Hinweis:

Dieses Buch ersetzt keine Traumatherapie oder irgendein anderes psychotherapeutisches Verfahren. Annahmen und Modelle, die in diesem Buch dargestellt sind, dienen der fachlichen und wissenschaftlichen Diskussion über den Einsatz von Pranayama in der Traumatherapie. Eine wissenschaftliche Überprüfung des hier genannten Effektes ist zurzeit in konkreter Vorbereitung.

Vorwort

Ein ganzes Buch nur über den Atem und die Beziehung zu ihm? – Ist der Atem wirklich so wichtig? Das mag sich mancher Zeitgenosse in unserer schnelllebigen, oft atemlosen Zeit fragen. Ja, er ist so wichtig, zumindest für Menschen, deren Atem aufgrund schwerer Schicksalsschläge und Traumata ins Stocken geraten ist, die um neuen Atem ringen und wieder frei atmen wollen. Aber auch viele andere Menschen, denen aufgrund einer immer schnelleren Zeittaktung oft die Luft zum Atmen fehlt, die dadurch in Stress geraten, tun gut daran, wieder in Kontakt mit einem gesunden Atemrhythmus zu kommen.

Dietmar Mitzingers Buch widmet sich ausführlich dieser basalen, da Lebensbeginn und Lebensende bestimmenden Energiequelle, die wir im Alltag zumeist vergessen. Mit dem Thema Atem begeben wir uns an die existenziellen Grundfesten unseres Daseins. Es macht daher Sinn, sich die beginnende Lebendigkeit eines Säuglings genauer anzusehen. Ein gesundes Baby erobert sich die Welt und bemächtigt sich des eigenen Körpers, indem es verschiedene Möglichkeiten ausprobiert: „Was können meine Beine? Was kann ich mit meinen Zähnen tun? Kann ich die Zehen in den Mund stecken?“ Usw. Gesunde Eltern freuen sich über die Fortschritte des Kleinen, was die Aneignung und Beherrschung des Körpers betrifft. Selbstwirksamkeit entwickelt sich, auf der sich ein gesundes Selbstbewusstsein aufbauen kann. Diese Fähigkeit, einen guten Kontakt zu den Möglichkeiten des Körpers zu haben und ihn zu nutzen für das, was die Seele will, haben traumatisierte Menschen verloren, sie fühlen sich hilflos und ausgeliefert – wie ein Säugling. Daher ist der Blick auf die grundliegenden Quellen unserer Lebendigkeit wichtig. Das Selbstbewusstsein und die Selbstwirksamkeit in Beziehung zu unserem Atem ist Dietmar Mitzingers Anliegen, und er erforscht den Atem in subtiler Feinarbeit gemeinsam mit seinen Patienten.

Atem und Seele, Atem und Bewusstsein, Atem und Lebendigkeit bedingen sich gegenseitig; das betonen auch viele Sprüche des Volksmunds und der Weisheitslehrer. Das Faszinierende am Atem ist, dass er gleichzeitig zum willkürlichen wie zum unwillkürlichen Nervensystem gehört. Wir können ihn beeinflussen – und diesem Aspekt widmet sich das vorliegende Buch. Aber gleichzeitig funktioniert der Atem, während wir schlafen, auch ohne unser Zutun. Bekanntlich ist es ja auch nicht möglich, sich durch Atemanhalten selbst zu suizidieren. Der Atem lässt uns erfahren: Zum Teil haben wir Einfluss, aber es gibt auch etwas, worauf wir keinen Einfluss haben und wo andere Kräfte in uns und auf uns wirken. So wie wir auch nur begrenzten Einfluss auf das Schlafen-, Essen- und Atmen-Müssen haben und darauf, wann unser letzter Atemzug sein wird. In vielen Religionssystemen wird der Atem daher mit einer göttlichen Energie gleichgesetzt: Prana bezeichnet sowohl den Atem wie die allgemeine Lebensenergie, im Hebräischen bedeutet „ruach“ Atem und Geist, ebenso im Griechischen das Wort „pneuma“ und im Lateinischen das Wort „spirit“. Atman kann Lebenshauch, Seele oder den innersten Wesenskern bezeichnen.

Diese Schnittstelle zwischen autonomem und willkürlichem Nervensystem finden wir so bei keinem anderen menschlichen Organ. Daher empfehlen die meisten spirituellen Traditionen die Zuwendung zum Atem als Eingangstor und Weg, um in höhere Bewusstseinszustände zu gelangen.

Für Therapeuten ist jedoch der Pol des Einflussnehmen-Könnens wichtiger. Und hier führt uns Mitzinger auf einen wahrnehmungsorientierten sensiblen Weg, wie ein ängstlich und hektisch verkürzter Atem wieder zu unserem eigenen Atem und zu unserem individuellen Rhythmus zurückgeführt werden kann.

Mit Dietmar Mitzinger verbindet mich seit drei bis vier Jahren ein fruchtbarer fachlicher Austausch. Als er mich bat, das Vorwort zu schreiben, habe ich mich deshalb sehr gefreut. Während Dietmar als Psychotherapeut und Dozent in der Verhaltenstherapie verwurzelt ist, habe ich meine psychotherapeutische Ausbildung an analytischen Instituten verbracht. In unserer Praxistätigkeit ergänzen wir jedoch beide die kognitiv-verbale Problembearbeitung mit körpertherapeutischen Heilungsmöglichkeiten aus dem yogischen Erfahrungswissen. Da verbale und bewusstmachende Techniken alleine nicht die Ganzheit der menschlichen Existenz erreichen, ist es uns beiden ein Anliegen, die unterhalb unserer Großhirnrinde liegenden Zentren zu erreichen: das limbisch-emotionale Zentrum und das Stammhirn. Spätestens seit Joachim Bauers Buch „Das Gedächtnis des Körpers“ und Bessel van der Kolks Buch „Verkörperter Schrecken“ wissen wir, dass Traumata im autonomen Nervensystem und im Stammhirn sitzen; das zeigt auch das vorliegende Buch auf.

