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Inhaltsverzeichnis

Zum Buch
Zum Autor
Widmung
HOLMGARD, WINTER A. D. 972
KAPITEL 1 HESTRENG, OSTGOTLAND, FRÜHHERBST A. D. 972
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
HISTORISCHE NACHBEMERKUNG
GLOSSAR
DANKSAGUNG
Copyright

Zum Autor

Robert Low ist Journalist und Autor. Mit 19 Jahren war er als Kriegsberichterstatter in Vietnam. Seitdem hat ihn sein Beruf in zahlreiche Krisengebiete der Welt geführt, unter anderem nach Sarajevo, Rumänien und Kosovo. Auf Wunsch seiner Frau und seiner Tochter hat er das Reisen mittlerweile aufgegeben. Um seine Abenteuerlust zu befriedigen, nimmt er regelmäßig an Nachstellungen von Wikingerschlachten teil. Robert Low lebt in Larges, Schottland – dem Ort, wo die Wikinger schließlich besiegt wurden.

 

Besuchen Sie den Autor im Internet unter www.robert-low.com

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Ein großer Teil der Befriedigung beim Schreiben historischer Romane verdankt sich der Tatsache, dass die Wahrheit oft noch merkwürdiger ist als das Erfundene. Zum Beispiel brauchte ich einen Vorfall, der Orm im Jahre 972 auf dem Marktplatz von Nowgorod bei Prinz Wladimir in große Schwierigkeiten geraten lässt. Auftritt Krähenbein, auch bekannt als Olaf Tryggvesson, neun Jahre alt, der seine Axt im Kopf seines verhassten Peinigers Klerkon versenkt. Das hätte man sich nicht ausdenken können.

Es sei denn, man ist ein Benediktiner namens Oddr Snorrason, der im 12. Jahrhundert lebte. Die Geschichte von Olaf Tryggvesson ist eine der bekanntesten nordischen Sagen, und auch wenn man dem Erzähler des 12. Jahrhunderts eine gewisse »journalistische Freiheit« zubilligt, klingt es glaubwürdig. Und es war so haargenau das, was ich für meine Geschichte brauchte, dass ich eine Gänsehaut bekam.

Die Geschichte von dem kleinen Olaf ist historisch belegt, so wie ich sie hier erzählt habe. Verändert habe ich lediglich die Tatsache, dass es sein Onkel Sigurd und nicht Orm war, der ihn gefunden und gerettet hatte. Klerkon dagegen, der ebenfalls eine historische Gestalt ist, habe ich eine ganz neue Lebensgeschichte gegeben.

Zwei weitere Veränderungen waren rein kosmetischer Natur – Onkel Sigurd hatte keine silberne Nase, und Krähenbein hatte, soviel ich weiß, auch keine verschiedenfarbigen Augen. Ersteres war eine Laune von mir, das Zweite schien mir gut zu Krähenbein zu passen, weil es als ein Merkmal von Größe und übernatürlichen Fähigkeiten angesehen wurde.

Auch verfügte Krähenbein nicht über einen solchen Märchenschatz, doch ansonsten ist alles über Olaf »Krähenbein« Tryggvesson so, wie die Geschichtsschreibung es berichtet, einschließlich des Spitznamens und der Tatsache, dass er aus den Bewegungen der Vögel die Zukunft vorhersagte, bis zu dem Zeitpunkt, wo er zum Christentum übertrat und 995 König von Norwegen wurde.

Um das zu finanzieren, überfiel dieser mit den Wikingern 991 Großbritannien, wo er – nach der Überlieferung der Sachsen – die legendäre Schlacht von Maldon gewann und ein gehöriges Dänengeld erpresste, die bekannte Zahlung verzweifelter englischer Könige, die hofften, sich damit die Wikinger vom Hals zu halten. In den folgenden Jahren erpresste er noch mehr Geld, um dann finanziell gut ausgestattet den norwegischen Thron zu erobern, auf dem er jedoch nicht lange saß.

Das alles passierte natürlich viel später, nachdem er Prinz Wladimir von Nowgorod geholfen hatte, dessen Brüder zu besiegen und alleiniger Herrscher über die Kiewer Rus zu werden. Der Frieden unter den drei Prinzen der Rus hielt fünf Jahre und wurde, wie vorherzusehen war, von Lyut und Sveinald beendet.

Genau wie Wladimir und sein Onkel Dobrynja sind auch Sveinald und sein unsympathischer Sohn Lyut historische Gestalten und genauso, wie ich sie beschrieben habe – arrogant und herrschsüchtig. Wenn jemand es verdient hatte, von Finn ins Feuer gestoßen zu werden, dann Lyut, der 977 den Fehler machte, in Prinz Olegs privaten Wäldern zu jagen und, als man ihn dabei erwischte, dem Prinzen sagte, er solle sich verkrümeln, was er nicht überlebte. Sein aufgebrachter Vater Sveinald überredete daraufhin Jaropolk, gegen seinen Bruder in den Krieg zu ziehen.

Oleg wurde besiegt und getötet, Wladimir floh nach Norden und bat die Schweden um Hilfe, die er auch bekam; schließlich kehrte er mit einer Armee von Wikingern zurück, besiegte seinen Bruder Jaropolk und wurde 980 in Kiew zum alleinigen Herrscher der Rus gekrönt – und der junge Krähenbein saß vermutlich ganz in seiner Nähe. Damit begann der Prozess, in dem der lose Verbund der slawischen Völker sich zusammenschloss, woraus später das mächtige Russland wurde.

Von seinen drei Jahren im nordischen Exil verbrachte Wladimir zwei bei Olaf Tryggvesson, wo er als Wikinger an Raubzügen entlang der gesamten Ostseeküste teilnahm. Es sollte niemanden überraschen, dass es im 10. Jahrhundert ganz normal war, dass zwei Jünglinge aus noblen Familien im Alter von fünfzehn beziehungsweise achtzehn Jahren ganze Schiffe mit bärtigen Kriegsveteranen befehligten, die die Rechtmäßigkeit dieser Tatsache auch nie infrage stellten.

Die Figur des Onkel Dobrynja schließlich geht auf die russische Sagengestalt Dobrynja Nikitsch zurück, den Helden, der mit einem großen Drachen oder Lindwurm kämpfte, der in der altnordischen Sprache natürlich Orm heißt.

Somit sind die historischen Tatsachen – selbst unter Berücksichtigung mittelalterlicher Ausschmückungen – ein ganz gutes Gerüst, um mit Leben ausgefüllt zu werden. Um die Geschichte jedoch zu vervollständigen und die Sage der Eingeschworenen zu erzählen, brauchte ich auch Feinde. Das bringt uns zu den Männerhasser-Weibern.

