Über dieses Buch

Cover

Schon als Kind packte ihn das Entdeckungsfieber. In Frankreichs Auftrag reist Pierre Savorgnan de Brazza durch Gabun, Angola, Algerien, in den Kongo, an die Ufer des Tanganjikasees und nach Sansibar. Als er später der brutalen Gewaltherrschaft der kolonialen Regimes begegnet, wird sein Bericht im Safe des Ministeriums weggesperrt.

Patrick Deville

Patrick Deville (*1957) studierte Literatur und Philosophie. Er lebte im Nahen Osten, in Afrika und bereiste Lateinamerika. Seine Werke wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem als »bester Roman des Jahres« der Zeitschrift Lire, mit dem Fnac-Preis und dem Prix Femina.

Holger Fock (*1958) studierte Theaterwissenschaft, Germanistik und Philosophie. Er übersetzt seit 1983 französische Literatur, u. a. Gegenwartsautoren wie Andreï Makine, Cécile Wajsbrot (beide zusammen mit Sabine Müller), Pierre Michon und Antoine Volodine. Er lebt bei Heidelberg.

Sabine Müller (*1959) studierte Germanistik, Philosophie und Pädagogik. Sie übersetzt aus dem Französischen und Englischen, u. a. Werke von Andreï Makine, Cecile Wajsbrot, (beide zusammen mit Holger Fock), Erik Orsenna, Philippe Grimbert, Annie Leclerc und Alain Mabanckou.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Patrick Deville

Äquatoria

Auf den Spuren von Pierre Savorgnan de Brazza

Roman

Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller

E-Book-Ausgabe

Bilgerverlag @ Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book des Bilgerverlags erscheint in Zusammenarbeit mit dem Unionsverlag.

Die Originalausgabe erschien 2009 bei Éditions du Seuil, Paris.

Die deutsche Erstausgabe erschien 2013 im Biligerverlag, Zürich.

Die Übersetzung durch Holger Fock & Sabine Müller wurde vom CNL (Centre National du Livre) unterstüzt.

Originaltitel: Equatoria

© der Originalausgabe Éditions du Seuil, Paris, 2009

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Sven Schrape

ISBN 978-3-293-30992-0

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Darin nämlich besteht das Exil, die Fremde, dass man in den wenigen hellsichtigen Stunden, die der Ablauf der menschlichen Lebenszeit einem gewährt, Stunden, in denen die Gewohnheiten des zurückgelassenen Landes verblassen, ohne dass man durch die anderen, neuen, schon abgestumpft ist, dass man in diesen Stunden das Dasein, wie es wirklich ist, unerbittlich unter die Lupe nehmen muss.

CÉLINE, REISE ANS ENDE DER NACHT

Für Brazza
und andere Helden, Verräter
und Unentschlossene

In Gabun

In Port-Gentil

Am Montag, den 2. Januar 2006, ist die Luft über Kap Lopez an der Mündung des Ogowe erstaunlich klar und durchsichtig. Es ist Ebbe. Auf der Suche nach Weichtieren und anderen heiß begehrten Kleintieren rennen elegante Säbelschnäbler über den Spiegel des Schlicks. In der Ferne sieht man, wie die Tanker beladen werden. Je voller die Schiffsbäuche werden, umso tiefer sinken die roten Wasserlinien in das tiefblaue Wasser am Terminal von Sogara.

Brazza liegt noch immer in seinem Grab in Algier.

Irgendwelche Schwierigkeiten – architektonischer oder diplomatischer Art – verzögern immer wieder den Bau seines Mausoleums am Ufer des Kongo-Flusses.

Bohrgeräte, außer Betrieb oder schrottreif, von Pflanzen überwuchert. Einige bizarre Palmen. Auf der Terrasse einer kümmerlichen und billigen Kneipe am Südatlantik, die den zweifellos nur momentanen Vorzug hat, dass sie über keine Musikanlage verfügt, geht der Tag zu Ende. Geführt wird die Kneipe von einem jungen Mädchen, das kerzengerade hinter der Kasse sitzt und einen Turban trägt. Wie ein Zepter schwingt sie eine dieser elektrischen Fliegenklatschen, die in Gabun sehr in Mode sind. Verbrannte Flügel und ein Kurzschluss sorgen für einen Knall und einen violetten Blitz. Ich schlage L’Union auf, die Tageszeitung von Gabun, die für die Gäste ausliegt.

Der Leser erfährt daraus, dass der Präsident der Republik Frankreich im Zuge seiner Neujahrsansprache für das Jahr 2006 soeben verkündet hat, er werde einen ziemlich dummen Text zurückziehen, nämlich jenen Absatz einer Gesetzesnovelle, in dem die positive Rolle gerühmt wurde, die Frankreich in der Vergangenheit in seinen Überseegebieten gespielt habe. Als Apologie der Kolonialzeit hat besagter Absatz im französischsprachigen Afrika seit nahezu einem Jahr für Wirbel gesorgt.

Die Prinzessin schraubt den Griff ihrer Fliegenklatsche ab und reiht zum Zeichen, dass der Laden bald schließt, die Batterien auf der Theke auf.

