bot und für gewöhnlich sehr schmucklos gehalten war, samtbeschlagen und mit Kissen ausgepolstert, damit der König es auf seiner langen Fahrt bequem hatte.
Das metallene Ungetüm rasselte und zischte, so als befände sich eine kleine Schmiede darin, dichter Rauch wölkte hervor. Winmar verstand das Prinzip nicht, das diese Maschine antrieb; aber er war überzeugt, dass etwas, zu dessen Bau die Stimme ihm geraten hatte, für ihn nur von Vorteil sein konnte.
Die Träger setzten die Sänfte ab, und Winmar erhob seinen massigen Leib und schritt zu der kleinen Treppe, die man errichtet hatte, damit er das Gefährt mühelos besteigen konnte. Langsam erklomm er die Stufen, genoss die Bewunderung, die die Alchemisten ihm dafür zollten – die meisten von ihnen hätten ihr Leben dafür gegeben, mit ihm zu tauschen. Denn was ihn am Ende dieser Reise erwartete, war genau das, wonach diese kriecherischen Gelehrten ihr Leben lang strebten.
Erkenntnis.
Wissen.
Wahrheit.
Der Zwergenkönig verfiel in selbstgefälliges Gelächter, während er sich auf den gepolsterten Sitz fallen ließ. Die beiden Hebel, die davor angebracht waren, dienten der Steuerung. Der eine war dazu da, die Fahrt zu beschleunigen, der andere, um sie wieder zu verlangsamen. Eine mit Leuchtgestein gefüllte Laterne, die wie ein großes Auge inmitten der Stirn des Wagens angebracht war, würde im Dunkel des Stollens Zor für Helligkeit sorgen.
»Komm!«
Winmar von Ruun, der Herrscher von Erdwelt, war dabei, die letzte Grenze zu überschreiten. Er würde erfahren, was es mit jener Stimme auf sich hatte, die ihn seit so langer Zeit begleitete, und was ihr wahrer Sinn und Ursprung war – und seine Macht, das hatte sie ihm geweissagt, würde sich daraufhin ins Unermessliche steigern.
Er nickte seinen Helfern zu, worauf sie das gitterförmige Visier des Gefährts schlossen. Durch die Stäbe blickte Winmar nach draußen, sah, wie die Alchemisten die kapuzenbedeckten Häupter beugten und ihren Respekt bekundeten. Dann fasste er sich ein Herz, rammte den einen Hebel nach vorn und zog den anderen zurück. Mit einem Schnauben, das sich wie das Seufzen einer lebendigen Kreatur anhörte, setzte sich der Wagen in Bewegung. Die eisernen Räder, die unterhalb seines ausladenden Körpers angebracht waren, begannen sich zu drehen, noch langsam zunächst, dann immer schneller. Er durchquerte das Gewölbe und fuhr in den Stollen ein – und schon im nächsten Moment hatte die dunkle Röhre den Zwergenkönig verschlungen.
Die Gelehrten fielen hinter ihm zurück, und sosehr ihn die Anwesenheit des kriecherischen Packs eben noch angewidert hatte, wurde Winmar bewusst, dass er nun allein war und auf sich gestellt. Er würde der Einzige sein.
Der Einzige, der den Ursprung der Stimme erblickte …
»Komm zu mir. Jetzt!«
Selbst über das Stampfen der Maschine und das Rattern der Schienen hinweg konnte er die Worte hören, die Einladung und Befehl zugleich waren, Verheißung und Drohung. Alles, was er war, verdankte Winmar der Stimme. Sie war die Quelle seiner Kraft, das Elixier seiner Macht, und er hoffte, dass er sich dort, am Ende dieses Stollens, nicht mehr nur mit einzelnen Schlucken dieses Elixiers würde zufriedengeben müssen.
Er wollte mehr.
Wollte alles.
Unverwundbarkeit.
Unsterblichkeit …
Das Zischen der Maschine erfüllte den Tunnel, durch den der Wagen jetzt mit immer größerer Geschwindigkeit raste. Das Gefälle tat das Seine dazu, dass er immer noch mehr Fahrt aufnahm, und schon bald musste Winmar das Tempo wieder drosseln, damit das Gefährt nicht aus den Schienen sprang. Vorbei an bizarren Felsformationen, die im Schein der Laterne vorüberwischten, ging es ratternd immer weiter in die Tiefe, unaufhaltsam … und plötzlich überkamen Winmar Zweifel.
Was, wenn die neue Kraft versagte und die Maschine ihn nicht mehr zurück an die Oberfläche trug? Oder wenn der Tunnel einstürzte und ihm den Rückweg versperrte, was dann? Instinktiv griff er nach dem Hebel, um die Fahrt abermals zu verlangsamen, als er erneut die Stimme vernahm.
»Nicht mehr lange«, sagte sie. »Der Augenblick der Wahrheit steht bevor …«
»Ich komme, Meister, ich komme zu Euch«, erwiderte Winmar beflissen, nun nicht mehr der mächtige König, unter dessen Herrschaft Erdwelt erzitterte, sondern der willfährige Diener.
Ob es sein eigener Wunsch war, der ihn antrieb, oder ob er einem fremden Befehl folgte, wusste er nicht zu sagen, und es machte auch keinen Unterschied. Winmar diente der Stimme. Er brauchte sie, so wie er die Luft zum Atmen brauchte, und er war begierig darauf, ihr endlich von Angesicht zu begegnen. Macht wartete dort in der Tiefe auf ihn, grenzenlose Macht – und womöglich noch mehr.
»Komm zu mir!«
Die Gier des Zwergenherrschers steigerte sich in körperliches Verlangen. Winmar hatte in seinem Leben viele Frauen gehabt, Sklavinnen, die ihm zugeführt worden waren, um seine königliche Lust zu befriedigen, aber nicht eine von ihnen hatte er auch nur annähernd so begehrt wie diese Zusammenkunft. Er wollte es ergründen, dieses letzte Geheimnis, das die Welt für ihn noch bereithielt, und wenn er seinen Grund und Ursprung erfahren hatte, sollte es ihm gehören, ihm ganz allein!
Wie lange die Fahrt in die Tiefe dauerte, wusste der Zwergenkönig nicht zu sagen – jedes Gefühl für Raum oder Zeit war ihm abhanden gekommen. Als aber der Lichtschein der Laterne das Ende des Stollens erfasste, betätigte er die Steuerung, wie Ansgar es ihm gezeigt hatte. Sofort verlor die Maschine an Fahrt und wurde langsamer, kam schließlich zum Stehen.
