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Inhaltsverzeichnis






















































































LIEFERBARE TITEL

Das Haus der Angst – Todesregen – Trauma – Frankenstein/Die Kreatur – Der Wächter – Zwielicht – Frankenstein/Das Gesicht – Die Anbetung – Todesdämmerung – Kalt

DER AUTOR

Dean Koontz wurde 1945 in Pennsylvania geboren und lebt heute mit seiner Frau in Kalifornien. Seine zahlreichen Romane – Thriller und Horrorromane – wurden sämtlich zu internationalen Bestsellern und in über dreißig Sprachen übersetzt. Weltweit hat er bislang über 300 Millionen Exemplare seiner Bücher verkauft. Zuletzt bei Heyne erschienen: Todesregen.

ANMERKUNGEN DES AUTORS

In Augenblicken der Anspannung und der Unentschlossenheit kommen Billy weise Worte in den Sinn, die ihn leiten. Er nennt den Autor zwar nicht, doch sie stammen aus dem Werk von T.S. Eliot.

9. Kapitel: Bewahre mich vor dem Feind, der etwas zu gewinnen hat, und vor dem Freund, der etwas zu verlieren hat.

9. und 27. Kapitel: Lehre uns, was wichtig für uns ist und was nicht. Lehre uns, stillzusitzen.

13. Kapitel: Die einzige Weisheit, die wir uns erhoffen können, ist die Weisheit der Demut.

17. Kapitel: Möge kein allzu hartes Urteil über uns gesprochen werden.

33. Kapitel: Einen gibt es, der den Weg zu eurer Tür kennt: Dem Leben könnt ihr euch entziehen, dem Tod hingegen nicht.

66. Kapitel: Um zu besitzen, was ihr nicht besitzt, müsst ihr den Weg der Enteignung gehen. Und was ihr nicht wisst, ist das Einzige, was ihr wisst.

71. Kapitel: Um zu erreichen, was ihr nicht seid, müsst ihr den Weg nehmen, auf dem ihr euch nicht befindet.

72. Kapitel: Die Welt dreht sich, und die Welt verändert sich, doch eines ändert sich nicht. Wie immer ihr es verhüllen mögt, dies ändert sich nicht: das ewige Ringen von Gut und Böse.

77. Kapitel: Ich sagte zu meiner Seele: Sei still und warte ohne Hoffnung, denn hoffen hieße, auf das Falsche zu hoffen.

Die Behörde des Sheriffs von Napa County, wie sie in diesem Roman geschildert wird, hat keinerlei Ähnlichkeit mit der großartigen Polizeibehörde desselben Namens in der Wirklichkeit. Auch ist keine Figur in dieser Geschichte in irgendeiner Weise an eine reale Person aus Napa County, Kalifornien, angelehnt.

Die geheimnisvollste Bemerkung Barbaras – Ich will wissen, was es sagt, das Meer. Was es immer wieder sagt – stammt aus Dombey & Sohn von Charles Dickens.

1

Mit einem frisch gezapften Bier und einem breiten Lächeln brachte Ned Pearsall einen Trinkspruch auf seinen verstorbenen Nachbarn Henry Friddle aus, über dessen Tod er eine ungeheure Genugtuung empfand.

Henry war durch einen Gartenzwerg ums Leben gekommen, als er vom Dach seines zweistöckigen Hauses auf die fröhlich dreinblickende Figur gefallen war. Der Zwerg war aus Beton, Henry hingegen nicht.

Ein gebrochener Hals, ein geborstener Schädel – Henry war auf der Stelle tot gewesen.

Dieser Tod durch Zwerg war nun schon vier Jahre her. Trotzdem trank Ned Pearsall noch immer mindestens einmal in der Woche auf Henrys Ableben.

Der einzige weitere Gast – ein Auswärtiger, der am anderen Ende der polierten Mahagonitheke auf seinem Hocker saß – äußerte sein Erstaunen über Neds anhaltende Erbitterung.

»Wie kann der arme Kerl als Nachbar bloß so schlimm gewesen sein, dass Sie immer noch derart sauer auf ihn sind?«

Normalerweise hätte Ned die Frage womöglich einfach ignoriert. Fremde mochte er nämlich noch weniger als Salzbrezeln.

Die Kneipe stellte für ihre Gäste Schalen mit kostenlosen Salzbrezeln bereit, weil die billig waren. Ned war es lieber, seinen Durst mit gut gesalzenen Erdnüssen aufrechtzuerhalten.

Damit Ned Trinkgeld gab, überließ ihm Billy Wiles, der Barkeeper, gelegentlich kostenlos einen Beutel seines Lieblingsfutters.

Meist musste Ned für seine Erdnüsse jedoch bezahlen. Das ärgerte ihn, entweder weil er kein Verständnis für die ökonomischen Realitäten der Gastronomie besaß, oder weil er sich gerne ärgern ließ. Wahrscheinlich traf Letzteres zu.

Obwohl man beim Anblick seines Kopfs unwillkürlich an einen Squashball denken musste und bei seinen massigen Schultern an die eines Sumoringers, konnte Ned nur als athletischer Typ gelten, wenn man das Praktizieren von Kneipengewäsch und Groll als Sport bezeichnete. In diesen Disziplinen erreichte er olympische Qualitäten.

Was den verstorbenen Henry Friddle anging, konnte Ned gegenüber Auswärtigen genauso gesprächig werden wie gegenüber alteingesessenen Bewohnern von Vineyard Hills. Denn wenn außer einem Fremden kein weiterer Gast zugegen war, fand Ned die Unterhaltung mit einem von diesen »auswärtigen Teufeln« immer noch angenehmer als zu schweigen.

Billy war noch nie besonders gesprächig gewesen. Er war keiner jener Barkeeper, die ihren Platz hinter dem Tresen als Bühne betrachten. Lieber hörte er zu.

An den Auswärtigen gewandt, erklärte Ned: »Henry Friddle war ein Schwein.«

Sein Gesprächspartner hatte Haare, die so schwarz waren wie Kohlenstaub, doch mit Spuren von Asche an den Schläfen, und eine leise, aber volltönende Stimme. In seinen grauen Augen funkelte ein trockener Humor. »Das ist ein schwerwiegender Ausdruck – Schwein

»Wissen Sie, was dieser Perversling auf seinem Dach getrieben hat? Er hat versucht, an mein Esszimmerfenster zu pinkeln!«

Billy Wiles, der gerade den Tresen abwischte, warf nicht einmal einen Blick auf den Fremden. Er hatte die Geschichte schon so oft gehört, dass er alle Reaktionen darauf kannte.

