Buch
Joker … Das sind von einem außerirdischen Virus Veränderte; Mutanten; Freaks! Sie leben seit 70 Jahren unter den Menschen, und man hat sich an sie gewöhnt. Fast. Denn die meisten der New Yorker Joker leben in Jokertown, einem Ghetto im Süden Manhattans. Dies ist die Geschichte des fünften Polizeireviers, dessen Cops in Jokertown für Recht und Gesetz einstehen. Für manche ist es eine Zuflucht, für andere ein Ärgernis – aber für die meisten ist es die letzte Festung gegen die Freaks!
Herausgeber
George Raymond Richard Martin wurde 1948 in New Jersey geboren. Sein Bestseller-Epos Das Lied von Eis und Feuer wurde als die vielfach ausgezeichnete Fernsehserie Game of Thrones verfilmt. George R. R. Martin wurde u. a. sechsmal der Hugo Award, zweimal der Nebula Award, dreimal der World Fantasy Award (u. a. für sein Lebenswerk und besondere Verdienste um die Fantasy) und dreimal der Locus Poll Award verliehen. 2013 errang er den ersten Platz beim Deutschen Phantastik Preis für den Besten Internationalen Roman. Er lebt heute mit seiner Frau in New Mexico.
Aus dem Wild-Cards-Universum bereits erschienen:
WILD CARDS. Die erste Generation
Vier Asse
Der Schwarm
Der Astronom
WILD CARDS. Die zweite Generation
Das Spiel der Spiele
Der Sieger der Verlierer
Der höchste Einsatz
WILD CARDS. Jokertown
Die Cops von Jokertown
weitere Bände in Vorbereitung
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GEORGE R.R.
MARTIN
In Zusammenarbeit mit
Melinda M. Snodgrass
präsentiert
WILD CARDS
Die Cops von Jokertown
Geschrieben von
Paul Cornell | David Anthony Durham | Ty Franck |
Stephen Leigh | Victor Milán | John Jos. Miller |
Mary Anne Mohanraj | Kevin Andrew Murphy |
Cherie Priest | Melinda M. Snodgrass
Deutsch von Simon Weinert
Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel
»Fort Freak« bei Tor Books, New York.
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1. Auflage
Copyright der Originalausgabe © 2011 by George R.R. Martin
and the Wild Cards Trust
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2018
by Penhaligon in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Catherine Beck
Umschlaggestaltung und -illustration:
Max Meinzold, München unter Verwendung eines Motivs
von © Shutterstock/Cloudi
HK · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-23340-2
V001
www.penhaligon.de
Für Mike Fitzsimmons,
einen guten Freund und wahren Fan
New York City Police Department
Fünftes Revier
Beamte und sonstige Belegschaft
Liste nicht vollständig
Deputy Inspector Thomas Jan Maseryk, Dienststellenleiter
Captain Chavvah Mendelberg, stellv. Dienststellenleiterin
Lieutenants (7)
Lieutenant Harvey Kant, Joker
Sergeants (19)
Sergeant Jessica Penniman (Sergeant Squinch), Gewahrsam, Ass
Sergeant Homer Taylor (Wingman), Empfangsschalter, Joker
Sergeant Vivian Choy (Tienyu), Streife, Ass
Detectives (6)
Leo Storgman (Ramshead), Detective-Investigator, 1st Grade, Joker
Michael Stevens, Detective-Investigator, 3rd Grade, Normalo
James McTate (Slim Jim), Detective-Investigator, 3rd Grade, Ass
Tenry Fong, Detective-Investigator, 2nd Grade, Normalo
Joan Lonnegan (Razor Joan), Detective-Investigator, 1st Grade, Normalo
Mitch Moore (Shades), Detective-Investigator, 2nd Grade, Zwei
