Über dieses Buch:

Florenz, 1360. Unterschiedlicher könnten Weggefährtinnen nicht sein: Die stolze Bremerin Alheyd hat hohe Ziele – gemeinsam mit ihrem Mann will sie den erfolgreichsten Tuchhandel Nordeuropas aufbauen. Mechtild hingegen, eine einfache Frau aus dem Volk, will für ihr Seelenheil beten und begibt sich beherzt auf Pilgerfahrt. Als jedoch das Schiff, das sie zurück in die Heimat bringen soll, sinkt, sind die zwei Frauen aufeinander angewiesen; allein wäre jeder von ihnen der Tod gewiss. In dem vom Krieg und der Pest zerstörten Land finden Alheyd und Mechthild Schutz bei umherreisenden Gauklern. Doch kaum wägen sie sich in Sicherheit, schlägt das Schicksal wieder zu. In Mechtild wächst ein Verdacht: Bringen Alheyds Geschäfte in Florenz sie dauerhaft in Gefahr?

Ein Roman – schillernd und prall wie ein prachtvolles Historiengemälde!

Über die Autorin:

Kari Köster-Lösche, 1946 in Lübeck geboren, Tierärztin und Wikingerexpertin, hat einen Großteil ihrer Jugend im schwedischen Uppsala, dem Zentrum der nordischen Kultur, verbracht. Heute lebt und arbeitet sie als freie Autorin in Nordfriesland.

Kari Köster-Lösche veröffentlicht bei dotbooks bereits die historischen Romane »Jagd im Eis«, »Die Wagenlenkerin«, »Die Hexe von Tondern«, »Die Reeder«, »Die Heilerin von Alexandria« und das Kinderbuch »Stille Nacht, eisige Nacht« sowie zwei historische Romanserien:

DIE WIKINGER-SAGA:
»Der Thorshammer – Band 1«
»Das Drachenboot – Band 2«
»Die Bronzefibel – Band 3«

DIE SACHSEN-SAGA:
»Das Blutgericht – Erster Roman«
»Donars Rache – Zweiter Roman«
»Mit Kreuz und Schwert – Dritter Roman«

Beide Romanserien sind jeweils auch als Sammelbände erhältlich.

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eBook-Neuausgabe September 2015

Copyright © der Originalausgabe 1996 by Ehrenwirth Verlag GmbH, München in der Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Tribalium

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-322-4

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Kari Köster-Lösche

Die Erbin der Gaukler

Roman

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Personenverzeichnis

Hauptpersonen des Romans:

Alheyd von Bremen: Kauffrau, Ehefrau des Ratsherrn Hinrich Rucenberg, zeitweise Annette von Burgund genannt

Mechtild von Stade: Knochenhauerin

Cosimo d’Albizzi: Handelskonsul der Calimala zu Florenz, nennt sich kurzzeitig Conrad Lymbergh

Peckmutz der Meerkatz: Theriakskrämer, Pestheiler aus Köln

Philippe de Weston: Wahrsager

Cord: Flämischer Jungknecht auf einem Handelssegler; auch Cordig und Cordy genannt

John: englischer Bogenschütze

Ernaud de Baliol: Ritter, Chef bretonisch-französischer Routiers

Huarn Kergarec: Salzhändler aus Saillé bei Guérande

Hervé Loaec: Hervé »der Löffel«; Salzarbeiter

Nebenpersonen:

Costantino: Gehilfe der Calimala

Heinrich: Donzellus, Büttel der Calimala; zeitweise Herri ar Meud, Heinrich »der Daumen«

Michele Ricci: Konsul der Calimala mit Sitz in Paris

Giuseppe, Benedetto: Knechte der Calimala

Pater Stevan: Priester

Riwal an Dizalc’h: bretonischer Freiheitskämpfer

Fri Hir: Zwerg; »Langnase«: neugieriger Mensch

an Youdec: Sergeant, »der Haferbreiesser«: Dummkopf

an Boedec: »der Fleischer« aus Quimperlé

Barba, Henori, Gwenola: Frauen der Insel Ouessant

Bramborough: Konnetabel, Truppführer auf bretonisch-englischer Seite

Nicholas of Ingleby: Chef englischer Routiers

Godefelawe, Pasterheye: Soldaten

Jeanne: Frau im Troß von Bramborough

Gérard: ehemaliger Seemann

Eisgin Etzstein: Kupplerin, Wehmutter

Conan: bretonischer Adeliger

Triphyna Kergarec: Frau des Salzhändlers

Thébaud de La Couarde: Ratsherr in Redon

1. Kapitel
Enez Eussa, Insel der Frauen

Im nächsten Wellental wurde die Knochenhauerin gegen die Tür geschmettert und ersparte sich damit ein erneutes vergebliches Klopfen. Die Ratsfrau hatte sich im Kämmerchen des Achterkastells seit Tagen eingeschlossen.

»So kommt endlich heraus, Ratsfrau Alheyd!« schrie Mechtild, um das Rauschen des strömenden Wassers, das Ächzen der gequälten Planken, das Schlagen der losen Fallen und Blöcke und das Knattern der ungebändigten Segel zu übertönen. »Ihr werdet ertrinken wie eine Ratte im Wurstkessel, wenn Ihr nicht an Deck kommt! Der junge Cord will uns an Spieren festzurren. Sie werden uns an Land tragen, wenn das Schiff auseinanderbricht.« Barmherziger Gott, schicke Deine Heerscharen zu Hilfe, betete Mechtild, und laß den Jungen recht behalten.

Sie lauschte. Kein Ton kam aus dem Kämmerchen. Ihre Verzweiflung ging in Wut über. Gott sei dir gnädig, du hochnäsige Ringelgans, dachte sie. Sie hatte getan, was Christenpflicht war, und nun würde sie für sich selber sorgen. Mühsam kam sie in der Enge des wild schwankenden Ganges wieder auf die Beine und trat den Rückweg an. Aber an der Leiche des Steuermanns vor dem Kapitänsraum kam sie zu Fall. Ihre Finger sanken in eine Pestbeule ein wie in Kalbsbries. Im übrigen war der Mann starr, eisig und stank wie verfaultes Gekröse.

Mit einem Entsetzensschrei zog sie sich wieder hoch, rutschte auf dem Niedergang aus und landete endlich hart auf den Planken des Schiffes, das sich ihr in diesem Moment entgegenhob.

Im schwankenden, durchnäßten Kämmerchen klammerte sich die Ratsfrau mit den Beinen an der Bank fest und ließ die Augen nicht von dem Haus- und Einkaufsbüchlein, das sie mit glücklicheren Tagen verband. Schluchzend las sie ihre letzte Eintragung:

15. Juli anno Domini 1360, Florenz: Durch Vermittlung des Sensale sehr zufriedenstellender Abschluß mit Michele di Lando. Beginnend mit nächstem Jahr alljährliche Lieferung von 30 Ellen – gerechnet nach der Elle der Florentiner Calimala – schwersten Stoffes aus englischer Wolle, garantiert San Martino, gekennzeichnet durch breite Randborte; dazu 2 Ellen Scharlachtuch, gekennzeichnet wie vor; Haftung 7 Monate nach Löschen der Ladung in Bremen, zahlbar 2 Florentiner Goldgulden per Elle, frank und frei von Tara, Umsatzsteuer, Wiegegebühr und Stempelgebühr.