Als ich ins Hotel Hirondelle zurückkomme, wartet dort eine Nachricht von Sizilianer-Ko auf mich. Er ist fort, um seine Baumstämme in den Holzhafen zu flößen, und wartet auf die Flut. Die Nacht wird er auf dem Floß verbringen, mitten im Fluss. Morgen wollen wir dann die Piroge nehmen. Er bittet mich, Brot, Bananen und eine Stange Zigaretten für ihn zu kaufen.

In der kongolesischen Presse

Eines steht fest: Im Kongo ist de Brazza nicht unter den Seinen. Aber erst in fünfzig Jahren, wenn neue Generationen von Kongolesen leben, wird man seine Asche nach Frankreich, Italien oder Gabun schicken können.

Eugène Sama, wissenschaftlicher Assistent

La Semaine africaine

Seekarten

Der Mann, dem einige Leute heute ein Mausoleum errichten wollen – während andere vorschlagen, seine Gebeine auf den Grund des Flusses zu werfen –, ist ein für seine siebzehn Jahre viel zu ernsthafter Junge, ein langer Schlaks, den die Marineschule in Brest als Gaststudenten angenommen hat.

Der junge Römer befindet sich im Finistère im Exil. Die Familie seines Vaters Ascanio behauptet, von Kaiser Severus abzustammen, und die seiner Mutter schenkte Venedig mehrere Dogen. Das Abendlicht überzieht die Reede und den Rumpf der Borda mit Kupfer. Er klappt sein Buch zu und streckt sich auf seiner Pritsche an der schwitzenden Wand aus. Fünf Jahre zuvor steht er in der Bibliothek des Familiensitzes Castel Gandolf, wie einst umgeben von Sonnenstrahlen, in denen Staubkörnchen tanzen, von Regalen, in denen die Bücher von Walter Scott stehen, einem Freund seines Vaters, von Erdgloben, polierten Tischen und seinen mit Vorhängeschlössern gesicherten Seetruhen; man wartet auf die Abreise. Er betrachtet die Seekarten.

Sie stammen aus dem Besitz eines Großonkels, der Ende des 18. Jahrhunderts eine Seefahrt nach Indien, China und Japan unternommen hatte. Die anderen Räume hat sein Vater Ascanio nach der Rückkehr von seinen Reisen nach Griechenland, in die Türkei, nach Ägypten, wo ihn seine Fahrt nilaufwärts bis in den Sudan geführt hatte, mit Fresken ausgestattet. Pietro Savorgnan di Brazzà ist zwölf Jahre alt. Sein Name trägt noch einen gewichtigen Akzent. Er liebt Vögel über alles. Sein Hauslehrer, Dom Paolo, der ihm ein einfaches und strenges Leben verordnet hat, mit Unterricht in Latein, Griechisch und Französisch, aber auch in den praktischen Fächern Rudern und Schwimmen, Astronomie und Ornithologie, kommt zusammen mit einem Freund der Familie, dem Fregattenkapitän de Montaignac, in die Bibliothek. Die Koffer werden verstaut, der Kutscher steigt auf den Bock, der Schotter knirscht unter den Hufen und den eisenbeschlagenen Rädern. Brazzà verlässt Rom, um nach Paris ins Jesuitenkolleg in der Rue des Postes zu gehen. Er möchte Seefahrer werden. Er wird ein Held sein.

Ein Entdecker von Flüssen.

Er gehört zur letzten Generation der Menschheit, für die das Netz der weltweiten Wasserwege noch nicht vollständig auf Landkarten verzeichnet ist.

Für die Geographen wird er der Mann sein, der die Liste der Wasserläufe und Flüsse auf der Erde um die Ströme Ogowe und Ubangi, um die Flüsse Lékoni, Mpassa, Lefini, Alima und Sangha bereichert hat.

Für die Ornithologen ist er der Erste, der eine auf dem Bateke-Plateau endemische Schwalbenart beschreibt: die Brazza-Schwalbe (Phedinopsis brazzae).

Für die Historiker ist er der Mann, der mit dem Bug seiner Piroge den Sklavenhandel und die Sklaverei zurückdrängte und in dessen Gefolge der Kongo kolonisiert wurde.

Den Ogowe entdecken

Es ist ein Zeitalter, in dem die weißen Flecken auf den Landkarten wegschmelzen wie Schnee. Man kann sich vorstellen, wie ungeduldig diese jungen Leute, die 1868 in die Marineschule von Brest eintreten, darauf warten, Europa den Rücken zu kehren, Meere und Kontinente zu durchqueren, die immer kleiner werdenden weißen Flecken zu schwärzen. Doch erst müssen sie vier Jahre in diesen feuchten Mauern ausharren, abends ihre jugendlichen Grübeleien teilen. Ein Mitschüler Savorgnan di Brazzàs an der Kadettenanstalt ist Julien Viaud. Bald ändern die beiden ihre Namen und wählen sich den gleichen Vornamen. Der eine wird sich Pierre Loti nennen, der andere Pierre de Brazza.