Uniformierte Streifenpolizisten (123)
William Chen (Tinkerbill), Zwei
Francis Xavier Black (Franny oder Grünschnabel), Normalo
Lawrence Bronkowski (Bugeye), Normalo
Miranda Michaelson (Rikki), Joker
Anna Maria Rodriguez, Normalo
Van Tranh (Dr. Dildo), Ass
Benjamin Bester (Beastie), Joker
Chey Moleka, Normalo
Sam Napperson (Snap), Normalo
Anya Lee Tang, Zwei
Lu Long (Puff), Joker
Angel Grady, Normalo
Sonderabteilungen
Thomas Driscoll (Tabby), verdeckte Ermittlungen, Ass
Dina Quattore (K-10), Polizeihundabteilung, Ass
Dr. Otto Gordon (Gordon der Ghoul), Forensiker, Joker
Sonstige
Apsara Nai Chiangmai, Archiv, Zwei
Joe Stevens, Hausmeister, Normalo
Eddie Carmichael, Gutachter, Phantombildzeichner
Joe Moritz (Joe Twitch), zeitweiliger Informant
August
Die Tretmühle
von Cherie Priest
Teil 1
Leo klemmte sich das Telefon zwischen Schulter und Ohr, rieb sich die Augen und stöhnte. Dabei brummte er: »Mein Gott, nicht noch eine.«
»Noch eine was?«, fragte die Frau am anderen Ende der Leitung. Da er nicht schnell genug antwortete, musste sie erneut fragen: »Noch eine was, Dad?«
»Noch eine Flitzerin. Tinkerbill bringt sie gerade rein.«
Die fragliche Person war unbekleidet, hübsch, blond und in den Zwanzigern. Dazu hatte sie einen funkelnden pinkfarbenen Glorienschein, den man allerdings nicht als Kleidung durchgehen lassen konnte, zumal das Glitzern Bill Chens Beitrag war und bis zum nächsten Morgen wieder erloschen wäre. Wahrscheinlich.
Leo hielt den Hörer vom Mund weg und rief: »Kann jemand der Kleinen mal ein T-Shirt oder so was bringen?«
Blind griff Bill nach einer Polizeijacke, die an der Garderobe hing, während er die sich wehrende Gefangene zur erkennungsdienstlichen Behandlung bugsierte. Er warf sie ihr über die Schulter, doch sie wandte sich so heftig zu ihm um, dass sie sie fast wieder abschüttelte. »Sie machen einen Fehler!«, erklärte sie ihm. »Ich … ich hab nicht einfach meine Schlüssel geschnappt und bin so aus dem Haus gerannt, das müsst ihr mir glauben!«
»Ich glaube Ihnen«, sagte Bill unbeeindruckt und mit seiner seltsamen kindlichen Stimme. Aus einem Mann seiner Größe und Gestalt – knapp zwei Meter von der Mütze zu den Zehen und so breit wie das Tor einer Feuerwache – sollte eigentlich keine solche Stimme herauskommen. Er schüttelte erst seine kräftigen Schultern, dann den Kopf und schob die noch immer so gut wie nackte Frau barfuß durch die dreckigen Flure des fünften Reviers.
Man nannte es nicht umsonst »Fort Freak«.
»Dad?«
Leo richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Telefonat. »Melanie, tut mir leid, Liebes. Du hast mich hier bei der Arbeit erwischt. Du weißt ja, wie es ist.«
»Oh, verstehe. Wie könnte mein Überredungsversuch auch je wichtiger sein als ein Zimmer voller nackter Leute?«
»Nur eine. Eine nackte Person.«
»Pass mal auf, Dad. Hör auf, das aufzuschieben.«
»Aber was, wenn ich nicht umziehen will nach …« Er kramte auf dem Schreibtisch herum nach der Broschüre, die sie ihm vor einer Woche hatte zukommen lassen. Er fand sie unter drei oder vier Stapeln eingegangener Berichte, Gerichtsakten, Aktennotizen und Erinnerungen. Die umgestürzten Stapel begruben alles andere unter sich, sogar das Namensschild: DETECTIVE-INVESTIGATOR, 1ST GRADE: LEONARD STORGMAN.