Liebster Hinrich, meine Nachforschungen in der zweiten Angelegenheit sind sehr zufriedenstellend ausgefallen.

Sie benetzte den Gänsekiel und schrieb unbeholfen, während das Schiff aus einem Wellental in die Höhe stürmte und einen Teil ihrer Tinte verschüttete, bevor sie den Behälter auffangen konnte:

Letzter Tag des Juli anno Domini 1360, auf hoher See: Gütiger Gott des Himmels, hab Erbarmen! In den frühen Morgenstunden verstarb der letzte Mann an Bord. Übrig sind außer mir nur noch die grobschlächtige Mechtild von Stade und der Jungknecht. Was aber sollen wir drei gegen die Gewalten dieses Meeres ausrichten, das keinem gleichkommt, das ich je gesehen habe? In rasender Fahrt wirft es uns einem unbekannten Ufer entgegen! Und ob am anderen Ende der Höllenschlund uns schluckt oder die Felsen uns zerschmettern – lebend gelangen wir nie und nimmer von Bord! Demütig schließe ich mit meinem Leben ab und lege es in Deine Hand. Nur Du kennst mein Soll und Haben; ich kenne es nicht, wage aber auf ein positives Saldo zu hoffen, unter dem ich für mich ein gnädiges Ende erbitte. Maria, Mutter Gottes, bitte auch Du für mich.

Die schwarzen Klippen waren in den wenigen Minuten, die Mechtild unter Deck gewesen war, merklich näher gerückt. Die Wellen brandeten schäumend gegen die Felsen. Aber das flache Land darüber war kahl, und nichts deutete auf menschliche Anwesenheit und Hilfe hin.

In der plötzlichen Windstille war nur das Rauschen des flutenden Wassers zu hören.

»Kommt, Frau Mechtild«, schrie Cord, der fünfzehnjährige, pickelübersäte Jungknecht. Er fuchtelte unbestimmt mit einem Tampen herum. Die Knochenhauerin entdeckte im Gewirr von Hölzern und Segeltuch einen dicken Balken, von dem er die Taue abgeschnitten hatte. »Es wird Zeit. Das Land Armor kommt schnell näher. Dies ist Euer. Wo bleibt die Ratsfrau?«

»Bei den Ratten«, antwortete ihm Mechtild nüchtern und stieg in die lose Schlinge, die ihren Leib an der Rah festhalten sollte.

»Die sind alle tot!« Cord fuhr hastig fort: »Der Steuermann sagte, wir sollten auf England zuhalten und uns hüten vor den äußeren Klippen des Landes Armor. Da wohnt ein unchristliches, wildes Volk, sie fressen Menschen ...« Seine Stimme versagte, und er warf sich Mechtild mit solcher Heftigkeit zu Füßen, daß sie zurückgetreten wäre, wären nicht ihre Beine bereits gefangen gewesen. Er umschlang ihre Knöchel. »Frau Mechtild! Ich hab’ es Euch nie zu sagen gewagt. Ihr erinnert mich an jemanden, der mir lieb ist. Glaubt Ihr, daß wir lebend an Land kommen? Bitte, sagt, daß es gutgeht.«

Mechtild hatte keine Ahnung von Seefahrt. Knochen, Schnuten und Poten, Blut und Gedärm waren ihr vertraut. Das einzige Wasser, mit dem sie täglich zu tun hatte, kam in die Wurst oder diente zum Schrubben der Schlachtbank. Bis zu ihrer Pilgerfahrt hatte sie noch nie große Seeschiffe gesehen. Aber wie Todesangst in einem Jungengesicht aussah, wußte sie sehr wohl, die Witwe mit fünf lebenden und drei seligen Kindern.

»Wir werden es erreichen«, sagte sie zuversichtlich, obwohl das Lächeln ihr schwerfiel. »Was hätte es für einen Sinn, wenn Gott der Herr uns die Pest lebend überstehen und dann ertrinken ließe. Ganz abgesehen davon, daß er sich hüten wird, einen jungen Mann in sein Himmelreich zu lassen, der nichts als Unfug im Kopf hat. Ich könnte ihm ein Liedchen davon singen, was Lehrlinge im Haus des Meisters anrichten! Ich bin ganz sicher, daß wir gerettet werden.«

Der Jungknecht sah getröstet zur Knochenhauerin auf und wollte antworten. Jedoch schoß das Schiff mit plötzlicher Gewalt vorwärts und drehte sich dabei wie ein Kreisel. Ein Sog schien sie zu erfassen. Cord kroch zum Mast und richtete sich daran auf. »Jesus Christus, hilf«, keuchte er, riß ein Schotende an sich und begann sich selbst mit wilder Hast festzuschnüren.

Mechtild spürte, wie sich tief unter ihren Füßen der Schiffsboden knirschend festfraß, wie sich die Cocha wieder freischüttelte und vorwärtsstürmte, um schon nach wenigen Schiffslängen auf ein neues Hindernis unter Wasser aufzuprallen. Die Wellen gischteten zischend über das hohe Vorderkastell, das in der See rollte und sich unendlich langsam wieder aufrichtete. Mechtild folgte mit den Augen den Wasserströmen, die gurgelnd aus den Speigatten drangen. Als sie aufsah, fiel ihr Blick auf die Ratsfrau. Reglos wie eine Statue stand sie im Niedergang, nicht anders als beim Betreten des Schiffes in Livorno. Und ihr schönes junges Gesicht war kühl wie eine italienische Maske. Die Empörung der Knochenhauerin wuchs ins Unermeßliche. Möglicherweise würden sie in wenigen Augenblicken Gottes Antlitz erschauen. Aber eine Ratsfrau bereitet sich nicht darauf vor, sondern berechnet ihre Aussichten. Und doch schoß Mechtild durch den Kopf, daß sie vielleicht nur zu unerfahren war, um vor einer Katastrophe Angst zu haben.

Mit einem Knirschen, das durch Mark und Bein ging, brachen tief unter Mechtild Hölzer auseinander. Als der Balken, an dem sie festgebunden war, von einer Riesenhand wie ein Kienspan in die Höhe gehoben wurde, wußte sie, daß das Handelsschiff an dieser Stelle sein Grab finden würde. Sie stimmte das Vaterunser an.

***
 

Eine rauhe Stimme sang. Oder war es kein Gesang, sondern das Heulen der Verdammten im Fegefeuer? Ein lauter Angstschrei ließ die Knochenhauerin in die Höhe fahren und um sich starren.

So ärmlich konnte es beim Höllenfürsten nicht zugehen. Dieses Fegefeuer hätte nicht einmal für ein Brühwürstchen gereicht. Es glomm matt innerhalb eines Rings aus Steinen.

Sonst sah sie nichts. Den Schrei hatte sie selbst ausgestoßen. Ein Rascheln ließ sie herumfahren.

Eine düster gekleidete Gestalt, unförmig wie ein Felsblock, schob sich über den Boden der winzigen Hütte.