Die deutsche Archäologin Renate Rolle fand die ersten Beweise für die Existenz der Amazonen bei Certomylik in der Ukraine. Elena Fialko fand bei Akimovka weitere Spuren der Kriegerinnen, und die Ausgrabungen von Jeannine Davis-Kimball bei Pokrovka an der russisch-kasachischen Grenze förderte viele weitere Funde zutage, einschließlich des Skeletts eines Mädchens, nicht älter als vierzehn Jahre, mit stark gebogenen Beinen, was darauf schließen lässt, dass sie ihr kurzes Leben auf einem Pferderücken verbracht hatte. In ihrem ledernen Köcher steckten Dutzende von Pfeilen, und zu ihren Füßen lag der Hauer eines großen Ebers.

Für Orm und die Eingeschworenen konnte es keinen besseren Weg zu Ruhm und Ehren geben, als nach dem Vorbild des Herkules mit den Amazonen zu kämpfen  – und außerdem reizte mich einfach der Gedanke, dass Attilas treueste Krieger Frauen waren.

Der Zweck dieser Geschichte war es, den Eingeschworenen zu »großem Ruhm« zu verhelfen, so groß, dass es auch als Sinnbild für Odin gelten und eine kleine Barriere für die Flutwelle der Christianisierung darstellen konnte, die zu dieser Zeit über den Norden schwappte.

Nun ja, und wenn man einen nordischen Helden des Dunklen Zeitalters braucht, der mindestens so berühmt ist wie Beowulf, dann braucht man auch einen Feind dieser Zeit, der mindestens ein solches Ungeheuer wie Grendel ist. Ich bin bei der Beowolf-Sage jedoch immer wieder über die Frage gestolpert, wer das eigentliche Scheusal der Geschichte ist – Beowulf, der Mensch, der sowohl Grendel als auch dessen Mutter abschlachtet, oder die beiden Letzteren: die Mutter und der Sohn in der Gestalt von Ungeheuern, die irgendwie in der Schublade der bösen Dämonen gelandet sind, aber eigentlich Mitleid verdienen.

Schottland hat seine eigenen Mythen von Ungeheuern, darunter wohl keine grauenvollere als jene von den Wechselbälgern und von Elfen gestohlenen Neugeborenen. Heute glaubt man, dass viele dieser Märchen als Erklärung für Kindermorde erfunden wurden, die selbst im 19. Jahrhundert noch passierten. Es ist leichter, sich eines ungewollten oder missgestalteten Kindes zu entledigen, wenn man behaupten kann, es sei gegen das eigentliche Wunschkind ausgetauscht worden und von Natur aus bösartig.

Schauermärchen von Kindern mit Fischhaut oder von schuppigen Wechselbälgern bekommen eine neue Bedeutung, wenn man an eine Krankheit denkt, die es zu allen Zeiten gegeben hat und unter der auch heute noch Menschen leiden – die Ichthyose. Es ist eine genetische Krankheit, bei der die Haut verhornt, sodass sich Hornplättchen, ähnlich wie Fingernägel, am Körper bilden. Da die Haut dadurch eng wird und sich zusammenzieht, verformt sich auch manchmal das Gesicht. Die schlimmste Form, die Harlekin-Ichthyose, ist eine wahrlich erschütternde Krankheit, und die Neugeborenen überleben selten länger als achtundvierzig Stunden. Es ist exakt so, wie ich es hier beschreibe, und der Anblick eines solchen Kindes bricht einem das Herz.

Natürlich sind Menschen mit diesem Leiden – abgesehen von ihrem Äußeren – nicht anders als alle anderen Menschen, und ich hielt es für richtig, dass es in einer Siedlung solcher vermeintlicher »Ungeheuer« mehr Familiensinn und Menschlichkeit gibt als bei den gesunden Dorfbewohnern, die Orm ausschickten, diese gefürchteten »Drachen« zu töten. Wie immer kaschiert auch hier die Legende die Schande der eigentlichen Tat.

Schließlich noch ein Wort zum Runenstein, der bevorzugten Art, Namen und Taten für die Nachwelt festzuhalten. Die Verbreitung und die Anzahl der Runeninschriften aus der Eisen- und Wikingerzeit ist beachtlich und reicht vom Schwarzen Meer bis Grönland, von der Insel Man bis Athen. In Island gibt es nur wenige, in Dänemark etwa 500, in Norwegen geschätzte 750 – aber in Schweden sind es 3000, davon etwa ein Drittel allein in der Provinz Uppland.

Der bekannteste ist der Runenstein von Rök, ein Gedenkstein aus dem 9. Jahrhundert, der in Östergötland in Schweden gefunden wurde. Dieser Granitblock, der zum Gedenken an einen verlorenen Sohn aufgestellt wurde, enthält die längste bekannte Runeninschrift – 725 Runen eines Textes, über dessen Inhalt sich die Gelehrten allerdings noch streiten. Er enthält geheime Formeln, vergessene Anspielungen und epische Verse, und alles in so poetischer Form, dass Varinn, ihr Verfasser, zumindest in meiner Einschätzung eine Art nordischer Shakespeare gewesen sein muss.

Ich fand, dass die Eingeschworenen ein solches Denkmal verdient hatten.

Wie immer, sollte man diese Geschichte am besten im Dunkeln am Feuer erzählen. Etwaige Fehler oder Versäumnisse sind allein meine Schuld, sollten aber der Geschichte keinen Abbruch tun.

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Ganz oben auf meiner Liste derjenigen Personen, die dieses Buch wahr werden ließen, stehen die Eingeschworenen  – die gesamte Mannschaft der Glasgower Wikinger (www.glasgowvikings.co.uk), eine inzwischen ziemlich altgediente Mannschaft, deren Stolz es ist, auf der Fjord Elk zu segeln. Mein Dank geht auch an The Vikings Reenactment Group (www.vikings-online.org.uk), die nach wie vor die Wirte der Pubs in Angst und Schrecken versetzen und die staunende Öffentlichkeit mit ihren unterhaltsamen und lehrreichen Darbietungen erfreuen.

Doch alles das wäre nichts, wenn da nicht James Gill wäre, mein Agent bei United Agents, der das Potenzial dieser Romane erkannt hat – dafür besonderen Dank –, und besonders auch Clare Hey, meine Lektorin bei HarperCollins, die das Unglück hatte, meine Bücher als erste Probe ihres Könnens bearbeiten zu dürfen. Sie machte Drachenboot besser, als es vorher war. In der Glasgower Niederlassung von HarperCollins sorgen Marie Goldie und ihre Kolleginnen nicht nur dafür, dass Signierstunden das reinste Vergnügen werden, sondern sie bringen es dabei auch noch fertig, dass ich mich fast berühmt fühle. Weiter so!

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Am Tag ehe wir die Pferde herunterbringen wollten, regnete es. Ich steckte den Kopf zur Tür hinaus, und an der Art und Weise, wie der Wind vom Meer her pfiff und alles vor sich her trieb, erkannte ich, dass es tagelang regnen würde.