»Friddle, dieses Schwein, hat gemeint, durch die Höhe würde sein Strahl ein Stück weiter reichen«, erklärte Ned.

»War er etwa Fachmann für so was – zum Beispiel Luftfahrtingenieur? «, fragte der Fremde.

»Er war Professor am College. Da hat er zeitgenössische Literatur gelehrt.«

»Vielleicht hat ihn das Lesen dieses Zeugs in den Selbstmord getrieben«, sagte der Fremde, was ihn für Billy interessanter machte, als dieser zuerst gedacht hatte.

»Nein, nein«, sagte Ned ungehalten. »Der Sturz war ein Unfall.«

»War er betrunken?«

»Wieso meinen Sie, dass er betrunken war?«, fragte Ned verwundert.

Der Fremde zuckte die Achseln. »Schließlich ist er aufs Dach geklettert, um auf Ihr Fenster zu pinkeln.«

»Er war ein kranker Mann«, sagte Ned und tippte mit dem Fingernagel an sein leeres Glas, um seinen Wunsch nach Nachschub kundzutun.

Während Billy ein Budweiser zapfte, sagte er: »Henry Friddle wurde von Rachsucht verzehrt.«

Nach einem schweigenden Zug aus seinem Bierglas fragte der Fremde, an Ned Pearsall gewandt: »Von Rachsucht? Also haben zuerst Sie an Friddles Fenster gepinkelt?«

»Das war ganz was anderes!«, protestierte Ned in einem rauen Ton, der dem Fremden den Rat gab, nicht vorschnell Stellung zu beziehen.

»Ned hat es nicht von seinem Dach aus gemacht«, sagte Billy.

»Genau. Ich bin zu seinem Haus gegangen wie ein Mann, hab mich auf seinen Rasen gestellt und auf sein Esszimmerfenster gezielt.«

»Da saßen Henry und seine Frau gerade beim Abendessen«, sagte Billy.

Bevor der Fremde seinen Ekel über den Zeitpunkt des Angriffs ausdrücken konnte, sagte Ned: »Die beiden haben Wachteln gegessen, können Sie sich das vorstellen?«

»Sie haben deren Fenster angepinkelt, weil sie Wachteln gegessen haben?«

Ned geriet vor Wut regelrecht ins Stottern. »Nein, natürlich nicht! Mach ich vielleicht den Eindruck, ich bin wahnsinnig? « Er sah Billy augenrollend an.

Billy hob die Augenbrauen, als wollte er sagen: Was kann man von einem Auswärtigen schon erwarten?

»Ich versuche bloß, Ihnen klarzumachen, wie hochnäsig die Leute waren«, sagte Ned. »Immer haben sie Wachteln oder Schnecken gegessen – oder Mangold.«

»Was für miese Typen«, sagte der Fremde mit einem so feinen Anflug von Spott, dass Ned Pearsall ihn nicht wahrnahm, Billy hingegen schon.

»Eben«, pflichtete ihm Ned bei. »Henry Friddle fuhr einen Jaguar, und seine Frau fuhr einen Wagen – Sie werden’s nicht glauben –, einen Wagen, der in Schweden hergestellt wird.«

»Ein Auto aus Detroit war wohl zu gewöhnlich für die«, sagte der Fremde.

»Genau. Was muss man für ein Snob sein, wenn man ein Auto die ganze Strecke von Schweden hierher transportieren lässt!«

»Ich möchte wetten, die waren auch Weinkenner.«

»Erraten! Sagen Sie mal, haben Sie die etwa gekannt?«

»Ich kenne bloß den Typ. Sie hatten eine Menge Bücher, stimmt’s?«

»Und ob. Immer haben sie auf der vorderen Veranda gesessen, haben an ihrem Wein geschnüffelt und Bücher gelesen. «

»In aller Öffentlichkeit. Kaum vorzustellen. Aber wenn Sie denen nicht ans Esszimmerfenster gepinkelt haben, weil es Snobs waren, weshalb haben Sie’s dann getan?«

»Es gab ’ne Menge Gründe«, sagte Ned. »Der Vorfall mit dem Stinktier. Der Vorfall mit dem Rasendünger. Die abgestorbenen Petunien.«

»Und der Gartenzwerg«, fügte Billy hinzu, während er Gläser ausspülte.

»Der Gartenzwerg hat das Fass zum Überlaufen gebracht«, stimmte Ned ihm zu.

»Ich kann zwar verstehen, wenn man von rosa Plastikflamingos im Garten zu einer Pinkelattacke getrieben wird«, sagte der Fremde, »aber von einem Gartenzwerg?«

Neds Miene verfinsterte sich, als er an den Affront dachte. »Ariadne hat ihm meine Gesichtszüge gegeben.«

»Ariadne?«

»Die Frau von Henry Friddle. Haben Sie schon mal ’nen hochnäsigeren Namen gehört?«

»Na ja, in Kombination mit Friddle wird er wieder bodenständig. «

»Sie war am selben College Professorin für Kunst. Sie hat den Zwerg modelliert, die Gussform hergestellt, Zement hineingegossen und das Ding dann eigenhändig bemalt.«

»Als Vorbild für eine Skulptur zu dienen, kann doch eine Ehre sein.«

»Er war ein Zwerg, Kumpel!« Durch den Bierschaum auf der Oberlippe sah Ned regelrecht tollwütig aus. »Ein besoffener Zwerg. Die Nase war rot wie ein Apfel. In jeder Hand hatte er eine Bierflasche.«

»Und sein Hosenladen stand offen«, ergänzte Billy.

»Vielen Dank, dass du mich da auch noch dran erinnerst«, knurrte Ned. »Schlimmer noch – aus seiner Hose hingen Kopf und Hals einer toten Gans.«

»Wie kreativ«, sagte der Fremde.

»Zuerst hab ich gar nicht gewusst, was zum Teufel das bedeuten sollte …«

»Symbolismus. Ein Stilmittel.«

»Ja, ja. Bin dann schon draufgekommen. Alle, die an ihrem Haus vorbeigekommen sind, haben es gesehen und sich auf meine Kosten amüsiert.«

»Dazu hätte man den Zwerg gar nicht mal sehen müssen«, sagte der Fremde.