Mechtild riß den Mund vor Entsetzen auf, schmeckte Salz auf den Lippen und spürte, wie ihre Mundwinkel schmerzhaft aufplatzten. Sie brachte keinen Ton heraus. Ein Gnom, ein Mann oder eine Frau? Oder doch ein höllisches Untier? Schlaff und wehrlos sank sie auf ihr Lager zurück, obwohl sie am liebsten davongekrochen wäre. Jemand rieb ihr grob das Gesicht mit einem nassen Lappen ab. Das Brennen des Salzes auf ihren Lippen verschwand, und Mechtild versuchte, die spärlichen Tropfen aufzulecken. Ein Schwall von Seewasser brach aus ihr heraus; das Spucken wollte nicht enden.

Das Fabelwesen murmelte Worte in einer unverständlichen Sprache, aber es klang sanft, und endlich begriff Mechtild, daß eine Frau ihr beistand wie einem unmündigen Kind, und sie hörte auf, so unvernünftig Widerstand zu leisten.

Resolut streifte die Frau ihr die tropfende Kleidung vom Körper, und Mechtild überließ sich ihr willenlos. Mit geschlossenen Augen roch sie Schafswolle, spürte das Kratzen einer schweren Wolldecke auf ihrer Haut, dann schlief sie ermattet ein.

***

»Es ist Zeit aufzustehen und die Weiterreise nach Bremen anzutreten, Knochenhauerin.« Wieder riß Mechtild die Augen auf und setzte sich auf. Die Ratsfrau, in trockener Kleidung, wartete auf sie mit allen Anzeichen von Ungeduld.

»Ich komme schon«, murmelte Mechtild gefügig und stemmte sich hoch. Einer Frau, die nach einem Schiffbruch selbst ihr künstliches Haarteil akkurat zu legen versteht, kann man nicht widersprechen. Unter dem dünnen, lockeren und fast schwebenden Schleier der Ratsfrau war in schamloser Weise jede Locke zu erkennen. Mechtild verkniff sich den Tadel, der ihr als älterer Frau zugestanden hätte. Gegenüber der Frau eines bremischen Ratsherrn allerdings nicht. Sie wickelte ihre feuchte, lappig gewordene Haube eng um den Kopf und befestigte das Gebände.

Hinter der Ratsfrau torkelte sie aus der Hütte. Im Vorübergehen fing sie ein boshaftes Lächeln der Besitzerin des Häuschens auf.

Im hellen Sonnenschein sah die Knochenhauerin einige ärmliche Hütten, geduckt und zusammengedrängt vor niedrigem, gelbblühendem Kraut. Auf einem Mäuerchen war eine Tangschicht ausgebreitet, und vor der Hütte trocknete flachgetretener Dung in der Morgensonne. Zwischen den Häusern gleißte die See, und wo immer die Knochenhauerin hinsah, überschlugen sich Wellen und schoben weiße Schaumkronen vor sich her. »Gnadenreiche Maria!« rief sie erschrocken angesichts der Felsennadeln in der brodelnden See. Aber der Wind trieb ihr die scharfkantigen Steinchen vom spärlich bewachsenen Grasboden ins Gesicht und blies ihr die Worte von den Lippen. Sie drehte sich um. »Heute wären wir nicht lebend an Land gekommen!«

»Nein, heute nicht«, bestätigte die Ratsfrau kühl und rümpfte ihre blasse Nase. Neben ihren Füßen lag ein sorgfältig in Leinwand verschnürtes Packstück, dessen glänzende Oberfläche bewies, daß es mit der Kauffrau im Wasser gewesen war.

»Wie habt Ihr es denn geschafft?« fragte Mechtild geradeheraus. »Nicht zu fassen, daß Ihr sogar Euer Bündel gerettet habt! Und wißt Ihr, wo Cord ist?«

»Ich habe mich an Euch festgehalten. Gottlob wart Ihr gut angebunden. Den Jungknecht hat man nicht gefunden, nur zwei der gestorbenen Seeleute an Land gezogen und ein paar Bretter.«

Mechtild traten die Tränen in die Augen. Cords Mutter würde nicht einmal seinen Leichnam im Grab beweinen können. »Dann wollen wir Gott für Cords Seele um Gnade bitten und für unsere eigene Rettung danken«, sagte sie inbrünstig und fiel auf die Knie. Alheyd faltete die Hände und murmelte stehend einige Worte, bevor sie das Kreuzzeichen schlug. Kaum hatte Mechtild ihr Gebet beendet, verkündete sie in entschiedenem Ton ihre Pläne. Die Bretonin spreizte abwehrend die Finger, und die Ratsfrau hob die Stimme. »Ich werde mich jetzt um die Überfahrt zum Festland kümmern. Auf dieser Insel sprechen die Wilden eine unverständliche Sprache, aber ich habe jemanden gefunden, mit dem ich mich leidlich verständigen kann.«

Mechtild sah ihr nach, wie sie im Surcot davonschritt wie unter ihresgleichen vor dem Rathaus. Die Ratsfrau hatte sogar Zeit gefunden, ihre Ärmel auszuwechseln. Wo hatte sie die denn versteckt? Etwa in dem Bündel, an dessen Gewicht sie selber mehr hatte tragen müssen als die Kauffrau?

Alheyd ging auf ein Haus mit Steinwänden und dickem Strohdach zu, vordem einige Frauen die Köpfe zusammensteckten. Als sie es fast erreicht hatte, fuhren die Frauen auseinander wie in der Milch ertappte Mäuse und verschwanden. Die Ratsfrau war ratlos.

Mechtild lachte leise. Der mütterliche Felsbrocken neben ihr bebte ein wenig. Sie verstanden sich.

Die Knochenhauerin besann sich endlich auf eigene Pflichten, öffnete den Beutel an ihrem Gürtel und holte ihre größte Goldmünze heraus. Ein paar waren nach der langen Romfahrt noch übriggeblieben. »Ich möchte Euch danken für die Aufnahme«, sagte sie einfach.

Die Frau, deren Falten von der Feistheit und nicht vom Alter kamen, winkte Mechtild in die Hütte zurück und wies auf einen Haken an einem Sparren. Eine lange Kette mit großen und kleinen Goldmünzen hing dort.

Die Knochenhauerin nagte an ihrer Unterlippe. Ihr Seelenheil war kostbar, und um es zu wahren, war sie nach Rom gefahren; aber ihr gegenwärtiges Leben war auch nicht mit einer Handbewegung abzutun. Schweigend knöpfte sie den Beutel ab und stellte ihn als Gabe auf den Boden.

Die Augen der Frau verschwanden beinahe in den Speckwülsten der Wangen. Es sah aus wie ein Lachen, und Mechtild war davon so fasziniert, daß sie kaum auf die Hände achtete, die Schicht um Schicht der Kleidung freilegten, bis der Oberkörper bloßlag.

Eine goldene Scheibe lag zwischen den prallen Brüsten wie die aufgehende Sonne zwischen den Hügeln Roms. Aber die Figuren darauf waren alles andere als christlich.