Damit es alle diese Seemänner in die Ferne lockt, hat die Französische Marine in ihrer großen Weitsicht die Marineschule in einer ziemlich grauen Stadt errichtet. Sie starren auf die blaugraue Linie, wo der regnerische Himmel in der Reede versinkt. Julien Viaud schreibt seiner Familie, dass viele Mitschüler daran dächten, sich zu erhängen. Wer überlebt, wird blindlings hinaus in den Busch und auf hohe See stürmen.

Der junge Mann, über den der Entdecker Horn später schreibt, er sei ein Gentleman, so schweigsam wie ein Doge gewesen, erwirbt nach der Niederlage von 1870 die französische Staatsbürgerschaft. Als die beiden Matrosen 1871 zu Offiziersanwärtern ersten Ranges ernannt werden, haben sie ungefähr das Alter Arthur Rimbauds. Dann entscheidet der Zufall darüber, wohin sie abkommandiert werden. Viaud besteigt ein Schiff nach Polynesien, zu den Marquesas-Inseln und nach Tahiti. Später lesen van Gogh und Gauguin in Arles gemeinsam Lotis Ehe und träumen sich in die Südsee. Van Gogh schreibt: »Ich könnte mir sehr gut vorstellen, dass ein Maler heute etwas schafft wie das, was in Pierre Lotis Buch beschrieben wird.«

Aber dann ist es Gauguin, der auf Lotis Spuren zu den Marquesas-Inseln aufbricht.

Im selben Jahr, 1872, in dem Loti im Pazifik kreuzt, tritt Brazza unter dem Kommando von Admiral Quilio, der die Marinedivision Südatlantik befehligt, seinen Dienst an Bord der Vénus an. Zwei Jahre setzt er keinen Fuß an Land. Die beiden Amerika, das Kap … 1873 erfährt er bei einem Zwischenhalt in Gabun vom Tod David Livingstones am Tanganjikasee, dessen mumifizierten Leichnam man bis an die Küste des Indischen Ozeans transportiert hat. Besessen von den Kinderträumen, denen man als Erwachsener hartnäckig nachjagt, fährt der zwanzigjährige Jüngling ein Stück weit die Trichtermündung des Gabun hinauf bis zum Fluss Komo, dann die Küste hinunter bis Kap Lopez und segelt auf einer Piroge auf dem Ogowe bis zum Dorf Angola. Er will derjenige sein, der ins Herz Afrikas vordringt. Ein neuer Livingstone.

Auf dem Ogowe

Sizilianer-Ko ist kein Sizilianer. Er ist ein Fang und Kung-Fu-Meister. Seinen Spitznamen verdankt er seiner Neigung zur Sape, den zweifarbigen Spectator-Schuhen und Filmen mit Al Pacino. An diesem Morgen trägt er ein zerrissenes T-Shirt mit Schmierölflecken und Leinenshorts. Er ist sehr schlechter Stimmung, weil der Außenbordmotor, mit dem die Piroge ausgestattet ist, die ihm der Chef des Forstbetriebs leiht, so schwach ist, dass wir kaum eine Chance haben, vor Einbruch der Nacht Lambarene zu erreichen. Wir laden die beiden Reservekanister mit Treibstoff, Brot und Bananen ins Boot und legen vom Ponton in Port-Gentil ab.

Mehrere Jahre lang war Sizilianer-Ko ein berühmter Discjockey, um den sich die Nachtlokale von Libreville rissen. Als er auf die dreißig zuging und in dem Augenblick, als die Mode des »Coupé-Décalé«-Tanzes aufkam – aber die beiden Ereignisse haben vielleicht gar nichts miteinander zu tun –, hat er sich aus der Hauptstadt und dem Nachtleben verabschiedet und ist in sein Dorf am Ogowe zurückgekehrt. Heute lebt er vom Fischfang (mit Netzen) und vom Flusshandel und ergänzt seine Einkünfte, indem er sich als Flößer verdingt. Zwei Tage und zwei Nächte ab Lambarene schlafen und essen auf den an Diesel-Schubbooten befestigten Flößen. Es handelt sich um Okoumé-Holz, manchmal um Teak, Stämme von einem Meter bis einem Meter achtzig Durchmesser, von denen etwa fünfzig mit Stahlseilen zusammengebunden sind und die in der Mitte des Stroms gesteuert werden müssen. Nachts zünden die Männer Feuer an, halten Schiffswache, um die gefällten, flussabwärts treibenden Bäume zu bewachen. Alkohol ist an Bord verboten, warnt er mich für den Fall, dass ich als Flößer anheuern wollte. Diese Maßnahme verhindert meistens, dass jemand auf dem nassen Holz ausrutscht und in den Fluss stürzt oder mit dem Fuß zwischen zwei tonnenschwere Mahlsteine gerät.