Drinnen rührte Thorgunna im Kessel über dem Feuer und legte Holz nach. Sie hatte ein verschmitztes Elfengesicht, dunkles Haar und war gebaut wie ein gutes Schiff, unsere Thorgunna, oder, wie Kvasir sich ausdrückte, sie war »eine Frau mit einem Bug«. Sie hatte eine Art, die Augenbrauen hochzuziehen und einen aus ihren schwarzen Augen anzusehen, dass es einen vernichten konnte. Wir waren aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen, als Kvasir sie geheiratet hatte, und wie Finn bei der Hochzeit, als er betrunken war, gesagt hatte: »Der war zu lange auf See. Wozu braucht jemand wie Kvasir der Sabberer, eine Frau? Wenn er erst einen Winter mit der zusammengelebt hat, wird er darum betteln, wieder an Bord gehen zu dürfen.«

Neben ihr stand Ingrid und hackte Grünkohl, im Gegensatz zu Thorgunna war sie blond und schlank, mit wippenden Zöpfen, und sie warf Botolf, wie sie dachte, heimliche Blicke zu. Sie hatte schon ein Kind von ihm und war ihm öffentlich versprochen. Thorgunna war die Schwester von Thordis, und beide kamen von Gunnarsgard, dem nächsten Hof. Thordis hatte Tor Eisenhand geheiratet, und Gunnarsgard gehörte den beiden Schwestern je zur Hälfte – eine unnatürliche Sache, denn ein guter Hof sollte immer an das älteste Kind gehen. Ihre Base Ingrid hatte ebenfalls bei ihnen gelebt.

Man hätte denken können, dass Tor mit drei Frauen unter einem Dach ein gutes Leben hatte, doch die, die es besser wussten, meinten, dass er ja auch dreifachen Ärger haben müsse. Er hätte auch Thorgunna gern geheiratet, um die andere Hälfte des Hofes ebenfalls zu bekommen, aber da meldete Kvasir sich und brachte sie nach Hestreng, und Ingrid gleich mit. Das war kurz nachdem er hier bei uns angekommen war.

»Wie sieht’s da draußen aus?«, fragte Thorgunna.

»Der Hof ist unter Wasser«, berichtete ich und setzte mich ans Feuer. »Koch uns was Gutes – das können wir heute alle gebrauchen.«

Sie schnaubte. »Das kann ich mir denken. Und dabei wird an so einem Tag kein Schlag Arbeit getan.«

Das war ungerecht, denn es gab immer etwas zu tun, auch im Haus. Die zwei Webstühle hatten wochenlang nicht stillgestanden, als zwei Frauen, Leibeigene des Hauses, Bahnen von gestreiftem Vadmaltuch webten, das neue Segel für die Elk. Alle waren beschäftigt, selbst die Kinder, sei es mit Nähen, Stricken, Lederarbeiten oder einer Holzschnitzerei.

Allerdings belagerten die Kinder im Halbdunkel lieber Botolf und bettelten um Geschichten. Die drei älteren Jungen waren Söhne der Leibeigenen, die sie von ihren früheren Eigentümern hatten; die zwei Säuglinge waren Kinder meiner Eingeschworenen, dazu kam noch ein Kuckuckskind von Jarl Brand, und das Haus hallte wider von ihrem Lärm.

Die Männer kamen zum Essen herein, graue Gestalten an einem grauen Tag. Sie bliesen sich die Regentropfen von der Nasenspitze und schüttelten das Wasser aus ihren Umhängen.

Ich setzte mich auf meinen Hochsitz, wo ich Ruhe haben würde, während sich die Halle mit Lärm und Geschwätz füllte und der Geruch nach nasser Wolle sich breitmachte. Die irische Leibeigene, Aoife, versuchte gerade, ihrem Sohn eine wollene Tunika über die molligen Ärmchen zu ziehen, aus der er sich aber jedes Mal wieder herauswand. Endlich hatte sie es geschafft, gerade als Thorgunna ihr auf die Schulter klopfte und sie anwies, Muscheln aus dem Vorratshaus zu holen. Sie ging, wobei sie einen besorgten Blick auf ihren Jungen warf, der Cormac hieß und gerade im Begriff war, zu den Hirschhunden in der Ecke zu krabbeln.

Ich saß da in meinen wollenen Kleidern und brütete vor mich hin wie ein schwarzer Hund, das Runenschwert auf den Boden gestützt, während ich auf den Griff mit den hineingeritzten Zeichen starrte. Ich hatte sie mithilfe des kleinen Eldgrim eingeritzt, als wir uns von Attilas Grab mit dem verborgenen Silberschatz zurückschleppten, denn obwohl ich nicht besonders gut im Runenlesen war, reichte es doch, um mit ihrer Hilfe den Weg zu diesem geheimen Ort wiederzufinden.

Nach dem Grauen und den vielen Toten, die wir dort hatten lassen müssen, hatte ich mir geschworen, nie wieder dorthin zu gehen, und doch hatte ich diese Zeichen eingeritzt, als hätte ich es trotzdem vor. Odins Hand, ohne Zweifel.

Ich hatte an dieser Angel gezappelt und mich nach Kräften gewehrt; ich hatte viele gute Gründe gefunden und sie mit reicher Beute untermauert, damit die Eingeschworenen nicht darauf bestanden, zu Attilas Grab zurückzukehren. Und dennoch hatte ich immer gewusst, dass ich Kvasir und die anderen zu diesem verwünschten Ort bringen müsste – oder ich müsste Kvasir in das Geheimnis einweihen und ihn allein ziehen lassen. Das ging auch nicht, denn wir waren Eingeschworene und meine Angst, den Schwur zu brechen, war fast so groß wie meine Angst vor dieser unheimlichen Grabkammer.

Der Schwur.

Wir schwören, dass wir einander Brüder sein wollen, mit Knochen, Blut und Stahl. Wir schwören auf Gungnir, Odins Speer, möge er uns bis in die neun Reiche und darüber hinaus verfluchen, wenn wir diesen Schwur gegeneinander brechen.

Er band uns in Ketten der Gottesfurcht, trieb uns in Kälte und Sturm, ließ uns Dinge tun, von denen die Skalden später singen würden – und andere, die in der Erinnerung besser unter einem großen Stein begraben blieben, so schändlich waren sie. Und doch, wenn wir mit dem Rücken zueinander standen, vor uns die, die nicht zu uns gehörten, dann wussten wir, dass jede Schulter neben uns einem Mann gehörte, der eher sterben als uns verlassen würde.

Es hatte mich von einem Jungen, einem Neiding, auf den Thron meiner eigenen Halle gebracht – und doch war selbst dieser Hochsitz nicht mein eigener, er war die Beute aus dem letzten Kampf für Jarl Brand und Eirik, den neuen König. Ich hatte ihn aus der Halle von Ivar Wetterhut mitgenommen, dessen Kopfbedeckung angeblich Stürme heraufbeschwören konnte. Er hätte damit winken sollen, als wir in seine Bucht gerudert kamen, denn als wir bei schönstem Wetter und ruhiger See wieder abzogen, war sein Hof niedergebrannt und er hatte alles verloren, selbst seinen Thron.