Mechtild beugte sich halb entsetzt, halb neugierig vor. Eine Mondsichel nahm den größten Teil der Scheibe ein. Wie unter dem Schutz des Mondes, dessen äußere Spitzen in zwei Kugeln endeten, standen ein Hirsch mit einem vielästigen, fast haardünnen Geweih und ein Eber. Die Beine des Ebers öffneten sich zu einem weiten Bauchraum, der ein Beil enthielt; getrennt wurden die beiden Tiere durch drei Kugeln.

Die Inselfrau klatschte mit der Hand auf ihre Brüste und legte den Fingernagel auf die Mondsichel. Danach erschlug sie mit einer unsichtbaren Axt ein Tier und speerte ein anderes; schließlich rammte sie einen von ihrem Schoß ausgehenden imaginären Stößel in nicht vorhandenes lebendes Fleisch.

Mechtild nickte in die fragenden braunen Augen hinein. »Frau und Mann«, sagte sie.

»Kernunnos, Teutates!« bestätigte die Dicke, reichte Mechtild den Beutel zurück und nahm ihr behutsam die kleine Münze aus der Hand. Während die Knochenhauerin der Ratsfrau mit keuchendem Atem hinterherlief, überlegte sie, warum die Inselfrau ihr erzählt hatte, daß hier die Männer im Schutz oder unter der Macht von Frauen standen. Und hübsche Namen gaben sie der Hirschfrau und dem Schweinemann: Kernunnos und Teutates. Es klang alles sehr, sehr heidnisch.

Mechtild schlug das Kreuz und dachte gleich darauf beschämt: Gott allein kann seine Schöpfung erklären. Hier hatte Er sich den Spaß erlaubt, anders zu schöpfen als gewöhnlich, und das war Sein gutes Recht.

Außer einigen kleinen Jungen und einem Hahn waren weit und breit keine männlichen Wesen zu sehen. »Habt Ihr schon gemerkt, daß sie hier die Männer unter Verschluß halten, Ratsfrau?« fragte sie heiter, als sie bei ihr angelangt war.

Alheyd hatte mit verdrießlichem Gesicht auf die Knochenhauerin gewartet. »Ich kann die Frau nicht finden, mit der ich gestern sprach.«

»Es ist schwer, jemanden einzufangen, der nicht mit einem reden will.« Mechtild erhielt für ihre bescheidene Bemerkung einen giftigen Blick.

Die Hausherrin war hinter ihnen hergeschlurft. Zwischen ihren schnaufenden Atemgeräuschen stieß sie einen scharfen Pfiff aus, und daraufhin kehrten einige der Frauen widerwillig um. »Henori«, befahl sie streng.

Alheyd zeigte mit dem Finger auf die junge Frau, die zögernd vorgetreten war. »Das ist sie. Ich brauche ein Boot, das uns auf das Festland übersetzen kann. Wir müssen ein Schiff der Hanse finden, das uns nach Bremen bringt. Oder nach Brügge.«

Henori nickte. »Konk«, schlug sie vor.

Die übrigen Frauen schüttelten die Köpfe und besprachen sich. »Barba«, rief endlich die lauteste von ihnen und ließ eine Flut von Worten auf die Dicke einstürzen.

Mechtild zog die Augenbrauen hoch und trat nervös auf der Stelle, aber die Ratsfrau dachte gar nicht daran, ihr etwas zu erklären. Ihr schmales Gesicht nahm einen verdrossenen Ausdruck an, je länger sie Henori zuhörte. »Wir kommen hier nicht fort. Die Männer sind tagelang draußen auf Fischfang, und die Frauen möchten nicht das Leben ihrer Halbwüchsigen für uns riskieren. Die Fahrt in den kleinen Booten zum Festland ist wegen der starken Strömung bei Ebbe und Flut lebensgefährlich, sagen sie.« Gedankenverloren zupfte Alheyd an ihren Ärmelspitzen, während sie hinzufügte: »Ich hatte sogar den Eindruck, daß sie glauben, sie müßten uns überhaupt nicht übersetzen.«

Mechtild schniefte und wischte sich die Nase. Frauen gab es hier genug. Nicht daß sie etwas dagegen gehabt hätte: Männer wollten immer nur das eine, und wenn sie genug davon hatten, starben sie ihren Frauen unter den Händen weg und ließen sie mit den großen Mäulern der kleinen Kinder allein. Aber an allem anderen war hier gewiß Mangel. Und Frau Alheyd trug silberdurchwirkte und seidenbesetzte Kleidung; sie selbst hochwertigen Wollstoff, der die nächsten Jahre ohne weiteres überstehen würde.

Ganz im Gegensatz vielleicht zu seiner derzeitigen Besitzerin. Sie wechselte einen besorgten Blick mit der Ratsfrau.

Barba traf eine Entscheidung. »Ihr werdet bei mir schlafen«, übersetzte Henori gehorsam.

Mechtild sah sehr wohl, daß Barba unzufrieden war, obwohl die Frauen wie eine Gänseherde davonmarschierten. Dennoch einstweilen erleichtert, betrat sie hinter Barba wieder das kleine Häuschen. Geblendet von der Helligkeit draußen, konnte sie zunächst nichts sehen; aber die hölzerne Tür schlug zu, und es lauerte kein verborgener Mörder dahinter. Die Elster äugte neugierig aus dem Käfig.

Nachdenklich betrachtete die Knochenhauerin die sorgfältig gefügten Gitterstäbe.

Cord war in eine winzige Bucht zwischen scharfen Felskanten geworfen worden, und es war ein Wunder, daß sie ihn nicht zerschnitten hatten. Männer des Festlandes fanden ihn, die sich wie jedesmal, wenn ein Schiff zwischen den Felsnadeln umhertorkelte, um sich schließlich an den Unterwasserklippen aufzuspießen, hoffnungsvoll aufgemacht hatten, um nach verwendbaren Resten des Wrackes zu suchen.

»Er ist nicht tot«, stellte einer mürrisch fest. Brauchbares hatten sie bisher nicht gefunden, und ein lebender Schiffbrüchiger war nur Ballast für ihr karges Leben. Der Mann öffnete die Jacke des Jungen, aber das Untergewand war genauso zerrissen wie das obere.

»Er ist jung und braucht nicht viel«, sagte ein anderer. »Nehmen wir ihn mit.«

Sie wuchteten ihn in ihr kleines Fischerboot und schleppten ihn später über den Pfad ins Oberland hinauf, wo sie ihn der alten Mettik übergaben. Vielleicht konnte sie ihn gebrauchen. »Heiliger Trever«, murmelte die Frau, »was soll ich mit dieser Grille? Sie taugt nicht einmal, um Tanzmusik zu machen.«

Nach einigen Stunden fand sie Zeit, nach dem Jungen zu sehen. Wach war er nicht geworden, obwohl seine Lippen Atemluft blubberten. Seine Stirn fühlte sich heiß an.

Am Abend glühte der Junge und atmete wie ein Blasebalg. Mettik durchsuchte seine Kleidung, fand aber nichts von Wert. Die Jacke und die Hose konnte man noch verwenden, wenn man den Stoff auftrennte.

Zwei Tage später zog Mettik den Jungen aus. Sie sah die blauroten Beulen auf seiner Haut, eine am Handgelenk, eine in der Achselhöhle. Mettik rief die Männer, die den Jungen gebracht hatten.