Der Hauptarm ist breit und die Piroge mitten unter der Sonne winzig. Zu beiden Seiten spiegeln sich Armeen stattlicher Bäume in dem gelben und schlammigen Wasser, große rosa Kapokbaumstämme, die von ihren Brettwurzeln im Gleichgewicht gehalten werden und ihren prachtvollen Schmuck an Lianen und Epiphyten, die Bühne für Brüllaffen und Turakos, in den Himmel strecken. Wenn sich der Ogowe dem Ozean nähert, nachdem er mehr als tausend Kilometer mit majestätischer Ruhe rotbraun durch den Smaragddschungel und über brodelnde Stromschnellen geflossen ist, fächert er sich auf, wird müde, langsamer und verliert sich ohne Mündung in einer Fülle von Feuchtwiesen, toten Armen, Mangroven und Lagunen. Und über mehrere Jahrhunderte war es den Orungu gelungen, aus dem Wasserlabyrinth Nutzen zu ziehen und den Sklavenhändlern, die sich an der Küste niedergelassen hatten, die Existenz eines mehr als tausend Kilometer langen Flusses zu verheimlichen.

Im Schatten von Mangobäumen ein Fischerdorf auf einer Insel, ein Ponton, auf den Sizilianer-Ko zusteuert. Vor den Verkaufsständen werden einige Pirogen entladen, Wild gegen Flussfisch getauscht. Auf den Tischen Kerzen, Glühbirnen, Salz, Bier, Schuhe und Celtel-Telefonkarten. In einem Schuppen rosten Diesel- und Benzinkanister. Abgesehen von diesem Handel mit dem zum Leben und zur Flößerei Notwendigen ist der Ogowe weit entfernt davon, dem Warenverkehr zu dienen, von dem diejenigen träumten, die ihn als Erste befuhren.

Brazza ist kein Mann, der sich verzettelt. In den fünf Jahren, in denen er sich seinen Weg nach Osten bahnt, auf zwei Expeditionen in unbekannte Gebiete, fährt er den Ogowe bis zum Fluss Mpassa hinauf, überquert das Bateke-Plateau und die Wasserscheide, fährt den Fluss Lefini hinunter bis zum Kongo, an dessen Ufer er den Stützpunkt gründet, aus dem später Brazzaville wird. Auf den Ogowe hat diese Großtat keine Auswirkung. Der Fluss verschwindet wieder in der Undurchdringlichkeit seiner Urwälder und in unüberwindlichen Wasserfällen. Nur noch Elfenbeinhändler, Pantherjäger und christliche Missionare werden ihn hinauffahren, und höchstens bis Ndjolé.

Anfang des 20. Jahrhunderts versorgen Küstenschiffe von Port-Gentil aus die Holzfäller, Flößer und die verstreuten Missionen: die Mandji der »Compagnie Maritime des Chargeurs Réunis«, dann die Fadji und die Dimboko (erstere mit Kojen, letztere mit Schaukelstühlen). Einige Jahre nach Brazzas frühem Tod fährt ein Ehepaar an Bord des Schaufelraddampfers Alembé den Ogowe hinauf. Wir schreiben den 15. April im Frühjahr 1913. Der kräftig gebaute Mann trägt einen Schnauzbart und einen weißen Anzug, einen Tropenhelm, die Frau ein weißes Kleid und einen Tropenhelm. Die beiden sind die Ersten auf dem Ogowe mit einem Klavier im Gepäck.

Das Ehepaar mit dem Klavier

Die Fahrt geht langsam voran, und das Dampfschiff ist komfortabel. Der große Weiße mit dem Schnauzbart, der auf der Brücke sitzt, füllt die Seiten seines Reisetagebuchs. Wasser und Urwald. Brazzas großer Fluss. Das riesige, von Schlingpflanzen überwucherte Wurzelgeflecht, das in den Fluss vordringt, und das Aufflattern der Vögel.

Drei Wochen zuvor hat das Ehepaar seinen Heimatort in den Vogesen verlassen und ist am Karfreitag in Paris angekommen. Ostern hören sie in der Kirche Saint-Sulpice die Orgelmesse, dann steigen sie in den Zug nach Pauillac, wo die Frachtschiffe in den Kongo auslaufen, und schiffen sich mit siebzig Koffern und einem Klavier auf der Europe ein.

Sie machen Halt auf Teneriffa, begegnen Afrika zum ersten Mal in Dakar, dann in Duala. Nach einem Zwischenstopp in Port-Gentil gehen sie an Bord der Alembé, eines Dampfschiffs, das noch langsamer ist als die von unserem Sizilianer verfluchte Piroge, und der große Weiße mit dem Schnauzbart beendet sein Tagebuch am 15. April 1913 mit folgenden Worten: »Nach Mitternacht wird das Schiff in einer stillen Bucht verankert. Die Passagiere kriechen unter ihre Moskitonetze. Manche schlafen in den Kabinen, andere im Esssaal auf den Polstern, die sich an der Wand entlangziehen und unter denen die Postsäcke liegen.«

Es ist vielleicht schon lange her, dass ein so eindrucksvolles Schiff wie die Alembé den Ogowe hinauffuhr. Heute hält angeblich nur ein klappriger alter Kahn, der häufig auf dem Trockendock liegt, die Linienverbindung aufrecht. Der Sizilianer drosselt den Motor und deutet auf den schwarzen und grauen Horizont. Es regnet an unserem Ziel, das wir nicht vor Einbruch der Nacht erreichen werden. Wir breiten die Persenning über unser Gepäck, über die Kanister mit dem Sprit, zünden eine letzte Zigarette an und fahren weiter dem Regen entgegen, der wenig später auf das Wasser niederprasselt.