Seine Tochter half seinem Gedächtnis ungeduldig auf die Sprünge. »Nach West Palm Beach.«
»Ja, Florida.« Nachdem er die knallbunte Broschüre endlich in den Fingern hatte, überflog er die Zusammenfassung in Werbesloganform: Erste Wohn- und Baugemeinschaft exklusiv für Joker! Er seufzte. »Ich weiß, dass du viel gearbeitet hast, um das auf die Beine zu stellen, aber ich glaube, ich bin noch nicht bereit für eine Seniorenparzelle.«
Leo schob einen Finger unter seinen Hemdkragen, zog an dem schweißgetränkten Stoff und ließ ihn wieder an seinen Hals zurückschnellen. Die Augustschwüle drückte in das alte Gebäude hinein, und die antike Klimaanlage der Wache pfiff und klapperte tapfer vor sich hin, richtete aber wenig aus. Fast erschauderte er bei dem Gedanken, das ganze Jahr über eine solche Hitze ertragen zu müssen.
»Du glaubst ja auch nicht, dass du bereit für den Ruhestand bist.« Melanies Tonfall wechselte von einem Augenblick zum nächsten von dem einer abgebrühten Wohngemeinschaftsplanerin zu dem einer bettelnden Tochter. »Dad, ich wünschte, du würdest darüber nachdenken. Komm in den Süden! Hier ist es schön, und ich wohne hier – und ich würde mich besser fühlen, wenn ich dich in der Nähe wüsste, falls etwas passiert.«
»Ich werde zweiundsechzig, nicht zweiundneunzig. Ich rutsche nicht in der Badewanne aus und breche mir die Hüfte.«
»Ich will damit ja auch nicht sagen …«
Er schnitt ihr das Wort ab. »Schätzchen, ich weiß, dass du helfen willst. Aber ich brauche jetzt noch keine Hilfe. Ich brauche etwas Zeit, um nachzudenken, und …« Er hielt unvermittelt inne, denn eine wiegende Hüfte im Bleistiftrock, die er in einiger Entfernung erspähte, lenkte ihn zu sehr ab. Er nuschelte: »Bleib mal einen Moment dran.«
Die Hüfte verschwand hinter einer Säule. Nicht allein die Form der Hüfte hatte seine Aufmerksamkeit erregt, sondern etwas an ihrem Gang, an den Rundungen des Körpers. Er kannte diesen Gang. Er kannte diesen Körper.
Auf der anderen Seite der Säule kam die Frau wieder hervor, und während sie kurz stehen blieb und mit jemandem sprach, kehrte sie ihm den Rücken zu. Dann sagte sie: »Bis dann, David«, drehte sich um und stockte. Sie suchte das Zimmer ab.
Leo beobachtete sie und nahm ihre Details auf, als wären es Beweisstücke.
Ihr Haar war jetzt kürzer, glatter und ein wenig dunkler – sie war fast eine richtige Brünette. Die Wölbung unter ihrem Ausschnitt und die Kontur ihrer Taille waren etwas ausgeprägter. Eine Hand lag auf der Hüfte. Die andere Hand hing herunter. Sie stand so zur Seite geneigt, dass es lässig wirkte.
Die große schwarze Sonnenbrille war noch dieselbe wie beim letzten Mal, als er sie gesehen hatte. Doch das war fünfundzwanzig Jahre her. Komisch, wie manche Stile immer wiederkehren. Komisch auch, dass er sie überall sofort erkannt hätte, auch nach all den Jahren noch.
Die Augen unter den Gläsern richteten sich auf ihn. Da hoben sich, von den Fäden der Nostalgie nach oben gezogen, ihre Mundwinkel, bis ihre Lippen zu einem leisen Lächeln verzogen waren.