Auf dem Scheitelpunkt der Flut übergaben sie den mageren nackten Körper dem Wasser. Es würde ihn weit, weit wegtragen und für immer verschwinden lassen.

***

Auf der Insel der Frauen lehnte Alheyd am Rand eines Mäuerchens und kritzelte hastig in ihr Büchlein.

Anfang August a. D. 1360: Liebster Rucenberg, Eure Ratschläge fehlen mir sehr. Aber ein solches Schicksal konntet selbst Ihr nicht vorhersehen. Es ist mir unbegreiflich, warum sie uns hier festhalten. Von Lösegeld war bisher nicht die Rede. Barba, anscheinend Beherrscherin dieses Dorfes, umschleicht uns wie der Hofnarr seinen König und läßt uns dabei kaum einmal aus den Augen. Bewacht oder beschützt sie uns? Sie verweigert uns einen Boten zum Festland.

»Ich verstehe nicht, was sie mit uns vorhaben«, nörgelte die Ratsfrau, während sie die kurze Strecke von einer Hauswand zur anderen abschritt, als wäre sie zu Hause in ihrer Kemenate. Hier mußte sie den Kopf ducken und der Herdstelle in der Mitte des Lehmbodens ausweichen, aber selbst das konnte ihre nervöse Hast nicht bremsen.

Das Brausen des Sturms übertönte Alheyds Worte trotz der schützenden Wände. Mechtild hörte jedoch die echte Besorgnis hinter ihrer Beschwerde. »Ich fühle mich auch wie eine Weihnachtsgans im Holzkasten«, sagte sie friedfertig. »Steckt den Kopf durchs Loch und Schaut Euch um, aber rüttelt nicht an den Wänden, Ratsfrau. Diese Menschen haben uns gerettet und füttern uns durch. Ihr solltet Gott danken, daß wir bei dem Sturm ein sicheres Nest gefunden haben.«

»Sicherlich«, stimmte Alheyd zu. »Aber gegenwärtig wäre mir lieber, ich könnte sicher sein, daß die Frauen nicht auf den Schlachttag von Gänsen warten.«

Barba hatte kein Schlachtfest im Sinn, soviel war sicher. Sie hatte sie unter ihren Schutz genommen, und das Weitere würde sich finden. Aber Mechtild antwortete nicht mehr. Sie war Knochenhauerin und Alheyd Ratsfrau in einer Hansestadt, und die Kluft zwischen ihnen war mit Worten nicht zu überbrücken.

Die Tür aus schweren Holzbohlen flog auf; die Lederbänder knarrten vernehmlich. Barba rauschte herein wie eine Flutwelle, und der Luftzug ließ die Flammen des Kochfeuers auflodern. Ihre fleischigen Lippen murmelten Worte, die sich in Mechtilds Ohren wie Verwünschungen anhörten. Sie wandte sich unvermittelt an Mechtild, wobei ihre Hände mehr sprachen als ihr Mund.

Mechtild hatte lange genug an der Knochenbank auf dem Marktplatz Ware verkauft, um sich auch ohne Worte mit Menschen verständigen zu können. »Sie sagt, der Sturm sei zu früh und zu stark gekommen. Die Frauen fürchten um das Leben der Männer draußen.« Die Ratsfrau seufzte hörbar.

Barba befestigte Webeplättchen an ihrem Gürtel und begann ein Band aus roten Fäden zu weben. Mechtild beobachtete sie nur verstohlen, weil sie das Gefühl hatte, bei einer Handlung zu stören, die nicht für ihre Augen bestimmt war. Vielleicht nicht einmal für Gott den Allmächtigen.

Als die Dämmerung sich über die Insel senkte und der Sturm um die Hausecken peitschte, kamen die Frauen. Nicht alle fanden Platz im Haus, aber ihre Stimmen drinnen und draußen waren gleich fordernd.

Barba weigerte sich. Sie umwickelte ihre Handgelenke mit dem fertigen roten Band und hielt sie in die Höhe. »Das heilige Band wird eure Männer beschützen.«

Henori, die ihr erstes Kind erwartete, ballte die Fäuste vor dem Mund: »Barba, das reicht nicht aus, um unsere Männer heimzuholen! Dieses Mal nicht!«

»Seit ich lebe, gab es zu dieser Jahreszeit keinen so starken Sturm«, bekräftigte eine uralte Frau mit heiserer Stimme. Das Schwatzen der Frauen verebbte. »Du mußt den Behelmten mit den Hörnern beschwören.«

Einen Augenblick lang hing die Stille zwischen den Frauen wie Nebel zwischen Bäumen. Mechtild hielt den Atem an.

»Die Ahnen überliefern seit Menschengedenken keine Tauchopfer an Teutates. Die fremden Frauen stehen unter meinem Schutz.« Barba sah Gwenola haßerfüllt an. Sie machte ihr nicht zum ersten Mal die Macht streitig.

»Denke an unseren Urahnen, Cichol Gri Cen-Chos, den Krieger aus dem Geschlecht der Fomori«, flüsterte die Frau und schob ihr hageres, schnurrbärtiges Gesicht vor wie ein alter Ziegenbock.

Mechtild spürte den Kampf zwischen den beiden Frauen. Vielleicht hatte die Alte einst die Macht auf der Insel gehabt, bis Barba sie ihr aus der Hand genommen hatte. Und obwohl von der jungen Gerte nur noch das spröde Holz übriggeblieben war, hatte sie die jungen Frauen bereits auf ihre Seite gezogen. Irgendwie hing das alles mit ihnen selbst zusammen.

»Cichol Gri Ohnefuß hat Tag für Tag gekämpft. Tapfer waren unsere Ahnen, Männer wie Frauen! Und eine der tapfersten die Frau des Tethra, des Königs der Fomori!« fauchte Gwenola und begann mit hoher Stimme einen uralten Gesang vorzutragen:

»Wonach verlangt es das Weib des Tethra?
Nach dem Feuer des Kampfes,
Nach Reihen von Kriegern, vom Schwerte zerrissen,
Nach Blut und nach Leichnamen unter Leichen,
Nach Augen in Todesstarre, nach Köpfen,
vom Rumpf abgetrennt.
Solcherlei Worte vernimmt sie mit Freude.«

»Wir werden nicht verweichlichen wie die Frauen vom Festland«, rief sie schließlich und sah jede einzelne Frau auffordernd an. »Beweise, daß wir die Kraft der Ahnen haben! Zeige, daß du Barba bist!«

Einige der Inselfrauen machten Gesichter wie Knochenhauer, die das Gewicht einer Sau abschätzen. Bedrohliches ging von ihnen aus. Aber wenn Mechtild sich umsah, um die Quelle der Drohung zu suchen, war sie schon wie Wasser im Sand versickert. Über die Köpfe hinweg versuchte sie, Alheyds Aufmerksamkeit einzufangen.

Doch die Ratsfrau stand an der Steinmauer und reckte ihr Kinn in die Höhe. Genauso gelassen würde ihr Ehemann den Beschluß zur Erhöhung von Fleischbankabgaben abwarten, dachte Mechtild verärgert.