»Genau!«, sagte Ned, der die Bemerkung missverstand. »Die Leute haben schon gelacht, wenn sie davon gehört haben. Deshalb hab ich den Zwerg mit einem Vorschlaghammer zertrümmert.«

»Woraufhin man Sie verklagt hat.«

»Schlimmer. Die haben einen anderen Zwerg aufgestellt. Weil Ariadne sich schon gedacht hatte, dass ich den ersten demoliere, hatte sie gleich noch einen gegossen und bemalt. «

»Ich dachte, hier im Weinland geht es nett und freundlich zu.«

»Und dann sagen die mir«, fuhr Ned fort, »wenn ich den zweiten auch noch demoliere, stellen sie sich nicht nur einen dritten auf den Rasen, sondern produzieren eine ganze Serie und verkaufen die an alle, die einen Ned-Pearsall-Zwerg wollen.«

»Das klingt aber nach einer leeren Drohung«, sagte der Fremde. »Gibt’s denn wirklich Leute, die so was haben wollen? «

»Massenhaft«, versicherte ihm Billy.

»Mit diesem Ort geht es den Bach runter, seit dieses hochgestochene Volk aus San Francisco hierher zieht«, sagte Ned verdrossen.

»Da Sie es sich also nicht erlauben konnten, auch den zweiten Zwerg mit dem Vorschlaghammer zu zertrümmern, hatten Sie keine andere Wahl, als denen ans Fenster zu pinkeln. «

»Genau. Allerdings hab ich nicht vorschnell gehandelt. Ich hab eine Woche lang über die Lage nachgedacht und dann erst zugeschlagen.«

»Woraufhin Henry Friddle mit voller Blase auf sein Dach geklettert ist, um sich zu rächen.«

»Richtig. Aber er hat gewartet, bis ich ein Geburtstagsessen für meine Mom veranstaltet hab.«

»Unverzeihlich«, kommentierte Billy.

»Greift etwa die Mafia unschuldige Familienmitglieder an?«, fragte Ned empört.

Obgleich die Frage rhetorischer Natur gewesen war, antwortete Billy im Hinblick auf sein Trinkgeld: »Nein. Die Mafia hat Anstand

»Und das ist ein Wort, das diese Akademikertypen nicht mal buchstabieren können«, sagte Ned. »Meine Mom war sechsundsiebzig. Sie hätte einen Herzinfarkt erleiden können.«

»Also«, sagte der Fremde, »während Friddle versucht hat, gegen Ihr Esszimmerfenster zu pinkeln, ist er vom Dach gefallen und hat sich beim Aufprall auf den Ned-Pearsall-Zwerg das Genick gebrochen. Nette Ironie.«

»Ironie?«, sagte Ned. »Keine Ahnung. Jedenfalls war’s ungemein befriedigend

»Erzähl ihm doch, was deine Mom gesagt hat«, drängte ihn Billy.

Nach einem Schluck Bier sagte Ned: »Meine Mom hat zu mir gesagt: ›Junge, lass uns den Herrn preisen! Das beweist, dass es einen Gott im Himmel gibt.‹«

Der Fremde brauchte einen Augenblick, um diese Worte zu verdauen. »Sieht ganz so aus, als wäre sie sehr religiös«, meinte er dann.

»War sie nicht immer. Aber mit zweiundsiebzig hat sie ’ne Lungenentzündung bekommen.«

»Es ist sehr praktisch, in einer solchen Lage Zuflucht zu Gott nehmen zu können.«

»Sie hat sich gedacht, wenn es Gott gibt, dann rettet er sie vielleicht. Und wenn’s ihn nicht gibt, dann hat es sie nichts gekostet als das bisschen Zeit, das sie fürs Beten verschwendet hat.«

»Zeit«, meinte der Fremde weise, »ist unser wertvollster Besitz.«

»Stimmt schon«, sagte Ned. »Aber meine Mom hätte sowieso nicht viel davon vergeudet, weil sie meistens beim Fernsehen gebetet hat.«

»Was für eine beeindruckende Geschichte«, sagte der Fremde und bestellte sich noch ein Bier.

Billy öffnete eine Flasche Heineken, stellte ein frisch gekühltes Glas auf den Tresen und flüsterte: »Geht aufs Haus.«

»Das ist aber nett von Ihnen. Danke. Ich hab schon gedacht, für einen Barkeeper sind Sie ein ganz schön ruhiger und zurückhaltender Typ. Na ja, eventuell verstehe ich jetzt, warum.«

An seinem einsamen Außenposten am anderen Ende der Theke hob Ned Pearsall sein Glas zum Toast. »Auf Ariadne! Möge sie in Frieden ruhen.«

Womöglich gegen seinen Willen zeigte der Fremde wieder Interesse. »Doch nicht etwa noch eine Gartenzwergtragödie? «, fragte er.

»Krebs«, sagte Ned. »Zwei Jahre, nachdem Henry vom Dach gefallen war. Ist jammerschade.«

Der Fremde goss das frische Bier in sein seitlich geneigtes Glas. »Ja, der Tod relativiert so manchen kleinlichen Streit«, sagte er.

»Ich vermisse sie«, sagte Ned. »Sie hatte ’nen echt heißen Vorbau, und sie hat nicht immer ’nen BH getragen.«

Der Fremde zuckte zusammen.

»Wenn sie im Garten gearbeitet oder den Hund ausgeführt hat«, erinnerte sich Ned fast träumerisch, »dann waren die Möpse so hübsch am Baumeln und Hüpfen, dass einem ganz schwummerig geworden ist.«

Nun warf der Fremde einen Blick in den Spiegel hinter dem Tresen, vielleicht um festzustellen, ob er genauso entsetzt aussah, wie er sich fühlte.

»Billy«, sagte Ned, »hatte sie nicht die tollsten Dinger, die man sich vorstellen kann?«

»Und ob!«, pflichtete Billy ihm bei.

Ned rutschte von seinem Hocker und watschelte in Richtung Toilette. Als er an dem Fremden vorbeikam, blieb er stehen. »Selbst als der Krebs sie aufgefressen hat, ist ihr Vorbau kein bisschen geschrumpft. Je dürrer sie wurde, desto größer haben ihre Dinger ausgesehen. Sie war echt heiß, fast bis zum Ende. Was ’ne Schande, oder, Billy?«

»Was ’ne Schande«, echote der Barkeeper, während Ned seinen Weg fortsetzte.

Nach einer Weile gemeinsamen Schweigens sagte der Fremde: »Sie sind ein interessanter Bursche, Billy.«

»Ich? Also, ich hab noch nie jemandem ans Fenster gepinkelt. «

»Ich hab den Eindruck, Sie sind wie ein Schwamm. Sie nehmen alles in sich auf.«

Billy griff nach einem Geschirrtuch, um einige Pilsgläser zu polieren, die gewaschen und getrocknet im Ablauf standen.

»Aber außerdem sind Sie ein Stein«, fuhr der Fremde fort, »denn wenn man Sie ausquetscht, lassen Sie nichts heraus.«

Billy polierte weiter seine Gläser.