Nach dem Raubzug waren wir alle hierhergekommen. Wir harten Männer, wir Räuber, hatten uns hier in dieser Halle niedergelassen, die nach nasser Wolle und Hunden roch und wo es schreiende Kinder und schimpfende Frauen gab. Seitdem hatte ich getan, was ich konnte, damit sich meine rauen Kerle hier zu Hause fühlten. Und wie ich glaubte, mit Erfolg, deshalb hatte ich beschlossen, einen Stein für uns aufzustellen, damit wir hier Wurzeln schlagen.

Was das Runenschneiden anbelangt, so gibt es in der ganzen Welt nur eine Handvoll wirklicher Meister, die die Kett- und Schussfäden im Leben eines Menschen so perfekt in Stein meißeln können, dass die Nachkommen es noch tausend Jahre später lesen können. Wir wollen, dass jedermann erfährt, wie mutig wir gekämpft, wie leidenschaftlich wir geliebt haben. Wer dieses Kunststück fertigbringt, verdient in jeder Halle den besten Platz auf der Bank.

Die Schlangenrunen auf dem Stein der Eingeschworenen sollte der Runenmeister Klepp Spaki mit einem Werkzeug einmeißeln, das so spitz wie der Schnabel eines Vogels war. Klepp Spaki hatte es von einem Mann gelernt, der bei einem Mann gelernt hatte, der bei Varinn gelernt hatte. Derselbe Varinn, der den Ruhm seines toten Sohnes in einen Stein gemeißelt hatte, was ihm so erstaunlich gut gelungen war, dass der Ort fortan Rauk hieß, was Stein bedeutete.

Als Klepp fertig war, fuhr ich mit den Fingern über die Schlangenlinien, die er für uns gemeißelt hatte. Sie waren noch grobkörnig und auch noch nicht eingefärbt. Ich habe das Runenlesen erst spät gelernt und habe den Odin-Zauber ihrer Zeichen nie richtig beherrscht, auch wusste ich nie, wo der Anfang war, wenn man es mir nicht zeigte.

Man liest genauso viel mit den Fingern wie mit den Augen. Es soll schwer sein – denn schließlich bedeutet das Wort selbst ja schon »Raunen«, und Odin selbst musste neun Nächte am Weltenbaum hängen und sich mit seinem eigenen Speer verletzen, ehe er das Geheimnis entdeckte.

Klepp beschrieb auf dem Stein der Eingeschworenen auch einen Teil meines Lebens, das weiß ich genau, auch wenn Wind und Wetter im Laufe der Jahre den Stein geglättet und mich zerfurcht haben. Zum Beispiel konnte ich mit dem Finger das Galoppieren von Hrafn, dem Hengst, finden und verfolgen, dieses Pferd, das ich einst von dem Dicken Bardi gekauft hatte.

Dieses Pferd war schwarz, es hatte nicht ein einziges weißes Haar, und sein Name »Rabe« passte besser zu ihm als jeder andere. Er war kein Reitpferd, er war ein Zucht- und Kampfhengst. Er sollte der Vater von ganzen Pferdedynastien werden und die Eingeschworenen, die bisher Seeräuber waren, zu Züchtern von edlen Kampfhengsten machen, auf den Weiden, die Jarl Brand von Ostgotland uns im Land der Svearen und Goten gegeben hatte, dem Land, das Eirik Segersäll, oder der Siegesfrohe, allmählich zu einem Großschweden zusammenfügte.

Hrafn. Der Name schon hätte mir Warnung sein sollen, aber ich war zu sehr von dem Gedanken besessen, in Frieden auf diesem fruchtbaren Stück Land zu leben und nie wieder mit den Eingeschworenen diesem verfluchten Silberschatz im Osten nachzujagen. Also hielt ich ein Pferd mit dem Namen Rabe für ein gutes Omen.

Ebenso der Name unseres Hofs: Hestreng, Hengstweide. Es war gutes Weideland, das sich sanft um eine schöne Bucht zog und uns für den Winter mit gutem Heu versorgte.

Aber es war am Rande des Austrvegrfjord, des Ostwegsfjord. Diesen Namen hatte er nicht aufgrund seiner Lage, sondern weil alle Schiffe, die Raubzüge im Osten planten, diese Wasserstraße nahmen.

Obwohl die Eingeschworenen sich alle Mühe gaben, sesshaft zu werden, hörten sie doch jeden Tag den Ruf der Straße der Wale. Dann standen sie auf dem Kies am Strand, wo das Wasser ihre Stiefel umspülte und der Wind ihnen ins Gesicht blies, und sahen sehnsüchtig die Segel am Horizont verschwinden. Sie wussten, wo alles Silber der Welt vergraben war, dessen Verlockung kein Nordmann widerstehen konnte. Auch ich nicht.

Ich sah den Frauen zu, die sich am Feuer beschäftigten, und dachte an den Stein, der unverrückbar hier stand und hoffte, dass ich sie alle zu einem sesshaften Leben überredet hatte – aber in Wahrheit warteten sie nur darauf, dass die neue Elk fertig wurde.

Das war mir an dem Tag klar geworden, als Kvasir und ich in das Hochtal ritten, wo unsere Pferde den Sommer über weideten. Er sah dauernd über seine Schulter zum Meer zurück, wozu er sich auf seiner kleinen Stute extrem weit herumdrehen musste, weil er nur ein Auge hatte, und deshalb fiel es mir auf.

Man konnte die Weiden und die Felder hinter uns nicht sehen, auch nicht den Hügelzug, der sie vor dem scharfen Meereswind schützte. Aber man konnte das Meer und die Salzluft auf der Zunge schmecken, und als Kvasir sich wieder herumdrehte und merkte, dass ich ihn ansah, legte er den Kopf auf die Seite und rieb sich mit dem Finger unter der Klappe, die sein totes Auge bedeckte.

»Na ja«, sagte er bärbeißig, »ich liebe eben das Meer.«

»Du hast jetzt eine Frau«, erinnerte ich ihn. »Versuch lieber, auch das Land zu lieben.«

»Ich glaube, sie wird vielleicht eher lernen müssen, das Meer zu lieben«, brummte er und sah mich mürrisch an, weil ich lachte … doch dann musste er auch lachen. Wahrscheinlich war Thorgunna keine Frau, die etwas lernte, das sie nicht lernen wollte.

Wir waren stumm weitergeritten, in das Tal, das zu beiden Seiten von Bergen umschlossen war, an deren Hängen sich dichte grüne Wälder bis zur Baumgrenze hochzogen, wo die Berge ihre kahlen grauen Gipfel dem Himmel und dem Schnee entgegenstreckten. Es war ein grüner Edelstein, eine perfekte Sommerweide, die nie zu trocken wurde. Am Ende des Tales stiegen Fichten- und Kiefernwälder an, und auf den Höhen lag der Nebel.