Barba schüttelte den Kopf. »Ich werde es nicht tun«, sagte sie bestimmt. »Noch nicht. Das hieße, die Männer schon verlorenzugeben. Geht jetzt nach Hause. Ich werde den Kranichtanz tanzen.«

2. Kapitel
Im Sumpf von Brest

Die Inselfrauen redeten durcheinander, während sie zur Tür hinausdrängten.

Mechtild entspannte sich, für den Augenblick schien die Gefahr vorüber. Während Barba sich tief unter der Schräge des Reetdaches zu schaffen machte, tappte Mechtild leise zu Alheyd hinüber. In deren Augen las Mechtild zum ersten Mal, seit sie sie kannte, Ratlosigkeit. Während der Seereise hatte sie schweigsame Überheblichkeit zur Schau gestellt, und wenn sie einmal den Mund aufmachte, wußte sie alles besser.

Mechtild begann, ihr ins Ohr zu flüstern. Sie war der Meinung, daß die Frauen irgend etwas verlangt hatten, das im Zusammenhang mit ihnen beiden stand, und daß Barba es einstweilen abgeschlagen hatte. Aber die Stimmung der’ Inselfrauen konnte jederzeit wieder umschlagen.

Die Ratsfrau nickte.

Barba kam auf sie zu und schob sie, nicht anders als den dreibeinigen Hocker und einen Fischkorb, unter die Schräge. Dem Schaf warf sie ein Bündel Stechginster vor, und Mechtild sah ihr an, daß damit die gewöhnliche Haushaltstätigkeit ein Ende gefunden hatte.

Denn Barba griff mit geschlossenen Augen nach dem Amulett an ihrer Brust.

Und ausgerechnet jetzt beabsichtigte Alheyd, ihre Meinung vorzubringen. Mechtild legte warnend den Finger über ihre Lippen, und die Ratsfrau fügte sich verblüfft.

Im flackernden Licht zweier Kienspäne zog Barba ein seltsames Muster von Linien in den Lehmfußboden und füllte die Rillen mit hellem Seesand. Danach warf sie ihre Kleidung ab, nur das Medaillon blieb glänzend auf ihrer Brust liegen. Alheyd verzog ihr Gesicht und schloß die Augen.

Barba stimmte eine eintönige Melodie an, hob die Arme und betrat mit wiegenden Hüften den Linienkreis, in dessen Mitte ein großer Kessel auf dem Feuer stand. Während sie der Schneckenzeichnung in immer engeren Windungen bis in den Mittelpunkt folgte, wurden die Töne höher, und ihre auf- und abschwingenden Arme berührten das Reet über ihrem Kopf.

Dicht am Feuer brach sie den Gesang und die Bewegung ab und schien auf einen weit entfernten Ruf zu lauschen. Ihr Gesicht wurde schmal und leer. Sie streckte den Kopf mehrmals ruckartig vor und machte einige hüpfende Schritte. Aus den emporgereckten Händen rieselten Samenkörner in das brodelnde Wasser.

Nach einem langen Zwiegespräch mit einem unsichtbaren anderen tanzte Barba leichtfüßig den gleichen Weg zurück zum Ausgangspunkt. Ihre Haut glänzte vor Schweiß.

Ohne Mechtild und Alheyd zu beachten, raffte sie ihre Kleider zusammen und verließ das Haus.

Mechtild drückte die Schultern ratlos und innerlich aufgewühlt an das Reet, bis ihr die Halme in den Nacken stachen und der Rücken von den herausragenden Felssteinen des Simses schmerzte. Sie hatte dergleichen noch nie gesehen. Aber Barba war vom selben heiligen Ernst erfaßt gewesen wie der Pfarrer bei der Wandlung. »Was war das?« fragte sie schließlich.

»Heidnischer Zauber«, antwortete die Ratsfrau mit schmalen Lippen. »Labyrinthe sind nicht im Sinn unserer Mutter Kirche, weil sie einer unchristlichen Zeit angehören. Es gibt sie nur noch im Verborgenen, sagt Rucenbergius. Daß man in ihnen auch opfert und tanzt, wußte ich allerdings nicht. Schon gar nicht wie ein Vogel.«

»Nicht wie ein Vogel. Sie war ein Vogel«, stellte Mechtild richtig. »Ein Kranich.« Ein Kranich, der mit dem Gott der Kraniche über die Welt, den Sturm und die Männer geredet hatte. Und über zwei fremde Frauen, deren Schicksal irgendwie von diesen Dingen abhing. Aber die Knochenhauerin gab sich keine Mühe, es Alheyd zu erklären, sie würde nur lachen.

Die Lippen der Ratsfrau kräuselten sich. Weniger denn je verstand sie die Knochenhauerin. Beide kamen sie aus fortschrittlichen Städten des niederdeutschen Küstenlandes, deren Reichtum auf dem Handel der gemeinen Kaufleute aus dem römischen Reich von Almanien beruhte, sprachen dieselbe Sprache und gehörten der heiligen Mutter Kirche an. Ihr selber würde diese Insel fremd bleiben. Aber die Knochenhauerin sah offensichtlich nichts Unchristliches darin, daß sich Frauen in Vögel verwandelten.

»Wenn Barba ihr Federkleid geputzt hat, könnt Ihr sie ja nach der Bedeutung fragen«, schlug Alheyd in säuerlichem Ton vor.

***

Am nächsten Morgen schlief der Wind kurz nach dem Morgengrauen ein. Mechtild erwachte von der Stille. Barba war bereits auf und schürte das Feuer. Als sie bemerkte, daß ihr Gast wach war, griff sie zum imaginären Speer und zur Axt und deutete auf das Meer hinaus. Bevor sie vor den Augen der mittlerweile aufmerksam gewordenen Ratsfrau in heidnischer Weise deutlich wurde, nickte Mechtild kräftig. »Ratsfrau Alheyd, die Männer kommen, sagt Barba.«

Vor dem Haus jubelten Kinderstimmen, Frauen riefen, und nach einiger Zeit fielen tiefe Männerstimmen ein.

Mechtild bekreuzigte sich, dankbar für Gottes Gnade gegenüber den Inselfrauen und dankbar auch für Sein Eingreifen zugunsten ihres ungewissen Schicksals. Barbas Hände zuckten voll Abwehr, aber ihr erleichterter Blick kreuzte sich mit dem von Mechtild.

»Dann werden sie uns sicher heute noch übersetzen«, mutmaßte die Ratsfrau mit derselben Sicherheit, mit der sie die Prognose für das Geschäftsjahr abgeben würde. Sie wickelte ihren Schleier vom Kopf und strich ihn notdürftig glatt. »Meine Manicottoli sehen fürchterlich aus«, seufzte sie mit einem bekümmerten Blick auf die zerknitterten Ärmelstücke. »Was ich brauche, ist ein heißes Eisen.«

Als ob sie den Fischern imponieren müßte! »Wir brauchen ein Boot, kein Eisen«, knurrte Mechtild aufgebracht.

Barba mußte geahnt haben, daß –die Ratsfrau von ihrer Abreise sprach. Sie schüttelte bedächtig den Kopf und deutete mit dem Zeigefinger in die Höhe. Ein fernes Rauschen war bereits zu hören, das sich in Minutenschnelle wieder zum Sturm steigern konnte, diesmal aus einer anderen Richtung.