Die grauen, amüsiert glänzenden Augen wurden noch heller. »Sie sind ein Philosoph, und das ist heutzutage ungewöhnlich, weil die meisten Leute nicht mehr wissen, wer sie sind, was sie glauben oder warum sie das tun.«

Auch dies war eine Sorte Kneipengewäsch, mit der Billy vertraut war, obgleich er sie nicht oft hörte. Verglichen mit Ned Pearsalls Lästereien mochten solche beschwipsten Beobachtungen intelligent erscheinen, aber im Grund handelte es sich doch nur um biergetränkte Psychoanalyse.

Er war enttäuscht. Einen Moment lang hatte er den Eindruck gehabt, der Fremde unterscheide sich von den zweibackigen Heizkörpern, die sonst den Kunststoffbezug der Hocker wärmten.

Billy schüttelte den Kopf. »Ein Philosoph«, sagte er lächelnd. »Das ist wirklich zu viel der Ehre.«

Der Fremde schlürfte sein Bier.

Obgleich Billy eigentlich nicht vorgehabt hatte, dem etwas hinzuzufügen, hörte er sich sagen: »Nicht auffallen, ruhig bleiben, nichts verkomplizieren, nicht viel erwarten und genießen, was man hat.«

Der Fremde lächelte. »Selbstgenügsam sein, sich raushalten und die Welt zum Teufel gehen lassen, wenn sie das will.«

»Schon möglich«, gab Billy zu.

»Zugegeben, mit Platon kann das nicht konkurrieren«, sagte der Fremde, »aber eine bestimmte Philosophie ist es doch.«

»Haben Sie auch eine?«, erkundigte sich Billy.

»Momentan bin ich der Meinung, dass mein Leben besser und sinnvoller sein wird, wenn ich jeder weiteren Unterhaltung mit Ned aus dem Weg gehen kann.«

»Das ist keine Philosophie«, beschied ihm Billy, »sondern eine Tatsache.«

 

Um zehn nach vier kam Ivy Elgin zur Arbeit. Sie war nicht nur eine ausgezeichnete Kellnerin, sondern auch ein Objekt der Begierde, das seinesgleichen suchte.

Billy mochte sie, begehrte sie jedoch nicht. Was das anging, war er unter den Männern, die in der Kneipe tranken oder arbeiteten, eine Besonderheit.

Ivy hatte mahagonibraunes Haar, klare, brandyfarbene Augen und einen Körper, nach dem Hugh Hefner sein ganzes Leben lang gesucht hatte.

Trotz ihrer vierundzwanzig Jahre schien ihr tatsächlich nicht klar zu sein, dass sie eine zu Fleisch und Blut gewordene männliche Fantasie darstellte. Sie verhielt sich nie verführerisch. Gelegentlich war sie kokett, jedoch nur auf angenehme Weise. Ihre Schönheit und ihr schulmädchenhafter Charme bildeten eine regelrecht exotische Kombination.

»Tag, Billy«, sagte Ivy, während sie auf den Tresen zuging. »Ich hab an der Old Mill Road eine tote Beutelratte liegen sehen, etwa einen halben Kilometer von der Kornell Lane entfernt.«

»Natürlicher Tod oder überfahren?«

»Eindeutig Letzteres.«

»Und was bedeutet das deiner Meinung nach?«

»Noch nichts Besonderes«, sagte sie und gab ihm ihre Handtasche, damit er sie unter dem Tresen verstauen konnte. »Das ist das erste tote Viech, das ich seit einer Woche gesehen hab, also hängt es davon ab, was für andere Leichen noch auftauchen, falls überhaupt.«

Die liebe Ivy hielt sich für eine Haruspizin. Haruspizes und Haruspizinnen hatten im alten Rom eine Gilde von Priestern gebildet, die aus den Eingeweiden von Opfertieren die Zukunft vorhersagten. Von ihren Landsleuten waren sie geachtet, ja verehrt worden, aber zu Partys hatte man sie wahrscheinlich nicht besonders häufig eingeladen.

Ivy hatte durchaus keine morbide Fantasie. Ihr Interesse am Orakel stand nicht im Mittelpunkt ihres Lebens, und mit Gästen sprach sie nur selten darüber. Abgesehen davon brachte sie es nicht fertig, in Innereien zu wühlen. Für eine Haruspizin war sie ziemlich zimperlich.

Ihre Interpretation leitete sie daher von der Spezies des Kadavers ab, von den Umständen seiner Entdeckung, von seiner Lage in Beziehung zur Windrichtung und von weiteren geheimnisvollen Aspekten seines Zustands.

Ihre Vorhersagen bewahrheiteten sich nur selten, falls überhaupt, doch Ivy gab nicht auf.

»Egal, welche Bedeutung sich ergeben wird«, sagte sie zu Billy, während sie Bestellblock und Bleistift an sich nahm, »es ist ein schlechtes Zeichen. Eine tote Beutelratte verweist nie auf glückliche Umstände.«

»Das ist mir auch schon aufgefallen.«

»Besonders nicht, wenn ihre Nase nach Norden weist und ihr Schwanz nach Osten.«

Es dauerte nicht lange, da strömten durstige Männer durch die Tür, als wäre Ivy die Fata Morgana einer Oase gewesen, die sie den ganzen Tag verfolgt hatten. Nur wenige setzten sich an den Tresen, die anderen ließen sich von ihr an den Tischen bedienen.

Obgleich die gutbürgerliche Kundschaft der Kneipe durchaus nicht verschwenderisch veranlagt war, überstieg Ivys Einkommen an Trinkgeld das, was sie mit einem Doktortitel in Wirtschaftswissenschaft verdient hätte.

Eine Stunde später, um fünf, kam Shirley Trueblood, die zweite Kellnerin, zum Dienst. Shirley war sechsundfünfzig und korpulent, sie duftete nach Jasmin und hatte ihre eigene Gefolgschaft. Gewisse Männer kamen in die Kneipe, weil sie bemuttert werden wollten. Manche Frauen ebenfalls.

Ben Vernon, der tagsüber arbeitende Koch, ging nach Hause, und sein Kollege Ramon Padillo kam an Bord. Es gab lediglich typisches Kneipenfutter: Cheeseburger, Pommes, Chicken Wings, Quesadillas, Nachos und so weiter.

Ramon war aufgefallen, dass sich die scharf gewürzten Sachen an Abenden, an denen Ivy Elgin bediente, besser verkauften als sonst. Die Gäste bestellten mehr Sachen in pfeffriger Tomatensauce, verbrauchten massenhaft kleine Fläschchen Tabasco und ließen sich ihre Burger mit gehackten Chilischoten belegen.