In diesem Tal lag fast unsichtbar eine Hütte, von der man aus der Ferne nur die Rauchfahne sah. Hier lebten Kalk und sein Sohn, die Pferdeknechte, den ganzen Sommer über. Bei unserer Ankunft erschien Kalk, er trug, was Leibeigene immer trugen, eine Kjafal. Dieses ärmellose Gewand hatte eine Kapuze und war an den Seiten offen, zwischen den Beinen wurde es mit einer Schlinge und einem Knochenknebel geschlossen. Mehr trug er nie, ob Sommer oder Winter, obwohl er, wenn der Schnee zu hoch lag, ein Paar ausgetretener Schuhe aus Ochsenfell anzog.

Er begrüßte uns mit einem Kopfnicken, rieb sich das Stoppelkinn und wartete, während wir absaßen.

»Wo ist der Junge?«, fragte ich, und er räusperte sich und wollte ausspucken, erinnerte sich dann aber, dass sein Jarl vor ihm stand. Ich konnte es ihm nachfühlen, es musste ihm schwerfallen, zu akzeptieren, dass ein solcher Jüngling sein Herr war, denn ich brauchte nicht in den Spiegel zu sehen, um zu wissen, wie ich aussah.

Ein schmales Gesicht, den Bart gestutzt, mit blauen Augen und Haaren von einer Farbe wie das Farnkraut im Herbst, das zu mehreren Zöpfen geflochten und zurückgebunden war und auf Schultern fiel, die für einen Jugendlichen von knapp einundzwanzig Jahren auffallend muskulös waren.

Diese Schultern und die breite Brust sprachen von hartem Rudern und von Schwertkämpfen. Selbst ohne die verräterischen Narben auf den Knöcheln, die den Umgang mit Schild und Schwert verrieten, sah man, dass dieser Jüngling ein gestandener Mann war.

Zudem war er wohlhabend und weit gereist, mit einer Halskette aus Silbermünzen aus Serkland, mit einem Loch versehen und auf einer Lederschnur aufgereiht, mit einem schönen silbernen Odinsamulett als krönendem Abschluss: den drei verschlungenen Dreiecken des Valknut, ein gefährliches Zeichen. Diejenigen, die es trugen, neigten dazu, einer Laune des Einäugigen zum Opfer zu fallen.

Ich besaß auch ein ausgezeichnetes Schwert und mehrere gute silberne Armringe, außerdem natürlich den dicken geflochtenen Silberreifen, das Wahrzeichen des Jarl, dessen schlangenköpfige Enden sich auf dem Stoff meiner farbigen Tunika angifteten.

Ich wusste nur zu gut, wie ich aussah und wie Kalk darüber dachte, und ich betrachtete es als nicht mehr als recht und billig, dass er die Augen niederschlug, schluckte und uns grinsend und katzbuckelnd entgegenkam, voll Eifer, zu Diensten zu sein.

Die Rückkehr Jarl Brands, zusammen mit wilden Gesellen in Rüstung, hatte nicht wenige von ihnen von seinen Ländereien verjagt, und die Höfe, die sie zurückgelassen hatten, waren seinen Auserwählten, und darunter mir, als fürstliche Belohnung geschenkt worden. Für Leute wie Kalk war dies einerlei. Leibeigene waren bewegliche Güter und gehörten dem, der gerade auf dem Thron des Hofes saß.

Er sagte, es sei Zeit, die Pferde von den oberen Weiden herunterzubringen, eins habe einen verletzten Huf, und Tor Eisenhand lasse noch immer seine Stuten frei im Tal herumlaufen, das er als sein Eigentum betrachtete.

Wir sagten ihm, wir würden am nächsten Tag wiederkommen, und nahmen das hinkende Fohlen auf dem Rückweg zum Hof mit.

»Glaubst du denn, dass dieses Tal Tor gehört?«, fragte Kvasir schließlich.

Ich zuckte die Schultern. »Ich hoffe nicht. Thorgunna sagt, es gehöre ihr, als Teil ihres Erbes. Ich nutze es, weil ich euer Jarl bin und ihr unter meinem Dach lebt – aber wenn ihr wollt, könntet ihr mir auch sagen, dass ich es nicht nutzen soll. Warum fragst du?«

Kvasir zog den Rotz hoch und spuckte aus, dann schüttelte er den Kopf. »Nur weil ich dachte, dass du solche Dinge weißt. Wenn einem ein ganzes Tal gehört wie ein Paar Stiefel oder ein Sax.«

»Ja und? Soll das Land sich auf den Rücken werfen, um sich von dir den Bauch kraulen zu lassen, wenn du darüber reitest? Oder sollen die Felsen dich angrinsen und dir gratulieren, weil du ihr Besitzer bist?«

Kvasir brummte irgendetwas, und wir ritten schweigend weiter, nicht zu schnell, damit der lahmende Graue bequem mitkam. Wir sprachen an diesem Tag nicht mehr miteinander, aber sein Brüten beschäftigte mich wie eine juckende Stelle, die ich nicht erreichen und kratzen konnte.

Am nächsten Tag kam er zu mir und hockte sich neben meinen Hochsitz, als ich zusah, wie Aoifes Sohn Cormac gerade seine dicken Ärmchen um den Hals eines Hirschhundes schlang, der ihm das Gesicht ableckte, bis er lachte. Der Junge hatte so helles Haar, dass man glauben konnte, der weißhaarige Jarl Brand selbst habe ihn gezeugt – was wir auch vermuteten, denn als Ehrengast hatte er bei Aoife schlafen dürfen. Niemand wusste es genau, am wenigsten Aoife selbst, denn wie sie sagte: »Es war dunkel. Er hatte Met dabei.«

Das engte die Möglichkeiten auch nicht weiter ein, wie wir alle zugeben mussten, wenn wir darüber spekulierten, wer noch infrage kam.

»Was wirst du wegen Thorkel machen?«, fragte Kvasir schließlich, und ich zuckte die Schultern, weil ich es auch nicht wusste. Thorkel war ein weiteres Problem, von dem ich hoffte, es würde sich von selbst erledigen.

Er war auf der Handelsknarr von Hoskuld angekommen, die Tuchballen und so schöne Garne und Nadeln mitbrachte, dass alle Frauen darüber in Entzücken gerieten. Er war vom Schiff gekommen, hatte sich durch die Frauen gedrängt und mich mit einem verlegenen Grinsen aus seinen meergrauen Augen angestarrt.

Ich hatte ihn zuletzt an jenem Strand der Gegend von Bretland grinsen sehen, die die Schotten das Königreich von Strathclyde nannten. Dort war er zurückgetreten und hatte mich seinen Platz bei den Eingeschworenen einnehmen lassen, ohne dass ich darum hatte kämpfen müssen. Es war natürlich alles vorher abgesprochen gewesen. Ich war erst fünfzehn und roh wie ein durchgerittener Arsch, aber Einar der Schwarze, der damals unser Anführer war, war ein kluger Jarl und verständnisvoll genug, sich auf diese Täuschung einzulassen.