Der Sizilianer steuert die Piroge ans Ufer, um unter dem Blätterdach ein wenig Schutz zu finden. Auf dem Wasser schwimmt ein vom Regen gepeitschtes Floß vorbei, über dem die Männer Planen aufgespannt haben. Der Fluss ist braun unter einem braunen Himmel, vor dem sich die Waldsilhouette schwarz abzeichnet. Die Schiffsschraube verfängt sich in dem schwammigen Pflanzenteppich, Insektenschwärme steigen auf. Als wir die Anlegestelle des Markts von Lambarene erreichen, die unter einem Brückenpfeiler liegt, ist die Nacht angebrochen, wir laden unser Gepäck aus und drehen die Piroge um. Den Außenbordmotor bringen wir zu der an der Anlegestelle liegenden Kneipe, deren von Hand geschriebener Name auf einem blau gestrichenen Brett im Eingang zu lesen ist – La Joie du Peuple au Port (»Zur Freude des Hafenvolks«).

In Lambarene

Der Humanismus ist ein wesentlicher Bestandteil echter Zivilisation. Deshalb ist Brazzas Werk so wichtig. Die Geschichte hat ihm aufgegeben, unserer Zeit eine Botschaft zu überbringen. Lassen wir uns von ihr ergreifen und bilden.

ALBERT SCHWEITZER

Am nächsten Morgen wirft der Heizer ab Sonnenaufgang Holzscheite in den Heizkessel und lässt Dampf aufsteigen. Die Passagiere werden vom Rasseln der Ankerkette in der Ankerklüse geweckt, dann hört man das regelmäßige Schlagen der Schaufelräder auf dem grünen Wasser des Flusses. Und den morgendlichen Streit zwischen Papageien und Nashornvögeln. Ein paar Stunden später ist die Alembé in Sichtweite der Insel von Lambarene.

Der bedeutende Marktflecken hat heute seine Abwehrstellung inmitten des Flusses aufgegeben und eine Brücke zum linken Ufer geschlagen, wo sich die Saint-François-Xavier-Kirche der Katholiken erhebt, sowie eine weitere Brücke zum rechten Ufer, wo die bescheidene protestantische Mission damals, 1913, dagegen ankämpfte, vom Urwald verschlungen zu werden. Vom Inselhafen aus musste man einst mit der Piroge übersetzen. Die beiden weiß gekleideten Weißen sitzen, Tropenhelme auf dem Kopf, sehr aufrecht zwischen den Ruderern. Vom Fluss aus zeigt man ihnen dort, auf einem kleinen Hügel, ein Stück gerodetes Buschland und das Haus, das auf sie wartet. Mit Schindeln verkleidet steht es auf rund vierzig Eisenpfählen. Eine Bambusveranda läuft um vier Zimmer. Darunter der Flussarm, der sich stellenweise zu einem See weitet. Rundherum nur Urwald. In der Ferne blaue Berge. Obwohl er Französisch spricht, ist der Bewunderer des Italieners Brazza Elsässer, also damals Deutscher. Er wird es bald zu spüren bekommen.

Schweitzer krempelt die Ärmel hoch, baut einen Hühnerstall in ein Sprechzimmer um, malt die Pläne des Schuppens, der sein Krankenhaus werden soll, auf den Boden, versucht Erdarbeiter anzuwerben, kämpft gegen Insekten und leidet unter der Hitze. Die Mahlzeiten bei Tisch, für die man Gott dennoch dankt, beschränken sich auf Flussfisch mit immer denselben Beilagen: Banane und Maniok. Nach und nach werden die siebzig Koffer übergesetzt, die an der Anlegestelle verblieben waren, das medizinische Material und die Bibliothek. »Große Sorge hatte ich mir um den Transport meines eigens für die Tropen gebauten, mit Orgelpedal versehenen Klaviers gemacht, das mir die Gesellschaft der Bachkonzerte in Paris als ihrem langjährigen Organisten geschenkt hatte, damit ich für die Zukunft gut in Übung bliebe. Es erscheint mir unmöglich, dieses Klavier in seiner schweren, mit Zink ausgeschlagenen Kiste in einem ausgehöhlten Baumstamm – andere Boote gibt es hier nicht – zu transportieren. Eine Faktorei besaß aber ein solches aus einem gewaltigen Baumstamm gehauenes Kanoe, das an die drei Tonnen tragen konnte. Sie lieh es mir. Man hätte darauf fünf Klaviere transportieren können!«

