Text zum Buch
Was bedeutete das Ende des geozentrischen Weltbildes? Warum entwarfen Philosophen einen »Naturzustand«, um ihre Staatsmodelle zu rechtfertigen? Und wodurch entstand die »bürgerliche Gesellschaft«? Im zweiten Teil seiner Geschichte der Philosophie führt uns Richard David Precht durch die Renaissance, das Barock, die Aufklärung und durch das Denken des Deutschen Idealismus. Das Panorama erstreckt sich von den florierenden Kaufmannsstädten Italiens über das frühindustrialisierte England und das vorrevolutionäre Frankreich bis zu den Kleinstädten Thüringens, in denen Philosophen an der Wende zum 19. Jahrhunderts den Weltgeist für sich entdeckten. Im Wechselspiel von Philosophie, Sozialgeschichte und Wirtschaftsgeschichte öffnet sich dem Leser der Blick dafür, wie Liberalismus und Demokratie ihren Siegeszug antraten. Ein Buch, das hilft, das Werden unserer heutigen Gesellschaft zu verstehen!
Weitere Informationen zu Richard David Precht sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buchs.
Richard David Precht
ERKENNE DICH SELBST
Eine Geschichte der Philosophie
Band 2
Renaissance bis
Deutscher Idealismus
Originalausgabe
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
2. Auflage
Copyright © 2017
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Uno Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: akg-images/Zug der Heiligen Drei Könige,
Benozzo Gozzoli; 1459 – 1461. Wandgemälde. Florenz,
Palazzo Medici Riccardi, Kapelle, rechte Wand
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-18227-4
V005
www.goldmann-verlag.de
Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz:
Inhalt
Einleitung
Das Geleit der Könige
PHILOSOPHIE DER RENAISSANCE
Die Welt in uns selbst
Neue Perspektiven
Diesseits und Jenseits
Ein neuer Himmel
PHILOSOPHIE DES BAROCKS
Ich denke, also bin ich
Der Gott der klaren Dinge
Gebändigte Gewalten
PHILOSOPHIE DER AUFKLÄRUNG
Der Einzelne und sein Eigentum
Das unbeschriebene Blatt
Das Wohl aller
Einstürzende Altbauten
Die öffentliche Vernunft
PHILOSOPHIE DES DEUTSCHEN IDEALISMUS
Im Kosmos des Geistes
Das moralische Gesetz in mir
Der höchste Standpunkt
Seelenwelt oder Weltseele?
Sein und Schein des Schönen
Das Ende der Geschichte
ANHANG
Anmerkungen
Ausgewählte Literatur
Philosophie der Renaissance
Philosophie des Barocks
Philosophie der Aufklärung
Philosophie des Deutschen Idealismus
Dank
Personenregister
Sachregister
Bildnachweis
… ein philosophisches System ist nicht ein toter Hausrat, den man ablegen oder annehmen könnte, wie es uns beliebt, sondern es ist beseelt durch die Seele des Menschen, der es hat.
Johann Gottlieb Fichte
Einleitung
Man kann Zeiten an ihrem Gang erkennen, wie Menschen, nicht an ihrem Lauf. Jede historische Zeit hat ihre Eigenart, ihren Rhythmus, ihr eigenes Lebensgefühl. Nicht die Fakten, die politischen Ereignisse von Aufstieg und Niedergang oder die Schlagzeilen der einzelnen Tage bestimmen einen Gang. Mit späterem Wissen lässt sich oft vieles deuten, das in der Zeit selbst undeutlich ist. Doch genau diese Undeutlichkeit bestimmt den Gang der Zeiten immer und in jeder Epoche, bis hin zu der unsrigen.
Viel Undeutlichkeit und Ungleichzeitigkeit kennzeichnen auch den Gang der Philosophie. Manche Gedanken aus sehr alter Zeit erscheinen uns heute wegweisend und modern; andere, die erst aus jüngeren Tagen stammen, wirken alt und blass. Und wer weiß, ob sich das Urteil über sie einst bestätigt oder ändert? Philosophiehistoriker nehmen auf diesen Wechsel der Perspektiven und Bewertungen gemeinhin allerdings wenig Rücksicht. Sie neigen dazu, ihre Geschichte immer ähnlich zu erzählen – schon aus Angst vor dem Urteil der Experten. Wie leicht kann es geschehen, dass sie ihre Stammgebiete unzureichend behandelt oder vernachlässigt sehen! Eine andere Gewichtung, eine andere Auswahl und andere Nuancen sind mit Mut und Unerschrockenheit verbunden; ein Kapital, das man lieber sehr vorsichtig einsetzt. Wie im ersten Band dieses Projekts betreffen die neuen Akzente bei mir vor allem die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte sowie Fragen nach der Leiblichkeit und der Biologie.