»Ich glaube«, hatte Ramon einmal zu Billy gesagt, »die heizen unbewusst ihren Geschlechtsdrüsen ein, damit sie bereit sind, falls Ivy sie anmachen sollte.«

»Niemand in diesem Laden hat bei ihr eine Chance«, hatte Billy ihm versichert.

»Das weiß man nie«, hatte Ramon verschämt bemerkt.

»Sag mir bloß nicht, du lässt dir auch Chili in den Burger packen!«

»So viel, dass ich manchmal furchtbares Sodbrennen kriege«, hatte Ramon gesagt. »Aber ich bin bereit

Gemeinsam mit Ramon kam Steve Zillis, der zweite Barkeeper, dessen Schicht sich um eine Stunde mit der von Billy überschnitt. Mit seinen vierundzwanzig Jahren war er zehn Jahre jünger als Billy, aber zwanzig Jahre unreifer.

Für Steve bestand der Gipfel des gepflegten Humors aus einem Limerick, der obszön genug war, um erwachsene Männer erröten zu lassen.

Er konnte mit der Zunge einen Knoten in einen Kirschstängel machen, sein rechtes Nasenloch mit Erdnüssen laden, um diese treffsicher in ein Zielglas abzufeuern, sowie Zigarettenrauch aus dem rechten Ohr blasen.

Wie üblich schwang sich Steve elegant über die Schwingtür im Tresen, statt hindurchzugehen. »Sei mir gegrüßt, Blutsbruder!«, sagte er. »Na, was geht ab?«

»Noch eine Stunde«, sagte Billy, »dann gehört mein Leben wieder mir.«

»Das ist das Leben«, protestierte Steve. »Hier sind wir im Mittelpunkt der Action!«

Das Tragische an Steve Zillis war, dass er meinte, was er sagte. Für ihn war diese stinknormale Kneipe eine Bühne voller Glamour.

Nachdem er sich eine Schürze umgebunden hatte, schnappte er sich aus einer Schale drei Oliven, jonglierte sie in erstaunlichem Tempo und fing sie dann nacheinander mit dem Mund auf.

Als zwei am Tresen hockende Besoffene laut klatschten, sonnte Steve sich in ihrem Applaus, als wäre er der Startenor eines renommierten Opernhauses und hätte soeben die Verehrung eines hochgebildeten Publikums erworben.

Obwohl es ziemlich nervig war, mit Steve Zillis zusammenzuarbeiten, verging die letzte Stunde von Billys Schicht wie im Flug. Beide Barkeeper waren ständig beschäftigt, weil die Nachmittagspichler sich mit dem Heimweg Zeit ließen, während schon die Abendsäufer eintrafen.

In dieser Übergangszeit fühlte Billy sich an seinem Arbeitsplatz am wohlsten. Die Gäste waren noch bei klarem Verstand und vergnügter als später, wenn der Alkohol sie melancholisch machte.

Weil die Fenster nach Osten gingen und die Sonne nun im Westen stand, lag ein ganz weiches Licht auf den Fensterscheiben. Die Deckenlampen warfen einen kupferfarbenen Glanz auf das dunkelrote Mahagoni der Täfelung und der Sitznischen.

Die Luft war schwanger vom Duft des mit schalem Bier, Kerzenwachs, Cheeseburgern und gebratenen Zwiebelringen imprägnierten Parketts. Trotzdem gefiel es Billy nicht gut genug, als dass er nach dem Ende seiner Schicht geblieben wäre. Pünktlich um sieben trat er aus der Tür. Wäre er Steve Zillis gewesen, dann hätte er aus seinem Abgang eine Show gemacht. So aber verschwand er so still und leise wie ein Gespenst, das an seinem Schlupfwinkel entmaterialisiert.

Draußen waren kaum noch zwei Stunden sommerliches Tageslicht übrig. Der Himmel war im Osten ekstatisch blau, im Westen, wo die Sonne ihn noch bleichte, deutlich blässer.

Als Billy auf seinen SUV zuging, fiel ihm auf, dass unter dem Scheibenwischer der Fahrerseite ein weißer Zettel steckte.

Er setzte sich hinters Lenkrad, ohne die Tür zu schließen, und faltete den Zettel auf. Statt Werbung für eine Autowaschanlage oder eine Reinigungsfirma entdeckte er eine sauber per Computer getippte Botschaft:

Wenn du diese Nachricht nicht zur Polizei bringst, um sie einzuschalten, werde ich irgendwo in Napa County eine hübsche blonde Lehrerin umbringen.

Wenn du diese Nachricht zur Polizei bringst, werde ich stattdessen eine ältere Frau umbringen, die sich sozial engagiert.

Dir bleiben sechs Stunden, um dich zu entscheiden. Du hast die Wahl.

Billy spürte in diesem Augenblick nicht, wie der Boden unter ihm zur Seite kippte, doch das war der Fall. Der Absturz hatte zwar noch nicht begonnen, aber das würde er tun. Bald.

2

Micky Maus erwischte eine Kugel in der Kehle.

In rascher Folge krachte die 9-mm-Pistole weiter dreimal. Diese Schüsse zerfetzten das Gesicht von Donald Duck.

Lanny Olsen, der Schütze, wohnte am Ende einer rissigen Asphaltstraße an einem steinigen Hang, wo niemals Trauben gewachsen wären. Er hatte keinen Blick auf die berühmten Weinberge im Napa Valley.

Zum Ausgleich für die wenig mondäne Adresse wurde das Grundstück von wunderschönen Pflaumenbäumen und riesigen Ulmen beschattet. Wilde Azaleen lieferten Farbtupfer. Außerdem war es abgeschieden.

Der nächste Nachbar wohnte so weit entfernt, dass Lanny täglich rund um die Uhr hätte Partys feiern können, ohne irgendjemanden zu stören. Das nützte ihm allerdings nichts, weil er normalerweise schon um halb zehn ins Bett ging. Zu seiner Vorstellung einer Party gehörten ein paar Sixpacks Bier, eine Tüte Chips und ein Pokerspiel.

Für Schießübungen war die Lage seines Hauses jedoch ideal. Er war der sicherste Schütze in der Truppe des Sheriffs von Napa County.

Als Junge hatte er Cartoonist werden wollen. Talent dafür hatte er durchaus. Die originalgetreuen Porträts von Micky Maus und Donald Duck, die an den als Kugelfang dienenden Heuballen befestigt waren, stammten von Lannys Hand.