»Komm zu mir!«
Mit bebenden Händen und Knien erhob er sich, entriegelte das Visier und schob es nach oben. Dann hob er seine Leibesfülle aus dem Steuersitz und verließ das Gefährt. Mit weichen Knien schritt er zum Ende des Schienenstrangs. Es war heiß hier unten, und die Luft war durchsetzt von giftigen Dämpfen. Lange würde er nicht bleiben können, das stand fest. Aber hoffentlich lange genug, um zu erfahren, was er wissen wollte.
Winmar sog nach Luft, als er an der Felswand, die das Ende des Stollens bildete, eine dunkle Gestalt erblickte – nur um sich einen Augenblick später einen furchtsamen Narren zu schelten, denn es war sein eigener Schatten, den der Schein der Grubenlaterne warf. Der Zwergenkönig wankte seiner Silhouette entgegen, die immer größer wurde, je weiter er sich ihr näherte. Dabei breitete er die Arme aus, am ganzen Körper zitternd vor Erwartung, bereit, sich der Stimme zu stellen und zum Ursprung ihres Geheimnisses vorzudringen.
Hierher hatte sie ihn gelockt, an den tiefsten Ort des Reiches. Hier wartete sie auf ihn.
»Komm zu mir, mein Diener.«
»Aber ich bin bereits hier, Meister.«
Er hörte die Stimme nicht nur, sondern hatte auch das Gefühl, ihrem Ursprung ganz nah zu sein. Was auch immer ihr Ausgangspunkt sein mochte, es war in der Nähe …
»Ich bin bereit«, versicherte Winmar. »Zeigt Euch mir, Meister, damit ich Euch endlich sehen kann!«
Sein Weg endete vor der Felswand, deren Gestein so hart und dicht war, dass weder die Hände der Sklaven noch das Pulver der Alchemisten mehr etwas hatten ausrichten können. Was man dem Fels abgetrotzt hatte, waren allenfalls einige Handbreit gewesen – weiter ging es nicht.
Hier war der Stollen Zor zu Ende.
Winmar blieb stehen und wandte sich um, ließ seine Blicke durch das von der Laterne beleuchtete Gewölbe schweifen. »Wo seid Ihr, Meister?«, fragte er verunsichert. »Zeigt Euch mir!«
»Schließe deine Augen«, forderte die Stimme ihn auf. »Öffne deinen Geist!«
Winmar tat, was von ihm verlangt wurde. Er schloss die Augen, während er die Arme ausgebreitet behielt, so als wollte er herzlich willkommen heißen, was immer hier unten in der dunklen Tiefe lauerte.
Längst schon empfand der Zwergenkönig keine Furcht mehr. Es hatte eine Zeit gegeben, da ihn die Stimme in seinem Kopf geängstigt hatte, doch dies lag hinter ihm. Sein Verstand hatte die Reise in den Abgrund angetreten, noch lange bevor sein Körper ihm gefolgt war, und so konnte er dem Grauen, das seit Jahrtausenden hier in der Tiefe wartete, ohne Furcht begegnen. Mehr noch, er verzehrte sich danach mit allen Sinnen seines Körpers – und sein Verlangen wuchs, je näher das Fremde ihm kam.
»Kommt näher, Meister!«, rief er in freudiger Erregung. »Ich bin bereit! Verbindet Euch mit mir! Gebt mir, Eurem ergebenen Diener, Eure ganze überwältigende Macht!«
Er spürte Kälte.
Schneidende, tödliche Kälte, die entsetzlich und faszinierend zugleich war, und er hatte das Gefühl, dass etwas nach seinem Körper griff und ihn erfassen wollte.
Dies war seine Bestimmung!
Alle Macht auf Erdwelt in sich zu vereinen und bis in alle Ewigkeit zu herrschen, unverwundbar und unsterblich! Er wusste, dass er kurz davor stand, diesen Zustand zu erreichen, mithilfe der Stimme zu einem Wesen zu werden, wie es noch keines in Erdwelt gegeben hatte. Er, ein Zwerg, würde selbst Elfen und Riesen übertreffen, und der Triumph, den er darüber empfand, ließ ihn in heiseres, sich überschlagendes Gelächter ausbrechen, das von den Stollenwänden hundertfach zurückgeworfen und verstärkt wurde.
Doch plötzlich ließ das Glücksgefühl nach.
Im ersten Moment wollte Winmar es nicht wahrhaben, aber die fremde Präsenz – oder was immer es sein mochte – entfernte sich wieder von ihm, statt sich mit ihm zu vereinen.
Das Gelächter des Zwergenkönigs verstummte jäh.
»Nein!«, schrie er verzweifelt. »Neeeeiiiiin!«
»Komm zu mir«, verlangte die Stimme in seinem Kopf noch immer.
»Ich bin hier, Meister! Ich bin hier! Ich habe alles getan, was Ihr mir aufgegeben habt!«
»Komm«, sagte die Stimme dennoch. »Komm noch näher!«
»Ihr … Ihr wollt, dass ich noch näher komme? Aber der Stollen ist hier zu Ende …«
»Komm zu mir!«
In seiner Verzweiflung warf sich Winmar gegen die Felswand, begann, mit bloßen Händen darauf einzuschlagen und daran zu kratzen, bis seine kurzen Finger bluteten.
Aber es half nichts.
Die Stimme entfernte sich noch weiter von ihm – und mit ihr auch das Geheimnis ihres Ursprungs und ihrer Macht.
»Neeeiiiin!«, brüllte Winmar noch einmal, schrie seine Enttäuschung und seine hilflose Wut laut hinaus.
»Komm«, erwiderte die Stimme nur.
1
Es war seltsam.
Manche Dinge, die einem im Leben widerfuhren, verloren sich bereits kurze Zeit später wieder im unsteten Fluss der Erinnerung. Andere hingegen, selbst wenn es sich um Kleinigkeiten handelte, um unbedeutende Wahrnehmungen am Wegesrand, blieben über Jahrzehnte hinweg im Gedächtnis haften.
So wie die Begegnung mit dem Spielmann.
