Peter Handke erzählt die ersten zehn Jahre im Leben eines Kindes und die Geschichte des ihm zugehörigen Erwachsenen. Weit entfernt von jeder Verharmlosung, aber auch von aller pädagogischen Intention, nimmt der Erzähler dem Kind (und den Kindern) gegenüber die Haltung eines Geschichtsschreibers ein. »Ich möchte einmal von einem Menschen so erzählen, wie man von einem ganzen Volk erzählt – wozu es aufblicken kann, wozu er sich entfalten kann, was ein Mensch für Möglichkeiten hat, als ob er ein ganzes Volk wäre – und er ist ja ein ganzes Volk.«

Peter Handke wurde 1942 in Griffen (Kärnten) geboren und lebt heute bei Paris.

Kindergeschichte, entstanden im Frühjahr und Sommer 1980 in Salzburg, erschien zum ersten Mal 1981.

Peter Handke

Kindergeschichte

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2012

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Umschlag: Hermann Michels und Regina Göllner unter Verwendung einer Zeichnung von Amina Handke

eISBN 978-3-518-79910-9

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Damit endete der Sommer.

Im darauffolgenden Winter ...

1

Ein Zukunftsgedanke des Heranwachsenden war es, später mit einem Kind zu leben. Dazu gehörte die Vorstellung von einer wortlosen Gemeinschaftlichkeit, von kurzen Blickwechseln, einem Sich-dazu-Hocken, einem unregelmäßigen Scheitel im Haar, von Nähe und Weite in glücklicher Einheit. Das Licht dieses wiederkehrenden Bildes war die Düsternis, kurz bevor es zu regnen anfängt, in einem grobsandigen leeren Hof, der von einem Grasnarbenkranz eingefaßt wird, vor einem nie deutlichen, nur im Rücken gefühlten Haus, unter dem dichtgefügten Laubdach hoher, breiter, hier und dort rauschender Bäume. Der Gedanke an ein Kind war so selbstverständlich wie die beiden anderen großen Zukunftserwartungen, welche von der nach seiner Überzeugung ihm bestimmten und sich seit je in geheimen Kreisen auf ihn zubewegenden Frau handelten, und von der Existenz in dem Beruf, wo allein ihm eine menschenwürdige Freiheit winkte; ohne daß freilich diese drei Sehnsüchte auch nur einmal in einem Bild zusammen erschienen.

Am Tag der Geburt des gewünschten Kindes stand der Erwachsene dann an einem Sportplatz in der Nähe der Klinik. Es war ein hellsonniger Sonntagvormittag im Frühjahr, in den graslosen Torräumen Pfützen, im Lauf des Spiels zu Schlamm gestampft, aus dem die Dunstschwaden aufstiegen. In der Klinik erfuhr er, daß er zu spät kam; das Kind sei schon da. (Er hatte wohl auch eine Scheu empfunden, bei dem Geburtsvorgang Augenzeuge zu sein.) Seine Frau wurde an ihm vorbei durch den Flur gefahren, den Mund weiß ausgetrocknet. Die Nacht davor hatte sie allein in einem sonst fast leeren Bereitschaftsraum auf dem sehr hohen Räderbett gewartet; als er ihr etwas zu Hause Vergessenes dorthin nachbrachte, hatte sich zwischen den beiden, dem mit einem Plastiksack in der Tür stehenden Mann und der auf dem hohen metallischen Gestell mitten im kahlen Zimmer liegenden Frau, ein Augenblick tiefer Sanftheit ergeben. Der Raum ist ziemlich groß. Sie befinden sich in einem ungewohnten Abstand voneinander. Auf der Strecke von der Tür zum Bett glänzt der nackte Linoleumboden im weißlichen, sirrenden Neonlicht. Das Gesicht der Frau hatte sich schon im Anschaltgeflacker ohne Überraschung oder Erschrecken dem Eintretenden zugewendet. Hinter diesem dehnen sich die weitläufigen, halb schattigen Korridore und Stiegenhäuser des Gebäudes, lang nach Mitternacht, in einer einmaligen, durch nichts zu störenden, in den leeren Stadtstraßen dann weiterschwingenden Aura des Friedens.