Thorkel war fortgezogen, um mit einer Frau in Dyfflin zusammen zu sein. Jetzt saß er in meiner Halle und trank Bier und erzählte, wie er als Bauer Schiffbruch erlitten hatte, wie seine Frau gestorben war und wie er auch keinen Erfolg gehabt hatte, als er versuchte, Leder und andere Waren zu verkaufen.

Er hatte gehört, dass die Geschichte von Attilas Silberschatz sich bewahrheitet hatte, die Geschichte, die er immer als Märchen abgetan hatte und um deretwegen er vor allem die Eingeschworenen hatte verlassen wollen.

»Wir sollten dich Glückspilz nennen«, sagte Finn, als Thorkel fertigerzählt hatte. Thorkel lachte höflich und etwas zu laut, denn nichts wünschte er sich mehr, als wieder zu den Eingeschworenen zu gehören und eine Chance auf seinen Anteil an diesem Silberschatz zu bekommen, den er so leichtfertig hatte sausen lassen.

»Seit er zurück ist«, sagte Finn, der Strohhalme ins Feuer warf, »scheinen sich alle Männer ein wenig nach links zu neigen.«

Das verstand ich nicht.

»Als hätten sie eine Axt oder ein Schwert am Gürtel«, meinte er. Er rückte zur Seite, um einem Hirschhund Platz zu machen, der seinen Kopf auf mein Knie legte und mich seelenvoll ansah.

»Irgendwann muss ein Mann seine Wahl treffen«, fuhr er fort. »Es sind fast fünf Jahre, seit wir mit Jarl Brand auf den Flüssen der Rus vom Gardarike hierhergesegelt sind, Orm. Fünf Jahre.«

»Wir haben versprochen, ihm jedes Jahr zu dienen«, erinnerte ich ihn und hatte ein Gefühl – wie immer, wenn dieses Thema zur Sprache kam –, als bewege sich die Erde unter meinen Füßen.

»Ja, schon«, gab Kvasir zu. »Das erste Jahr und das folgende waren ja auch gut für uns, obwohl das, was wir verdienten, genauso schnell wieder weg war. Aber so ist das mit uns – wie gewonnen, so zerronnen. Damals dachten wir allerdings, du hättest einen Plan, um uns auszurüsten und wieder ins Grasmeer zu Attilas Schatzkammer zu ziehen. Doch stattdessen bekamen wir Land vom Jarl.«

»Wir hatten ja auch kein Schiff, bis wir anfingen, eins zu bauen«, protestierte ich und merkte, wie mir bei dieser Lüge die Röte in den Nacken stieg. »Wir brauchen ein …« Das Wort »Heim« drängte sich mir auf, aber das konnte ich diesen Männern nicht sagen, deren Heim das unruhige Meer war.

»Und überhaupt«, sprach ich trotzig weiter, »solange hier Krieg herrschte, waren wir auf jedem Hof, der hinter Jarl Brand stand, willkommen. Aber wenn der Krieg vorbei ist, fragt keiner mehr nach Leuten wie uns. Ich wette, dass es an der ganzen Küste hier keine zwei Hallen gibt, wo man sich darüber freuen würde, wenn eine Schiffsladung Eingeschworener in ihr friedliches Leben gesegelt käme. Würdet ihr lieber im Schnee schlafen und Schafsköttel fressen?«

»Das dritte Kriegsjahr war allerdings hart«, gab Kvasir zu, »und da hatten wir großes Glück, unsere eigene Halle zu haben.«

In diesem dritten Jahr des Krieges gegen Jarl Brands Feinde war viel Blut geflossen, aber ich hatte bisher keine Ahnung von Kvasirs Absichten gehabt. Ich sah ihn scharf an, aber sein Blick war nicht weniger entschlossen, selbst mit nur einem Auge.

»Letztes Jahr wurde uns klar, dass du Gründe suchtest, um nicht dorthin zu ziehen, wo wir alle hinwollten«, sagte er. »Und während wir Geld ausgaben, hast du gespart, und das fanden wir bei einem so jungen Jarl wie dir allerdings sonderbar.«

»Ich musste sparen, weil ihr euer Geld ausgegeben habt«, erklärte ich aufgebracht. »Ein Jarl soll freigebig sein, und Armringe wachsen nicht auf Bäumen.«

»Ja, natürlich«, erwiderte Kvasir, »und du bist ja auch bekannt für deine Großzügigkeit. Aber dieses Jahr, als Eirik der Rig-Jarl über alle wurde, musste man dich ja fast dazu zwingen, endlich mit dem Bau der Elk anzufangen, denn du hast nur an deine Pferde und den Pferdehandel gedacht.«

»Ein Schiff wie die Elk ist teuer«, gab ich hitzig zurück. »Es braucht eine gute Mannschaft, die unterhalten und bezahlt werden will – oder wolltest du nur mit denen, die von den Eingeschworenen übrig sind, auf Schatzsuche gehen? Auf der ganzen Welt gibt es kaum noch ein Dutzend, und davon sind die beiden in Hedeby Invaliden, die sich um einander kümmern. Das reicht kaum als Besatzung für eine Knarr, ganz zu schweigen, um damit auf Raubzug zu gehen.«

Kvasir ließ meinen Unmut über sich ergehen, dann wischte er sich Rotz von der Nase und zuckte die Schultern. Ich hatte den Eindruck, dass er mich etwas traurig ansah, was meine Laune nicht gerade verbesserte.

»Du willst die, die noch übrig sind, zu Pferdezüchtern und Bauern machen. Sie sollen ihre Felder pflügen, und vor ihrer Tür sollen Hühner scharren«, murrte er.

»Da sieht man mal, wie gut du Bescheid weißt«, sagte ich spöttisch und streute noch Salz in die Wunde. »Du scheinst nicht einmal zu wissen, dass wir unsere Hühner im Stall halten.«

Er wischte sich die Hand an der Hose ab.

»Nein. Will ich eigentlich auch nicht wissen«, erwiderte er nüchtern. »Ich glaube, die anderen verstehen auch nicht viel von Hühnern, auch nicht von Heu oder von Pferden. Aber sie verstehen etwas von Schiffen – und deshalb fällen sie auch Holz für Gisur und schleppen es heran, um die neue Fjord Elk zu bauen. Und darum bleiben sie hier. Und ich würde mir keine Sorgen um eine neue Mannschaft machen, Orm. Thorkel ist bestimmt nicht der Einzige, der auf einen Platz auf der Ruderbank hofft. Selbst nach fünf Jahren funkelt der Silberschatz noch sehr hell.«

»Du hast eine Frau«, sagte ich jetzt verzweifelt, denn ich wusste, er hatte recht. »Ich dachte, es war dir ernst, als du dich ihr versprochen hattest – kannst du sie genauso leicht zurücklassen wie die Hühner?«

Kvasir verzog komisch das Gesicht. »Wie gesagt – sie wird lernen müssen, das Meer zu lieben.«

Ich war platt. Wollte er mir erzählen, dass er sie mitzunehmen gedachte? Auf diese Reise in die Länder der Slawen und in das weite, leere Grasmeer?