Dag erinnerte sich, dass vor vielen Jahren, als er selbst noch ein Junge gewesen war, ein alter Spielmann in Ansun haltgemacht hatte. Das Licht seiner Augen hatte den Alten längst verlassen, dennoch hatte er, zum höchsten Erstaunen des gesamten Hofstaats, seiner Laute Klänge zu entlocken vermocht, die wunderbarer und mitreißender waren als alles, was je zuvor in der herzoglichen Burg zu hören gewesen war.
»Wie machst du das nur?«, hatte Dag voller Staunen gefragt, und die Antwort, die der Alte ihm gegeben hatte, hatte er in all den Jahren nie vergessen.
»Weißt du, Junge – das meiste von dem, was die Menschen allgemein als wichtig erachten, ist in Wirklichkeit mit den Augen nicht zu erkennen. Man vermag es lediglich mit dem Herzen zu sehen.«
Diese Worte hatten Dag begleitet, auch dann, als er längst damit aufgehört hatte, am Ende der Tafel auf dem Boden zu sitzen und den Spielleuten bei ihren Gesängen zuzuhören, und aus dem Knaben ein Mann geworden war. Die tatsächliche Bedeutung jedoch war ihm erst einige Monate zuvor schmerzlich bewusst geworden – nach jenem schicksalhaften Tag, an dem er sein Augenlicht verloren hatte.
Eines allerdings hatte der Alte ihm damals nicht gesagt.
Dass auch ein Herz verstümmelt und blind werden konnte …
»Verdammt!«
In einem jähen Wutausbruch warf Dag die Schüssel von sich, sodass der Inhalt nach allen Seiten spritzte. Vergeblich hatte er versucht, rote Beeren von blauen zu trennen. Nun war seine Geduld am Ende.
»Das war unser Abendessen«, sagte jemand neben ihm. »Jedenfalls der Teil davon, der nicht giftig war.«
»Ich kann es nicht!«, beschwerte sich Dag lauthals. »Ich werde es niemals lernen, verstehst du?«
»Weil du keine Geduld hast.«
Die Stimme neben ihm seufzte. Dann konnte Dag es rascheln hören – der andere hatte sich gebückt, um die am Waldboden verstreuten Beeren wieder aufzulesen. Dennoch empfand Dag noch immer ohnmächtige Wut, die Auslass begehrte …
»Du hast leicht reden!«, fuhr er seinen Begleiter an. »Du kannst alles sehen! Den Himmel, die Sonne, das Grün der Bäume!«
»Eigentlich nicht«, kam es schnaufend zurück. »Der Himmel ist wolkig, und der Wald ist heute dunkelgrau.«
»Du weißt, was ich meine«, zischte Dag. »Jedenfalls fällt es dir leicht, rote Beeren von blauen zu trennen.«
»Und dir sollte es inzwischen auch leichtfallen. Die blauen sind etwas größer und weicher, die roten hingegen …«
»Ich weiß, ich weiß.«
»Es ist wichtig, dass du sie unterscheiden lernst. Nur die blauen sind essbar – verschluckst du eine von den roten …«
»Ja doch!«, herrschte Dag ihn an.
Der andere verstummte.
Lange Augenblicke verstrichen.
Augenblicke, in denen Dag hören konnte, wie sein Begleiter zwischen den Farnblättern herumkroch – und in denen sich fast ebenso plötzlich, wie ihn der Zorn überkommen hatte, ein schlechtes Gewissen einstellte.
»Es tut mir leid«, sagte er nach einer Weile.
»Natürlich«, kam es gleichgültig zurück.
»Es tut mir wirklich leid«, betonte Dag. »Du hast nicht verdient, dass ich dich so behandle.«
»Nein«, sagte der andere und richtete sich auf, »das habe ich nicht. Schließlich hätte ich dich nicht bei mir aufnehmen müssen, als du damals vor meiner Höhle lagst, hungrig und zerschunden und blind wie ein Maulwurf.«
Dag musste lächeln. »Blind bin ich immer noch, Tiff.«
»Und hungrig auch, wenn du nicht damit aufhörst, unser Abendessen wegzuschmeißen«, gab der Einsiedler mit einem hörbaren Grinsen zurück. »Lass uns zur Höhle zurückkehren, es wird bald regnen.«
»Einverstanden.« Dag erhob sich von dem Felsen, auf dem er gehockt hatte, und streckte eine Hand aus. Schon im nächsten Moment fühlte er den festen Griff des eigenwilligen Freundes, den er sich der Stimme nach anfangs als kleinwüchsigen, leicht untersetzten Burschen vorgestellt hatte – in Wahrheit war Tiffor, der als Einsiedler in den östlichen Wäldern lebte, ein Koloss von einem Mann, dessen gutwilliges, bisweilen kindhaftes Gemüt jedoch in krassem Widerspruch zu seiner Erscheinung stand. So viel zur Wirklichkeit, die man angeblich mit dem Herzen zu sehen vermochte.
Der Weg zurück zur Höhle war ein Irrweg, so wie immer, ein Marsch voller Gefahren und Stolperfallen für jemanden, der nicht in der Lage war, seine Umgebung zu sehen. Zwar setzte Dag alles daran, seine verbliebenen Sinne zu schärfen, doch inmitten des schier undurchdringlichen Waldes wollte es ihm nicht recht gelingen. Zu verwirrend waren die Geräusche, die bald von dieser, bald von jener Seite drangen, zu vielfältig die Gerüche, die nach würzigen Pilzen, bald nach süßem Honig und dann wieder nach Verwesung schmeckten. Und dennoch hätte Dag an keinem anderen Ort sein wollen als hier, inmitten des dunklen Waldes, in den er sich verkrochen hatte wie ein verletztes Tier, um seine Wunden zu lecken und zu vergessen – aber es gelang ihm nicht.
Fast zehn Monde waren seit jenem Tag vergangen, an dem er die Welt zum letzten Mal gesehen hatte.
Zehn Monde …
An sich eine lange Zeit. Aber nicht, wenn die Wunde noch immer schwärte, wenn die Erinnerung an die Vergangenheit in jeder Nacht wieder auflebte, in grässlichen Albträumen, die Dag bis in den Wachzustand verfolgten, und bisweilen darüber hinaus.