Als dem Erwachsenen durch die Trennglasscheibe das Kind gezeigt wurde, erblickte er da kein Neugeborenes, sondern einen vollkommenen Menschen. (Nur auf dem Photo war es dann das übliche Säuglingsgesicht.) Daß es ein Mädchen war, war ihm sofort recht; doch im anderen Fall das wußte er später – wäre es die gleiche Freude gewesen. Hinter dem Glas wurde ihm nicht eine »Tochter« entgegengehalten, oder gar ein »Nachkomme«, sondern ein Kind. Der Gedanke des Mannes war: Es ist zufrieden. Es ist gern auf der Welt. Allein die Tatsache Kind, ohne besonderes Kennzeichen, strahlte Heiterkeit aus – die Unschuld war eine Form des Geistes! – und ging wie etwas Diebisches auf den Erwachsenen draußen über, so daß die beiden dort, ein für alle Male, eine verschworene Gruppe bilden. Die Sonne scheint in den Saal, und sie befinden sich auf einer Hügelkuppe. Es war nicht bloß Verantwortung, was der Mann bei dem Anblick des Kindes fühlte, sondern auch Lust, es zu verteidigen, und Wildheit: die Empfindung, auf beiden Beinen dazustehen und auf einmal stark geworden zu sein.

Zu Hause in der leeren Wohnung, wo aber schon alles für die Ankunft des Neugeborenen gerichtet war, nahm der Erwachsene ein Bad, so ausgiebig wie nie, als hätte er gerade die Strapaze seines Lebens hinter sich. Er war zu der Zeit auch wirklich gerade mit einer Arbeit fertig geworden, in der er das Selbstverständliche, Beiläufige und doch Gesetzmäßige einmal erreicht zu haben glaubte, das ihm als Ziel vorschwebte. Das Neugeborene; die gut beendete Arbeit; der unerhörte mitternächtliche Moment der Einheit mit der Frau: zum ersten Mal sieht sich da der in dem heiß dunstenden Naß ausgestreckte Mensch in einer kleinen, vielleicht unscheinbaren, aber ihm entsprechenden Vollendung. Es zieht ihn hinaus ins Freie, wo die Straßen jetzt für einmal die Wege einer anheimelnden Weltstadt sind; das Für-Sich-Gehen in ihnen an diesem Tag ist ein Fest. Dazu gehört auch, daß niemand weiß, wer ich gerade bin.

Es war die letzte Einheit für lange. Als das Kind ins Haus kam, schien es dem Erwachsenen, als erlebte er selber einen Rückfall in eine beengte Jugend, wo er oft ein bloßer Aufpasser für die jüngeren Geschwister gewesen war. In den vergangenen Jahren waren die Kinos, die offenen Straßen, und damit das Unseßhafte ihm in Fleisch und Blut übergegangen; nur so, meinte er auch, gäbe es den Raum für die Tagträume, in denen das Dasein als etwas Abenteuerliches und Nennenswertes erscheinen konnte. Aber hatte in all dieser Zeit der Ungebundenheit das »Du mußt dein Leben ändern« nicht immer neu als ein Flammensatz gewirkt? – Jetzt wurde das Leben notwendig grundanders, und er, zuvor höchstens auf ein paar Umstellungen gefaßt, sah sich zu Hause gefangen und dachte auf den stundenlangen Kreisen, mit denen er nachts das weinende Kind durch die Wohnung schob, nur noch phantasielos, daß das Leben nun für lange Zeit aus sei.

Auch in den Jahren zuvor war er mit seiner Frau oft uneins gewesen. Zwar achtete er die Begeisterung und zugleich Skrupelhaftigkeit, womit sie ihre Arbeit verrichtete – es war mehr ein Zaubern als ein Verrichten, so daß den Außenstehenden jede Arbeitsanstrengung unsichtbar blieb –, und hielt sich überhaupt für sie verantwortlich; jedoch insgeheim glaubte er immer wieder zu wissen, daß sie nicht die richtigen füreinander waren, und daß ihr Zusammenleben eine Lüge und, gemessen an dem Traum, den er von sich und einer Frau einst gehabt hatte, geradezu eine Nichtigkeit sei. Manchmal verfluchte er diese Ehe bei sich sogar als den Fehler seines Lebens. Aber erst mit dem Kind wurde die episodische Uneinigkeit zu einer wie endgültigen Entzweiung. Wie sie nie richtig Mann und Frau gewesen waren, so waren sie auch von Anfang an kein Elternpaar. Nachts zu dem unruhigen Kind zu gehen, war für ihn selbstredend, durfte für sie aber nicht sein, und wirkte schon für sich als ein Grund zu böser Stummheit, fast Feindschaft. Sie hielt sich an die Bücher und die Verhaltensregeln der Fachleute, die er allesamt, so erfahrungsbestimmt sie auch sein mochten, verachtete. Sie empörten ihn sogar, als unerlaubte und vermessene Eingriffe in das Geheimnis zwischen ihm und dem Kind. War denn nicht schon der erste Augenschein – das von den eigenen Fingernägeln zerkratzte und doch wie friedfertige! Gesicht des Neugeborenen hinter der Glasscheibe  so weltbewegend wirklich gewesen, daß jeder, der es nur sah, wissen mußte, was zu tun war? Eben das wurde nun die wiederkehrende Klage der Frau: sie sei in der Klinik um jenen Leitblick betrogen worden. Durch äußeres Zutun habe sie den Moment der Geburt versäumt, und so sei ihr, für immer, etwas verlorengegangen. Das Kind sei ihr unwirklich; daher die Angst, etwas Falsches zu tun, und die Befolgung der fremden Regeln. Der Mann verstand sie nicht: War ihr das Kind nicht gleich danach sozusagen in die Arme gelegt worden? Zudem sah er doch, daß sie damit nicht nur geschickter, sondern auch geduldiger umging als er? Blieb sie nicht stetig und geistesgegenwärtig bei der Sache, während er, kaum war jene kurze Seligkeit erreicht, wo es war, als könnte man sich mit der streichelnden Hand gleich, durch einen einzigen noch ausstehenden, den grenzlösenden Pulsschlag, ganz als ein Lebens- und Ruhezauber auf das schlaflose oder kranke andere Wesen übertragen, oft die Kraft verlor und bloß noch gelangweilt, geradezu mit einer Gier, hinweg ins Freie zu kommen, neben dem Säugling die Zeit absaß?

