Ich konnte mein Glück nicht fassen, als ich erfuhr, dass dieser Roman veröffentlicht werden sollte. Mein aufrichtiger Dank gilt Simon Spanton, Gillian Redfearn, Krystyna Kujawinska, Hannah Whitaker und Susan Howe von Orion Books, ganz zu schweigen von Anne Groell vom Bantam Verlag und natürlich Deanna Hoak.
Ein ganzes Dorf ist nötig, um dem Ego eines Autors, der sein Erstlingswerk veröffentlicht, den nötigen Auftrieb zu geben (oder sein Ego gegebenenfalls zu dämpfen, je nachdem, was gerade erforderlich ist). Geduldigere und großzügigere Unterstützung als die meiner Eltern, Jill und Tom Lynch, hätte ich mir gar nicht wünschen können, und ohne eine gewisse tatkräftige Gruppe von online agierenden Ganovenexperten wäre womöglich alles anders gekommen: Gabe Chouinard, Matthew Woodring Stover, Kage Baker, Bob Urell, Summer Brooks, M. Lynn Booker, Chris Billett, Gabriel Mesa, Alex Berman, Clucky, Nate Blumenfeld, Ilya Popov, Ariel und viele mehr, einschließlich der Leser und Spieler des Rollenspiels Deeds Not Words.
Dank schulde ich außerdem Freunden und Freundinnen wie Jason McCray, Darren Wieland, Cleo McAdams, Jayson Stevens, Peg Kerr, Philip Shill, Bradford Walker, J. H. Frank, Jason Sartin, Abra Staffin-Wiebe, Sammi und Louis, Mike und Becky, Bridget und Joe, Annie und Josiah, Erik und Aman, Mike und Laura, Paul, Adrian, Ben und Jenny Rose, Aaron, Jesse, Chris und Ren, Andy Nelson und zu guter Letzt Rose Miller, die noch nicht groß genug ist, um richtig mitzumischen, aber trotzdem zu uns gehört.
New Richmond, Wisconsin
16. September 2005
Man schrieb den achtzehnten Tag des Monats Parthis, im Achtundsiebzigsten Jahr von Aza Guilla; ein nasser Camorri-Sommer. Die gesamte Stadt war verkatert, und auch der Himmel litt an Katzenjammer.
Ein warmer Regen prasselte in dichten Vorhängen auf das Straßenpflaster und ließ von den erhitzten Steinen Dampfschwaden aufsteigen. Das Flimmern des Truglichts verfing sich in dem Wasser wie in Schichten aus sich ständig bewegenden, durchsichtigen Spiegeln und zauberte flüchtige Kunstwerke in die Luft; trotzdem verfluchten die Menschen den Wolkenbruch, weil er sie bis auf die Haut durchnässte.
»Wachsergeant! Wachsergeant Vidrik!«
Der Mann, der sich vor Vidriks Station am Südende des Potts die Seele aus dem Leib schrie, gehörte ebenfalls der Wache an. Vidrik streckte sein hageres, wind- und wettergegerbtes Gesicht durch das Fenster neben der Tür und wurde sogleich mit einer Dusche belohnt, als ihm das vom Dach herabströmende Wasser auf den Schädel klatschte. Über ihm krachte der Donner. »Was ist los, Junge?«
Aus dem Regen tauchte der Wachposten auf; es war Constanzo, der neue Junge, der von der Nordecke herübergewechselt war. Er führte einen Gebrochenen Esel, der einen offenen Karren zog; hinter dem Gefährt marschierten zwei weitere Gelbjacken. Sie verkrochen sich in ihr Ölzeug und blickten elend drein, was bedeutete, dass sie vernünftige Männer waren.
»Wir haben was gefunden, Sergeant«, rief Constanzo. »Eine richtige Sauerei!«
Seit der letzten Nacht hatten Trupps von Gelbjacken und Schwarzröcken den Süden von Camorr durchkämmt; es kursierten Gerüchte, im Rabennest hätte so etwas wie ein versuchtes Attentat stattgefunden. Nur die Götter mochten wissen, warum die Spinne des Herzogs den Jungs befohlen hatte, in den Bezirken Abschaum und Aschefall jeden Stein umzudrehen, aber Vidrik war daran gewöhnt, niemals die Gründe für die diversen Aktionen zu erfahren.