Philosophiegeschichten setzen den Lauf der Dinge und die Abfolge von Menschen hintereinander. Diese Chronologie ist ein Fluss, der sein Bett kaum ändert, aber sie ist mehr Routine als Notwendigkeit. Denn Geschichte zu schreiben ist keine Wissenschaft, die eisernen Regeln folgt. Allerdings ist sie auch keine Kunst oder ein Potpourri an Meinungen. Dabei ist schon das, was Philosophie überhaupt sein soll, wie Friedrich Wilhelm Joseph Schelling in der Einleitung zu seinen Ideen zu einer Philosophie der Natur schreibt, eine philosophische Frage. Die Rolle des Philosophen und der Philosophie wechselt auch, und gerade im hier behandelten Zeitabschnitt vom 15. Jahrhundert bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts. Zwischen Cusanus und Georg Wilhelm Friedrich Hegel liegen nicht nur Zeiten, sondern Welten. Die eine ist eine Gelehrtenwelt von Eingeweihten in einer christlich-autoritären Weltordnung. Und jeder, der philosophiert, arbeitet sich auf seine Weise an dieser einen großen Ordnung ab. Die andere sieht nach Aufklärung und Revolution die hohe Zeit des Bürgertums heraufdämmern und mit ihr die Schlote der Puddelöfen, das Elend des Proletariats und die Kirche in einer gesellschaftlichen Nische.
Die bürgerliche Arbeitsteilung in der Produktion wird schließlich auch auf die Philosophen überspringen. Am Ende des 18. Jahrhunderts möchte Adam Smith sie in »verschiedene Zweige, deren jeder einer besonderen Abteilung oder Klasse von Philosophen zu tun gibt«, aufgeteilt sehen. Denn die »Arbeitsteilung« vergrößere »ebenso in der Philosophie wie in jedem anderen Beruf die Geschicklichkeit und Zeitersparnis«.1 Dass Zeit etwas ist, das man sparen sollte, wäre den Denkern der Renaissance niemals eingefallen. Uns Heutigen dagegen ist es die fixe Leitidee unseres Lebens geworden. Und dass Philosophen zu Spezialisten der geistigen Produktion werden sollten, hätte noch Hegel missfallen, auch wenn es gegenwärtig tatsächlich überall üblich ist.
Der Generalist hat es heute schwer. Zu erdrückend erscheint die Last des seither angehäuften Spezialwissens. In einer Welt der Fachgebiete und Experten kann er nur kompensieren, was als Orientierungswissen verloren gegangen ist. Und eine Philosophiegeschichte zu schreiben ist dabei eine seiner letzten Domänen. Die großen Fragen, die sich im hier behandelten Zeitabschnitt stellen, sind oft alt, und wir kennen sie schon aus dem ersten Band: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Woher weiß ich, was ich weiß? Kann ich wollen, was ich will? Warum soll ich moralisch sein? Was ist eine gute und gerechte Gesellschaft? Aber die Fragen erhalten im Laufe der hier behandelten vierhundert Jahre einen anderen Zuschnitt. Sie stellen sich neu im Hinblick auf die sich allmählich entwickelnde bürgerliche Gesellschaft. Die Begriffe der »Arbeit« und der »individuellen Rechte« werden die Vorstellungswelt und den Handlungsrahmen der Menschen entscheidend verändern. Und sie werden jene Gesellschaft formen, die wir – wenn sie möglicherweise auch bald durch die Digitalisierung zu Ende geht – heute für »normal« halten.