Vergeblich hatte er versucht, die Vergangenheit zu überwinden, denn Schwärze war alles, was er sah, seit die Truhe geöffnet worden war und er den verderblichen Inhalt erblickt hatte. Fortwährend hatte er diesen grässlichen Moment in seinen Gedanken, während er sich mit Vorwürfen marterte und sich immerzu fragte, ob er es hätte verhindern können.
Nein, sagte er sich dann.
Es war unausweichlich gewesen.
Und dennoch fand der mit Blindheit geschlagene Krüppel, zu dem er nach seiner Ansicht geworden war, vor ihm keine Gnade.
Dag war erleichtert, als sie endlich den Höhleneingang erreichten. Er spürte es, weil der Boden unter seinen Füßen fester wurde und die Bäume hier weniger dicht standen, sodass die Dunkelheit um ihn herum ein wenig nachließ. Außerdem vernahm er das Rauschen der Quelle, die ganz in der Nähe entsprang. Es war das Erste gewesen, das er nach seinem Erwachen wahrgenommen hatte, kurz bevor Tiffor ihn gefunden und in seine Höhle mitgenommen hatte.
Doch an diesem Nachmittag war etwas anders.
Dag nahm es deutlich wahr, der Verachtung seiner verbliebenen Sinne zum Trotz. Obwohl er nichts sehen konnte, war ihm klar, dass sich etwas verändert hatte, und noch ehe er sich fragen konnte, woher diese Empfindung stammte, hörte er, wie Tiffor neben ihm scharf nach Luft sog.
»Wer bist du?«
»Habt keine Angst«, sagte eine Stimme, die weder bedrohlich noch feindselig klang. Sie schien einem alten Mann zu gehören, und aus denselben unerfindlichen Gründen, aus denen er die Anwesenheit des Alten gespürt hatte, hatte er das Gefühl, diese Stimme schon einmal gehört zu haben.
In seinem früheren, seinem anderen Leben …
»Wenn du ein Räuber bist, dann fürchte ich, hast du dich in der Tür geirrt«, beschied Tiffor ihm. »Wir sind Einsiedler, die von dem leben, was der Wald ihnen schenkt. Bei uns gibt es nichts zu holen.«
»Das habe ich auch nicht angenommen.« Es raschelte. Der Alte, der auf einem der beiden Felsen gesessen haben musste, die den Höhleneingang säumten, schien sich zu erheben. »Es mag euch überraschen, aber ich habe auf euch gewartet.«
»Auf mich?«, fragte Tiffor verwundert.
»Eher auf deinen Begleiter, mein unbedarfter Freund.«
»Warum? Was wollt Ihr von mir?«, fragte Dag. Wie er es hasste, mit Leuten sprechen zu müssen, die er nicht sehen konnte, während sie ihn vermutlich von Kopf bis Fuß musterten.
»Was immer du zu geben bereit bist«, erwiderte der Fremde, und noch ehe Dag auch nur fragen konnte, was der alte Mann damit meinte, fügte dieser hinzu: »Du hast dich lange genug verkrochen. Es wird Zeit, dass du dich der Vergangenheit stellst, Daghan, Sohn Herzog Osberts von Ansun. Ja, ich weiß, wer du bist – und ich kenne deine Bestimmung.«
2
Wieder hier zu sein, an dem Ort, an dem sie aufgewachsen war und den größten Teil ihres bisherigen Lebens verbracht hatte, hätte Aryanwen eigentlich mit Trost erfüllen sollen. Doch es fühlte sich an wie Hohn.
Der Thronsaal des Palasts von Tirgaslan erstreckte sich noch immer in ungeahnte Höhen, über denen sich die gewaltige, einst von elfischen Baumeistern erdachte Kuppel wölbte; noch immer säumten die prächtigen Säulen die Wände, noch immer sickerte das Licht in bunten Schäften durch die hohen, vielfarbigen Fenster, und noch immer stand der Elfenthron auf dem aus Marmor gearbeiteten Podest, das die Mitte des weiten Runds einnahm.
Doch während früher zumindest noch eine Ahnung der glorreichen Vergangenheit den Thronsaal erfüllt hatte, war er inzwischen nicht mehr als eine leere Hülle, bot die Staffage für ein schlechtes Theater. Es war, als hätte man eine Esse mit Kohlen allein angefacht – ohne Glut und ohne Feuer.
Zwar hatte das Menschenreich von Tirgaslan nach der vernichtenden Niederlage gegen die Zwerge einen neuen König bekommen, doch war dieser nur noch ein Schatten jener Herrscher, die seit den Tagen König Corwyns auf dem Thron gesessen hatten. Denn Lavan, wie der neue König hieß, war nur eine Marionette und hatte das zu tun und zu lassen, was der mächtige Zwergenherrscher ihm vorgab – und Aryanwen war die Frau an der Seite der Marionette.
Wäre es nach ihr gegangen, wäre Aryanwen lieber gestorben, als diese Schmach zu erdulden, zumal Lavan einer jener Lehnsherren gewesen war, die sich gegen ihren Vater König Tandelor verschworen und ihn mit quälender Langsamkeit vergiftet hatten; um das Leben ihres Geliebten Daghan zu retten, hatte sie jedoch eingewilligt, Lavan zu ehelichen. Sie musste die Königin an seiner Seite mimen, um seine Herrschaft vor dem Volk zu rechtfertigen. Dennoch war in den vergangenen acht Monden kein Tag vergangen, an dem Aryanwen nicht an Dag gedacht hatte. Winmar hatte ihn blenden lassen und als blinden Krüppel ins Exil geschickt. Was weiter mit ihm geschehen war, wusste Aryanwen nicht, sie konnte nur hoffen, dass er am Leben war.
Es war der Tag nach dem Vollmond, was bedeutete, dass der König nach alter Sitte über seine Edlen zu Gericht saß. Vergehen, die Lehensherren gegen die Krone begangen hatten, wurden vor den König gebracht, der allein über Verurteilung oder Freispruch zu befinden hatte. In der Vergangenheit hatte dieses Hofgericht dem Erhalt des Friedens und der Gerechtigkeit im Reich gedient, denn die Herrscher von Tirgaslan hatten stets weise und mit Augenmaß entschieden, ohne ihre Macht zu missbrauchen. Unter Lavan jedoch war das Gericht zur Farce verkommen, denn der König fällte seine Urteile nicht im Interesse des Reiches, sondern auf Weisung des Zwergenherrschers, und es war Aryanwen unerträglich, dass sie jedes Mal dabeizusitzen und gute Miene zum bösen Spiel zu machen hatte.