Lanny nahm das verbrauchte Magazin aus seiner Pistole. »Du hättest mal gestern hier sein sollen«, sagte er. »Ich hab nacheinander zwölf Road Runnern ’nen Kopfschuss verpasst, ohne eine einzige Patrone zu vergeuden.«

»Wile E. Coyote wäre begeistert gewesen«, sagte Billy. »Schießt du eigentlich auch mal auf stinknormale Zielscheiben? «

»Das macht doch keinen Spaß.«

»Wie steht es mit den Simpsons?«

»Homer, Bart und so weiter, die kommen alle dran – bis auf Marge. Die nehme ich nie.«

Vielleicht hätte es Lenny bis auf die Kunstakademie geschafft, hätte sein dominanter Vater Ansel nicht darauf bestanden, dass sein Sohn der Familientradition folgte und zur Polizei ging, wie schon Ansel in die Fußstapfen seines Vaters getreten war.

Pearl, Lannys Mutter, hatte so gut für ihn gesorgt, wie ihre Krankheit es zuließ. Als Lanny sechzehn war, hatte man bei ihr ein malignes Lymphom diagnostiziert.

Die Bestrahlungen und die Chemotherapie laugten sie aus. Selbst in den Perioden, in denen der Krebs unter Kontrolle war, erholte sie sich nicht vollständig.

Aus Sorge, dass sein Vater nicht als Krankenpfleger taugte, verzichtete Lanny darauf, es auf der Kunstakademie zu versuchen. Er blieb zu Hause, meldete sich bei der Polizei und kümmerte sich um seine Mutter.

Unerwartet starb Ansel dann als Erster. Als er einen Autofahrer anhielt, um ihm einen Strafzettel wegen Geschwindigkeitsübertretung zu verpassen, griff dieser zu seiner Achtunddreißiger und hinderte ihn mit einem Schuss aus nächster Nähe daran.

Obwohl Pearl in ungewöhnlich jungem Alter an einem Lymphom erkrankt war, lebte sie erstaunlich lange damit. Inzwischen lag ihr Tod aber auch schon zehn Jahre zurück.

Damals war Lanny sechsunddreißig gewesen, also noch jung genug, um sich neu zu orientieren und doch noch auf die Akademie zu gehen. Seine Trägheit hatte sich jedoch als stärker erwiesen als der Wunsch nach einem neuen Leben.

Er hatte das Haus geerbt, einen hübschen viktorianischen Bau mit aufwändigen Holzdekorationen und einer Veranda ringsum, für dessen makellosen Zustand er sorgte. Da er seinen Beruf als Job und nicht als Leidenschaft sah, und da er keine eigene Familie hatte, blieb ihm viel Zeit für Renovierungsarbeiten.

Während Lanny ein neues Magazin in die Pistole schob, zog Billy den Zettel mit der Botschaft aus der Tasche. »Sag mal, was hältst du davon?«, fragte er.

Lanny las die beiden Absätze. Da deshalb Stille herrschte, kehrten die Krähen in die höheren Äste der Ulmen zurück.

Die Botschaft entlockte Lanny weder ein Stirnrunzeln noch ein Lächeln, obwohl Billy das eine oder das andere erwartet hatte. »Wo hast du das her?«, fragte Lanny lediglich.

»Das hat mir jemand unter den Scheibenwischer geklemmt. «

»Wo stand der Wagen?«

»Vor der Kneipe.«

»War ein Umschlag dabei?«

»Nein.«

»Ist dir aufgefallen, ob jemand dich beobachtet hat? Als du den Zettel an dich genommen und gelesen hast, meine ich.«

»Niemand.«

»Was hältst du davon?«

»Die Frage hab ich eigentlich dir gestellt«, rief Billy in Erinnerung.

»Ein Jux. Ein kranker Scherz.«

Billy starrte auf die ominösen Zeilen. »So hab ich zuerst auch reagiert, aber dann …«

Lanny trat zur Seite und postierte sich vor eine Reihe neuer Heuballen, auf denen Zeichnungen von Elmer Fudd und Bugs Bunny befestigt waren. »Aber dann hast du dich gefragt: Was wäre, wenn?«

»Hättest du das nicht getan?«

»Doch, klar. Das tut jeder Cop ständig, sonst beißt er früher ins Gras als nötig. Oder er drückt ab, wenn er es nicht tun sollte.«

Es war noch nicht lange her, da hatte Lanny einen renitenten Betrunkenen angeschossen, den er für bewaffnet gehalten hatte. Dabei hatte der Kerl bloß ein Handy geschwenkt.

»Aber solche Fragen kann man sich nicht ewig stellen«, fuhr er fort. »Man muss sich auf seinen Instinkt verlassen, und da sagt deiner dir doch dasselbe wie meiner. Es ist ein Jux. Außerdem hast du doch ’nen Verdacht, wer es getan hat, oder?«

»Steve Zillis«, sagte Billy.

»Eben.«

Lanny nahm eine Position ein, bei der das rechte Bein zur Balance ein Stück zurückgestellt und das linke Knie gebeugt war. Die Pistole hielt er mit beiden Händen. Er holte tief Luft, dann durchlöcherte er Elmer fünfmal, während aus den Bäumen ein Schrapnell aus Krähen explodierte und sich in den Himmel schwang.

Nachdem Billy vier tödliche Treffer und eine Verwundung gezählt hatte, sagte er: »Die Sache ist bloß so … ich hab nicht den Eindruck, dass Steve so was tun würde – oder tun könnte.«

»Wieso nicht?«

»Er ist ein Typ, der in der Tasche eine kleine Gummiblase mit sich herumträgt, um damit laut zu furzen, wenn er das gerade für lustig hält.«

»Was willst du damit sagen?«

Billy faltete den Zettel zusammen und steckte ihn in seine Brusttasche. »Für Steve kommt mir so etwas zu komplex vor, zu … subtil.«

»Der gute Steve ist tatsächlich so subtil wie ein Vorschlaghammer«, sagte Lanny, ging wieder in Stellung und verwendete die zweite Hälfte seines Magazins auf Bugs Bunny, dem er ebenfalls fünf tödliche Treffer zufügte.

»Was ist, wenn es ernst gemeint ist?«, fragte Billy.

»Ist es nicht.«

»Aber wenn doch?«

»Solche Spielchen spielen irre Mörder nur im Kino. Im wahren Leben bringen sie einfach jemanden um. Es geht ihnen um Macht und manchmal auch um gewaltsamen Sex, nicht darum, irgendjemanden mit Denksportaufgaben oder Rätseln zu veräppeln.«

Auf dem Rasen lagen ausgeworfene Patronenhülsen. Die untergehende Sonne polierte ihr Messing zu blutigem Gold.