»Nun, dann also nicht«, gab die Kauffrau resigniert nach.

***

Die Inselbewohner lärmten ausgelassen zwischen den Hütten. Ausnahmslos alle Boote hatten es geschafft, in der kurzen Pause des Sturms zu landen, und darüber hinaus war der Fang gut gewesen.

Um die beiden Frauen kümmerte sich niemand mehr. In allen Häusern wurden Vorbereitungen für ein Fest am Abend getroffen, Bretter für Tische und Hocker herbeigeschleppt, die gestampften Böden gefegt und Büschel von Kräutern in die Eingänge gehängt. Zu Barba kamen noch vor der Dunkelheit so viele Nachbarn, wie das Haus faßte.

Die Knochenhauerin und die Ratsfrau, eingezwängt zwischen anderen Frauen, waren geladen zu Seezunge, Steinbutt, Seebarsch, Makrelen, Muscheln und Riesenkrabben. Dazu gab es eingesalzenen Queller und gekochte Blätter, die wie Fußlappen aussahen, aber appetitlich rochen und ganz ausgezeichnet schmeckten. Mechtild griff beherzt zu und redete angeregt mit den Händen; Alheyd kostete mit spitzem Mund und war still, wofür Mechtild sehr dankbar war.

Nachdem die Schüsseln, Löffel und Bänke fortgeräumt waren, hockten sich die Frauen und Männer an den Wänden auf den Boden; die Kinder sprangen über die Absperrung zu den Gänsen und dem Schaf hinein und wurden leise, als ein Fischer neben dem Herdfeuer Platz genommen hatte.

Er erzählte. Seine Arme maßen einen Riesenfisch ab, und von den Zuhörern kamen bewundernde Rufe. Als er den Fangtag ausführlich beschrieben hatte, machte er einem anderen Platz. Danach kam Barba an die Reihe. Sie nickte zu Henori hinüber, die sich zwischen die Ratsfrau und Mechtild drängte.

»Es war vor langer Zeit, als die Hühner noch Zähne hatten«, begann Barba und erzählte die Legende vom einäugigen Riesen Balor, dessen Auge sieben Lider hatte, die er nacheinander öffnen mußte. »Und in dem Augenblick, in dem er auch das siebente aufmachte, entstand eine solche Glut in der Welt, daß alles ringsum vernichtet wurde.«

Die Zuhörer seufzten erschrocken, und die Kinder hinter dem Flechtwerk erwarteten mit geduckten Köpfen und den Fäusten vor den Augen das Ende der Welt.

Aber noch war die Welt nicht am Ende aller Dinge angelangt, und Barbas Pause gab Henori Zeit, für Alheyd zu übersetzen, und diese übersetzte für Mechtild. Und Mechtild fühlte sich in seltsamer Weise an eine Geschichte erinnert, die sie als Kind von einem Seemann aus dem fernen Norden gehört hatte und seitdem nicht wieder.

Obwohl Balor die Welt bedrohte, heulten die Kinder entsetzt auf, als der Gott Lug ihm mit einem Schleuderstein das Auge ausschlug. Die Welt war gerettet, aber hatte Balor den Tod verdient? Barba bat die Kinder, mit ihrem Urteil zu warten. Und dann erzählte sie, daß Balor sterbend Lug bat, ihm den Kopf abzuschneiden und auf den seinen zu legen, damit er, Balor, seine Weisheit auf Lug übertragen könne. »Der Gott mißtraute aber dem Riesen und legte den Kopf auf die Astgabel eines Haselnußstrauches. Und schon der erste Tropfen von Balors Blut spaltete den Baum und zerstörte ihn.«

»Das geschah Balor recht, das mit dem Auge«, riefen die Kinder, und Mechtild verstand es auch ohne Übersetzung. Die Erwachsenen klatschten in die Hände vor Freude. Danach verlangten sie etwas, das Mechtild nicht verstand und Henori nicht weitergab.

Barba nickte, erhob sich und deutete zuerst auf Mechtild, dann auf den Erzählhocker. Mechtild schüttelte den Kopf.

»Geht«, forderte Alheyd die Knochenhauerin mit ruhiger Stimme auf. »Wer Märchen erzählt, wird in aller Welt als Gast behandelt.« Mechtild wurde dunkelrot vor Arger. Diese junge Gans erlaubte sich, sie zu belehren. Sie warf ihr einen giftigen Blick zu und setzte sich widerstrebend auf den Hocker. Und ohne darüber nachzudenken, verwarf sie alle Märchen aus der Spinnstube und wählte die Geschichte des Seemanns.

»Dar is mal een Gott weest«, fing sie an, »de het Balder heten. Und er war von so schönem Aussehen und so hell, daß ein Leuchten von ihm ausging. Und er hatte das freundlichste Wesen von allen Asen – so hieß seine Familie – und war der Weiseste von ihnen allen. Seine Mutter aber hatte Angst, daß ihm jemand schaden könnte, und verlangte von allen Lebewesen einen Eid, daß sie Balder schützen würden. Alle leisteten den Eid außer der Mistel, die vergessen wurde. Der größte Feind der Asen aber war Luki, der einer anderen Götterfamilie entstammte.«

Mechtild gab das Wort an die Ratsfrau und Henori weiter, aber sie spürte, daß Barba der Übersetzung nicht lauschte. Die Herrin der Insel wußte, daß Mechtild von den Göttern ihrer eigenen Geschichte sprach.

»Luki«, fuhr Mechtild fort, »war falsch und böse. Als sich die Götter damit vergnügten, Gegenstände auf den unverwundbaren Balder zu werfen, gab Luki dem blinden Bruder von Balder einen Mistelzweig in die Hand. Und an ihm starb der Weiseste aller Götter.«

Nun trauerten die Kinder mit Mechtild um den schönen Balder, und alle fanden sein Ende schrecklich.

Barbas Gesicht, das seit der Ankunft der Männer soviel freundlicher geworden war, legte sich in nachdenkliche Falten. »Vielleicht wurden unsere Ahnen in uralten Zeiten getrennt, weil sie verschiedenen Göttern recht gaben.«

Die Frauen nickten, weil sie wußten, wozu Streit im eigenen Hause führen kann und daß es gut ist, ihn zu beenden, bevor es zum Blutvergießen kommt. Die Knochenhauerin sah sich unversehens wie eine lang vermißte Verwandte in ihren Kreis aufgenommen. Sie überlegte, ob sie sich zum Kranich geeignet hätte, während sie die abseits stehende Ratsfrau unauffällig heranwinkte. Aber natürlich kam sie nicht.