»Wer ist der Nächste?«, erkundigte sich Lavan, der auf dem Elfenthron saß, offenkundig aber sehr viel größeres Interesse daran hatte, den Jagdfalken auf seinem linken Arm mit kleinen Fleischbrocken zu füttern. Wie sehr Aryanwen diese aufgedunsenen, selbstgefällig lächelnden Gesichtszüge verabscheute!
»Dermot von Camory, Hoheit«, entgegnete Thinon, der Lordrichter von Tirgaslan, der dem Hofgericht als Zeremonienmeister vorstand.
»Was wird ihm zur Last gelegt?«
»Er weigert sich, seine Steuerschuld zu begleichen, insbesondere die zusätzlichen Entrichtungen an das Zwergenreich.«
»So«, machte Lavan nur und wartete, bis der mit einer ledernen Kopfhaube versehene Falke das nächste Stück verschlungen hatte. »Herein mit ihm«, verlangte der kahlhäuptige König dann, der in dem blauen Seidengewand, das sich über seinem feisten Körper spannte, wie ein Geck wirkte.
Thinon stieß seinen Richterstab geräuschvoll zu Boden, worauf die Tür des Thronsaals geöffnet wurde und vier Gerichtsdiener erschienen, die einen dunkelhaarigen Mann hereinführten. Er mochte an die dreißig Winter alt sein, aus seinen Augen sprach unverhohlener Zorn. Man hatte darauf verzichtet, ihn zu binden, jedoch hatte man ihm seinen Umhang und sein Schwert abgenommen, sodass eine leere Scheide an seinem Gürtel hing. Dennoch verriet jede seiner Bewegungen unbeugsamen Stolz.
Vor dem Lordrichter blieben die Gerichtsdiener stehen. »Dermot von Camory?«, wollte Thinon der Form halber wissen.
»Ja, Herr.« Der Ritter nickte.
»So tretet vor. Erklärt Euch, und Euch wird Gerechtigkeit widerfahren«, entgegnete Thinon dem Protokoll gemäß und führte den Angeklagten an den Mitgliedern des versammelten Hofstaats vorbei vor den Thron.
»Ritter Dermot von Camory, Hoheit«, erklärte Thinon dann, worauf Dermot die Knie beugte und seinem Monarchen Respekt erwies.
»Mein König«, stieß er hervor, was ihm einigen Widerwillen zu bereiten schien. Und obwohl das Protokoll es nicht vorsah, neigte er sein Haupt auch in Aryanwens Richtung, die neben ihrem Gemahl auf einem weniger prunkvollen und auch etwas kleineren Thron saß. »Meine Königin.«
»Ihr weigert Euch, die Steuern zu bezahlen?«, schnappte Lavan, ehe Aryanwen etwas erwidern konnte. Auf einen Gruß verzichtete er. »Insbesondere die Wiedergutmachung, die wir aufgrund des verlorenen Krieges an das Zwergenreich zu entrichten haben?«
Dermot erhob sich wieder. »Keineswegs, mein König«, sagte er laut und deutlich.
»Wollt Ihr mir frech ins Gesicht lügen?« Lavan beugte sich abrupt vor, was den Falken auf seinem Arm erschreckte. Das Tier schlug mit den Flügeln. »Sind meine Eintreiber etwa nicht mit leeren Händen zurückgekehrt?«
»Doch, Herr«, räumte Dermot ohne Zögern ein, »aber nicht, weil ich meine Zahlungen nicht entrichten wollte, sondern weil ich es nicht konnte.«
Der König ließ sich wieder zurückfallen. »Wollt Ihr mir weismachen, da wäre ein Unterschied?«
»Mein Lehen befindet sich im nördlichen Grenzland, Herr. Und wie Ihr wisst, ist der Norden stärker als jeder andere Teil des Reichs von den Verheerungen betroffen, die der Krieg angerichtet hat.«
»Und?«
»Herr, wir haben uns noch längst nicht von den Folgen des Krieges erholt. Viele Gehöfte wurden zerstört, zahllose Bauern fanden den Tod oder sind von ihrem Land geflohen. Die Felder sind verwüstet oder liegen brach, und noch immer ziehen Banden von Ork-Söldnern plündernd durch das Land.«
»Und? Wollt Ihr behaupten, ich trüge Schuld daran?«
»Nein, mein König.« Dermot schüttelte den Kopf. »Aber … Ihr unternehmt auch nichts dagegen.«
»Was fällt Euch ein?«
»Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Orks als Söldner in den Diensten des Zwergenkönigs standen oder es noch immer tun. Seit dem Ende des Krieges kommen sie in immer größerer Anzahl über den Fluss, um zu plündern und uns auch noch um den letzten Rest unserer Habe zu bringen. Weder können wir uns ihrer erwehren, noch unsere Felder bestellen – und da sollen wir auch noch Abgaben entrichten?«
»So wie es Eure Pflicht als treuer Lehensherr wäre«, bestätigte Lavan unbarmherzig. Die feisten Backen hingen missbilligend herunter. »Stattdessen tretet Ihr vor mich mit wilden Anschuldigungen gegen den erlauchten Herrscher unseres Reiches.«
»Das sind keine Anschuldigungen, Herr. Ich spreche die Wahrheit.«
»Könnt Ihr das beweisen?«
»Nein, aber …«
»Wie, Dermot von Camory, könnt Ihr es dann wagen, hier zu stehen und gemeine Verleumdungen zu äußern, die doch ganz offenkundig nur das Ziel haben, Eure Faulheit und Unfähigkeit zu rechtfertigen?«
Man konnte sehen, wie sich die Züge des Ritters verfärbten. Zorn schoss ihm in die Adern, und er holte tief Luft, setzte zu einer Erwiderung an, die ihn vermutlich nicht nur sein Lehen, sondern auch sein Leben gekostet hätte – deshalb ergriff Aryanwen rasch das Wort.