Als Begleiter kann man die Freude und den Stolz spüren, den eine traumatisierte Person empfindet, wenn es ihr erfolgreich gelingt, wieder Herr im eigenen Haus zu sein: Wenn eine Triggersituation nicht mehr zu einer Eskalation von Atemanhalten und Steifwerden führt, sondern diese inneren Prozesse in Achtsamkeit und Selbstmitgefühl beobachtend wahrgenommen werden. „Ich kann (nicht: ich muss) eine unangenehme Situation auch aushalten, meine Entscheidungsfreiheit wächst!“ Ist es doch die Ohnmacht, nicht nur der Welt gegenüber, schlimmer noch: dem eigenen Körper gegenüber, die Traumapatienten verzweifeln lässt. Das Fliehen und Vermeiden, eine der drei Hauptreaktionsmöglichkeiten bei einer lebensbedrohlichen Situation, lässt dem Leben Traumatisierter oft nur wenig Spielraum; nun aber eröffnen sich wieder neue Handlungsspielräume. Der Verhaltenstherapie verdanken wir viele Ansätze, Vermeidungsstrategien langsam wieder auflösen zu können.

Sowohl Betroffene wie auch Begleiter brauchen einen langen Atem, um Verlorengegangenes und Zerstörtes wiederherzustellen. Ob äußere Gebäude oder innere Seelenqualitäten wie Vertrauen und Selbstmitgefühl: Zerstören geht immer ungleich schneller als Wiederaufbauen. Ein Mensch, der einen langen Atem hat, ist entspannt und geduldig, gleichzeitig fokussiert und klar auf ein Ziel gerichtet. Die Übungen, die Mitzinger anbietet, wollen wiederholt und geübt werden. Jedoch ist oft schon nach kurzer Übungszeit eine kleine Wirkung wahrnehmbar, die anzeigt, dass es der richtige Weg ist. Dies lässt Hoffnung entstehen. Vor allem die Erfahrung, dass Betroffene selbst etwas dazu beitragen können, macht Mut und wirkt heilend.

Dipl.-Psych. Regina Weiser

Psychotherapeutin (DGIP)

Traumatherapeutin (PITT)

Yogalehrerin (MYI)

Dozentin und Autorin

Danksagung

Für die Verwirklichung dieses Buches danke ich ganz besonders: Elisa Meyer aus Wien, Alexandra Wessels aus Köln, Lina Prykhodko aus Müritz, meinem Lehrer und Ausbilder im Yoga Sri Friedrich Schulz-Raffelt, meinem Lehrer in Integraler Somatischer Psychotherapie (ISP) Dr. Raja Selvam, meinen Patienten, die vertrauensvoll meinem Angebot gefolgt sind und sich auf Pranayama eingelassen haben. Reto Zbinden aus Villeret / Schweiz, der mich in der Darstellung vom klassischen Pranayama unterstützt hat, und Elisabeth Westhoff aus Köln, die mir entscheidend bei der Erstellung des ersten Fachartikels über den Pranayama-Effekt geholfen hat. Außerdem gebührt der Dank den vielen Teilnehmern der Ausbildungsseminare in der Yogatherapie und im traumasensiblen Yoga, die mit ihrer Aufmerksamkeit und ihren Fragen dazu beigetragen haben, dass sich viele Aspekte des Pranayama erschließen ließen. Und Petra Simon aus Düsseldorf, die mir in gemeinsamen Gesprächen neue Aspekte der Körpertherapie beschrieben hat.

Einleitung

Die Ausgangssituation

In der heutigen Traumatherapie besteht eine Lücke. Führ den Klienten gibt es keine hinreichende Vorbereitung auf die Belastung, die auf ihn zukommt. Eine Traumaexposition bedeutet, sich Erinnerungen, Gefühlen und Affekten aus der Traumatisierung auszusetzen. Für den Klienten ist das eine erhebliche Belastung, die das Risiko der Retraumatisierung in sich birgt.

In der Traumaforschung hat sich gezeigt, dass traumatisierte Klienten eine niedrigere Herzfrequenzvariabilität aufweisen und eine verringerte Toleranz gegen Affekte und Emotionen haben (verkleinertes Resilienzfenster). Die Reizschwellen senken sich immer weiter ab und selbst kleine Reize können erhebliche Reaktionen im Nervensystem auslösen. Die heutigen Methoden in der Traumatherapie können keine Herzfrequenzvariabilität herstellen, sie können keine Toleranz für Affekte oder Emotionen herstellen, sie können keine Reizschwellen im Nervensystem heraufsetzen, aber sie gehen trotzdem in eine Traumaexposition. Um das Ganze irgendwie durchführen zu können, wird hochfrequent mit Entspannungsbildern (Ankertechnik) oder mit motorischen Bewegungen gearbeitet, die die beginnende Erstarrung reduzieren sollen. Dabei bekommt der Klient den Eindruck, dass er vor seinen eigenen Wahrnehmungen in das Entspannungsbild flüchten muss, weil er sich selbst sonst nicht aushalten kann. Dieses Vorgehen ist hoch problematisch, denn der Klient lernt nur, dass er weiterhin auf der Flucht vor sich selbst bleiben muss.