»Was verstehst du unter einer ›richtigen Sauerei?‹«, brüllte Vidrik zurück, während er in sein eigenes Ölzeug schlüpfte und sich die Kapuze tief in die Stirn zog. Er trat hinaus in den Regen und ging zum Eselskarren, die beiden dahinter stehenden Männer mit einem Winken begrüßend. Einer der Kerle schuldete ihm noch zwei Barons von dem Würfelspiel in der vergangenen Woche.
»Sieh selbst nach«, entgegnete Constanzo und schlug die nasse Decke zurück, die über der Fracht lag. Vidrik starrte auf einen sehr blassen Mann hinab; obwohl er noch recht jung war, hatte er bereits eine Stirnglatze, und auf den Wangen sprossen Bartstoppeln. Er war ziemlich gut gekleidet, mit seinem grauen Rock mit roten Ärmelaufschlägen. Der Stoff wies jedoch diverse Blutflecken auf.
Der Mann lebte, doch er lag reglos auf dem Karren, die fingerlosen Hände gegen die Wangen gepresst, und er glotzte Vidrik mit einem Blick an, in dem kein Funke von gesundem Verstand mehr zu erkennen war. »Mahhhhhhh«, stöhnte er, während der Regen auf seinen Kopf trommelte. »Mwaaaaaaaaaah!«
Man hatte ihm die Zunge herausgeschnitten; eine dunkle Narbe zog sich über den Stummel, aus dem immer noch Blut sickerte.
»MAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAH!«
»Beim Arsch des Perelandro«, krächzte Vidrik, »sag mir, dass ich mir einbilde, was ich da an seinen Handgelenken sehe.«
»Es ist ein Soldmagier, Sergeant«, bestätigte Constanzo. »Oder besser gesagt, es war einer.«
Er warf die durchnässte Decke wieder über das Gesicht des Mannes und griff in sein Ölzeug. »Das ist aber noch nicht alles. Soll ich es dir zeigen, wenn wir drinnen sind?«
Vidrik führte Constanzo in die Baracke. Die beiden Männer streiften ihre Kapuzen ab, gaben sich aber nicht die Mühe, das Ölzeug auszuziehen. Constanzo holte ein zusammengefaltetes Stück Pergament aus seinem Umhang.
»Wir fanden den Burschen drüben in Aschefall, er war an den Fußboden gefesselt«, erklärte er. »Verdammt unheimlich das Ganze. Dieses Pergament lag auf seiner Brust.«
Vidrik nahm es, faltete es auseinander und fing an zu lesen.
PERSÖNLICHE SENDUNG FÜR DIE SPINNE
DES HERZOGS
BESTIMMT ZUM WEITERTRANSPORT NACH
KARTHAIN
»Bei den Göttern«, hauchte er. »Ein echter Karthani-Soldmagier. Sieht nicht so aus, als würde er Camorr seinen Freunden empfehlen.«
»Was machen wir mit ihm, Sergeant?«
Vidrik seufzte, faltete den Brief wieder zusammen und gab ihn Constanzo zurück.
»Wir reichen ihn weiter«, meinte er. »Wir reichen diese verdammte Fundsache an die nächsthöhere Stelle in der Kommandokette weiter und vergessen das Ganze einfach. Schafft ihn zum Palast der Toleranz; soll sich dort jemand über das Problem den Kopf zerbrechen.«
Truglicht flackerte auf dem regengepeitschten Wasser der Bucht von Camorr, als Doña Vorchenza, die verwitwete Gräfin Amberglas, in einem mit Pelz gefütterten Wachstuchumhang am Kai stand, während unter ihr Männer mit langen Holzstangen in einem Kahn voller Scheiße herumstocherten. Der Gestank war überwältigend.