»Mit Verlaub, mein Gemahl«, wandte sie sich an den König, »ich gebe zu bedenken, dass dies nicht das erste Mal ist, dass wir von solchen Vorgängen hören. Ob dies mit dem Wissen oder gar auf Weisung des Zwergenkönigs geschieht, entzieht sich unserer Kenntnis, jedoch treiben sich nördlich des Grenzflusses offenbar noch viele herrenlose Ork-Krieger herum, die auf der Suche nach Beute nach Süden gelangen.«
Lavan hatte offenbar beschlossen, ihren Einwurf zu ignorieren. Statt sich Aryanwen zuzuwenden, hatte er sich wieder mit dem Falken befasst und ihn gefüttert. Als aus den Reihen des Hofstaats jedoch zustimmende Laute zu hören waren, schien er seine Meinung zu ändern. In unendlicher Trägheit wandte er sich von seinem Falken ab und sah Aryanwen aus seinen kleinen grauen Augen an. Wären seine Blicke in der Lage gewesen zu töten, so wäre sie mit durchbohrter Brust vom Thron gesunken.
»Dennoch kann es nicht sein, dass die Zwerge Schuld daran tragen«, beharrte er unwillig und mit bebender Stimme.
»Warum nicht, mein Gemahl? Weil es nicht sein darf?«
»Die Königin hat recht, Majestät«, stimmte Ritter Dermot ungefragt zu. »Solange immer noch mehr Orks über den Grenzfluss kommen, die unsere eben erst wieder aufgebauten Gehöfte zerstören und unsere Ländereien verwüsten, werden wir nicht in der Lage sein, unseren Pflichten nachzukommen.«
Lavan hob eine Braue. Wie er so auf dem Thron saß, die Augen zu Schlitzen verengt, hatte er etwas von einem lauernden Raubtier. Einem recht feisten allerdings. »Wie darf ich das verstehen, Herr Ritter? Wollt Ihr Euren König erpressen?«
»Aber nein, Herr, das liegt mir fern«, versicherte Dermot und trat einen Schritt zurück, so als wäre ihm jäh klar geworden, dass er sich auf gefährliches Terrain begeben hatte. »Ich stehe hier, weil ich Eure Hilfe brauche, sowohl im Kampf gegen die Verlorenen Krieger als auch beim Wiederaufbau der Grenzlande. Und ich stehe damit nicht allein. Alle Lehensherren des Nordens teilen meine Haltung.«
»Sieh an.« Lavan schürzte die Lippen. »Was wollt Ihr mir damit nun wieder sagen?«
»Ich bitte Euch nur, etwas zu unternehmen.«
»Seid versichert, Herr Ritter, dass ich das werde«, entgegnete Lavan nickend, während er seinem Falken einen weiteren Fleischbrocken hinhielt, den dieser gierig aus seinen Fingern schnappte.
»Dann werdet Ihr mit König Winmar sprechen? Euch bei ihm für unsere Belange einsetzen?«
Lavan lachte auf. »Ganz sicher nicht.«
»Herr?«
»Erwartet Ihr allen Ernstes, dass ich den eben erst geschlossenen Frieden einiger unfähiger Lehensherren deswegen gefährde? Das werde ich sicher nicht tun, ganz gleich, was für Lügen Ihr hervorbringt.«
»Das sind keine Lügen!«, widersprach Dermot. »Die Königin hat doch auch gesagt, dass …«
»Die Königin weiß es nicht besser, sie ist einem Irrtum erlegen«, fiel Lavan ihm ins Wort. »Sie ist wie Ihr noch in altem Denken gefangen, statt nach vorn zu blicken und die Bitterkeit des Krieges endlich hinter sich zu lassen. Nicht wahr, meine Gemahlin?« Er wandte sich Aryanwen zu, sein Blick war kalt und stechend.
Aryanwen biss sich auf die Zunge.
Es hätte viel gegeben, das sie hätte sagen wollen, aber sie tat es nicht, wollte weder Dermot gefährden noch sich selbst noch … »Wenn Ihr es sagt, mein Gemahl, dann verhält es sich ohne Zweifel so«, stieß sie zähneknirschend hervor.
»Da hört Ihr es, Herr Ritter«, beschied Lavan dem Angeklagten daraufhin voller Genugtuung. »In Zukunft werdet Ihr Euch nur noch um Eure eigenen Angelegenheiten kümmern und nicht mehr um das, was jenseits des Grenzflusses geschieht.«
Dermots Züge erstarrten, sein Brustkorb hob und senkte sich heftig unter dem roten Waffenrock. »Um nicht zu sehen, was dort geschieht, müsste ich auf einem Auge blind sein, Herr«, schnaubte er.
»Tatsächlich?« Ein grausames Grinsen schlich sich in Lavans schwammige Züge. »Das bringt mich auf einen Gedanken …«
Aryanwen hielt den Atem an. Sie kannte diesen Ausdruck im Gesicht des Königs inzwischen gut genug, um zu wissen, dass er nichts Gutes zu bedeuten hatte. Als sie jedoch begriff, was ihr Gemahl vorhatte, war es bereits zu spät.
»Schlag ihn!«, raunte Lavan dem Falken auf seinem Arm zu, riss ihm die Kappe vom Haupt und schleuderte ihn dem wehrlosen Ritter entgegen.
Aryanwen sprang auf. »Nein!«, rief sie entsetzt, dass es von der hohen Kuppel widerhallte, doch der Falke war nicht mehr aufzuhalten.
Wild flatternd und mit gespreizten Krallen stürzte er sich auf den Angeklagten, der instinktiv sein Schwert ziehen wollte – und ins Leere griff. Mit bloßen Händen suchte er sich daraufhin zur Wehr zu setzen, was allerdings vergeblich war. Das Flattern und Kreischen des Falken erfüllte die Kuppel, begleitet von Dermots entsetzten Schreien. Schließlich kehrte der Raubvogel wieder auf den Arm seines Herrn zurück, während Dermot auf dem steinernen Palastboden zurückblieb, leise wimmernd, die Hände auf das linke Auge pressend. Blut trat zwischen seinen Fingern hervor und troff zu Boden.
Aryanwen stand noch immer, nicht weniger fassungslos als der übrige Hofstaat, der entsetzt und eingeschüchtert auf den geschlagenen Ritter starrte. »Was … was habt Ihr getan?«, stieß sie hervor.
Lavan grinste nur und streichelte das Brustgefieder des Falken. »Ist ein weiterer Lehensherr des Nordens unter uns, der Ritter Dermots Meinung ist?«, erkundigte er sich.
Niemand antwortete.
Aryanwen eilte die Stufen des Podests hinab und kam Dermot zur Hilfe, der noch immer auf dem Boden kauerte.