Aus dem Telefon hörte er: »Dad?«
Er sagte: »Liebes, ich muss auflegen.« Er legte auf. Langsam stand er auf, passte sich dabei dem Tempo ihres Näherkommens an, sodass er ganz aufgerichtet war, als sie vor seinem Tisch anlangte. Er sagte: »Wanda?«
Und sie sagte: »Leo.« Wanda Moretti schob sich die Sonnenbrille auf den Kopf, überlegte es sich dann aber anders, klappte sie zusammen und steckte sie in ihre Handtasche. »Ist ’ne Weile her, was?«
»Ja. Du, äh … du siehst gut aus.«
»Danke. Du siehst auch nicht gerade schlecht aus.«
Leo Storgman war nicht oft verlegen. Er hatte genug Zeit gehabt, sich an sein Äußeres zu gewöhnen – zwei Jahrzehnte waren vergangen, seit seine Karte aufgedeckt worden war. Doch jetzt machte er fahrige Bewegungen, kratzte sich im klebrig nassen Nacken, schob die Zeitungsjungenmütze mit Hahnentrittmuster zurecht, die er oft trug. Sie passte so bequem zwischen die beiden Hörner, die sich aus seinen Schläfen emporwanden.
»Ah, papperlapapp. Das musst … das musst du nicht sagen. Du hast dich kein bisschen verändert, als wäre kein einziger Tag vergangen. Wir wissen, dass man das von mir nicht behaupten kann.«
»Ich habe auch nicht gesagt, dass du dich nicht verändert hast. Ich habe nur gesagt, dass du nicht schlecht aussiehst.« Sie gab sich keine Mühe, ihren abschätzenden Blick zu verbergen. »Man hat mir davon erzählt, und ich habe mir so meine Gedanken gemacht. Aber du siehst immer noch wie du aus.«
»Ha. So bin ich ja nun nicht auf die Welt gekommen.« Er hob kurz die Hände, um zu zeigen, wie knochenweiß sie geworden waren, fast durchscheinend bis auf die schlammgrünen Leberflecken, mit denen seine Knöchel gesprenkelt waren. Ähnliche Flecken zierten seinen weitgehend kahlen Schädel bis hinab zu dem Kranz aus ergrautem Haar, auf dem seine Mütze wie in einem Nest hockte. »Aber es könnte schlimmer sein.«
Er achtete darauf, den Blick nicht von ihr abzuwenden, um nicht über ihre Schulter zu blicken und auch nicht über seine eigene, in das vollgestopfte Durcheinander des Büros. Denn viele seiner Kollegen im öffentlichen Dienst hatten krassere und schlimmere Veränderungen gezogen.
Beim Getränkeautomat stand Streifenpolizistin Rikki Michaelson, eine kleine Frau mit der Figur eines Windhunds, die mit ihrer schlanken, pfotenartigen Hand per Knopfdruck ein Dr. Pepper wählte. Neben ihr lehnte Lu Long an der Wand, der den klobigen, kunstvollen Kopf und Oberkörper eines chinesischen Drachen hatte. Er kämpfte mit der Lasche einer Pepsi-Dose, denn für derlei filigrane Aufgaben waren seine schweren Klauenfinger nicht geschaffen. Und neben der Tür zum Büro der Captain erspähte Leo Pflichtverteidiger Charles Herriman, der wegen seiner Handprothesen Mühe hatte, die jüngsten Fallakten zu balancieren. Beinahe schien es, als hätte er die Situation im Griff, doch dann klingelte sein Handy, und das Jonglierkunststück misslang.
Wanda griff nach der Lehne des Stuhls gegenüber von Leos Schreibtisch und fragte: »Stört es dich, wenn ich mich setze?« Ohne auf seine Antwort zu warten, nahm sie den Stuhl und ließ sich nieder. Ihre Handtasche und eine edel aussehende Büchertasche aus Leder stellte sie neben sich auf den Boden.