Besser wäre es, wenn wir die Möglichkeit hätten, mithilfe einer gezielten Intervention auf das Nervensystem des Klienten so einwirken zu können, dass die Nerven robuster werden gegen starke Affekte und Emotionen, anstatt immer wieder mit einem desolaten Nervensystem in eine belastende Erfahrung hineingehen zu müssen; eine Prozedur, durch die Klienten nur hilfloser und depressiver werden.

Zusätzlich gibt es das Pendelproblem: Wenn ein Traumaklient sich erregt, gleitet er schnell in Angst und Panik hinein. Arbeitet man dann mit Entspannungsmethoden, rutscht er viel zu schnell in eine Erstarrung. Wenn man den Klienten dann wieder aktiviert, gleitet er sehr schnell erneut in Angst und Panik ab. Der Traumaklient pendelt also zwischen Angst und Panik auf der einen und Erstarrung auf der anderen Seite. Um dieses Pendelproblem zu lösen, muss die Erregbarkeit des Nervensystems insgesamt verändert werden. Sie muss grundsätzlich herabgesenkt werden, ohne die Wahrnehmungsfähigkeit des Klienten zu reduzieren. Besser ist es sogar, die Wahrnehmungsfähigkeit heraufzusetzen.

Nach Möglichkeit sollte die Erregbarkeit ohne Medikamente herabgesetzt werden, denn diese haben die Nebenwirkung, die Wahrnehmung des Traumaklienten stark zu beeinträchtigen. Er ist dann nicht mehr in der Lage, bewusst zu erleben, dass er seinen Zustand verändern kann. Dieses bewusste Erleben einer selbst herbeigeführten positiven Veränderung ist aber die Voraussetzung für die Gesundung des Klienten.

Gesucht wird also eine Methode, die es dem Klienten ermöglicht, sich selbst so zu regulieren, dass er in seinem Nervensystem sowohl die Neigung zu Angst und Panik als auch die Neigung zur Erstarrung reduziert und so robuster gegenüber Reizen werden kann. Diese Robustheit gegenüber Reizen lässt sich mit dem Begriff der Affekttoleranz fassen.

Affekttoleranz ist eine Befähigung auf zwei Ebenen: 1) eine neuronale Befähigung, stärkere Reize tolerieren zu können, ohne direkt in Reflexe zu gehen. Und 2) eine kognitive Befähigung, offen sein zu können für Reize, ohne direkt in das Katastrophendenken hineingleiten zu müssen.

Die Behandlungsleitlinie: Mangelnde Affekttoleranz ist eine Kontraindikation für Traumatherapie. Eine Traumatisierung führt zu einer verminderten Körperwahrnehmung; der Körper wird viel weniger gespürt. Die Ursache dafür ist zweifelsohne das extrem starke Leiden der Patienten. Ihr emotionales und affektives Erleben ist extrem intensiv, nicht mehr aushaltbar. Die natürliche Reaktion darauf ist die Reduktion der Körperwahrnehmung, der Preis dafür ist eine sehr geringe Affekttoleranz.

Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. (AWMF) e.V. weist in ihrer Leitlinie 11 für die Posttraumatische Belastungsstörung auf die Kontraindikation für Trauma bearbeitende Verfahren hin. Diese besteht u. a. in der „mangelnden Affekttoleranz“.

Die Widersprüchlichkeit: Eines der Hauptsymptome der Traumatisierung ist jedoch genau dieser Mangel an Affekttoleranz. Hier entsteht ein eigenartiger Zirkelschluss: Einerseits dürfen Klienten mit Traumatisierung nicht in eine Traumatherapie, wenn sie mangelnde Affekttoleranz aufweisen, andererseits brauchen sie gerade wegen der mangelnden Affekttoleranz eine Traumatherapie, weil sie diese selbst nicht herstellen können. Betrachtet man diese Situation von außen, dann mutet sie sehr widersprüchlich an. Hier ist also dringend eine Veränderung vonnöten.

Die Lösung: Pranayama stellt die erforderliche Affekttoleranz her. Es verändert Auslöseschwellen im Nervensystem, es setzt sie nämlich herauf. Der Traumaklient wird robuster oder, anders ausgedrückt: Sein Nervensystem wird resilienter gegenüber Reizen. Durch die Erfahrung, dass sein Nervensystem robuster geworden ist, wird der Klient offener für das Wahrnehmen von Reizen. Auf Pranayama baut ein Prozess auf, der im Yoga Pratyahara genannt wird. Dieser nutzt die hergestellte Affekttoleranz und führt danach in eine entsprechende Traumaexposition. Das Pratyahara zielt nicht auf Erinnerungen ab, sondern auf eine intensive Körperwahrnehmung. Durch die Exposition auf Affekte und Emotionen aus dem eigenen Körper (bottom-up) werden auf der Basis der vorhandenen Affekttoleranz gute Ergebnisse erreicht. Das Nervensystem ist „ruhiger“ und der Klient macht die Erfahrung, in seinem Körper Sicherheit zu spüren und keine Gefahr.

Der Pratyahara-Prozess wird in Kapitel 5 ausführlich beschrieben. In Kapitel 6 gibt es flankierend Informationen darüber, wie die Körperhaltungen des Yoga (Asanas) so eingesetzt werden können, dass dieser Prozess unterstützt wird.