»Es … es tut mir leid«, brachte sie hilflos hervor, den Tränen nahe, »das wollte ich nicht!«
Dermot löste eine Hand aus seinem blutüberströmten Gesicht, sodass sein verbliebenes Auge sie ansah. »Ihr … Ihr könnt nichts dafür, meine Königin«, versicherte er. »Ihr wolltet nur helfen …«
Der kostbaren Anar-Seide ungeachtet, aus der ihr Kleid gefertigt war, riss Aryanwen kurzerhand einen Streifen von ihrem Ärmel ab und verband damit notdürftig die frisch geschlagene Wunde. Dass sie sich dabei über und über mit Blut besudelte, war ihr gleichgültig. Dann erhob sie sich und wandte sich um, blickte zu ihrem Gemahl hinauf, der dort auf dem Thron saß, den Falken auf dem Arm, fettbäuchig und selbstgefällig.
»Ja, meine Gemahlin?«, erkundigte er sich grinsend. »Wolltet Ihr noch etwas sagen?«
Aryanwen biss sich auf die Lippen.
Dann wandte sie sich ab und stürzte zu dem Ausgang hinaus, der sich hinter dem Thron befand und dem Königspaar und seinen Bediensteten vorbehalten war. Weder wartete sie auf ihre Entlassung noch bezeugte sie dem König ihren Respekt, was für ein Raunen unter den Edlen sorgte – und offenbar auch dafür, dass die zur Schau gestellte Überlegenheit ihres Gemahls jäh verpuffte.
An den plumpen, schwerfälligen Schritten, die hinter ihr durch den Gang dröhnten, konnte sie erkennen, dass der König ihr folgte. Offenbar war er nicht gewillt, die Sache auf sich beruhen zu lassen.
An einem Fenster, durch das sie auf das scheinbar endlose Meer aus Türmen, Dächern und Kaminen blicken konnte, das sich jenseits der Mauern des Königspalasts erstreckte, blieb sie stehen. Das Trampeln folgte ihr, bis es dicht hinter ihr war.
»Was fällt dir ein, Weib?«, blaffte Lavan sie an, keuchend vom raschen Laufen.
Sie wandte sich um, taxierte seine feiste Gestalt. »Wo habt Ihr Euren Falken gelassen?«, stichelte sie. »Ich staune, dass Ihr es wagt, mir ohne ihn gegenüberzutreten.«
»Du hast mich beschämt«, schnaufte er weiter, wobei Blitze aus seinen kleinen Augen zu schlagen schienen. »Vor den Augen des gesamten Hofstaats!«
»Nein, mein Gemahl«, widersprach sie kühl, die formelle Anrede beibehaltend, »beschämt habt Ihr Euch ganz allein. Statt Gerechtigkeit und Milde walten zu lassen, habt Ihr Euch ungerecht und grausam gezeigt. Ihr seid ein schlechter Herrscher!«
»So? Findest du?« Lavan fasste wieder Atem. »Der Ansicht bin ich nicht. Nur verschließe ich anders als Ihr meine Augen nicht vor der Wirklichkeit, sondern tue alles, was nötig ist, um das Reich zu erhalten.«
»Euer Reich«, spottete sie.
»Das Reich der Menschen«, verbesserte er. »Oder glaubst du, all das hier« – er deutete durch das Fenster auf das Häusermeer – »würde noch existieren, wenn ich nicht gehandelt hätte? Wenn ich Tirgaslan nicht gerettet hätte?«
»Ihr?« Aryanwen hob die Brauen. »Ihr habt Tirgaslan gerettet?«
»Gewiss – meinst du, Winmar hätte die Stadt verschont, wenn ich nicht gewesen wäre? Oder vielleicht dich? Wir alle können von Glück sagen, dass die Dinge so gekommen sind – und wir sollten nichts tun, was dies gefährden könnte.«
Aryanwen atmete tief ein und aus.
Sie konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor in ihrem Leben einer größeren Ansammlung von Ruchlosigkeit und Verlogenheit begegnet zu sein als diesem Mann, der sich König schimpfte. Übelkeit stieg in ihr empor. »Ja«, bestätigte sie dann mit verächtlichem Lächeln, »Ihr seid in der Tat ein wahrer Held unseres Volkes! Seid unbesorgt, der Platz in den Geschichtsbüchern ist Euch sicher!«
Lavan stand unbewegt.
Ihre Verachtung schien ihn zu treffen, denn seine fleischigen Hände ballten sich zu Fäusten, und einen Augenblick lang war er offenbar versucht, seinem Zorn freien Lauf zu lassen. Dann aber entkrampfte er sich wieder, und ein Grinsen huschte gar über seine bleichen Züge.
»Du magst reden, was du willst«, beschied er ihr, »mich vermagst du nicht zu provozieren. Denn so widerspenstig du dich auch geben magst, eines ist doch sicher: Du bist das Behältnis, in dem mein Erbe und Sohn heranwächst.«
Damit ließ er sie stehen und ging gemessenen Schrittes in den Thronsaal zurück.
Aryanwen blieb zurück.
Schweigend blickte sie an sich herab, auf die deutliche Wölbung, die sich durch den blutbesudelten Stoff des Kleides abzeichnete.
3
Ist alles bereit?«
»Gewiss, mein König.«
General Vigor verbeugte sich tief – tiefer, als er es zu früheren Zeiten getan hatte, und das war notwendig.
Einst war das Verhältnis zwischen dem Zwergenherrscher und dem Anführer des königlichen Geheimdiensts geprägt gewesen von Vertrauen und gegenseitigem Respekt. Inzwischen war es vor allem Vorsicht, die man an den Tag zu legen hatte, wenn man am Hof von Gorta Ruun bestehen wollte; und die Bewunderung, die Vigor einst für seinen Herrscher empfunden hatte, war blanker Furcht gewichen.
Furcht vor Winmars Macht, die seit dem Ende des Krieges ins Unermessliche gewachsen war. Furcht aber auch vor den unberechenbaren Launen des Zwergenherrschers …
»Dann lasst uns gehen.«
Vigor nickte den Dienern zu, jungen Zwergen, in deren Gesichtern noch kaum Bärte sprossen. Winmar hatte sie zum Dienst am Hof berufen, damit sie ihrem König dienstbar waren. Nicht nur bei Tag, wie Vigor vermutete, sondern auch bei Nacht.