»Um der alten Zeiten willen?«, fragte er.
»Um der alten Zeiten willen, klar. Aber ich habe auch ein offizielles Anliegen – etwas verdammt Seltsames, kann ich dir sagen. Aber um ehrlich zu sein, war ich mir nicht sicher, ob ich dich hier antreffen würde. Wusste nicht mehr genau, wie alt du bist.«
»Hab noch fünf Monate vor mir.«
»Ich hoffe, das werden fünf entspannte Monate. Ich möchte nicht, dass du hier mit einem großen Knall rausgehst.«
»Entspannt. Sicher.« Traurig betrachtete er die herumliegenden Papierberge und ungeordneten Akten und sagte: »Allein diese Woche hatten wir Flitzer, dazu passenderweise auch noch Einbrüche, und die übliche Scheiße mit dem Bandenkrieg ist weiter eskaliert. Die Werwölfe und die Dämonenprinzen haben sich noch nie gut vertragen, doch allmählich wird es da draußen ungemütlich.«
Wanda schüttelte den Kopf und seufzte. »Erinnerst du dich an den Fall damals, oh, ich weiß nicht mehr. Muss 89 oder 90 gewesen sein. Dieser Bandenjoker, der sich richtig zugedröhnt und dann den Pudel von jemandem gegessen hat?«
Leo stieß ein bellendes Lachen aus. »Ja, daran erinnere ich mich. Hab seit Jahren nicht mehr daran gedacht. Hast du damals das Gerichtsgutachten geschrieben?«
Sie sagte: »Nein, ich nicht. Da war ich schon nicht mehr da.«
»Hab gehört, dass du wieder geheiratet hast.« Er hatte sogar gehört, dass sie vorteilhaft geheiratet hatte.
»Ja, das war 88, aber es hat nicht gehalten. Und die Gerichtsgutachten habe ich auch aufgegeben. Hab stattdessen ins Immobiliengeschäft gewechselt.«
»Das hast du ja auch immer gesagt. Ich erinnere mich, dass du immer davon gesprochen hast, aber ich wusste nicht, dass du tatsächlich umgestiegen bist.«
Sie grinste. »Hab mir eine Lizenz besorgt und angefangen, Häuser und Eigentumswohnungen zu verchecken. Hat besser funktioniert, als im Gerichtssaal zu hocken und mir die Finger wund zu tippen. Meine Kinder konnte ich damit auch besser ernähren.«
»Wie geht es denen eigentlich?«
»Sind groß geworden, weitgehend. Und ausgezogen, Gott sei Dank, alle vier. Was ist mit deiner Tochter?«
»Melanie.« Er deutete mit einer Kopfbewegung zum Telefon. »Das war sie eben. Sie plant jetzt Wohn- und Baugemeinschaften.« Er nahm die Broschüre und reichte sie ihr.
Wanda sagte: »Hm, nur für Joker. Das mag Vorteile haben. Oder Nachteile.«
»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Mellie will, dass ich da runterziehe, näher zu ihr. Wenn ich hier raus bin, weißt du.«
Wanda nahm den Flyer nicht herunter, sondern beäugte Leo über den Rand der Broschüre hinweg und fragte spitz: »Nur du?«
Leo räusperte sich und nahm den Flyer wieder an sich. »Nur ich. Vicky …« Es fühlte sich seltsam an, den Namen seiner Frau auszusprechen. »Vicky ist an Lungenkrebs gestorben, das war 98.«
Wanda sagte: »O mein Gott, Leo. Das tut mir aber leid.« Es klang, als würde sie es ernst meinen.
Wanda war nie eifersüchtig gewesen, soweit Leo wusste. Und dieses eine Mal, als sie damals, vor langer Zeit, miteinander geschlafen hatten … daraus wäre nie etwas geworden. Auch Vicky hatte nie etwas davon mitgekriegt, ein Umstand, in dem Leo einen der wenigen Beweise dafür sah, dass es einen Gott geben könnte.