»So ist es«, bestätigte er, und ich war sprachlos. Wenn er so entschlossen war, dann hatte ich versagt, und das Geräusch der Hämmer und Zimmermannsäxte vom Strand her schien mich fast zu verhöhnen. Sie war fast fertig, die neue Fjord Elk, die jüngste in einer langen Reihe. Und wenn sie erst fertig war …

»Wenn sie fertig ist«, sagte Kvasir, als könne er meine Gedanken lesen, »dann wirst du eine Entscheidung treffen müssen, Orm. Der Schwur hat uns zur Geduld gezwungen … na ja, alle außer Finn … Aber wir werden nicht ewig so geduldig bleiben. Du musst dich wirklich entscheiden.«

Eine Antwort blieb mir erspart, denn die Tür flog auf, und Gisur kam herein, gefolgt von Onund Hnufa, Finn und Runolf Hasenscharte. Botolf und Ingrid waren dichter zusammengerückt und flüsterten.

»Wenn du die vorderen Planken noch dünner hobelst«, sagte Gisur zu Onund, der die Elk baute, »dann wird sie Wasser reinlassen wie ein Sieb.«

Der buckelige Onund zog den großen Mantel aus Seehundfell aus, in dem er wie ein Seeungeheuer aussah. Er antwortete nichts, denn er war ein wortkarger Isländer, der nie viel sagte, und erst recht nicht, wenn es darum ging, zu erklären, was er beim Schiffbau mit dem Holz machte. Wortlos saß er da, und seine verwachsene Schulter ragte wie ein Berg über sein Ohr hinaus.

Sie drängten sich und suchten Plätze für ihre Umhänge, damit sie sich nicht gegenseitig volltropften und trotzdem nahe genug am Feuer waren. Wieder flog die Tür mit einem Schwall kalter, feuchter Luft auf, und der rote Njal kam herein und trampelte Matsch von den Stiefeln, was ihm einen vernichtenden Blick von Thorgunna einbrachte.

»Frauenlippen schlagen die schlimmsten Wunden, wie meine Großmutter immer sagte«, brummte er, als er ihr Gesicht sah.

Ingrid riss sich von Botolf los und schloss die Tür. Botolf stand grinsend auf und setzte sich ans Feuer, wo er sofort von Kindern umringt war, die nach Geschichten verlangten. Er wehrte lachend ab, doch es hatte nicht viel Zweck, er wurde überschrien.

»Ich würde nachgeben«, sagte der rote Njal amüsiert. »Kleine Wölfe können selbst den größten Bären zu Fall bringen, wie meine Großmutter immer sagte.«

»Was für ein schöner Anblick«, flüsterte eine Stimme neben mir. Finn hatte sich in der düsteren Halle neben mir niedergelassen. »Wie der Blick in einen stillen Fjord an einem ruhigen Sommertag, was, Orm? Ein schönes Bild. Man darf nur nicht danach greifen.«

Ich sah von ihm zu Kvasir und wieder zurück. Wie zwei Stevenköpfe saßen sie zu beiden Seiten meines Throns, dachte ich düster. Wie Raben auf meiner Schulter. Ich starrte auf den Griff meines Schwertes, ohne ihn zu sehen, drehte ihn in meiner Hand und bohrte das Loch zu meinen Füßen noch tiefer.

Finn streichelte den Kopf des Hirschhundes und betrachtete diese friedliche Szene, sodass ich nur einen Teil seines Gesichts sah, das rot vom Feuerschein war. In seinem schwarzen Bart gab es einige Silberfäden, und wo sein linkes Ohr hätte sein sollen, befand sich nur eine wulstige rote Narbe. Er hatte es in Serkland verloren, auf diesem von allen Göttern verfluchten Berg, wo wir gegen unsere eigenen Leute gekämpft hatten, die ihren Schwur gebrochen und noch Schlimmeres getan hatten.

Es waren wenige übrig von denen, mit denen ich vor sechs Jahren Björnshafen verlassen hatte. Wie ich Kvasir gegenüber erwähnt hatte – kaum genug für die Mannschaft einer Knarr.

»Dann sieh genauer hin«, sagte ich missmutig zu Finn. »Du musst nur den Blick ein wenig heben. Dann kannst du auch danach greifen.«

»Du machst dir etwas vor, Orm«, sagte er. »Du bist zu jung, um am Feuer zu sitzen und deine Halle zu unterteilen. Ich weiß auch, wie viel du hattest und wie viel du ausgegeben hast, und ich vermute, auch dein Beutel ist jetzt ziemlich leer. Dieser Traum nährt sich von Silber.«

»Vielleicht. Aber dieses Anwesen wird uns alle reich machen, wenn ihr nur wollt. Und ich selbst leide nicht unter diesem Silberfieber«, erwiderte ich, verärgert, dass er mich auf mein schwindendes Vermögen angesprochen hatte und darauf, dass ich meine Halle in einzelne Behausungen unterteilen wollte, statt sie groß zu lassen, als Festsaal für eine ganze Mannschaft.

Jetzt sah er mich an. Seine Augen waren hell in der Dunkelheit, und ich sah, sie waren unnachgiebig. Dieser Blick war mir vertraut. Finn kannte nur eine Art und Weise, zu Geld zu kommen, und das einzige Eichmaß, das er kannte, war die Länge seines Schwertes. Und er war nicht der Einzige. Tatsächlich war ich es, der nicht zu den Eingeschworenen passte.

»Aber das Seefieber hat auch dich gepackt. Ich habe doch gesehen, wie du übers Meer schaust, genau wie wir alle«, antwortete er. Ich wurde unruhig. Je näher die Fertigstellung der neuen Elk rückte, desto weniger wollte ich an das Schiff erinnert werden. Ich wollte überhaupt nicht ans Meer denken und sagte es auch.

»Angst, Bärentöter?«, fragte Finn, und darin klang mehr Spott mit, glaube ich, als er selbst beabsichtigt hatte. Oder vielleicht lag es auch daran, dass ich mich schämte, denn den Namen Bärentöter hatte ich fälschlich bekommen, für etwas, das ich nicht getan hatte. Doch das wusste niemand außer dem weißen Bären und der Hexe Freydis, und die waren beide tot.

Trotzdem hatte ich Angst. Ich fürchtete das Meer, seinen Sog. Dieser Sog drohte mich zu erfassen, wenn ich nur Wellen am Strand hörte. Das Meer zog mich an wie das Bierfass einen Betrunkenen. Ich fürchtete, wenn ich erst wieder auf der Straße der Wale wäre, würde ich nie wieder zurückkommen. Das sagte ich Finn, und er nickte, als habe er das alles schon immer gewusst.

»Das ist der Ruf des Stevenkopfes. In dir steckt zu viel von Gunnar Raudi, als dass du hier sitzen und den Hennen beim Scharren zusehen könntest«, sagte er. Er war einer der beiden – der andere war Kvasir –, die wussten, dass ich eigentlich nicht Orm Ruriksson war, sondern Orm Gunnarsson. Gunnar. Mein leiblicher Vater, der schon so lange tot war.