Die äquatoriale Luftfeuchtigkeit hat das Instrument in weniger als einem Jahrhundert ruiniert. Das Holz wellt sich, das Furnier hat sich abgelöst, die Scharniere sind locker und rostig. Das Klavier steht an einer gekalkten Wand in dem kleinen Haus, das einst das erste Krankenhausgebäude war, es ist schmierig, wie von Speichel überzogen, als hätte eine Boa es verschluckt und wieder ausgespien – aber fünfzig Jahre lang sandte es dem Dschungel und den wilden Tieren Fugen und Gegenfugen von überwältigender Schönheit. Ansonsten liegen in dem Raum unter einem rostigen Wellblechdach Skalpelle und Spritzen, weiße Emailleschüsseln mit marineblauem Rand, die Gerätschaften, mit denen hier der große Weiße mit hochgekrempelten Ärmeln und schweißüberströmtem Gesicht Lepra und Cholera, Frambösie und Malaria bekämpfte, Betäubungsmittel einführte und so gegen seinen Glauben und seinen Willen den Rang eines Zauberers oder Magiers des Bwiti-Kults erlangte.

Sein Nachfolger, fünfunddreißig oder vielleicht vierzig Jahre alt, Stoppelfrisur und kurzärmliges Hemd, legt zwei große Schlüsselbünde auf den Versammlungstisch aus braunem Holz. Hinter ihm steht, was von Schweitzers Bibliothek übrig geblieben ist, darunter verschimmelte Ausgaben von Goethe und Tolstoi. Im ehemaligen Schlafzimmer sind einige persönliche Habseligkeiten ausgestellt, Brille und Metronome, mit Notizen versehene Partituren, Schuhe von beeindruckender Größe.

Bei Fourier

Als er mit achtunddreißig in Afrika von Bord geht, in einem Alter, in dem man gewöhnlich nicht mehr auf Abenteuer ausgeht, ist Schweitzer bereit, dort seine Haut zu lassen. Der Koloss mit der eisernen Gesundheit steigt vom Dampfschiff, er hat ein hübsches Hollywoodgesicht, Typ hartgesotten, große Zimmermannshände, er ist Doktor der Philosophie, der Medizin, der Theologie, Spezialist für Paulus von Tarsus. Und er ist ein bekannter Musiker, dessen Konzerte das Krankenhaus finanzieren werden, das kostenlos Hilfe anbietet. Sein Vorbild ist neben Brazza der Schotte Livingstone, zugleich Forschungsreisender, Mann der Tat, Gelehrter, Missionar, Entdecker des Sambesie und Arzt, der jahrelang in unbekannten Gebieten Zentralafrikas verschollen war und sich, als Stanley ihn endlich findet, dafür entscheidet, an Ort und Stelle zu bleiben, wo er bald stirbt.

Flussabwärts in Port-Gentil, wohin Albert Schweitzer gefahren ist, um sich von einem Kollegen behandeln zu lassen, erfährt er im Sommer 1914 zugleich von der Harmlosigkeit seines Tumors, vom Attentat in Sarajevo, dem Eintreten des Bündnisfalls und von der Kriegserklärung. Der Vertreter eines Holzhandel-Unternehmens, Fourier, stellt ihm für die Genesungszeit ein Zimmer zur Verfügung. Dieser gastfreundliche Fourier ist der Enkel des Philosophen, der die Lehre von der universellen Harmonie und dem Phalansterium entwickelt hat.

Vor dessen Haus sieht Schweitzer den Strand und die vorüberziehenden Züge der Flößer, er geht zum Holzhafen und sieht zu, wie die Frachtschiffe beladen werden, diskutiert abends mit Fourier über den utopischen Sozialismus seines Großvaters. Im Hafen besteigen die Männer Schiffe, die sie an die Front bringen. In Lambarene erwarten ihn Probleme anderer Art. In die Bananenplantagen der Dörfer, die an die Mission grenzen und diese mit Nahrungsmitteln versorgen, fallen immer wieder Elefanten ein. Er schiebt mit dem Fuß einige Büschel verdorbener Kochbananen zur Seite, besteigt wieder die Piroge, setzt den Tropenhelm auf, kehrt zur Missionsstation zurück. Er blättert auf der Bambusterrasse in einer Ausgabe der Zeitschrift L’Illustration.

Das Titelblatt zeigt den von Verbänden eingerahmten leeren Blick eines heroischen Frontsoldaten. Orden an der Brust. Schweitzer geht wie jeden Abend zum Fluss hinunter, um eine Pfeife zu rauchen, er beobachtet ein Holzfloß, denkt an den Krieg, fragt sich, wie lange es dauern wird, bis die Bananenstauden wieder wachsen, und nebenbei, wie viel Zeit er noch zu leben hat (sein Leben wird noch lange dauern, länger als das des jungen Kriegshelden Louis zum Beispiel). Der Tag geht zu Ende. Bald ist nur noch der Umriss des weißgekleideten Elsässers am Fluss zu sehen. Eine Landschaft wie am Rhein.