Leo sagte: »Manchmal kommt es mir vor, als wäre sie vor einer Million Jahren gestorben, und manchmal denke ich gar nicht daran und schenke ihr morgens eine Tasse Kaffee ein.« Seine Frau war gut zu ihm gewesen – besser, als er es verdient hatte. Selbst als seine Karte aufgedeckt worden war, hatte sie nichts weiter gesagt als: »Ich habe dich nicht wegen deinem Aussehen geheiratet. Und deswegen würde ich dich auch nicht verlassen.« Er wechselte das Thema. »Was führt dich wirklich hierher, Wanda? Es ist lange her.«
»Wie gesagt – zum Teil wegen der alten Zeiten. Und zum Teil« – sie griff nach der ledernen Büchertasche und hievte sie auf ihren Schoß – »deshalb.« Sie öffnete die Klappe und nahm eine Mappe heraus. Aus ihr zog sie dreißig oder vierzig angesengte Blätter hervor und breitete sie in ungeordneten Stapeln auf dem Tisch aus. »Entschuldige den Gestank.«
»Was soll ich hier erkennen? Außer verbranntem Papier?«
»Protokolle oder Teile davon. Von einem alten Fall, irgendwann zwischen 75 und 79. Die meisten haben Wasserschäden oder sind so sehr verbrannt, dass sie nicht mehr zu gebrauchen sind, aber der Sachbearbeiter im Gericht hat das hier gesehen und mich gerufen.« Sie zeigte auf eine Ecke, in die mit blauem Kuli »WM« gekritzelt war. »Deine Initialen.«
»Meine Initialen. Ansonsten kann man nur wenig entziffern, hier und da ein bisschen. Sie haben mich gefragt, ob ich ihnen sagen kann, zu welchem Fall die gehören.«
Leo sah von ihren Initialen auf und fragte: »Das wissen sie nicht?« Doch ehe sie antworten konnte, kam er schon mit der nächsten Frage. »Sind die letzte Woche beschädigt worden, bei dem Feuer im Gericht?«
»Du hast es erfasst. Das Feuer hat nicht viel Schaden angerichtet, aber eine ziemliche Sauerei zurückgelassen. Und sieh.« Sie zog ein weiteres Blatt heraus und zeigte auf eine Reihe von Buchstaben, die sich von den anderen Zeilen aus fleckigen, verschmierten, vom Wasser unkenntlich gemachten Druckbuchstaben abhob. »Genau da. Ich bin ziemlich sicher, dass da ›Detective Storgman‹ steht. Deshalb habe ich gehofft, du könntest mir helfen, ihre Frage zu beantworten – vielleicht fällt dir etwas auf, das mir entgangen ist.«
»Äh«, sagte er und starrte auf das Protokoll. »Ich glaube, du hast recht. Dann ist das wahrscheinlich ein Fall von 79. Ich hab es erst im Dezember 78 zum Detective gebracht.«
»Okay, das hilft schon mal. Schränkt das Zeitfenster ein.«
Leo berührte die empfindlichen Papierstücke vorsichtig, fasste sie mit den Fingerspitzen und schob sie hin und her auf der Suche nach Worten, die nicht verkohlt oder verwaschen waren. »Schwer zu sagen. Es sei denn …« Mit dem kleinen Finger zeigte er auf eine Stelle, die nicht sonderlich deutlich war. »Siehst du diesen Abschnitt?«
Wanda beugte sich vor und reckte den Hals, sodass ihre Brüste direkt auf Leos Augenhöhe waren. Er gab sich Mühe, es nicht zu bemerken.
»Genau da. Da steht ›Augustus‹.« Dann grübelte er laut darüber nach. »Wie zur Hölle hieß der Junge mit Vornamen? Ich weiß nur noch, dass er total lächerlich war.« Er schnippte mit den Fingern. »Bernard. Bernard Augustus.«
»Das sagt mir gar nichts«, sagte Wanda skeptisch.