Lanny merkte offenbar, dass er Billys Zweifel damit immer noch nicht gestillt hatte. »Selbst wenn es ernst gemeint wäre, was es nicht ist, was könntest du dann unternehmen?«

»Blonde Lehrerinnen, ältere Damen.«

»Irgendwo in Napa County.«

»Genau.«

»Unser County ist zwar nicht San Francisco«, sagte Lanny, »aber eine menschenleere Wüste ist es auch nicht. ’ne Menge Leute in ’ner Menge Orte. Selbst wenn man die Leute des Sheriffs und sämtliche anderen Polizeikräfte zusammenzählt, hätte man nicht genug Personal, um alle infrage kommenden Personen zu beschützen.«

»Man braucht sie ja nicht alle zu beschützen. Schließlich bezeichnet er sein Ziel genau: eine hübsche blonde Lehrerin.«

»Das ist eine Geschmacksfrage«, widersprach Lanny. »Gut möglich, dass du bestimmte blonde Lehrerinnen für hübsch hältst, während ich sie ganz grässlich finde.«

»Ich wusste gar nicht, dass du an Frauen so hohe Anforderungen stellst.«

Lanny grinste. »Bin eben anspruchsvoll.«

»Abgesehen davon gibt’s da auch noch die ältere Frau, die sich sozial engagiert

Lanny steckte das dritte Magazin in die Pistole. »Viele ältere Frauen engagieren sich sozial. Schließlich stammen sie aus einer Generation, in der man sich noch um seine Nachbarn gekümmert hat.«

»Also wirst du überhaupt nichts unternehmen?«

»Was soll ich deiner Meinung nach denn tun?«

Einen Vorschlag hatte Billy nicht parat, nur eine Bemerkung: »Jedenfalls hab ich den Eindruck, dass wir was unternehmen sollten

»Die Polizei ist von Natur aus darauf eingestellt, zu reagieren, statt die Initiative zu ergreifen.«

»Dann muss er zuerst jemanden umbringen?«

»Der wird überhaupt niemanden umbringen.«

»Aber er behauptet es«, wandte Billy ein.

»Es ist ein Jux. Offenbar hat Steve Zillis seine infantile Phase endlich hinter sich gelassen.«

Billy nickte. »Wahrscheinlich hast du recht.«

»Bestimmt hab ich recht.« Lanny deutete auf die noch unversehrten bunten Figuren, die an der dreifachen Mauer aus Heuballen befestigt waren. »Und jetzt will ich die versammelte Mannschaft von Shrek abschießen, bevor ich wegen der Dämmerung nicht mehr richtig zielen kann.«

»Ich dachte, das wären gute Filme.«

»Ich bin kein Kritiker«, sagte Lenny ungeduldig, »bloß jemand, der sich ein wenig amüsiert und seine beruflichen Fähigkeiten auf Vordermann bringt.«

»Okay, okay, ich geh ja schon. Also, dann bis Freitag beim Poker.«

»Bring was mit«, sagte Lanny.

»Was denn?«

»José bringt seinen Schmortopf mit Schweinefleisch und Reis mit, Leroy fünf Arten Salsa und eine Menge Maischips. Wie wär’s, wenn du deine berühmten Tamales mitbringst?«

Bei diesen Worten zog Billy eine Grimasse. »Das hört sich ja an wie ein paar alte Jungfern, die sich zum Stricken treffen. «

»Wir sind zwar traurige Tröpfe«, sagte Lanny, »aber tot sind wir immerhin noch nicht.«

»Woher wissen wir das eigentlich?«

»Wenn wir tot und in der Hölle wären, würde man mir nicht den Spaß erlauben, den ich beim Cartoonzeichnen hab. Und im Himmel sind wir definitiv nicht.«

Während Billy auf seinen in der Einfahrt stehenden Wagen zuging, ballerte Lanny Olsen bereits auf Shrek, Prinzessin Fiona, Esel und Genossen.

Der Himmel im Osten war saphirblau. Am westlichen Gewölbe franste das Blau bereits aus. Darunter kam Gold zum Vorschein, gemischt mit einem Anflug von roter Kreide.

An seinem Wagen angelangt, blieb Billy stehen und beobachtete noch einen Augenblick, wie Lanny seine Treffsicherheit vervollkommnete und zum tausendsten Mal versuchte, seinen unerfüllten Traum abzutöten, Cartoonist zu werden.

3

Eine verzauberte Prinzessin, die in einem Schlossturm ruhte und die Jahre verträumte, bis sie von einem Kuss geweckt wurde, hätte nicht schöner sein können als Barbara Mandel, wie sie da in ihrem Bett lag.

Im sanften Lampenschein breitete sich ihr blondes Haar auf dem Kissen aus, so leuchtend wie aus einem Schmelzkessel gegossenes Gold.

Billy Wiles, der am Bett stand, konnte sich nicht vorstellen, dass eine Porzellanpuppe einen so blassen und makellosen Teint hatte wie Barbara. Ihre Haut sah durchscheinend aus, als würde das Licht die Oberfläche durchdringen und das Gesicht von innen her erhellen.

Hätte Billy die dünne Decke und das Laken angehoben, so hätte er eine Schmach gesehen, die man verzauberten Prinzessinnen nicht zufügte. In die Bauchdecke war operativ eine PEG-Sonde eingesetzt worden.

Die Ärzte hatten eine kontinuierliche künstliche Ernährung angeordnet. Mit leisem Summen lieferte eine Pumpe eine immerwährende Mahlzeit.

Fast vier Jahre lag Barbara nun schon im Koma.

Ihr Zustand war nicht ganz extrem. Gelegentlich gähnte oder seufzte sie, oder die rechte Hand bewegte sich zum Gesicht, zum Hals, zur Brust.

Manchmal sagte sie sogar etwas, allerdings nie mehr als ein paar kryptische Worte, die nicht an jemanden im Zimmer gerichtet waren, sondern an irgendein Phantom in ihren Gedanken.

Selbst wenn sie etwas sagte oder die Hand bewegte, nahm sie nichts von ihrer Umgebung wahr. Auf äußere Reize reagierte sie nicht.

Im Augenblick lag sie ruhig da. Die Stirn war so glatt wie in einem Eimer stehende Milch, die Augen unter den Lidern bewegten sich nicht, die Lippen standen leicht offen. Kein Gespenst hätte lautloser atmen können.

Aus der Jackentasche zog Billy ein kleines Notizbuch mit Spiralbindung. Ein kurzer Kugelschreiber steckte daran. Er legte beides auf den Nachttisch.