Albert & Louis

Der junge Soldat mit dem Verbandsturban auf dem Titelblatt der Illustration ist der Sohn einer Spitzenklöpplerin aus der Passage Choiseul. Nach kleinen Handlangerjobs verpflichtet er sich mit achtzehn Jahren für drei Jahre und kommt mit dem bescheidenen Dienstgrad eines Feldwebels zum 12. Kürassier-Regiment in der Garnison von Rambouillet. Klar, er hat ein Dach über dem Kopf und eine tägliche Mahlzeit, aber es war keine gute Idee. Jetzt ist er zwanzig, Ordensträger, zu fünfundsiebzig Prozent Invalide. Wenigstens bleibt ihm Verdun erspart. Man steckt den anglophilen Helden in den Botschaftsdienst nach England. Er geht nach Kamerun, wo man die Deutschen hinausgeworfen hat, dann erkundet er die Wälder für die Oubangui-Sangha-Forstgesellschaft, gegen die Brazza zehn Jahre kämpfte, sammelt Elfenbein, erreicht nach einem dreiwöchigen Fußmarsch bei dem Dorf Bikomimbo die Küste. Dort infiziert er sich mit Malaria und Ruhr.

Wer sich für das wundersame Leben von Helden und Verrätern interessiert, könnte sich ebenso gut mit diesen beiden beschäftigen. Albert und Louis könnten für uns den ewigen Streit zwischen Engel und Teufel aufführen, zwischen jenen Paaren, die Plutarch gern zu unserer moralischen Erbauung versammelte. Dazu müssen die beiden genügend Gemeinsamkeiten haben: Ihre werden die Medizin und Afrika sein. Wie Brazza und Loti wollten sie Europa entfliehen. Ihr Leben wurde von Geschichte und Schriftstellerei zerrissen. Der Versuchung zum Heldentum. Der eine war ein Wohltäter, dessen Bücher keiner mehr liest. Der andere ein Genie, dem nationale Ächtung widerfuhr. Der Erste wurde bei seinem Tod mit Ruhm und Ehre überhäuft, der Zweite geteert und gefedert. Für keinen von beiden wird man ein Mausoleum errichten.

Fern von den Explosionen der Geschosse, von der drangvollen Enge in den Schützengräben, dem Schlamm und den Nervengasen widmet sich Albert, der Elsässer, wieder seinem Priesteramt in Lambarene: »Auch hier merke ich den Segen des weltfernen Arbeitens. Viele Bach’sche Orgelstücke lerne ich einfacher und innerlicher auffassen als früher.«

Mit idealistischer Begeisterung für Brüderlichkeit und letztlich auch Misanthropie erlangt er sein eigenes Heil durch Askese, durch das geregelte Leben eines Kant in Königsberg, durch zähes Arbeiten den ganzen Tag über und durch Musik in der Nacht. Bei der Fahrt auf der Piroge über den Ogowe hat er die plötzliche Erkenntnis zu einer Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben, einer aus Hinduismus und Christentum gemischten Lehre, der er das halbe Jahrhundert widmet, das ihm noch zu leben bleibt. Während seiner kurzen, bis zum Waffenstillstand dauernden Internierung in Frankreich schreibt er einen Bericht über seinen ersten Aufenthalt in Lambarene, Zwischen Wasser und Urwald, den er 1923 veröffentlicht, dann kehrt er zurück nach Afrika, in sein Buschkrankenhaus und zu seinem Klavier mit Orgelpedalen.

Der Mann mit dem Turban kehrt seinerseits Afrika den Rücken. Das große Reisefieber hat ihn gepackt. An keinem Ort auf der Welt findet er je Ruhe. Erst praktiziert er als Arzt in Genf. Dann lebt er nacheinander in Liverpool, in Kanada, in den Vereinigten Staaten, schließlich auf Kuba. Er leidet an Schlaflosigkeit, verbringt seine Nächte mit Schreiben. Erzählt von seinem Krieg, seinen Reisen, kritzelt seine Sachen, und 1932 sprengt er den Rahmen der Erzählkunst. Plötzlich ist er weitaus berühmter als Albert, der an seinem Krokodilfluss in Vergessenheit gerät. Man beweihräuchert das antimilitaristische und antikolonialistische Buch. Er setzt noch eins drauf, schreibt eine Hommage an Zola, der für Dreyfus eingetreten war. Man beweihräuchert immer aus schlechten Gründen. Die Reise wird ins Russische übersetzt. Céline gefällt es nicht, dass man ihn beglückwünscht. Es erinnert ihn an seinen Kriegsorden und das Loch in seinem Kopf. Er geht nach Moskau, um dort seine nicht umtauschbaren Rubel durchzubringen. Sobald nichts mehr davon übrig ist, setzt er Segel, stellt seine Tasche auf der Brücke ab und sieht zu, wie die Küste hinter dem Kiel in der Ferne verschwindet. Er arbeitet als Arzt auf einem Dampfer, der zwischen Bordeaux und Neuseeland verkehrt, lebt wieder bei seiner Mutter, verfasst wahnwitzige antisemitische Pamphlete. Es ist wieder Krieg, Zeit des Exodus. Er geht an Bord eines Schiffes, das von Marseille nach Casablanca fährt. Man sieht ihn vor sich im weißen Anzug mit der Kippe im Mund, ein großer dürrer Rabe am Klavier in Rick’s Café, Bogarts amerikanischem Café. Play it again, Louis. Das Schiff wird versenkt. Er schlüpft in eine weiße Weste und arbeitet in einer Ambulanz im Pariser Vorort Bezons.

