Maylis de Kerangal
Die Brücke von Coca
Roman
Aus dem Französischen
von Andrea Spingler
Suhrkamp
Titel der Originalausgabe:
Naissance d'un pont
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012
© Éditions Gallimard, Paris, 2010
© der deutschen Übersetzung Suhrkamp Verlag Berlin 2012
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Satz: Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn
eISBN 978-3-518-76250-9
www.suhrkamp.de
da aber die Meere geheimnisvollen Austausch bewirken
und der Planet porös ist, ist es auch zutreffend
zu sagen, daß jeder Mensch im Ganges gebadet hat
Jorge Luis Borges,
»Gedicht vom vierten Element«,
in Der Andere, der Selbe
Am Anfang machte er Bekanntschaft mit dem nördlichen Jakutien und Mirnij, wo er drei Jahre arbeitete. Mirnij, eine zu eröffnende Diamantmine unter der grauen, schmutzigen Eiskruste, trostlose Tundra, verseucht von alter Kohle und Strafarbeitslagern, wüstes, in frostige Nacht getauchtes Land, elf Monate im Jahr von Schneestürmen gepeitscht, die einem den Schädel spalteten, ein Boden, in dem, mit einzelnen Gliedmaßen und elegant gekrümmten riesigen Hörnern, felltragende Rhinozerosse, wollig weiße Wale und tiefgefrorene Rentiere schlummerten – das malte er sich aus, wenn er abends an der Hotelbar vor einem starken, klaren Schnaps saß, während ihn die immer gleiche Gelegenheitsnutte mit Zärtlichkeiten überschüttete und eine Heirat in Europa gegen treue Dienste ins Feld führte, doch er rührte sie nie an, konnte es nicht, lieber gar nichts als mit dieser Frau vögeln, die keine Lust auf ihn hatte, dabei blieb er. Die Diamanten von Mirnij also, um sie zu fördern, mußte man graben, den Permafrost mit Dynamitsprengungen aufbrechen, ein danteskes Loch bohren, groß wie die Stadt selbst – man hätte die fünfzigstöckigen Wohntürme, die bald ringsum wuchsen, kopfüber hineinsenken können –, und, mit einer Stirnlampe ausgerüstet, bis auf den Grund der Öffnung steigen, mit dem Pickel die Wände behauen, die Erde ausheben, Stollen vortreiben, die sich zu einem unterirdischen Baum verzweigen mit weit ins Harte, ins Schwarze ausgestreckten Ästen, die Gänge abstützen und Schienen verlegen, den Schlamm mit Strom versorgen, im Erdreich wühlen, den Boden aufkratzen, das Geröll sieben, dem funkelnden Glanz auflauern. Drei Jahre.
Als sein Vertrag ausgelaufen war, kehrte er an Bord einer nicht gerade demokratischen Tupolev – sein Sitz in der Economy-Klasse ist vollkommen durchgesessen, unter dem Stoffüberzug der Rückenlehne knäueln sich Metalldrähte, hier und da bohren sie sich durch und stechen ihn ins Kreuz – nach Frankreich zurück, einige Verträge ergeben sich, und wir finden ihn als Baustellenleiter in Dubai wieder, ein Luxushotel soll im Sand hochgezogen werden, senkrecht wie ein Obelisk, aber weltlich wie eine Kokospalme, und Glas diesmal, Glas und Stahl, Aufzüge wie Blasen, die durch vergoldete Röhren gleiten, Carrara-Marmor für die kreisrunde Lobby, in der ein Brunnen sein Petrodollarluxusplätschern verbreitet, das Ganze mit glänzenden Grünpflanzen, Ledersofas und Klimaanlage ausgestattet. Danach war er überall dabei, er zeigte sein Können. Fußballstadion in Chengdu, Gashafenausbau in Cumaná, Moschee in Casablanca, Pipeline in Baku – die Männer in der Stadt gehen schnell, tragen dunkle Gabardinemäntel, die schmale Hüften machen, den Krawattenknoten wie eine kleine geballte Faust unter dem steifen Kragen, schwarze Hüte mit Triangelbeule, traurige Blicke und dünne Schnurrbärte, sie sehen alle aus wie Charles Aznavour, er ruft seine Mutter an, um es ihr zu sagen –, mobile Kläranlage im Norden Saigons, Hotelkomplex für weiße Arbeitnehmer in Djerba, Filmstudios in Bombay, Weltraumbahnhof in Baikonur, Tunnel unter dem Ärmelkanal, Staudamm in Lagos, Einkaufszentrum in Beirut, Flughafen in Reykjavík, Pfahlstadt mitten im Dschungel.