»Es tut mir leid, gnädige Frau«, erklärte der Wachtmeister zu ihrer Linken. »Wir sind uns absolut sicher, dass auf den beiden anderen Barken nichts versteckt ist, und in diesem Boot graben wir seit sechs Stunden herum. Ich bezweifle ernsthaft, dass wir noch etwas finden werden, obwohl wir unsere Bemühungen selbstverständlich fortsetzen.«
Doña Vorchenza seufzte inbrünstig und drehte sich zu der Equipage um, die hinter ihr am Kai stand; die Kutsche wurde von vier Rapphengsten gezogen, und längs der Ränder von Karosserie und Aufbau glühten flackernde alchemistische Lichter in den Vorchenza-Farben. Der Wagenschlag stand offen – in der Kabine saßen Don und Doña Salvara und spähten angestrengt nach draußen; bei ihnen befand sich Hauptmann Reynart. Doña Vorchenza winkte die drei zu sich.
Reynart erreichte sie als Erster; wie üblich, verzichtete er auf Ölzeug und ertrug den strömenden Regen mit stoischer Gelassenheit. Die Salvaras hingegen hatten sich gegen das Unwetter gewappnet, mit entsprechender wetterfester Kleidung und einem seidenen Sonnenschirm, mit dem Lorenzo seine Gemahlin zusätzlich vor der Nässe schützte.
»Lassen Sie mich raten«, begann Reynart. »In allen Booten steckt nur Scheiße.«
»Ich fürchte, dass dem so ist«, bestätigte Doña Vorchenza. »Haben Sie Dank für Ihre Hilfe, Wachtmeister; Sie dürfen jetzt gehen. Holen Sie auch Ihre Leute von den Barken herunter. Ich glaube nicht, dass wir die Männer noch benötigen.«
Als die maßlos erleichterten Gelbjacken im Gänsemarsch den Kai verließen, die Holzstangen vorsichtig auf den Schultern balancierend, schien Doña Vorchenza zu erschauern und nach Luft zu schnappen. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und beugte sich vornüber.
»Doña Vorchenza!«, rief Sofia und eilte herbei, um sie zu stützen. Während die kleine Gruppe die alte Dame umringte, richtete Vorchenza sich plötzlich wieder auf und brach in schallendes Gelächter aus; zwischen den heiseren Lachanfällen musste sie immer wieder innehalten, um tief Luft zu holen. Sie schüttelte und bog sich vor Lachen; mit ihren winzigen Fäusten boxte sie in die Luft.
»Oh Götter!«, keuchte sie. »Oh, das ist zu viel!«
»Was meinen Sie? Doña Vorchenza, was ist passiert?« Reynart fasste sie beim Arm und sah sie erschrocken an.
»Das Geld, Stephen.« Sie kicherte hysterisch. »Das Geld ist niemals hier gewesen. Der kleine Gauner hat uns nur zu seinem eigenen Vergnügen in der Scheiße wühlen lassen. Das Geld befand sich an Bord der Satisfaction.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Liegt das nicht auf der Hand? Alles deutet darauf hin. Mögen die Götter die späte Einsicht segnen und verdammen. Capa Raza hat diesem Pestschiff doch mit beträchtlichem Engagement geholfen, nicht wahr? Jede Menge Proviant herübergeschickt, angeblich aus Gründen der Barmherzigkeit. Ist es nicht so?«
»Genau so war es!«
»Aber er tat es natürlich nicht aus menschlichem Anstand, oder weil er ein so gutes Herz hatte. Er hat sich nur so ins Zeug gelegt, weil er eine Tarnung brauchte, um sein Vermögen auf diese Fregatte zu schaffen!«
»Auf ein Pestschiff?«, wunderte sich Doña Sofia. »Dann wäre sein Geld so gut wie verloren. Er hätte doch nichts mehr davon.«
»Aber nur, wenn auf diesem Schiff tatsächlich eine Seuche ausgebrochen wäre«, erklärte Doña Vorchenza. »Die Pest wurde nur vorgeschoben, um sicherzugehen, dass sich kein Mensch der Fregatte näherte. Dass sie unbehelligt vor Camorr auf Reede liegen durfte. Diese Lüge diente dazu, Capa Raza die Begründung für die häufigen Transporte vom Kai zum Schiff zu liefern.«
»Aber«, hakte Don Lorenzo nach, »wieso war Lukas dann so erpicht darauf, das Schiff versenken zu lassen? Aus Rache? Aus verletzter Eitelkeit? Wenn er schon nicht an das Vermögen herankäme, sollte es auch kein anderer bekommen?«