Einige Zeiten und Menschen bereiten auf diesem langen Ritt durch die Jahrhunderte spezielle Sorgen. Die erste Schwierigkeit betrifft Formalitäten. Das Buch ist in Renaissance, Barock, Aufklärung und Deutscher Idealismus unterteilt. Fragt man sich bei der Renaissance seit Langem, wo sie beginnt und wann sie endet, so ist »Barock« eigentlich gar keine philosophiegeschichtliche Epoche. Für manche ist sie nicht einmal eine historische Epoche, sondern allenfalls ein Kunststil. Aber gibt es überhaupt Epochen? Je näher man ihnen kommt, umso unübersichtlicher und willkürlicher werden sie. Die Einteilung des Buchs möchte sich an solchen Diskussionen nicht beteiligen. Beabsichtigt ist nur eine gute Übersicht. Insofern muss man sich auch nicht darüber streiten, ob Immanuel Kant nun zum »Deutschen Idealismus« zu zählen ist oder ob er ihn als Aufklärer lediglich entzündet hat. Der Begriff stammt ohnehin erst aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. In den letzten Abschnitt gehört Kant für mich vor allem deshalb, weil mit ihm eine sehr deutsche Denkströmung der Philosophie beginnt. Diese unterscheidet sich stark von der englischen und französischen und begründet eine eigene Tradition.
Was für Zeiten gilt, gilt erst recht für Menschen. Schwierig ist zum Beispiel bis heute der Umgang mit Martin Luther. Obwohl kein Philosoph, gehört er geistesgeschichtlich und politisch in jede Philosophiegeschichte. Doch der historische Luther liegt tief verschüttet unter einem Sediment aus Interpretationen, die das bekannte Positive zeitlos, das viele Negative zeitbedingt sehen möchten. Jahrhundertelange Fanliteratur hat Luther bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Und Geschichten, die tausendmal ähnlich erzählt worden sind, lassen andere Wertungen leicht als Provokation erscheinen, auch wenn das gar nicht beabsichtigt ist – das Luther-Jahr 2017 hat dies eindrücklich bestätigt. Schon der »Mittelweg« zwischen Verehrung und historischer Kritik führt definitiv nicht durch die Mitte. Ein neutrales Urteil sollte sich mit dem Luther der Gläubigen gar nicht erst befassen, um den historischen angemessen zu bewerten.
Manchmal sind es nicht Menschen, sondern Topografien, die sich sperren. Das Buch enthält einige »Achttausender«, mühselig zu besteigende Berge der Philosophie, die zu den schwierigsten auf der Weltkarte gehören. Gleich zu Anfang des Parcours geht es mit Cusanus als erstem hohem Gipfel los, später folgen Baruch de Spinoza und Gottfried Wilhelm Leibniz. Die Darstellung der leibnizschen Philosophie ist grenzenlos undankbar. Es gibt kein leibnizsches System, sondern sehr viele verstreute Gedanken. Und die Edition der hundertbändigen Werkausgabe, die in den Zwanzigerjahren begann, hat bis heute nicht mal ihre Mitte erreicht. Dazu kommen Begriffe in einem gedanklichen Ordnungsrahmen, der Unverständnis auslösen muss. Sie in zeitgemäße Worte zu fassen gelingt nur mit viel sprachlicher Freiheit. So etwa verwende ich bei der Erklärung der Monadentheorie den Begriff »Bewusstsein« – ein Wort, das erst 1711 von Christian Wolff geprägt wurde, fünf Jahre vor Leibniz’ Tod.
Nachdenken verursacht auch die Gewichtung von Thomas Hobbes. Seine philosophiehistorische Bedeutung ist fraglos. Mit ihm beginnen die rationale Staatstheorie und die folgenreiche Idee eines Gesellschaftsvertrags. Vergleicht man ihn jedoch mit seinem Zeitgenossen James Harrington – der in fast allen Philosophiegeschichten fehlt, selbst in den meisten englischen –, so erscheint er weit weniger wegweisend und modern als der arg vernachlässigte Vater der parlamentarischen Demokratie und der Gewaltenteilung.
Bei der bewusst sehr ausführlichen Darstellung John Lockes möchte ich den »Vater der Aufklärung« mit all seinen Widersprüchlichkeiten zeigen. Die Idee der Freiheit und Gleichheit aller Menschen drängt Ende des 17. Jahrhunderts nicht einfach deswegen hervor, weil sie eine gute Idee ist. Vieles, was schon seit der Antike darüber gedacht worden ist, wird erst dadurch politisch relevant, dass mächtige wirtschaftliche Interessen dahinterstehen. Und auch die Doppelmoral liberal-kapitalistischer Gesellschaften ist untrennbar mit Locke verbunden. Die Rechte, die dem englischen Besitzbürger zukommen, müssen für ihn nicht für Schwarze und Indianer gelten. Selbst wenn viele Menschen in Europa dies heute anders sehen als Locke – zu den Spezialtugenden unserer Gesellschaft gehört es noch immer, sich mehr um den eigenen Wohlstand zu sorgen als um den Hunger in der Welt.