1. Was ist Pranayama?

1.1 Pranayama beginnt mit dem Herzen

Das Herz kann in verschiedenen Zuständen sein. Gefühlt ist es manchmal geöffnet, manchmal geschlossen. Auch auf der zwischenmenschlichen Begegnungsebene spüren wir den Zustand unseres Herzens, nehmen wahr, ob jemand in der Lage ist, mit uns mitzuschwingen oder nicht.

Um das zu verdeutlichen, stellen Sie sich drei oder vier Personen vor, die sich seit vielleicht einer halben Stunde unterhalten. Das Thema ist eher nebensächlich, aber es ist mittlerweile eine Art Gruppenenergie entstanden. Man fühlt sich verstanden und schwingt mit der Gruppe. Nun kommt von außen eine neue Person hinzu, die sich in einem geschlossenen Zustand des Herzens befindet. In einer solchen Situation kann leicht ein Kommunikationsproblem entstehen. Die neue Person versteht gar nicht so richtig, worum es geht, und hängt sich vielleicht an einem Begriff auf, den der Rest der Gruppe für vollkommen unproblematisch hält. Die Gruppe schwingt nicht mit der neuen Person und umgekehrt die neue Person auch nicht mit der Gruppe. Die schöne Unterhaltung ist vorbei, es wird anstrengend.

Dieser geschlossene oder offene Zustand des Herzens ist auch medizinisch nachweisbar. Im geöffneten Zustand ist Herzfrequenzvariabilität – so der Fachbegriff – gegeben, im geschlossenen Zustand fehlt sie.

Im Pranayama kommt es zu einer inneren Kommunikation zwischen Körper und Bewusstsein. Hierfür sollte das Herz schwingungsfähig und die Reizschwelle der Nerven sollte angehoben sein. Erst so ist auch die Kommunikation von Erlebnissen tiefer Verletzung möglich.

Es gibt eine Reihe von Vorübungen des Pranayama, durch die sich die Schwingungsfähigkeit des Herzens herstellen lässt. In diesem Kapitel beschreibe ich das kurz und beispielhaft an Kapalabhati. In Kapitel 7 vertiefe ich dieses Thema und gehe auf weitere Pranayama-Vorübungen ein. Sie alle haben differenzierte Wirkungen, aber ihnen gemeinsam ist die Erzeugung der Herzfrequenzvariabilität. Diese entsteht intuitiv. Hat er die Vorübung für eine längere Zeit ohne Anstrengung durchgeführt, korreliert der Übende intuitiv den Atemrhythmus mit dem Herzrhythmus.

Wenn das Herz geöffnet ist, sich im Zustand der Herzfrequenzvariabilität befindet, schwingt es mit dem Atemrhythmus. Es kann darauf aufbauend mit jedem anderen System mitschwingen, also auch mit einem Gegenüber die jeweiligen Empfindungen austauschen. Eine weiterführende Pranayama-Praxis – ein längeres Anhalten des Atems – sollte ausschließlich in diesem Zustand erfolgen. Nur ein schwingungsfähiges Herz kann sich einer veränderten Situation anpassen. Für das Beispiel längeres Anhalten des Atems hieße das: Der Sauerstoffverbrauch des Organismus wird gesenkt und so werden erheblich längere Atempausen möglich.

Die Arbeit mit Pranayama beginnt also immer und zuerst am Herzen! Ist das Herz nicht in der Schwingungsfähigkeit, also nicht geöffnet, ist es in einem Zustand, in dem es auf Bedrohung reagieren muss. Dafür gibt es zwei Modi:

  1. Kampf-Flucht-Modus: Hier geht das Herz in den Leistungsmodus, denn eine hohe Herzleistung sichert das Überleben bei Kampf und Flucht.
  2. Erstarrung: Das ist eine Leistungsbremse, die ebenfalls das Leben sichert, wenn die Bedrohung nicht mit Kampf oder Flucht Erfolg versprechend beantwortet werden kann.

Die Vorübungen des Pranayama haben die Aufgabe, diese Zustände jeweils zu korrigieren und das Herz zurück in die Schwingungsfähigkeit zu bringen. Nach Herstellung der Schwingungsfähigkeit des Herzens beginnt der tiefer gehende Prozess des Pranayama: das Anhalten des Atems. Im Yoga wird dieser Abschnitt des Nichtatmens Kumbhaka genannt. Spätestens dann, wenn sich der Atemreflex meldet, braucht es eine intensive Intention, den Atem weiter anzuhalten.

Das ist ein entscheidender Prozess: Im Zustand der Schwingungsfähigkeit des Herzens wird eine starke Intention praktiziert. Auf diese Weise erlernt unser Nervensystem eine Verbindung zwischen Herz und Gehirn. Es entsteht ein Herz-Hirnsystem, in dem zwei Eigenschaften gleichzeitig etabliert werden: Ein offenes Herz (Empfindungsfähigkeit) und ein Gehirn, das Intention herstellen kann (Willenskraft). Beides zusammengenommen befähigt uns, mutige Entscheidungen zu treffen, was in der Redewendung „beherztes Vorgehen“ deutlich zum Ausdruck kommt.