Zudem scheint es in einer solchen Lage ein Gesetz zu sein, daß auch von außen sich fast nur die feindlichen Mächte zeigen. Kaum ist das Kind im Haus, wird zum Beispiel auf der anderen Straßenseite mit dem Bau eines sogenannten »Großprojekts« begonnen, und die Tage wie die Nächte hallen von den Dampframmen; so daß eine Haupttätigkeit des Erwachsenen zu dieser Zeit die Briefe an eine Bauleitung sind, deren Reaktion dann endlich doch ein Erstaunen ist: denn es sei »das erste Mal, daß«, udgl.

Dennoch können diese Widrigkeiten, auch schmerzhaften Bedrückungen und Lähmungen, im nachhinein nur willentlich herbeigedacht werden. Was gegenwärtig blieb und was zählte, war jeweils ein Bild, auf welches das Gedächtnis, ohne Vorsatz zur Verklärung, mit der Gewißheit: »Das ist mein Leben«, wie in einem dankbaren Triumph zurückkam; diese Erinnerungsschimmer offenbarten dann auch an jenem Abschnitt, der den Daten nach eigentlich Apathie bedeutete, eine darin doch fortdauernde und weiterführende Daseinsenergie. – Die Frau nahm bald ihre Arbeit wieder auf, und der Mann führte das Kind auf langen Spaziergängen in der Stadt umher. In der Gegenrichtung zum gewohnten bevölkerten Boulevard zeigten sich jetzt alte dunkle einheitliche Bezirke, wo das Erdreich mit vielen Farben durchscheint und in die Pflasterung der Himmel hineinwirkt, wie zuvor noch nirgends in der Stadt. Diese wird so erst, und mit den Hebelbewegungen am Wagen zwischen Gehsteigen und Straßen, die Geburtsstadt des Kindes. Laubschatten, Regenlachen und Schneeluft stehen für die noch nie so deutlichen Jahreszeiten. Eine eigene, neuartige Örtlichkeit bildet auch jene »Bereitschaftsdienstapotheke«, wo nach einem Lauf durch ein Schneetreiben in einem weiträumigen Feierabendschein das nötige Medikament ausgehändigt wird. An einem anderen Winterabend ist in der Wohnung der Fernseher angeschaltet; davor der Mann mit dem Kind, das um ihn herum ist und endlich erschöpft auf ihm einschläft, wodurch das Fernsehen, mit der wärmenden kleinen Last auf dem Bauch, einmal die reine Freude ist. Von einem Spätnachmittag an einer leeren S-Bahn-Station weit draußen bleibt sogar das Gefühl eines Heiligen Abends (der da auch tatsächlich bevorstand): obwohl allein auf dem Bahnsteig, stellt der Erwachsene dort nicht den neugierigen Herumtreiber oder einen Einsamen von früher dar, sondern einen Kundschafter, auf Quartiersuche für die ihm Anvertrauten (ging es nicht auch wirklich um einen Wohnungswechsel?). Der ungewohnt freie, glashelle Warteraum; der geschlossene und doch wohlversorgte Kiosk; die Schneeluft in der Senke unten, wo die gekurvten Schienenpaare als Fernlichter glänzen: das alles sind gute Nachrichten, die er mit nach Hause bringen wird.