Überlegungen ist auch die Frage wert, wie man die britische gegenüber der französischen Aufklärung gewichtet. Wie ausführlich stellt man was dar? Die französische zählt weit mehr Vögel mit schillerndem Gefieder, vorneweg Voltaire, La Mettrie, Diderot und Rousseau – wogegen Berkeley, Hume und Smith auf den flüchtigen Blick leicht amselgrau wirken. Dennoch dürfte die angelsächsische Aufklärung die bürgerliche Gesellschaft weit nachhaltiger geformt haben. In Frankreich treten spätestens mit der Revolution die allgemeine Vernunft und der allgemeine Wille an die Stelle Gottes; in Großbritannien tut dies der heilbringende Markt. Und während der Vernunftabsolutismus nur ein kurzes heftiges Feuer abbrennt, erfreut sich der Marktabsolutismus noch immer zahlreicher mächtiger Anhänger in aller Welt.
Ganz anders dagegen die Lage in Deutschland. Während Großbritannien die Hardware für die Herrschaftsarchitektur des Besitzbürgertums schafft, Frankreich die Software aus hedonistischem Individualismus, waltet Kant auf deutschem Boden als Kanzleibeamter des menschlichen Bewusstseins. Hunderte neuer Begriffe rastern von nun an das »Gemüt«, sortieren es, bewerten und gewichten es. Mit Kant besteigt der Leser den ersten der vier Achttausender im anstrengenden Schlussparcours. Fichte, Schelling und schließlich Hegel werden auf der beschwerlichen Strecke folgen. Ihre herausragende Bedeutung ist in der deutschen Philosophiegeschichte unbestritten, entsprechend erhalten sie ihren Raum. Erwähnt werden sollte aber auch, dass Fichte und Schelling einem englischen Philosophen wie dem Oxford-Professor Anthony Kenny in seiner schönen vierbändigen Philosophiegeschichte gemeinsam nur zweieinhalb Seiten wert sind!2
Der Umschlag von Kants Philosophie in eine protestantische Romantik, eine Geistreligion ohne Gott, ist nichts für allzu nüchterne Gemüter. Und die Überspanntheit und Fruchtbarkeit des Deutschen Idealismus lassen sich höchst unterschiedlich philosophiehistorisch gewichten. In jedem Fall wird das, was um 1800 in Jena, der kargen Kleinstadt in Thüringen, gedacht wird, zum fruchtbaren Boden einer mit Idealismus überschwänglich gedüngten Philosophie. Und je vernünftiger sie sich schließlich bei Hegel aufspreizt, umso mehr mündet sie in der gegenteiligen Einsicht ihrer Hörer – nämlich dass die Welt im Innersten gerade nicht durch die Vernunft zusammengehalten wird …
Philosophie ist, wie man sieht, keine gerade aufsteigende Linie. Sie ist eine Bewegung von vielen Wellen; so wenig zielführend wie Alkohol, aber hoffentlich erhellend. Und der Weg führt beide Male durch abwechslungsreiches und inspirierendes Gelände. Mit dieser Aussicht auf die fantastische Landschaft des Geistes wünsche ich allen Lesern eine gute Reise!
Richard David Precht
Düsseldorf, im Juli 2017
Das Geleit der Könige
Vom irrealen Zauber der Malerei
Ein Zug von der Emilia-Romagna über die Höhen des Apennins in die Toskana. Majestätische Könige und Fürsten hoch zu Ross und in prächtigem Ornat, begleitet von eleganten Bediensteten, edlen Hunden und sogar einem Geparden. Dahinter eine Landschaft wie aus einem Märchenbuch: schroff gezackte Felsen, gefaltet wie aus feinstem Papier, Vögel, getragen von stillem Wind, und stilisierte Bäume mit Paradiesfrüchten und Blättern, adrett wie Straußengefieder. Am Horizont und in die Landschaft gestreut fantasievolle Burgen, aller Zeit enthoben wie das himmlische Jerusalem.