1.2 Prana + Ayama = Pranayama = Energielenkung

Im Sinne des Yoga ist Prana das Erleben von Energie an einem bestimmten Ort im Körper. Je nachdem an welcher Stelle des Körpers sie wahrgenommen wird, stellen sich unterschiedliche Erlebnisinhalte und Erlebnisqualitäten ein:

Die subjektive Erfahrung ist davon abhängig, an welchem Ort die Energie gerade lokalisiert ist, denn dort haben die jeweiligen Körperzellen eine höhere Aktivitätsrate als diejenigen in der direkten Umgebung oder im Rest des Körpers.

Prana im Sinne von Yoga zieht auch ortsabhängig die Steigerung einer konkreten subjektiven Erfahrung nach sich und folgt dabei immer der Wahrnehmung. So kommt es zum Beispiel zu einer Steigerung der Aktivität des Denkens, wenn ich mich länger auf das Denken konzentriere.

Prana ist ein komplexes Konstrukt, welches unterschiedliche Bereiche miteinander verbindet: Denken, Wahrnehmung, organismische Bereiche, Körperzellen und die daraus resultierenden phänomenologischen Bereiche wie Affekte oder Aktivitätszunahme. Das Gesamterleben all dessen ist also das, was ich hier mit Prana meine.

Übersetzen lässt sich der Begriff „Prana“ mit „Leben“ oder „Energie“. Wenn wir Energie im Sinne von Kraft oder Wahrnehmung verspüren, nehmen wir uns eher als lebendig wahr. Prana ist also eine Energie, die im Körper als belebend wahrgenommen werden kann. Es ist aber auch eine Energie im physikalischen Sinn, etwa wie Wärme, Strom, Licht, Wellen usw. Prana ist also ein Zustand im lebendigen Körper, verbunden mit dem Erleben von mehr oder weniger Kraft oder Energie.

Der zweite Teil des Wortes Pranayama, „Yama“ lautet vollständig „Ayama“ und bedeutet „Nicht-Sterben“ oder „Nicht-Tod“. Wenn man den Begriff „Prana“ zusammen mit dem Begriff „Yama“ übersetzt, dann kommt man zu der Bedeutung „Leben, Nicht-Sterben“ oder „Energie, Nicht-Tod“. Wir haben es hier mit einem Pleonasmus zu tun, der seine Bedeutung darin haben könnte, dass es einen Unterschied gibt zwischen „einfach nur leben“ oder „mit Energie leben“.

„Yama“ bzw. „Ayama“ hat noch eine weitere Bedeutung: „Lenkung“. Mit Prana kombiniert ergibt sich so „Energielenkung“. Das macht dann Sinn, wenn wir annehmen, dass „einfach nur leben“ durch eine Lenkung von Energie übergehen kann zu „mit Energie leben“.

All diese Kombinationen laufen darauf hinaus, dass man lenkend eingreift. Von der Praxis aus gesehen greift man in innerkörperliche Abläufe ein, nämlich in den Ablauf der Atmung. Traditionelles beziehungsweise klassisches Pranayama birgt im Kern das Anhalten des Atems. Es ist damit ein Teilprozess, der im Yoga Kumbhaka genannt wird. Bereits in den Vorübungen findet eine gewisse Lenkung der Energie statt, jedoch erst im Kumbhaka wird der Atem konkret angehalten.

1.3 Der angehaltene Atem und seine Wirkung auf das Gehirn

Im Pranayama konfrontieren wir uns absichtlich mit dem Atemreflex, der durch das Nichtatmen provoziert wird. Ziel dieser Konfrontation ist die Steigerung der Selbstwirksamkeitsüberzeugung und der Resilienz des Präfrontalkortexes gegenüber starken Reflexen aus dem Atemzentrum und starken Affekten aus dem Körper. Diese „intentionale Atemreflex-Hemmung“ ist ein Training der Hirnstrukturen, die an der Bildung und Umsetzung von Intentionen beteiligt sind. In der neueren Hirnforschung spricht man vom „zentralen Exekutiv-Netzwerk“ (ZEN), an welchem der Präfrontalkortex maßgeblich beteiligt ist.

Im Ergebnis wird das ZEN durch regelmäßiges Üben von Pranayama (im klassischen Yoga = Energielenkung) gestärkt und die Vernetzungsrate im Gehirn nimmt zu. Das ZEN hat in der Folge einen stärkenden Einfluss auf Reflexe; sie können besser gehemmt werden. Aus dieser Perspektive kann man also behaupten: Durch das Üben von Pranayama wächst das ZEN weiter, wird also größer. Daher ist es auch wesentlich wirkungsvoller, wenn wir es durch Willenskraft zum Einsatz bringen.

1.4 Pranayama beruht auf Freiwilligkeit

Es gibt viele Warnhinweise und Vorurteile gegenüber Pranayama. So heißt es zum Beispiel, man dürfe nur unter Anleitung eines sehr erfahrenen Lehrers üben, sonst sei Pranayama gefährlich. Viele Yogalehrer verbreiten Panik und Schrecken und viele Schüler entwickeln große Ängste vor dem Atemanhalten. Solange nicht wirklich klar ist, was Pranayama bewirkt, gibt es genügend Raum, in dem Ängste und Spekulationen gedeihen können.

Doch was stimmt denn, jenseits aller Angst? Wir alle praktizieren Pranayama, auf ganz natürliche Weise im Alltag, meist unbewusst. Wären wir uns dessen bewusst, würde es vielen leichter fallen, sich in Pranayama zu üben, schließlich ist es in diesem Sinne lediglich eine Erweiterung der ganz natürlichen Atmung.