Finn sah mich lange und eindringlich an, dann wanderte sein Blick zum Griff meines Schwertes, das ich immer noch langsam drehte.

»Merkwürdig, wie du diesen Griff zerkratzt hast, wo dich doch dieses Runenschwert vor allem Unglück schützen soll«, sagte er.

Seine Stimme war leise und spöttisch, denn er glaubte nicht, dass meine Gesundheit und scheinbare Unverletzlichkeit etwas mit den Runen auf der Klinge zu tun hatten, und sowohl er als auch Kvasir – die Einzigen, denen ich diesen Verdacht mitgeteilt hatte – verbrachten viel Zeit damit, mich vom Gegenteil zu überzeugen.

»Der Zauber ist in der Klinge«, erwiderte ich, denn zu diesem Schluss war ich seit Langem gekommen. Griffe und Verzierungen konnten ersetzt werden. Allein die Klinge war das, was ein Schwert ausmachte.

»Na ja, vielleicht, sie wird ja auch nie rostig und verfärbt sich nicht«, gab er zu, doch dann lachte er abschätzig. »Nein, in Wirklichkeit ist jede Klinge nur so gut wie die Hand, die sie führt.«

»Wenn das so wäre«, sagte ich, »dann hätten dich und mich schon längst die Würmer gefressen.«

»So ist es«, sagte er schwer. »Rudergefährten sind gestorben, im Wasser und durch Schwert und Feuer, von der Nordsee bis zum Sandmeer von Serkland, und alles nur, um von Odin mit allem Silber der Welt belohnt zu werden. Ich höre die toten Eingeschworenen murren, dass sie das alles nicht erlitten haben, damit wir jetzt hier sitzen und alt werden und uns überlegen, was hätte sein können. Mir scheint, ich höre mit meinem einen Ohr besser als du mit deinen beiden.«

Dieser Hof hatte doppelt starke Mauern, die tief in die Erde gebaut waren. Sie schützten vor Wasser und Wind, und wenn man darin saß, fühlte man sich so unverrückbar wie der Runenstein, den ich errichten lassen wollte. Und doch wollte ein wütender Sturm uns hier wegblasen, und ich roch den Tang und den Salznebel, der über den Kamm des Hügels zu uns drang. Es war der Atem des Tiers am Stevenkopf, das schnaubend an der Ankerkette zerrte und sich befreien wollte.

Er erzählte ihnen von dem Riesen Geirrod, von Thors Reise nach Utgard, wie man Iduns Äpfel gestohlen hatte und von Otters Lösegeld. Diese letzte Geschichte erzählte er absichtlich, glaube ich, denn sie erwähnte den Drachen Fafner, den Schmied Regin und einen verwünschten Silberschatz, nämlich genau den, der geschickt wurde, um mit Attila begraben zu werden – und den wir gefunden hatten.

»Doch, bekommt er«, sagte Thorgunna, »aber bei ihm kommt noch Zimt mit rein, wie ich gehört habe. Und pass auf dein loses Mundwerk auf.«

»Wir hatten mal ganze Eimer von dem Zeug«, sagte Hauk Schnellsegler, den ich gerade zur Seite schob, um einen Platz auf der Bank etwas näher am Feuer zu bekommen. Mir stand zwar der Hochsitz zu, aber er war einfach zu weit weg von der Wärme.

»Das war später«, sagte Kvasir und wischte sich Bier vom Bart. »Die Insel, wo wir den Zimt fanden, war da, wo diese Männer von Starkad gefangen genommen worden waren, denen die verfluchten Kameltreiber die Schwänze und die Eier abgeschnitten hatten und die sich dann vor Scham umbrachten. Der Letzte rannte sich dann an der Mauer den Schädel ein.«

»Das klingt, als hätte ich da so einiges verpasst«, sagte Thorkel in die Stille, die darauf folgte. Ich ignorierte ihn, doch ich merkte beim Essen, wie er mich ansah.

Thorgunna war leise hinter mich getreten, zog mein Haar nach hinten und band es zusammen.

Finn warf seine Schale ärgerlich auf den Boden und stand auf, während die Hirschhunde sich unter uns mischten, Teller und Finger ableckten und Reste verschlangen. Cormac krabbelte zwischen ihnen herum und lachte.

Finn sah sie an, dann mich, dann schüttelte er den Kopf und stapfte in den Regen hinaus.

»Er denkt, wir führen hier ein zu ruhiges Leben und verweichlichen langsam«, sagte Kvasir, der seinen Teller mit Brot abwischte, das sofort im Rachen eines Hirschhundes verschwand. Er sah seine Frau liebevoll an. »Er schimpft darüber, wie wir sprechen und dass wir uns die Haare schneiden lassen. Er findet, dass wir aufbrechen sollten, um einen Silberschatz zu heben.«

»Dann geht auf eure Raubzüge, aber wenn ihr mich fragt, dann ist das keine Beschäftigung für ehrliche Männer. Aber wenigstens strengt ihr euch dann etwas an, um für euer Essen zu sorgen. Mir scheint, dass Jarl Orm mit euch Faulpelzen viel zu nachsichtig ist.«

Eine unbehagliche Stille breitete sich aus.

Botolf grinste und holte seine Handtrommel, und Hauk fischte seine Flöte aus der Tasche, und zusammen flöteten und trommelten sie, und die Kinder sangen und tanzten, und selbst die Leibeigenen in ihren Kopftüchern und den tristen grauen Kitteln aus Vadmaltuch machten mit. Für eine kurze Zeit vergaßen sie, dass sie bewegliches Eigentum mit durchgewetzten Ellbogen waren. Mich hat es schon immer erstaunt, welche Macht die Musik von Flöten und Trommeln hat.

Dieser Gedanke machte mir sehr zu schaffen. Ich ging hinaus in die Nacht, die nach Regen und Meer roch, zu den Pferdeställen. Die Tiere wieherten und stampften, sie waren es nicht gewohnt, eingesperrt zu sein, und Staub und Spreu stoben auf. Im Dunkel schien es hier plötzlich sehr eng, als ob eine Menge ungesehener Personen mich umgäben.

Es kam von draußen, am Himmel, wo im Norden feine Streifen von grünem und rotem Licht tanzten. Ich hatte es schon vorher gesehen, also hatte es nichts Beängstigendes, und doch bekam ich beim Geheimnis des Fuchsfeuers jedes Mal eine Gänsehaut.

»Trollfeuer«, sagte er verwundert. »Manche sagen, das Rot in diesen Feuern bedeutet eine Schlacht, wenn die Krieger in Walhall miteinander kämpfen.«

»Es bedeutet nichts weiter«, mischte sich in diesem Moment eine weitere Stimme ein, »als dass der Winter früh kommt und hart wird, sodass selbst die Flammen gefrieren.«

»Es wird kalt sein auf See, wenn wir losfahren«, fügte er hinzu, und seine Worte hingen in der Luft wie die Lichtschleier am Himmel.