Das Bild ist ein Fresko, ein Wandgemälde in drei Teilen. Noch heute taucht es die Hofkapelle der Medici im Palazzo Medici Riccardi in Florenz in ein zauberhaft entrücktes Licht. Il Viaggio dei Magi lautet sein italienischer Titel, den »Zug der Heiligen Drei Könige« nennt es eine der deutschen Übersetzungen, »Das Geleit der Könige« eine passendere. Denn was das Fresko zeigt, ist weit mehr als der Zug der Heiligen Drei Könige nach Bethlehem. Es hat viele Ebenen, die man ausleuchten kann, und gerade der Geleitzug der Könige hat es in sich. Ausleuchten im wörtlichen Sinne musste es bereits sein Schöpfer Benozzo Gozzoli, als er es vom Sommer 1459 bis ins Frühjahr 1460 in die damals fensterlose Kapelle malte. Gozzoli war um 1420 in Florenz geboren worden und hatte das Goldschmiedehandwerk erlernt. Als Gehilfe des berühmten Fra Angelico hatte er seinem Meister bei Arbeiten in Rom und Orvieto geholfen und seine ersten eigenen Fresken in der Kleinstadt Montefalco gemalt.
Als die mächtigen Medici einen Maler für ihre Hofkapelle suchten, fiel ihre Wahl auf den Nachwuchskünstler. Irgendetwas muss Cosimo den Älteren an Gozzoli fasziniert haben. Vielleicht war es dessen Liebe zum Detail und der genaue Blick des Goldschmieds, mit dem der junge Mann Funkelndes und Glitzerndes zu malen vermochte. Denn was den Stadtherren von Florenz vorschwebte, war kein kirchliches Andachtsbild. Vielmehr dachten sie an die festlichen Umzüge, die die »Bruderschaft der Heiligen Drei Könige« jedes Jahr zum Dreikönigstag auf der Via Larga (der heutigen Via Cavour) mit Glanz und Gloria veranstaltete; ein Ereignis, bei dem sich die Medici gerne selbst ins Gefolge mischten und dabei alles zeigten, was reiche Bankiers aufzubieten hatten, um Königen gleich dahergetrabt zu kommen.
Gozzoli sollte beim Schein seiner Laternen in der Hofkapelle also nicht die Heiligen Drei Könige malen, sondern die Familie Medici. Doch der Auftrag war ungleich komplizierter. Das Thema der Heiligen Drei Könige hatte längst eine allegorische Bedeutung in der Kunst gewonnen. Danach standen die drei Könige symbolisch für die drei Lebensalter des Menschen, Jugend, Lebensmitte und Alter, und entsprechend hatte man sie zu malen. Und noch eine weitere – äußerst wichtige – Bedeutungsebene sollte sich in dem Fresko wiederfinden. Im Winter 1439, zwanzig Jahre bevor Gozzoli seinen Auftrag erhielt, waren tatsächlich »Weise aus dem Morgenland« über den Apennin in die Toskana gezogen. Diese hohen Herren waren Johannes VIII. Palaiologos, der Kaiser von Konstantinopel, und Patriarch Joseph II., das Oberhaupt der Ostkirche. Sie trafen sich dabei mit Papst Eugen IV., dem Oberhaupt der katholischen Kirche. Ein Ereignis von Weltrang: Es ist das letzte Treffen eines Patriarchen der orthodoxen Kirche mit einem Papst bis zum Jahr 1964!
Das gemeinsame Ziel war allerdings nicht Bethlehem und das Jesuskind, sondern Florenz und das Unionskonzil. Im Gefolge der drei »Könige« befand sich das Who is Who der gelehrten Welt der damaligen Zeit. Und die Mission konnte monumentaler nicht sein: die Einheit der Christenheit! Oder genauer: die endgültige und absolute Versöhnung der katholischen Kirche des Westens mit der orthodoxen Kirche des Ostens.
Dieses prestigeträchtige Ereignis sollte nirgendwo anders stattfinden als in Florenz, der aufstrebenden Stadt der westlichen Welt. Ein Mega-Event, vergleichbar weniger mit einem heutigen G8-Gipfel als vielmehr mit einer Olympiade und Fußballweltmeisterschaft zur gleichen Zeit am gleichen Ort. Dafür hatte Cosimo de’ Medici, der mächtige Oligarch der Kaufmannsstadt, weder Kosten noch Mühen gescheut. Sein Argument war äußerst überzeugend: Er kam für alle Kosten der ungezählten Konzilsmitglieder auf. Der Bankier finanzierte das gesamte halbjährige Ereignis und lockte Kaiser, Papst, Patriarch und die vielen italienischen Fürsten und Stadtpatrone mit ihrem Gefolge vom kleineren Ferrara in die Stadt am Arno. Und genau diesen Gipfel, insbesondere den Weg dorthin von Ferrara nach Florenz, sollte Gozzoli in seinem Fresko abbilden. Dabei musste er dem Motiv der drei Könige einschließlich der allegorischen Deutung der Lebensstufen Rechnung tragen. Und er sollte zugleich die Medici in der Manier der Dreikönigsumzüge von Florenz prunkvoll ins Bild setzen.