Pranayama als bewusste Atemtechnik ist ungefährlich, wir müssen nur vollkommen verstehen, auf welche Weise sie wirkt. Damit meine ich nicht, einen schematischen methodischen Ablauf zu kennen. Es kommt in erster Linie gar nicht auf „die richtige Methode“ an, denn die Methode muss verbunden sein mit einer intrinsischen Motivation. Es muss meine aus eigenem Entschluss herbeigeführte Absicht sein, den Atem anzuhalten.

Pranayama ist kein fremdbestimmtes Üben. Ich halte also nicht meinen Atem an, weil jemand anders das sagt, und führe es durch, obwohl ich eigentlich gar nicht Pranayama üben will. In diesem Fall würde ich es wohl so empfinden, dass ich nicht flüchten kann bzw. dass ich nur aus dieser Situation herauskomme, wenn ich dem Befehl des Gegenübers folge.

Die Ausführung, den Atem anzuhalten, beruht auf:

intrinsischer Motivation

extrinsischer Motivation

Grad der Selbstbestimmtheit

Die Intention, Pranayama zu üben, ist herbeigeführt durch meinen eigenen Entschluss, ist also völlig selbstbestimmt.

Ich übe, weil mein Gegenüber das so will. Ich selbst will es gar nicht.

Grad der Entschlussfreiheit

Ich darf es auch lassen, ohne negative Folgen.

Ich darf es nicht lassen.
Wenn ich es lasse, dann hat das negative Folgen für mich.

Grad der Sicherheit der Umgebung

Umgebung ist sicher

Umgebung ist bedrohlich

Tabelle 1.1: Zwei gegensätzliche Motivationsformen, Pranayama zu üben

Erst durch eine „intrinsische Motivation“ bzw. Freiwilligkeit wird eine Übung zum Pranayama. Ist keine Freiwilligkeit gegeben und es herrschen Bedingungen wie unter „extrinsische Motivation“ beschrieben, handelt es sich nicht um Pranayama, sondern um Nötigung.

Nötigung, wie gerade beschrieben, führt bei einem Traumapatienten immer zur Retraumatisierung. Um eine intrinsische Motivation des Klienten zu erreichen, bedarf es aufseiten des Behandelnden einer fundierten Ausbildung. Der Klient muss die Wirkweise und Vorteile von Pranayama vollständig begriffen haben. Er muss aus diesen Gründen Pranayama üben wollen. Schauen wir uns das am Beispiel eines Schocktraumatisierten an.

Beispiel: Schocktraumatisierung

Einem Schocktrauma ist wesentlich, dass der Atem während der Schocksituation stehen bleibt. Der Betroffene verbindet Nicht-Atmen künftig immer mit dem Erleben der Schocksituation. Im Sinne einer klassischen Konditionierung besteht eine gelernte Reaktion auf das Nicht-Atmen.

Wenn Pranayama Nicht-Atmen ist, dann vermeidet ein solcher Patient dieses. Und die klinische Erfahrung zeigt, dass Klienten mit Schocktraumatisierung tatsächlich immer eine subtile Vermeidungsstrategie finden, um das Nicht-Atmen zu umgehen. Daher sind die zeitintensive Edukation und das vertraute Gespräch mit diesen Klienten wichtig, um eine intrinsische Motivation überhaupt erst aufbauen zu können.

Wenn also Yogalehrer davon sprechen, Pranayama sei gefährlich, dann fühlen sich Schocktraumatisierte in ihrer Vermeidung nur bestätigt. Schlimmer noch: Der Grad der Konditionierung zwischen Nicht-Atmen und der Bedrohung wird durch diese Dramatisierung weiter erhöht. Das bedeutet, dass „gefühlte Bedrohung“ und der Vorgang, „den Atem anzuhalten“, immer mehr aufeinander bezogen werden. Diese Tatsache erschwert später eine sinnvolle Konfrontation in der Psychotherapie.

Letztendlich ist nicht die Methode Pranayama selbst gefährlich, der entscheidende Faktor ist der Umgang mit ihr. Nicht-Atmen kommt nicht nur im Pranayama vor. Es findet auch unbewusst im ganz normalen Atemprozess statt und kann u. U. den Organismus jedes Mal in die Konfrontation mit dem Trauma führen.

1.5 Das natürliche Pranayama

Vor jeder großen Emotion entsteht eine natürliche Atempause. „Es verschlägt mir den Atem.“ So könnte jemand seine Reaktion beschreiben, wenn er eine erschütternde oder traurige Nachricht erhalten hat, beispielsweise vom Tod eines nahestehenden Menschen. Er muss weinen und für einen Moment steht tatsächlich sein Atem. Meist bleibt dies jedoch unbewusst, denn der Fokus liegt auf der Wahrnehmung der Nachricht.

Physiologisch passiert währenddessen Folgendes: Fasziales Gewebe zieht sich zusammen, vor allem in der Lunge. Das Lungenfell zieht sich zusammen. Weiteratmen würde jetzt die Faszien stören. Daher blockieren sie für uns unbemerkt den Atemprozess. Durch die fasziale Kontraktion des Lungenfells spüren wir den berühmten „Kloß im Hals“, denn das Lungenfell ist am Kehlkopf festgewachsen. Zieht es sich zusammen, spüren wir dieses Ziehen auch dort. Spätestens dann merken wir die Auswirkung einer Verlusterfahrung oder einer anderen Emotion auch leiblich. In Sekundenschnelle interpretieren wir diese körperliche Auswirkung als Beweis für die Trauer bzw. die Schmerzhaftigkeit einer Erfahrung.