»Sein Name war Callas, mein lieber Lorenzo. Er hieß Tavrin Callas.«
»Wie auch immer, mein Herzblatt«, gab Lorenzo zurück. »Fünfundvierzigtausend Kronen und dazu Barsavis Besitz. Das ist ein hübscher Batzen Geld, der da für immer verloren gegangen ist, egal, wer seine Hände danach ausstreckte.«
»Ja, sicher«, bekräftigte Doña Vorchenza. »Und er hat uns auch noch klipp und klar gesagt, warum er das Schiff versenkt haben wollte. Ich könnte mich selbst treten, weil ich so eine verdammte Närrin war!«
»Ich glaube«, warf Doña Sofia ein, »dass ich für uns drei spreche, wenn ich sage, dass wir Ihnen nicht zu folgen vermögen.«
»Der Dorn erzählte, er sei ein Priester des Dreizehnten Gottes«, erläuterte Doña Vorchenza. »Gemeint ist dieses Ketzertum, das den Namenlosen Dreizehnten verehrt, den Korrupten Wärter, den Gott der Diebe und Missetäter. Ich solle ›ein Opfer bringen‹, flehte er mich an. Ein Opfer. Er hat sich ganz bewusst so ausgedrückt.«
Wieder brach sie in haltloses Gelächter aus und musste sich auf die Fingerknöchel beißen, um nicht vollends die Beherrschung zu verlieren.
»Bei den Göttern. Anatolius hat drei seiner Freunde getötet. Versteht ihr immer noch nicht? Von diesem Schiff ging nie eine Gefahr aus; er wollte es nicht versenken, um Camorr zu retten. Es war eine Totengabe, Stephen, ein Opfer an die Götter. Er bat mich, es aus Gründen des Anstands zu tun, weil es sich so gehört!«
Reynart schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn; aus seinem Schopf spritzte das Wasser.
»Jawohl«, betonte Doña Vorchenza. »Eine Totengabe. Ein Geschenk für die Götter. Und ich ließ das Schiff versenken, sodass es jetzt in einer Tiefe von sechzig Faden in einer Bucht liegt, in der es von Haien nur so wimmelt.«
»Also …«, wiederholte Don Lorenzo gedehnt, »liegt unser gesamtes Geld dreihundertsechzig Fuß tief auf dem Grund des Alten Hafens?«
»Ich fürchte ja«, bestätigte Doña Vorchenza.
»Äh … und was machen wir jetzt?«
Doña Vorchenza seufzte und dachte einen Augenblick lang nach. »Als Erstes«, hob sie an, als sie sich wieder den Salvaras zuwandte, »wird diese ganze Affäre zum Staatsgeheimnis des Herzogtums Camorr erklärt; ich verpflichte jeden, der irgendwie in diese Angelegenheit verwickelt war, zu strengstem Stillschweigen. Der Dorn von Camorr ist ein Mythos; das Geld, das er angeblich gestohlen haben soll, hat niemals existiert; die Spinne des Herzogs hat sich offiziell nie mit diesem Fall befasst.«
»Aber«, wandte Doña Sofia ein, »diese Kerle erzählten Lorenzo, dass exakt dieses Vertuschen dem Dorn von Camorr gelegen kommt; indem keiner sich äußert, was ihm widerfahren ist, bleibt sein Treiben geheim. Das sagten jedenfalls die Männer, die als Mitternachtswächter verkleidet in unser Haus eindrangen.«
»Richtig«, bestätigte ihr Gemahl. »Einer dieser falschen Mitternachtswächter hat es ganz offen zugegeben; der Dorn von Camorr verlässt sich darauf, dass seine Opfer aus lauter Scham für sich behalten, wie sie übers Ohr gehauen wurden, und deshalb werden andere Leute nicht gewarnt. Diese Diebstähle und Betrügereien dringen nie an die Öffentlichkeit. Ich denke, dieser Teil der Geschichte war nicht gelogen.«
»Ich bin mir sicher, dass da etwas Wahres dran ist«, räumte Doña Vorchenza ein. »Nichtsdestotrotz werden wir genau das tun. Irgendwann werdet ihr einsehen, dass ein Staat wie der unsere es sich nicht leisten kann, aus purer Wahrheitsliebe Schwäche zu zeigen; Herzog Nicovante hat mich beauftragt, für seine Sicherheit zu sorgen, und nicht, sein Gewissen zu hüten.«
Die Salvaras erwiderten nichts darauf; sie starrten die alte Frau nur an.