Auch Albert wird den Zweiten Weltkrieg in seinem Krankenhaus verbringen. Diese beiden kennen die Bestürzung, die sich in den Augen der Menschen ausdrückt, wenn ihnen plötzlich bewusst wird, dass sie ihre erhabenen Gedanken einem an allen Ecken bedrohten und bald verfaulenden Säugetierorganismus verdanken. Albert ist wieder zurück am Ogowe, von wo er sich bis zu seinem Tod nicht mehr fortbewegen wird, es sei denn für einige Vortrags und Konzertreisen, später für die Einspielung von Bach-Werken auf Schallplatte und die Entgegennahme des Nobelpreises in Oslo 1952. Er trägt denselben Smoking und dieselbe Fliege wie bei seinen Klavierkonzerten. Er trägt sie mit der größten, selbstverständlichsten Eleganz. Auf einmal ist Albert sehr viel berühmter als Louis.

Denn bei dem läuft es 1952 nicht gut. Seit einigen Monaten ist er wieder in Frankreich, überhäuft mit Schmach und Schande. Vaterlandsverräter. Man kennt die Fotos. Die manierierten Klamotten und die brüllende Meute. Die Vogelkäfige und den afrikanischen Papagei auf einer Stange in Meudon. Schiss und Reisefieber haben sich vermengt. Sigmaringen. Die Fahrt durch die zerstörten deutschen Städte unter dem Trommelfeuer der Alliierten, die Brände, der Schutt. Das dänische Gefängnis, das Krankenhaus. Er weiß genau, dass er ein Fall für die Nachwelt ist. Der große Verwirrte stirbt 1961, ein Jahr nachdem Kamerun, der Tschad, der Kongo und Gabun gleichzeitig die Unabhängigkeit erlangt haben. Dass ihn das wenig gekümmert hat, kann man sich denken.

Der Pelikan Parzival

Drei Jahre später, in der Nacht zum 18. Februar 1964, wird der erste Präsident der Gabunischen Republik, Léon M’ba, von einer Hundertschaft Putschisten gestürzt, die den Staatschef zum staatlichen Rundfunksender schleppen, wo sie ihm befehlen, seine freiwillige Abdankung bekannt zu geben. Da sie nicht wissen, was sie mit dem kränkelnden Gefangenen anfangen sollen, verfrachten sie ihn nach Lambarene und stellen ihn in Schweitzers Krankenhaus unter Hausarrest.

Welche Gespräche werden der greise Mediziner und Nobelpreisträger und der entmachtete Präsident, der um sein Leben fürchtet, unter dem Blick der umstürzlerischen Militärs wohl geführt haben? Sie sitzen in den Bambussesseln auf der Terrasse und betrachten den Fluss. Wie jeden Abend tropft der Regen auf die Wellblechdächer und die Palmen. Sie unterhalten sich geruhsam über Politik oder Geschichte, vielleicht über Brazza, wie es war, als Jahrzehnte zuvor die neun Pirogen mit ihren spitzen Nasen hier auf dem Fluss auftauchten … Brazza fährt von Lambarene weiter nach Lopé, der alte, blinde König Rénoqué begleitet ihn … Schweitzer ist dem Tode nahe. Er wird im folgenden Jahr sterben. Er tätschelt den Kopf des Pelikans, der ihm wie ein Hund überallhin folgt. Sie haben keine Nachricht aus der Hauptstadt. Sie wissen nicht, dass die Putschisten die Gefängnisse geöffnet haben, dass die Knastbrüder plündernd umherziehen. Sie wissen nicht, dass französische Fallschirmspringer aus Brazzaville über dem Flughafen von Libreville abspringen. Tags darauf erobern sie den Palast zurück, befreien den Kabinettschef des Präsidenten, den jungen Albert-Bernard Bongo, und schicken ein Kommando los, das Léon M’ba im Dschungel suchen soll, um ihn wieder in sein Amt einzusetzen.

Der große Weiße mit dem weißen Haar stirbt im September 1965 im Alter von neunzig Jahren in seinem Krankenhaus. Das Grab befindet sich am Flussufer. Bei solch großen Todesfällen ist häufig eine Legende zur Hand. Es heißt, sein Pelikan Parzival, Geschenk eines Patienten, sei einige Tage nach seinem Tod von Lambarene fortgeflogen und nie wieder gesehen worden. Man deutete den majestätischen Flug dieses großen weißen Vogels als Zeichen des Himmels. Viel wahrscheinlicher ist, dass sich in diesen aufregenden Tagen niemand die Zeit nahm, den Pelikan zu füttern. Der von Natur aus ein gefräßiger und wenig dankbarer Vogel ist.

Unterhalb des kleinen Friedhofs gehen zwei fröhliche Kinder auf einen Pfosten im Schlamm zu und öffnen die Vertäuung einer Piroge, um auf den Fluss hinauszufahren.