Damit sich diese Prozesse ungestört aufbauen können, brauchen Gewebe und Wahrnehmung Zeit. Jeder fließende Atemvorgang würde das Zusammenziehen des Gewebes unterbrechen, es käme gar nicht zu einer hinreichenden Auswirkung. Etwa zwei Sekunden Atempause sind nötig, damit eine Energielenkung stattfinden kann: Energie wird abgezogen von dem, mit dem wir zuvor beschäftigt waren, und sie wird umgelenkt auf eine körperlich-emotionale Reaktion, in unserem Beispiel auf die Trauer. Währenddessen steht der Atem, und ohne es zu wollen oder irgendetwas dafür zu tun sind wir in einem natürlichen Pranayama.

Energielenkung ist auch genau das, was Pranayama im Yoga leisten soll. Der Prozess der Traurigkeit bekommt hinreichend Energie, sodass er uns bewusst wird. Danach übersteigt die fasziale Spannung den Kehlkopf. Mithilfe der Hals- und Kaumuskulatur versuchen wir zunächst unbewusst, diese Energie unterhalb des Kopfes zu halten. Wird sie aber stärker, überwindet sie diese Muskelspannungs-Barriere und zieht über die Faszien des Gesichts nach oben zu den Tränendrüsen, welche sich augenblicklich zusammenziehen: Tränen fließen. Es kommt zur massiven Entladung von Energie durch Weinen. Die überschüssige Energie wird sozusagen ausgeweint. Danach fühlen wir uns erleichtert, weil wir nicht gewohnt sind, so viel Energie in uns aufzunehmen und zu halten.

Wir sehen an diesem Beispiel, dass Pranayama ein Bestandteil unseres Lebens ist. Auch am Beispiel des Gähnens zeigt sich das. Jedes Gähnen ist eine natürliche Atempause nach der Einatmung, auf die eine lang gezogene Ausatmung folgt, auf diese folgt wiederum eine Atempause. Warum aber müssen wir überhaupt gähnen? Mediziner sagen, es sei ein Sauerstoffmangel, der den Körper zwingt, so zu reagieren. Diese Auffassung möchte ich infrage stellen. Wenn wirklich Sauerstoffmangel die Ursache ist, warum dann die Atempausen? Das ergibt keinen Sinn, denn während einer Atempause können wir keinen Sauerstoff aufnehmen.

Der Grund für das Gähnen ist ein anderer und gerade die Atempause ist hier wesentlich. Für die Steuerung des Atems ist das Atemzentrum im Hirnstamm zuständig; es sorgt für genügend Sauerstoff im Blut. Registriert es eine zu hohe Konzentration von Kohlendioxid, reagiert es reflexhaft mit einem Atemantrieb.

Wir sind aber nicht nur vegetierende Wesen, die organismisch überleben wollen, sondern auch denkende und wahrnehmende Wesen. Dafür brauchen wir Energie im Präfrontalkortex, der Hirnregion hinter unserer Stirn. Ist alle Energie im reflexhaft reagierenden Atemzentrum gebunden, ist der Präfrontalkortex, der unsere Gegenwärtigkeit und Wachheit aufrechterhält, energetisch unterversorgt. Mit Energie ist hier schlicht und einfach die Aktivität der Nervenzellen gemeint, die sich in den jeweiligen Regionen befinden. Um nun die Aktivität im Präfrontalkortex zu steigern, muss es einen Arbeitsauftrag geben. Und ein solcher Arbeitsauftrag ist das Gähnen. Es hemmt vorübergehend die Tätigkeit des Atemzentrums und der Atem wird uns bewusst. Das Gähnen ist deutlich wahrnehmbar; entweder versucht die Person, die es verspürt, es zu unterdrücken oder sie intensiviert es bewusst. Im Unterschied zum unbewussten reflexartigen Atmen, welcher durch das Atemzentrum veranlasst wird, sind aber sowohl unterdrücktes als auch intensiviertes Gähnen voll bewusst.

Diese kurzfristige Hemmung der Tätigkeit des Atemzentrums regt den Präfrontalkortex an, mit dem Ergebnis, dass wir wieder wacher und gegenwärtiger sind und zum Beispiel einem eher langweiligen Vortrag besser folgen können. Oder aber wir sind zu Hause und entscheiden uns, schlafen zu gehen. Diese Entscheidung können wir jetzt bewusst treffen, weil die dazu nötige Mindestwachheit im Präfrontalkortex durch das Gähnen hergestellt wurde.

Es gibt noch ein Beispiel für natürliches Atemanhalten, bei dem Wachheit und Gegenwärtigkeit noch viel wichtiger sind. Immer wenn wir intensiv mit etwas beschäftigt sind, entsteht von selbst eine Atempause, damit wir uns besser auf die jeweiligen Inhalte konzentrieren können. Dieser Vorgang läuft fast vollkommen unbemerkt ab. Er wird nur in wenigen Augenblicken auf der sozialen Ebene bewusst. Wenn wir uns zum Beispiel auf der Autobahn für einen Unfall interessieren, dann schauen wir sehr intensiv hin, der Atem steht, wir sind vollkommen auf die Wahrnehmung dessen konzentriert, was dort wohl gerade passiert ist. Von außen betrachtet bieten wir in diesem Moment einen etwas seltsamen Anblick, der auch als „Gafferblick“ (weit aufgerissene Augen und offener Mund, was ein wenig dümmlich wirkt) bezeichnet wird.