Die Männer schoben sich schon zur Tür hinaus und redeten längst wieder über Netze und Fänge, während sich die Frauen um Barba drängten. Diese verkündete laut: »Wir haben beschlossen, euch zu erlauben, unsere Insel zu verlassen. Daß ihr die gleichen alten Götter kennt wie wir, bestärkt uns in unserer Milde. Ihr sollt wissen, daß es Inseln in der Nähe gibt, auf denen alle Schiffbrüchigen erschlagen werden.«

Mechtild dachte bereits, daß alles entschieden sei, als Barba noch einmal ihre Stimme hob. »Ihr werdet bei einsetzender Ebbe zum Festland aufbrechen. Ein Rätsel müßt ihr vorher noch lösen. Es lautet: Was ist leichtfüßiger als der Wind und heißer als Feuer?«

Dieses Mal übersetzten Henori und Alheyd sorgfältig Wort für Wort. Mechtilds Gedanken bewegten sich voll Panik im Kreis. Die Ratsfrau aber antwortete ohne sonderliche Gemütsbewegung: »Der Gedanke einer Frau zwischen zwei Männern.«

Henori übersetzte kichernd, Barba lachte schallend und tätschelte Mechtild den Arm. »Frauen sind überall gleich.« Die Knochenhauerin wagte mitzulachen, weil sie nun endlich wirklich frei waren.

Viel später, als sich Mechtild schlaflos auf ihrem Sack mit knisterndem Tang umherwarf, fragte sie sich bang, was geschehen wäre, wenn die Ratsfrau die Frage nicht hätte beantworten können. Und woher in aller Welt hatte ausgerechnet sie die Antwort gewußt?

***

Zwei Tage später hatte sich der Sturm gelegt. Barba holte Mechtild und Alheyd, als die Männer mit dem Boot warteten.

Während die Ratsfrau, ungeduldig wie immer, schon hinausging, zog Barba Mechtild an die Herdsteine. Im Licht des niedrigen Feuers befestigte sie an Mechtilds Hals eine kleine goldene Münze. Die Knochenhauerin erkannte darauf einen Eber mit borstiger Rückenmähne und einem Beil unter dem Bauch. Barbas Gesten und Augen erzählten Mechtild mehr als ihre Worte: Enez Eussa war die Insel der Frauen. Hier hatten die Frauen die Macht. Auf Enez Eussa brauchten sie keine Götter von Männern und auch keinen Teutates. Aber auf dem Festland würde die Münze Mechtild nützlich sein. »Und Ratsfrau Alheyd?« fragte Mechtild verlegen.

Barba winkte ab. »Frau Alheyd ist wie ein Mann. Meinen Schutz braucht sie nicht.«

Mechtild nickte ratlos und erwiderte Barbas Kuß auf ihre Stirn schwesterlich. Danach schob Barba Mechtild energisch zur Tür hinaus.

***

Die Ratsfrau und die Knochenhauerin waren von Konk nach Brest weitergewandert. Anfangs hatte die Knochenhauerin kaum eines der Wegkreuze ausgelassen, um sich für die wunderbare Rettung zu bedanken, aber dann hatte sie zu ihrem gewohnten Gleichmut zurückgefunden. In Brest fanden sie glücklicherweise in einem Gasthof einen winzigen Raum für sich, einen der wenigen, die nicht von Soldaten beschlagnahmt worden waren. Zu ihrem Schrecken wimmelte die Stadt von Kriegsleuten und ihrem üblichen Gefolge. Und man sprach darüber, daß der Schiffsverkehr ruhe.

Es gab zwei Alkovenbetten in der Kammer, aber die war verkommen wie ein unbewohnter Hühnerstall. »Die Ratte hat den Uringestank nicht ausgehalten«, stellte Mechtild fest und schleuderte das tote Untier grimmig aus der Fensterluke. »Bretonische Ratten sind anscheinend etwas zart. Wir werden es uns trotzdem gemütlich machen.« Aber die Ratsfrau schien nicht dankbarer als die Ratte für das Dach über ihrem Kopf, und erst nachdem Mechtild sämtliches krabbelnde Ungeziefer totgeschlagen hatte, war sie bereit, den Raum zu betreten. Die Knochenhauerin überprüfte, wie sich die Tür nachts versperren ließ. »Wer weiß, wie lange wir hierbleiben müssen. Obwohl wir jetzt immerhin schon um zwei Wegstunden näher an Stade herangekommen sind.«

Alheyd rümpfte die Nase. Daß sie mit einer Knochenhauerin zusammengepfercht war, mochte vorübergehend akzeptiert werden: sie konnte sie immerhin als Schutz und zugleich als eine Art Dienerin betrachten. Das übrige hätte Rucenberg nicht geduldet. »Was mich betrifft, habe ich nicht vor, hier länger als einen Tag zu verbringen. Wir werden sofort zum Hafen gehen«, bestimmte sie.

Mechtild hatte nichts dagegen. Aber sie glaubte nicht an die Kraft der Gedanken, ein Schiff herbeizurufen, wenn da keines ist. Ratsfrauen dachten darüber vielleicht anders. Sie brachten es ja auch fertig, Rittergeschichten zu lesen, während andere auf sie warteten. Demonstrativ ließ sie sich auf die dünne Strohschüttung fallen, während sie Alheyd beobachtete. Ein christliches Traktat war das nicht, in dem die Ratsfrau blätterte, darum hätte sie ein Schweinsöhrchen gewettet.

Alheyd überlas in Ruhe ihre letzte Eintragung. Sie hatte nicht gedacht, daß es dazu noch kommen würde.

14. August a. D. 1360, Bretagne: Gottlob, wir sind nach fürchterlicher Fahrt heil auf dem Festland angelangt. Gottlob auch, wieder unter Christenmenschen zu sein. Einzig die Weiterreise macht jetzt Sorge. Derzeit laufen angeblich wenig Schiffe aus, jedenfalls keine, die durch den Kanal fahren, da die Bretonen in einen Krieg verwickelt sind, an dem auf verschiedenen Seiten Bretonen, aber auch Franzosen und Engländer teilnehmen.

Dann suchte sie nach der Stelle über die Kleidung. Dazu schrieb Rucenberg:

Wenn Du, liebe Schwester, hierzu meinen Rat annimmst, so sieh darauf, daß Du stets schicklich und unserem Stand entsprechend gekleidet bist. Bemühe Dich stets, Deine Haube, Dein Halstuch, Deine Kapuze und alles übrige sauber und unauffällig zu arrangieren. Sei anderen ein Vorbild an Ordnung und Schlichtheit.

Weitere Angaben fanden sich nicht. Alheyd schlug die Buchdeckel zu und stand auf. »Worauf wartet Ihr?« fragte sie und klemmte sich ihr Bündel unter den Arm.

»Ihr habt doch nicht etwa vor, ohne mich abzureisen?« fragte Mechtild aufgebracht.

Die Ratsfrau schüttelte den Kopf: »Ich lasse nur meine Besitztümer nicht aus den Augen.«

Kurz danach mußte Mechtild ihr widerwillig recht geben. Das Viertel war so verkommen wie das Wirtshaus. In den schmalen, düsteren Gassen zwischen den oben vorkragenden Häusern wimmelte es von Männern unter Waffen, von schmierigen alten Kerlen bis zu Dreikäsehochs, deren Händchen in fremden Taschen kaum zu spüren waren. Die Frauen mit Männerkleidung und Gugel waren gewiß keine ehrbaren Hausfrauen. Andere mit Kleiderausschnitten bis zum Bauchnabel dienten sich schamlos jedem Mann an, bei dem sie Geld im Beutel vermuteten.