Indem alle acht Diener gleichzeitig Hand anlegten, gelang es ihnen, Winmars ausladenden Körper aus der goldenen Wanne zu heben. Das tägliche Bad in heißem, salzhaltigem Wasser, das aus tiefen Kavernen heraufgepumpt wurde, war ein weiterer Einfall jener Berater, mit denen Winmar sich neuerdings umgab und die dafür verantwortlich waren, dass Vigors eigener Einfluss beträchtlich geschwunden war.
Was, beim Bart seines Vaters, tat er hier?
Statt wie zu früheren Zeiten mit dem König zu Rate zu sitzen und ihn über die Lage im Reich in Kenntnis zu setzen, musste er mit gewissem Abscheu dabei zusehen, wie sein splitternackter Potentat aus dem Bad gehoben, abgetrocknet und mit Essenzen aus dem Sekret von Höhlenwürmern eingerieben wurde. Sie verströmten einen strengen Geruch, waren dem körperlichen Wohlbefinden jedoch angeblich förderlich – jedenfalls, wenn es nach all den Heilern, Wahrsagern und Alchemisten ging, die Winmar um sich geschart hatte und die ihm wie Schatten folgten.
Auch jetzt waren sie zugegen, standen aufgereiht wie Sintersteine an der Rückwand des königlichen Gemachs, gedrungene Gestalten in schwarzen Kapuzenmänteln, die außer Bärten und blitzenden Augenpaaren kaum etwas erkennen ließen. Wie immer hielten sie sich im Hintergrund, schweigend und scheinbar ohne Teilnahme. Aber Vigor war klar, dass sie mit der Aufmerksamkeit einer Schlange alles beobachteten, was vor sich ging – und bereit waren, jederzeit zuzubeißen …
»Das tut wohl«, verkündete Winmar, nachdem die Diener ihn angekleidet und seinen schwarzen Bart getrimmt hatten, den er nicht geflochten, sondern spitz zugeschnitten trug und der sein bedrohliches Äußeres noch unterstrich. Die saphirfarbenen Augen blitzten kalt unter der Zinnenkrone, als Winmar die Goldzähne zu einem Grinsen bleckte. »Nichts geht über ein belebendes Bad am Morgen, General.«
»Wenn Ihr es sagt, mein König.«
Vigor verbeugte sich abermals, während Winmar die Sänfte bestieg, die die Diener schließlich aufnahmen. Und begleitet von seinen Ork-Leibwächtern und dem schweigenden Pulk der Gelehrten setzte sich der königliche Tross in Bewegung.
Die Hallen von Gorta Ruun mit ihren hohen Gewölben und steinernen Säulen, ihren Brücken und Balustraden waren prunkvoller denn je. Allenthalben prangte das leuchtend rote Banner mit dem Axtsymbol, das Zeichen des Hauses Ruun, das inzwischen für das ganze Zwergenvolk stand. Die Unterwerfung der Menschenreiche von Tirgaslan und Ansun hatte Winmar mächtiger werden lassen als jeden anderen Zwergenherrscher vor ihm, und die Tributzahlungen, die aus allen Teilen seines neu gegründeten Reiches eintrafen, füllten seine Schatzkammern. Der Triumph der Zwerge war vollkommen, Gorta Ruun war zum Mittelpunkt Erdwelts geworden, genau wie Vigor es sich für sein Volk und seine Heimat stets erträumt hatte.
Doch etwas schmeckte schal an diesem Wirklichkeit gewordenen Traum …
»Wie viele sind es diesmal?«, wollte Winmar wissen.
»Achtzehn, Euer Hoheit.«
Vigor brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass der König ihn anstarrte. Er hatte das Gefühl, als würden sich die Blicke des Potentaten in seinen Hinterkopf bohren.
»Nur?«, lautete die vorwurfsvolle Frage. »Vergangene Woche waren es über vierzig, wenn ich mich recht entsinne. Ebenso in der Woche zuvor.«
»Das ist richtig, mein König«, stimmte Vigor zu.
»Und? Lässt die Aufmerksamkeit deiner Spitzel nach?«
»Nein, mein König.« Nun wandte sich Vigor doch zu Winmar um. »Seid versichert, dass in dieser Festung nichts geschieht, ohne dass ich davon Kenntnis erlange.«
»Wie erklärst du dir dann, dass es diese Woche so wenige Aufrührer sind?«
»Die Maßnahmen greifen«, erklärte Vigor nur. »Die Stimme des Widerstands verstummt.«
Winmar ließ ein Schnauben vernehmen. »Wenn es doch wahr wäre, was du behauptest! Dabei weiß ich genau, dass hinter jeder Säule und in jeder dunklen Nische ein Verräter lauert! Diese Bastarde sind wie der Kopf eines Höhlenmolochs – sobald man einen abschlägt, wächst ein weiterer nach. Meine Wahrsager haben mich davor gewarnt.«
»Tatsächlich?« Vigor hob die buschigen roten Brauen. »Mein König, wenn Eure Wahrsager so genau wissen, was zu tun ist, wollen Sie es ja vielleicht auch übernehmen, Euch die Namen der Verräter zu nennen.«
»Höre ich da einen Hauch von Neid? Oder gar von Aufsässigkeit? Du solltest vorsichtig sein, mein Freund. Die Tatsache, dass ich dich zum General befördert habe, sollte dich nicht übermütig werden lassen. Schließlich willst du nicht enden wie diese hier.«
»Nein, mein König«, kam Vigor nicht umhin zuzugeben, »das will ich nicht.«
Sie waren dabei, die Brücke zu überqueren, die hinab zum Kessel führte. Unermessliche Tiefen erstreckten sich jenseits des steinernen Geländers, das abwechselnd von kunstvoll gearbeiteten Lichtstein-Laternen und von Statuen gesäumt wurde – bizarren Skulpturen aus Zwergensilber, von denen manche annähernd menschliche Formen aufwiesen, andere die gedrungene Gestalt von Zwergen. Wieder eine andere sah wie ein Unhold aus, der die Arme emporgeworfen und die Fratze zu einem lautlosen Schrei aufgerissen hatte.
Allen Statuen war gemeinsam, dass sie aussahen, als wären sie der Fantasie eines im Geiste kranken Bildhauers entsprungen. Und gewissermaßen, dachte Vigor düster bei sich, waren sie das auch …