Aber auch wenn wir Texte lesen oder uns bemühen, komplexe Zusammenhänge zu begreifen, steht unser Atem. Und jedes Mal ist es das gleiche Spiel. Im Interesse einer bestimmten Intention, eines bestimmten Vorhabens wird der Atemreflex unterbunden, um die Aktivitätsrate des Präfrontalkortexes zu steigern.

Der einzige prinzipielle Unterschied zwischen diesem natürlichen Pranayama und dem Pranayama im Yoga ist die bewusste, willentliche Energielenkung ohne konkreten Anlass in der äußeren Welt. Die Energielenkung wird somit von äußeren Vorgängen abgekoppelt und wir erzeugen stabile Zustände. Durch das Halten dieser Zustände fördern wir wiederum ein Nervensystem, das auch in der Lage ist, bestimmte Energiemengen bei uns halten zu können. In der Neurowissenschaft spricht man in diesem Zusammenhang von der funktionellen Konnektivität (Hölzel 2014). Diese entsteht dadurch, dass wir bewusst unangenehme emotionale oder affektive Zustände in unserer Betrachtung halten. In den folgenden Abschnitten wird auf diesen Zusammenhang noch näher eingegangen. In Abbildung 1.1 ist der Ablauf der unbewussten Atempausen dargestellt. Der Begriff unbewusst ist in diesem Zusammenhang mit dem Begriff natürlich gleichzusetzen.

Abbildung 1.1: Unbewusste, natürliche Atempausen

1.6 Warum setzt man Pranayama therapeutisch ein?

Pranayama wird therapeutisch eingesetzt, um die Affekttoleranz zu steigern, denn diese ermöglicht die emotionale Stabilität des Klienten während der Konfrontation mit belastendem Material aus seinen Erinnerungen. Gegen Affekte im Sinne von unangenehmen Phänomenen aus dem Körper besteht gemeinhin eher eine Abneigung. Viele Menschen wollen Affekte gar nicht erst wahrnehmen oder halten sie für ein Anzeichen von Krankheitsprozessen: „Wenn ich nichts merke, dann ist auch alles gesund, aber wenn ich etwas wahrnehme, dann ist irgendetwas nicht in Ordnung.“ Daher haben wir es in der Therapie oft mit einer intensiven Vermeidung von Affekten zu tun. In der aktuellen Trauma-Forschung hingegen kristallisiert sich die Affekttoleranz als entscheidender Faktor in der Traumatherapie heraus. Ohne hinreichende Affekttoleranz ist die therapeutische Arbeit am Trauma fast unmöglich. Auch die Behandlungsleitlinien erwähnen mangelnde Affekttoleranz als Kontraindikation zur Bearbeitung von Traumata.

1.7 Was ist Affekttoleranz?

Zwei Inhalte machen im Wesentlichen Affekttoleranz aus:

  1. eine ausgeprägte Wachheit bzw. Wahrnehmungsfähigkeit,
  2. eine niedrige Erregung.

Eine ausgeprägte Wachheit bzw. Wahrnehmungsfähigkeit ist das Ergebnis einer guten Unterscheidung zwischen Denken und Wahrnehmen. Damit man das Denken vom Wahrnehmen besser unterscheiden kann, ist es notwendig, den Zustand der Wahrnehmung überhaupt erfahren zu können. Unmittelbar nach dem Ausführen von Pranayama befinden wir uns im Zustand der Wahrnehmung. Wenn wir diesen Zustand bewusst erleben, dann bildet sich im Gehirn ein neuronales Netzwerk, das diese Unterscheidungsfähigkeit leisten kann und sie unterstützt.

Um zwischen Wahrnehmung und Denken unterscheiden zu können, muss der Präfrontalkortex hinreichend aktiviert sein – durch Pranayama, also durch die intentionale Atemreflex-Hemmung. Durch Üben dieser Unterscheidung entsteht langfristig eine Befähigung, sie unabhängig von Pranayama zu erzeugen. Doch dafür müssen die dafür notwendigen Netzwerke stark genug trainiert werden.

Eng verknüpft mit der oben beschriebenen Unterscheidungskraft ist der Begriff Gewahrsam. Darunter ist eine besondere Form der Aufmerksamkeit zu verstehen, die aufpasst, was meine normale Aufmerksamkeit macht. Das Gewahrsam ist nicht auf Objekte oder Gedanken gerichtet, sondern achtet darauf, ob meine Aufmerksamkeit auf Objekt A oder auf Objekt B gerichtet ist.

In manchen Situationen ist es von großer Bedeutung, ob ich diese spezielle Aufmerksamkeit für die Aufmerksamkeit habe oder nicht; also eine Aufmerksamkeit, die aufpasst, was meine normale Aufmerksamkeit gerade macht. Soll ich auf der Autobahn mit einem konstanten Tempo von 100 km/h fahren, besteht die Gefahr, dass ich nach einiger Zeit müde werde und einschlafe. Ich muss lernen darauf aufzupassen, ob ich noch auf den Verkehr achte oder ob ich das bereits nicht mehr tue. Ich brauche also eine spezielle Aufmerksamkeit, die man bei potenzieller Gefahr haben muss, um von der eigentlichen Intention nicht abgelenkt zu werden. Und in unserer modernen Welt werden wir ständig dazu verleitet, von der eigentlichen Intention abzuweichen: im Supermarkt durch Sonderangebote, im Internet durch Werbeseiten oder durch Spam-Mails im Posteingang.

Kapitel 5