»Weil niemand ihn so genannt hat. Alle haben Deedle zu ihm gesagt.« Leo lehnte sich zurück und faltete die Hände hinter dem Kopf. Auch Wanda lehnte sich zurück, was verdammt schade war.
Sie sagte: »Deedle. An den kann ich mich allerdings erinnern.«
Langsam und nachdenklich schaukelte er mit seinem Stuhl. »Das müssen die Verhandlungsprotokolle der Rathole-Morde sein.«
Wanda schüttelte den Kopf. »Nein, dann wären es keine Gerichtsakten. Jetzt erinnere ich mich. Der Junge kam niemals vor Gericht. Wahrscheinlicher ist, dass die von der Verlesung der Anklagepunkte kommen.«
»Ja, du hast recht. Jetzt, wo ich darüber nachdenke. Er ist entkommen.«
»Aber nicht für lange.« Sie hob die Hand ans Gesicht, als wollte sie sich aufstützen, nagte aber stattdessen sacht an ihren Fingernägeln.
»Nein, nicht für lange.« Er hielt inne, noch immer grübelnd. »Das war ein krasser Fall. Mein erster Mord, und ich habe mich geirrt – es war nicht 79. Es war Ende 78.«
Wanda dachte kurz darüber nach und sagte bedächtig: »Weißt du, diese Akten sollten alle weggeschafft werden und auf CDs gescannt werden. Bevor sie verbrannt sind, hätten sie alle noch mal rausgekramt werden sollen.«
Leo erwiderte: »Und?«
»Das heißt, dass sie noch einmal gelesen worden wären. Dr. Pretorius hat eine ganze Klasse eifriger Möchtegernanwälte, die den alten Kram für einen Schein an der Uni hätten einscannen sollen. Und einige der interessanten Fälle sollten dann im Unterricht durchgenommen werden. Die Geschichte der Jokerjustiz von ihren Anfängen an.«
»Das ist alles, was übrig ist?«, fragte er und zeigte auf die verrußten Blätter.
»Kann gut sein. Aber während der Beamte mir von dem Feuer vorheulte, hat sich mir der Gedanke aufgedrängt, wie wunderbar das zusammenpasst – ausgerechnet diese Jahrgänge erwischt es, wo sich gerade eine Gruppe ehrgeiziger Protoanwälte daranmachte, sie durchzuwühlen.«
Leo hörte auf zu schaukeln und sammelte die spröden Papierstücke ein. Er reichte ihr den kleinen Stapel zurück. »Worauf willst du hinaus?«, fragte er, als wüsste er es nicht.
Sie fing an, die Papiere vorsichtig in die Mappe zu stecken. »Was ich sagen will: Vielleicht lohnt es sich, sich die Rathole-Sache noch einmal genauer anzuschauen. Sie rasch noch einmal anzuschauen«, präzisierte sie. »Habt ihr hier nicht eine Abteilung für ungelöste Fälle oder so was?«
»Das Rathole ist kein ungelöster Fall. Er ist abgeschlossen. Ein glaubhafter Verdächtiger wurde verhaftet …«
Sie schnitt ihm das Wort ab. »Ein passender Verdächtiger. Der dann passenderweise gestorben ist.«
»Er hatte das Zeug dazu.«
»Vielleicht sah er nur so aus, als hätte er das Zeug dazu. Und du hast immer noch fünf Monate vor dir.« Sie wirkte so eifrig in ihrem maßgeschneiderten Kostüm und den überschlagenen Beinen.
Doch Leo sagte: »Wanda, das ist dreißig Jahre her. Alle, die noch leben, haben alles Wichtige vergessen. Ich bin froh, dass ich helfen konnte, aber steigere dich jetzt nicht in die Rathole-Sache hinein. Das ist nur Zeitverschwendung.«