»Ach, schaut nicht so finster drein«, wiegelte Doña Vorchenza ab. »Eure richtige Strafe dafür, dass ihr euch in diesen Schlamassel habt verwickeln lassen, kommt erst noch. Begleitet mich zurück in meinen Turm, dort werden wir dann über eure Bestrafung reden.«
»Unsere Bestrafung, Doña Vorchenza?«, brauste Lorenzo auf. »Wir haben fast siebzehntausend Kronen verloren, ist das nicht Strafe genug? Reicht Ihnen das nicht?«
»Nicht annähernd«, gab Doña Vorchenza zurück. »Ich habe entschieden, wer den Titel der Gräfin Amberglas erben soll, wenn meine Zeit gekommen ist.« Ehe sie fortfuhr, legte sie eine kleine Pause ein. »Genauer gesagt wird es dann nicht nur eine Gräfin Amberglas geben, sondern auch einen Grafen dieses Namens.«
»Was?«, Sofia quiekte wie ein achtjähriges Mädchen, genauer gesagt wie ein besonders quiekiges achtjähriges Mädchen, das besonders gerne besonders laut quiekt.
»Dieser Titel ist keine ungetrübte Freude«, mahnte Doña Vorchenza. »Er bringt jede Menge Pflichten und Arbeit mit sich.«
»Das kann doch nicht Ihr Ernst sein«, staunte Don Lorenzo. »Im Alcegrante gibt es mindestens zwei Dutzend Familien, die höhergestellt und verdienstvoller sind als wir; ich kann mir nicht vorstellen, dass der Herzog ausgerechnet uns den Vorzug geben wird.«
»Ich denke, ich kenne Nicovante ein bisschen besser als Sie, junger Mann«, widersprach Doña Vorchenza bissig. »Außerdem bestimme immer noch ich, wer meinen Adelstitel erben wird.«
»Aber … diese Pflichten, die Arbeit, von der Sie sprachen, Doña Vorchenza«, warf Sofia ein. »Meinten Sie damit etwa …«
»Ja, du hast mich schon richtig verstanden, Sofia. Genau das meinte ich. Ich kann nicht ewig leben. Und jedes Mal, wenn ich mich mit einer Affäre wie dieser beschäftigen muss, wird mir klar, dass ich gar nicht ewig leben will. Soll jemand anders die Spinne spielen; so viele Jahre lang haben wir alle getäuscht, indem wir die Leute glauben ließen, das Amt würde von einem Mann bekleidet. Wir wollen die Camorri weiterhin irreführen und das Amt auf zwei Personen übertragen.«
Sie hängte sich bei Reynart ein und gestattete ihm, sie zu ihrer Kutsche zurückzugeleiten.
»Ihr habt Stephen, der euch bei der Ausübung der Geschäfte helfen wird; er stellt die Verbindung zwischen euch und den Mitternachtswächtern dar. Ihr zwei seid mit einem ganz passablen Verstand ausgestattet, Sofia und Lorenzo. Ich denke, dass ihr dazulernen könnt. Gebt mir noch ein paar Jahre Zeit, und ich bringe euch in annähernd die Form, die ich von meinen Nachfolgern verlange.«
»Und was dann?«, fragte Doña Sofia.