Das Thema steht also in einem weiten Horizont und stellte Gozzoli vor gewaltige Herausforderungen. Dass sich fürstliche und weniger fürstliche Auftraggeber in Italien zu Anfang des 15. Jahrhunderts in historische Kulissen hineinmalen lassen, die ihrer tatsächlichen Bedeutung nicht entsprechen, ist nichts Ungewöhnliches. Wer die Macht und die Mittel dazu besitzt, vermischt Geschichte, Allegorie und Propaganda zu seinen Zwecken und lässt dafür die größten Maler seiner Zeit antanzen. Aus reichen Söldnern und Bankiers an der Spitze der toskanischen Stadtstaaten wurden so fast über Nacht bedeutende »Fürstenhäuser« – nicht anders als heute das Herrschergeschlecht der Grimaldis in Monaco. Sie sind kein alter Adel und in Wirklichkeit noch nicht mal »Grimaldis« – doch illustrierte Propaganda und Schlagzeilen lassen sie zu jenen Fürsten zählen, die einem als Erstes einfallen, wenn von europäischem Adel die Rede ist.
Nichts anderes beabsichtigt Cosimo der Ältere. Um dessen Ansprüchen gerecht zu werden, malt Gozzoli drei Fresken, denen genau das fehlt, was seit Kurzem so etwas wie der ungeschriebene Verfassungsauftrag eines jeden hochwertigen Gemäldes ist – die Zentralperspektive! Gozzoli war noch nicht geboren, als der geniale Baumeister Filippo Brunelleschi 1410 seine bahnbrechenden perspektivischen Berechnungen machte. Maler wie Masaccio griffen sie auf und übertrugen sie in die Malerei. Und als Gozzoli Kind war, verfertigte der Universalgelehrte Leon Battista Alberti darüber kunsttheoretische Schriften. Doch Gozzoli, der die Kunst der Perspektive durchaus beherrscht, verzichtet darauf, als er den Königszug malt. Von den Gründen, die später dazu beitragen, ihn nicht zu den ganz Großen der Renaissancekunst zu zählen, ist dies der wichtigste. Zu statisch hat sich die Kunstgeschichte darauf verpflichtet, nur das als bedeutend anzusehen, was auf den ersten Blick innovativ und überraschend erscheint – ein verkürzter Blick, dem neben Gozzoli so viele andere geniale Künstler aller Epochen zum Opfer gefallen sind.
Doch Gozzoli will gar keinen real erscheinenden Raum. Er will ja auch keine real erscheinende Zeit. So wie die Landschaft der Toskana mit ihren idealisierten Federbäumchen nicht der tatsächlichen Vegetation entspricht und die Burgen eher ins Märchenland gehören als nach Mittelitalien, so soll das ganze Bild zwischen Realität und Traum, Geschichte, Gegenwart und Allegorie hin und her flimmern. Nur so nämlich kann der Maler alle Bedeutungsebenen auf einmal im Bild sichtbar machen. Statt an der neuen Zentralperspektive orientiert sich Gozzoli an der Gotik, insbesondere ihren allegorisierenden Stundenbüchern.
Für eine Kulturgeschichte, die die Renaissance auf eine »naturwissenschaftlich« inspirierte Aufbruchsstimmung verengt, steht Gozzolis Fresko jenseits der Idealspur. Doch sind neben dem Neuen das Rückwärtsgewandte, das Mystische, mitunter auch das Mittelalterliche ein wichtiger Bestandteil des Renaissancedenkens. Nicht anders dürften dies Gozzolis Auftraggeber, die Medici, gesehen haben. Als Bankiers für Fürsten und Päpste sind sie die führenden Repräsentanten jener Kaste, die schon seit dem 13. Jahrhundert das Mittelalter dynamisiert. Die christlich wohlgeordnete Welt entzaubern sie durch die seelenlose Rationalität von Geld, Kalkül und Effizienzdenken. Zugleich aber geben die Herren der kalten Münze prachtvolle Umzüge wie am Johannistag des Jahres 1445 in Auftrag, bei dem Laienspieler, Prominente und zweihundert Pferde die Weihnachtsgeschichte opulent nachspielen. Nicht weniger Pomp verwenden sie auf das große Fest für Papst Pius II., den künftigen Herzog von Mailand, Galeazzo Sforza, und den starken Mann von Rimini, Sigismondo Malatesta.