Der kleine Raum war einfach möbliert: ein Krankenbett, ein Nachttisch, ein Stuhl. Vor langem schon hatte Billy zusätzlich einen Barhocker mitgebracht, damit er hoch genug sitzen konnte, um über Barbara zu wachen.

Das Pflegeheim bot eine gute Versorgung, stellte jedoch eine äußerst nüchterne Umgebung dar. Die Hälfte der Patienten befand sich im Zustand der Genesung, die andere Hälfte wurde einfach nur eingelagert.

Auf dem Hocker neben dem Bett sitzend, berichtete Billy Barbara von seinem Tag. Er begann mit einer Beschreibung des Sonnenaufgangs und endete mit Lannys Schießstand voller Comicfiguren.

Obgleich Barbara nie auf irgendetwas reagierte, das er sagte, vermutete Billy, dass sie ihn hinter ihrem tiefen Bollwerk hörte. Er musste einfach glauben, dass seine Gegenwart, seine Stimme, seine Zuneigung sie trösteten.

Als er nichts mehr zu sagen hatte, betrachtete er sie nur noch. Er sah sie nicht immer so, wie sie jetzt war. Manchmal sah er sie auch so, wie sie einmal gewesen war – lebhaft, munter – und wie sie noch hätte sein können, wäre das Schicksal gütiger zu ihr gewesen.

Nach einer Weile zog er die zusammengefaltete Botschaft aus der Brusttasche und las sie noch einmal vor.

Er war kaum damit fertig, als Barbara Worte murmelte, deren Bedeutung fast schneller dahinschmolz, als das Ohr sie hören konnte: »Ich will wissen, was es sagt …«

Elektrisiert glitt Billy von seinem Hocker und beugte sich über das Seitengitter, um sie genauer anzuschauen.

Noch nie hatte irgendetwas, das sie in ihrem Koma gemurmelt hatte, sich scheinbar auf etwas bezogen, das er bei seinen Besuchen gesagt oder getan hatte. »Barbara?«

Sie blieb still liegen, mit geschlossenen Augen und leicht offenen Lippen, scheinbar nicht lebendiger als ein Objekt der Trauer auf dem Katafalk.

»Kannst du mich hören?«

Mit bebenden Fingerspitzen berührte er ihr Gesicht. Sie reagierte nicht.

Obwohl er ihr den Inhalt der seltsamen Botschaft bereits mitgeteilt hatte, las er den Zettel noch einmal vor, falls Barbaras Worte sich tatsächlich darauf bezogen hatten.

Als er fertig war, reagierte sie nicht. Er nannte sie beim Namen, doch sie zeigte keine Regung.

Billy setzte sich wieder auf den Hocker und nahm das kleine Notizbuch vom Nachttisch. Mit dem Kugelschreiber notierte er die sechs Wörter und das Datum, an dem Barbara sie gesprochen hatte.

Für jedes Jahr ihres unnatürlichen Schlafs besaß er ein solches Notizbuch. Alle enthielten nicht mehr als hundert acht mal zwölf Zentimeter große Seiten, doch keines war voll, da sie nicht bei jedem Besuch etwas sagte. Im Gegenteil, meist war das mitnichten der Fall.

Ich will wissen, was es sagt.

Nachdem er diese ungewöhnlich vollständige Bemerkung datiert hatte, blätterte er in dem Buch und studierte einige der anderen Bruchstücke, ohne auf das jeweilige Datum zu achten.

Lämmer können nicht verzeihen
rotgesichtige kleine Jungen
meine kindliche Zunge
die Autorität seines Grabsteins
Papa, Pollen, Pony, Pflaumen, Prisma
Zeit der Dunkelheit
es schwillt voran
große Wogen
alles flitzt davon
dreiundzwanzig, dreiundzwanzig …

In keinem dieser Worte fand Billy irgendeinen Zusammenhang oder einen Hinweis, was sie bedeuten mochten.

Im Lauf der Wochen und Monate spielte Barbara von Zeit zu Zeit ein Lächeln um die Lippen. Zweimal hatte Billy sogar erlebt, wie sie leise gelacht hatte.

An anderen Tagen verstörten ihre geflüsterten Worte ihn jedoch. Manchmal erschreckten sie ihn sogar.

zerrissen, verwundet, keuchend, blutend
Blut und Feuer
Beile, Messer, Bajonette
Rot in ihren Augen, ihren wilden Augen

Selbst solche bestürzenden Bemerkungen äußerte Barbara nicht in betrübtem Tonfall. Sie kamen mit demselben ausdruckslosen Murmeln von ihren Lippen wie alles andere.

Dennoch war Billy beunruhigt. Er machte sich Sorgen, dass Barbara sich am Grunde ihres Komas an einem dunklen, furchterregenden Ort befand, wo sie sich gefangen und bedroht fühlte – und allein.

Nun legte sich ihre Stirn in Falten, und sie sagte: »Das Meer …«

Während Billy das niederschrieb, fuhr sie fort: »Was es immer …«

Die Stille im Raum wurde tiefer. Es war, als verdichtete die Atmosphäre sich so sehr, dass alle Strömungen aus der Luft gepresst wurden, damit Barbaras leise Stimme bis zu Billy vordrang.

Ihre rechte Hand bewegte sich zu ihren Lippen, wie um die Struktur der dort entstehenden Wörter zu betasten. »Was es immer wieder sagt.«

So zusammenhängend hatte sie sich in ihrem Koma noch nie ausgedrückt, und nur selten hatte sie während eines Besuchs so viel gesagt.

»Barbara?«

»Ich will wissen, was es sagt … das Meer.«

Die Hand bewegte sich zur Brust, und die Falten auf der Stirn verschwanden. Die Augen, die sich beim Sprechen unter den Lidern bewegt hatten, wurden wieder starr.

Mit gehobenem Kugelschreiber wartete Billy, doch nun war Barbara so still wie das ganze Zimmer. Wieder wurde die Stille tiefer, bis er das Gefühl hatte, nun gehen zu müssen, damit er nicht das Schicksal einer in Bernstein eingeschlossenen Fliege erlitt.

In diesem Schweigen würde Barbara nun stunden- oder tagelang liegen, vielleicht auch für immer.

Er küsste sie, aber nicht auf den Mund. Das wäre ihm wie eine Schändung vorgekommen. Ihre Wange war weich und kühl unter seinen Lippen.

Drei Jahre, zehn Monate und vier Tage lag sie nun schon in diesem Koma, in dem sie einen Monat nach dem Tag versunken war, an dem sie von Billy den Verlobungsring überreicht bekommen hatte.