»Dann, meine Liebe, dürft ihr euch mit all diesen verdammten Krisen befassen, die Camorr heimsuchen.« Doña Vorchenza seufzte. »Alte Sünden werden niemals so tief begraben, dass sie nicht plötzlich wieder auftauchen können, wenn man am wenigsten damit rechnet. Und für das Wohl Camorrs werdet ihr mit der Münze eures eigenen Gewissens bezahlen; jedes Jahr gebt ihr ein bisschen mehr aus, bis dieser Beutel schließlich völlig leer ist.«
»Meister Lamora!«, rief Ibelius aufgebracht. »Das kann ich nicht tolerieren!«
Unter dem Truglicht wogte das Meer als graugrüne, glitzernde Fläche; die Wogen rollten und donnerten gegen den Rumpf der Galeone Golden Gain, die Kurs auf Talisham nahm, um von dort aus nach Tal Verrar weiterzusegeln, eines von zwei Schiffen, die an diesem Abend in Camorr ausgelaufen waren. Der Wind heulte in den Takelagen und Segeln des alten Kahns, und Matrosen in Ölzeug rannten hin und her, insgeheim Gebete an Iono murmelnd, den Gebieter der Gierigen Wasser.
Locke Lamora befand sich auf dem erhöhten Achterdeck; er lag auf einem Stapel mit Planen abgedeckter Kisten, fest eingewickelt in warme Decken, Ölzeug und Persenning, wie eine Wurst in der Pelle. Nichts von ihm war zu sehen, bis auf sein unnatürlich bleiches (und mit Blutergüssen übersätes) Gesicht, das aus den vielen Lagen Stoff, in die er eingemummelt war, herauslugte. Neben ihm hockte Jean Tannen, ebenfalls wetterfest eingehüllt, aber nicht bis zur völligen Bewegungslosigkeit.
»Meister Ibelius«, nuschelte Locke mit matter Stimme, die wegen seiner gebrochenen Nase klang, als hätte er einen schweren Schnupfen, »jedes Mal, wenn ich Camorr verließ, reiste ich auf dem Landweg. Das hier ist für mich etwas völlig Neues … und ich möchte die Stadt ein letztes Mal sehen.«
»Sie ringen mit dem Tod, Meister Lamora«, warnte Ibelius, »es ist töricht, wenn Sie bei diesem Wetter auf dem Deck herumturnen.«
»Ibelius«, wandte Jean ein, »wenn Sie das, was Locke zurzeit macht, ›herumturnen‹ nennen, dann wären Leichen die geborenen Akrobaten. Könnten Sie uns vielleicht einen Moment lang in Ruhe lassen?«
»Selbstverständlich kann ich meine Bemühungen einstellen, die Ihren Freund bisher am Leben gehalten haben. Wie Sie wünschen, meine Herren … genießen Sie den Meerblick – solange Sie noch können!«
Ibelius stapfte über das schlingernde Deck davon, mal in die eine, dann in die andere Richtung schwankend, weil er es nicht gewöhnt war, sich auf einem Schiff in schwerer See zu bewegen.
Hinter ihnen verschwand Camorr, verblasste allmählich zwischen flatternden Vorhängen aus Regen. Von der unteren Stadt erhob sich das Truglicht wie eine flimmernde Aura über die Wellen, und unter dem düster brodelnden Himmel schimmerten die Fünf Türme in einem geisterhaften Glanz. Das Kielwasser der Galeone schien zu leuchten, als erzeuge es sein eigenes Truglicht.
Locke und Jean verweilten auf dem Achterdeck und sahen zu, wie der dunkle Horizont Camorr verschluckte.