Die Feierlichkeiten finden im Frühjahr 1459 statt. Unmittelbar danach beginnt Gozzoli mit seinem Fresko. Die drei Potentaten – sie haben mit dem Zug von Ferrara nach Florenz gar nichts zu tun – sollen auch zu den etwa dreißig Portraits dazukommen. Für Malatesta und Sforza hält man die beiden Reiter am linken Rand des Hauptbildes. Der Papst steckt vermutlich mitten im Geleitzug, für seine Zeitgenossen gut zu identifizieren anhand der goldbestickten roten Kapuze. Die beiden Reiter auf dem Maultier und dem weißen Pferd zu Anfang des Geleitzugs sind Gozzolis Auftraggeber Cosimo der Ältere und sein Sohn Piero der Gichtige. Wie Gozzolis Briefe verraten, hat Letzterer die Ausgestaltung des Freskos akribisch überwacht. Unterstützt wird Piero dabei von dem befreundeten Bankier Roberto Martelli. Er hat dem Konzil von Florenz 1439 beigewohnt und steuert seine Erinnerungen bei. Auch zwei der drei Könige sind heute ohne Schwierigkeiten als echte Konzilsteilnehmer identifizierbar. Es sind der Patriarch Joseph II. als alter König und Johannes VIII. Palaiologos, der Kaiser von Konstantinopel als König in den besten Mannesjahren. Doch wer blickt als junger König vom Schimmel direkt zum Betrachter (und vom Cover dieses Buchs)? Ist es tatsächlich Lorenzo il Magnifico, der damals zehnjährige Spross der Medici-Familie? Darüber lässt sich bis heute prächtig streiten.
In jedem Fall reiten die Vertreter der katholischen Kirche und ihre Fürsten völlig einträchtig mit den Byzantinern durch die Berge. Von Spannungen und Anspannungen keine Spur. Man erkennt die Vertreter der orthodoxen Kirche schnell an ihren wilden Bärten und ihrer orientalischen Kleidung. Tatsächlich malt Gozzoli einen paradiesischen Frieden in glänzendem Kolorit in das Bild, den es auf dem Konzilszug so nicht gab. Die Vertreter des weltlichen und des geistlichen Byzanz standen 1439 mit dem Rücken zur Wand. Die Türken hatten das Byzantinische Reich erobert und drohten die Hauptstadt Konstantinopel einzunehmen. Wenn die orthodoxe Kirche in dieser Lage gute Miene zu einem bösen Konzil machte, das einer Kapitulation gleichkam und nahezu all ihre geistlichen Traditionen auslöschte, dann nur, weil sie musste. Der Zug der Heiligen Drei Könige in der Hofkapelle der Medici aber zeigt nichts davon. Gozzolis Bilder lassen einen Weihnachtsfrieden aufscheinen, eine märchenhafte Eintracht aller Menschen beider Kulturen. Toskanische Landschaft verschwimmt mit den kargen Felsen des Heiligen Landes. Und gleichsam himmlisch inspirierter »Humanismus« füllt das Bild mit buntem Menschengewusel.
Wenn Zeiten, Glaube und Historie verschmelzen, kommt es auf schnöde Realität nicht mehr an. In welchem Putz windet sich der Konzilszug um die hübschen hellen Felsen? Niemals hätten sich die echten Teilnehmer im winterlichen Apennin in solch einen sommerlichen Festzugszinnober gewandet. Wo bleiben die dunklen schweren Mäntel? Freie Fantasie ist auch, dass Gozzoli sich selbst in den Geleitzug hineingemalt hat. Mit seinem Namen auf der roten Mütze reitet er inmitten von Männern, in denen viele die bedeutendsten Philosophen der Zeit erkennen wollen. Das von einem mächtigen Bart umwölkte Gesicht unter der blau-goldenen Mütze könnte Georgios Gemistos zeigen, der sich Plethon (»der Reichhaltige«) nannte. Als Berater des byzantinischen Kaisers war er auf dem Konzilszug dabei. Plethon trat allerdings als Gegner einer Vereinigung von Ost- und Westkirche auf, womit er seinem Kaiser keinen Gefallen tat. Johannes VIII. wusste, dass er in Florenz zu Kreuze kriechen und dabei die orthodoxe Trinitätslehre opfern musste. Die Einheit der Kirche war für ihn der hohe Preis, um die schnelle militärische Unterstützung der Katholiken für das von den Türken bedrängte Konstantinopel zu gewinnen.