»Es tut mir leid, Locke«, hob Jean an. »Es tut mir leid, dass ich dir zum Schluss keine echte Hilfe mehr war.«
»Was zum Henker faselst du da? Du hast Cheryn und Raiza getötet; das hätte ich niemals fertiggebracht. Du hast mich aus dem Schwimmenden Grab herausgeschleppt. Du hast mich zu Ibelius geschleift, damit dieser Hundeheiler mich wieder mit einer seiner entzückenden, verdammten Breipackungen einschmieren konnte. Wofür willst du dich entschuldigen? Außer für die verfluchten Umschläge natürlich, die verzeihe ich euch nie.«
»Ich bin ein Problem«, erwiderte Jean. »Es liegt an meinem Namen. Mein ganzes Leben lang habe ich meinen richtigen Namen benutzt und wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass es einmal zu einer Gefahr werden könnte.«
»Ach, du denkst dabei an den Soldmagier! Bei allen Göttern, Jean. Leg dir doch einfach einen falschen Namen zu, wo auch immer wir landen. Tavrin Callas klingt gut. Lass dieses Arschloch überall auftauchen; der Orden von Aza Guilla wird sich vor Wundern gar nicht mehr retten können, dort wird man begeistert sein!«
»Ich habe versucht, dich zu töten, Locke. Dafür schäme ich mich entsetzlich … aber ich konnte mich einfach nicht dagegen wehren.«
»Du hast nicht versucht, mich umzubringen, Jean. Das war der Falkner. Und gegen seine Magie hättest du dich beim besten Willen nicht wehren können. Grundgütige Götter, ich bin derjenige mit einem aufgeschlitzten Arm und einer kaputten Schulter, aber du versinkst in Trübsal. Jetzt reicht es aber!«
In den Wolken über ihren Köpfen rumpelte der Donner, und vom Vordeck hallten gebrüllte Befehle.
»Jean«, fuhr Locke fort, »bevor ich dich kennenlernte, wusste ich gar nicht, was ein richtiger Freund ist. Du hast mir öfter das Leben gerettet, als ich zählen kann. Ich möchte lieber tot sein, als dich zu verlieren. Und das nicht nur, weil ich außer dir niemanden mehr habe.«
Mehrere Minuten lang schwieg Jean; sie blickten nach Norden über das Eiserne Meer, das der auffrischende Sturm zu immer wütenderen, weiß schäumenden Wellen aufpeitschte.
»Es tut mir leid«, brach Jean nach einer Weile sein Schweigen. »Du hast ja recht, ich hätte besser die Klappe gehalten, aber irgendwie sind die Gäule mit mir durchgegangen. Danke, Locke.«
»Na schön, krieg dich wieder ein. Sei froh, dass du nicht so unbeweglich bist wie eine Kaulquappe auf dem Trockenen. Ich fühle mich, als würde ich in einem Sarg aus Ölzeug stecken.« Locke seufzte. »So ist das also, wenn man gesiegt hat«, meinte er dann.
»Ja, so kann ein Triumph auch aussehen«, ergänzte Jean.
»Es gibt Siege, die haben einen bitteren Beigeschmack.«
Abermals schwiegen sie ein paar Minuten lang, während der Regen auf sie herabrauschte.
»Locke?«, fragte Jean schließlich zögernd.
»Ja?«
»Entschuldige bitte, aber würdest du mir vielleicht sagen … wie dein richtiger Name lautet?«
»Oh ihr Götter.« Locke lächelte dünn. »Darf ich denn gar keine Geheimnisse haben?«
»Meinen richtigen Namen kennst du.«
»Sicher, aber du hast ja nur diesen einen.«
»Das ist kein Argument.«
»Na schön«, seufzte Locke. »Komm mal ein Stückchen näher.«
Jean stolperte zu dem Stapel Kisten, auf dem Locke lag, und beugte sich über ihn. Locke wisperte ein paar Silben in Jeans Ohr, und der riss verblüfft die Augen auf.
»Weißt du was«, meinte er, »bei diesem Namen hätte ich auch Locke den Vorzug gegeben.«
»Wem sagst du das!«
Die Galeone kämpfte sich durch den Sturm nach Süden, und hinter ihnen verglühte das letzte Flackern des Truglichts. Der schwächer werdende, flirrende Schein zog sich in die Dunkelheit zurück, bis er schließlich gänzlich erlosch und der Regen sich wie eine Wand über das Meer schob.