Am 6. Juli 1439 hatten sich die Köpfe des Konzils in der gewaltigsten Kirche der Christenheit, unter der fünf Jahre zuvor fertiggestellten Kuppel der Kathedrale Santa Maria del Fiore, besser bekannt als Dom von Florenz, versammelt. Hier unterzeichneten sie die Bulle Laetentur coeli – »Es freue sich der Himmel«. Mit dabei war auch ein Deutscher von der Mosel: Nikolaus von Kues (1401 – 1464), bekannt als Cusanus. Als Gesandter des Papstes hatte er die Delegation der Byzantiner auf der Schiffsreise von Konstantinopel nach Venedig und dann auf dem Zug nach Ferrara und Florenz begleitet. Wir wissen nicht, ob Gozzoli auch Cusanus auf einem seiner Fresken in der Kapelle verewigt hat. Es wäre erstaunlich, wenn nicht. Das Bild, das er malte, der einträchtige Zug der Weisen in einer von Gottes gutem Willen durchwirkten harmonischen Welt, der Zusammenfall aller Gegensätze in einer höheren Einheit, illustriert auf fast wundersame Weise die cusanische Philosophie.
In ähnlichen Gedanken schwelgt der Florentiner Humanist Giannozzo Manetti (1396 – 1459). 1452, wenige Jahre bevor Gozzoli im Palazzo Medici zum Pinsel greift, rühmt er die Würde und Erhabenheit des Menschen: »Alle Häuser, alle großen und kleinen Städte, überhaupt alle Gebäude des Erdkreises, die ja in so großer Zahl und Qualität vorhanden sind, daß man wegen ihrer ungeheuren Pracht mit Recht zu dem Urteil gelangen müßte, sie seien eher das Werk von Engeln als das von Menschen«3 sind Menschenwerk. »Unser sind die Länder, unser … die Berge, unser die Hügel, unser die Täler, unser … die Orangenbäume, unser die Mispelbäume … unser die Sommereichen, unser die Steineichen … unser die Zypressen, unser die Pinien.« Und unser sind »die Pferde, unser sind die Maultiere, unser die Esel« und »die Vögel, von denen es so viele verschiedene Arten geben muß, daß die göttliche Vorsehung … eine Anhängerin Epikurs gewesen zu sein scheint, weil sie so verschiedene und so unterhaltsame Arten … für den Menschen bereitstellen … wollte«.4 Gottes Erde ist das selbst geschaffene Paradies des Menschen. Sie träumen nicht mehr, zu Engeln zu werden, sie sind selbst Engel, die vom Himmel herabgestiegen sind und die tägliche Gestalt der Menschen angenommen haben.
Im wirklichen Leben aber erwiesen sich die Menschen nicht als Engel. Und die »wunderbaren Dinge«, die sie hervorbringen, halten sich in irdischen Grenzen. Die Welt mochte von Gott weit gedacht sein, aber die Menschen richteten sie weiterhin eng ein. Als die Byzantiner 1439 zurückkehren, lösen ihre Zugeständnisse an die Papstkirche in Konstantinopel Entsetzen aus. Kaum jemand hat vor, sich von nun an Rom unterzuordnen. Unvergessen sind auch die vielen Grausamkeiten, die die westlichen Kreuzritter auf dem Vierten Kreuzzug in der Stadt begangen hatten. Der Klerus zwingt den Kaiser, die Beschlüsse des Konzils zu widerrufen und die orthodoxe Kirche wieder ins Recht zu setzen. Der dritte und letzte Versuch, die christliche Kirche zu einen, ist gescheitert. In der Folge bleibt auch die versprochene Hilfe des Papstes und der italienischen Fürsten gegen die Türken aus. Damit hat sich die Frage nach der Kirchenunion für alle Zeit erledigt. Am 29. Mai 1453 sinkt das über tausendjährige Byzantinische Reich für immer dahin. Der osmanische Sultan Mehmed II. erobert mit einem 80 000 Mann starken Heer das große Konstantinopel …
PHILOSOPHIE
DER RENAISSANCE