Auf Langstreckenflügen, die oft genug in Hopsern mit zwei Turbinen enden, dergestalt von Biotop zu Biotop gebeamt, bleibt er selten mehr als achtzehn Monate an einem Ort und verreist nie, abgestoßen von der Exotik, ihrer Trivialität – weiße Dominanz gegen fiesen Amöbenbefall, Drogen und fügsame Frauen gegen westliche Devisen –, er lebt von wenig, meist in einer vom Unternehmen angemieteten, in der Umgebung der Baustelle gelegenen Wohnung – ein derart nüchterner Platz, ein Witz: keines dieser Nippes, die man mit sich herumschleppt, kein Foto, das an eine Tür geheftet wäre, nur ein paar Bücher, CDs, ein riesiger Fernseher mit reklamebunten Bildern und ein Fahrrad, ein wunderbares Carbonfasermodell, dessen kostspieliger Transport an die Arbeitsstätte schließlich zum Gegenstand einer in den Annalen einzigartigen Vertragsklausel wird –, er kauft alles an Ort und Stelle – Rasierer, Shampoo, Seife –, ißt in schmierigen, verqualmten Kneipen, nimmt zweimal pro Woche im Restaurant eines Hotels, so es denn eines gibt, ein internationales Steak zu sich, steht früh auf, arbeitet zu festen Zeiten, täglich ein kurzer Mittagschlaf nach dem Essen, und schwingt sich, wenn das Wetter gnädig ist, auf sein Fahrrad, um mindestens fünfzig Kilometer, den Wind im Gesicht, den Oberkörper vorgebeugt, mit vollem Tempo in die Pedale zu treten; nachts geht er hinaus, marschiert oder schlendert durch die Straßen, die Schläfen kühl und das Gehirn wach, lernt die örtlichen Idiome in den Nachtlokalen, den Puffs, den Spielhöllen – die Sprache der Karten, eine Art Pidgin-Englisch –, in den Bars. Denn ein Quartalssäufer ist er, das wissen alle, und zwar schon lang.
Zwanzig Jahre bei dieser Lebensweise hätten jeden geschafft, denn eine neue Baustelle verlangte ja immer, daß er sich anpaßte – in Wahrheit eine Verwandlung, klimatisch, dermatologisch, diätetisch, phonologisch, nicht zu reden von den neuen Alltagsritualen, die mit sich bringen, daß man unbekannte Dinge tut –, sein Körper hingegen erneuerte sich, gewann an Kraft dabei, blühte auf, und an manchen Abenden, wenn er nach dem Abzug der letzten Mannschaften allein in die Baracke zurückgekehrt war, stellte er sich mit ausgebreiteten Armen, die Pupillen so geweitet wie die Haut gedehnt, vor die Weltkarte, die an die Wand seines Bürokabuffs gepinnt war, und mit einer schönen, bei der Osterinsel beginnenden und in Japan endenden seitlichen Bewegung erfaßten seine Augen langsam die Punkte seiner Einsätze auf dem Globus. Jede neue Baustelle war für ihn ein Spiel mit den vorhergehenden, ein Spiel wie das der Hüften bei einer schnellen Salsa, und aktivierte so jedesmal die ganze in seiner Person gespeicherte Erfahrung, von der man in aller Welt großes Aufhebens machte. Sein Körper verschliß durch die ständige Ortsveränderung nicht schneller als der eines Berufspendlers mit festem Wohnsitz, in seinem Mund allerdings ging es drunter und drüber: all die auf der Baustelle gesprochenen und leicht erlernten Sprachen färbten auf sein Französisch ab – ein bereits ziemlich durcheinandergeratenes Französisch –, so daß er sich manchmal sogar in den kurzen Briefen, die er an seine Mutter schrieb, verhedderte. Zwanzig Jahre in diesem Modus, also, das war für ihn nichts, das zählte gar nicht.
Man wollte wissen, was ihn umtrieb, man drängte sich um ihn. Man beschrieb ihn sukzessive als vaterlandslosen Ingenieur, Söldner des Betons, beharrlichen Abholzer von Tropenwäldern, Vorbestraften, Spieler auf Entzug, selbstmörderischen Geschäftsmann, der abends unter Frangipanibäumen oder in der mongolischen Steppe, den Blick in die Ferne gerichtet und eine eisgekühlte Flasche zwischen den Schenkeln, Opiate rauchte; man charakterisierte ihn als lakonischen Cowboy, aus dem Nirgendwo gekommen, von seiner Mission überzeugt, ohne eine unnötige Geste und zu allem bereit, um den Sieg davonzutragen – ja, da traf man etwas, einen Anteil zumindest, eine Nuance, und man lachte darüber –, und sicherlich war er all diese Menschen auf einmal und nacheinander, zweifellos war er plural, verfügte über eine ganze Palette variabler Neigungen, so daß er das Leben von allen Seiten in Angriff nahm. Man hätte ihn gern auf Selbstsuche, rätselhaft, verzweifelt gehabt, man vermutete ein geheimes, meilenverschlingendes Problem, man zog Gewissensbisse in Betracht, Fahnenflucht, Verrat oder, noch besser, das Phantom einer Frau, die in der Heimat geblieben war, bestimmt mit einem anderen, und vor der er fliehen mußte – diese Frau gibt es, und sie ist kein Phantom, sie atmet unzweifelhaft und lebt mit einem anderen zusammen, er trifft sie manchmal, wenn er nach Frankreich kommt, Rendezvous in Paris, sie erscheint pünktlich, Haare im Gesicht, glänzende Augen, volle Taschen, sie sind wieder da und laufen durch die Stadt, die Körper getrennt, aber die Herzen vereint, sie reden die ganze Nacht in irgendeiner Bar, das Bier macht sie allmählich betrunken, so daß sie sich im Morgengrauen küssen, sie sind jetzt Liebende, sie streicheln sich, selbstvergessen, und dann gehen sie auseinander, ruhig, König und Königin, die Zeit existiert nicht, ist eine bloße Erfindung, und kehren einander so vertrauensvoll den Rücken zu, daß die ganze Welt gerührt und dankbar ist. Man fand, derart allein zu sein, das ging nicht an, das war Vergeudung und auf die Dauer ungesund, ein solcher Mann, eine Naturgewalt, man suchte Frauen für ihn in den Konsulaten, schöne, weiße, ergebene, man suchte junge Leute für ihn, man suchte den Haken, einen ursprünglichen Defekt, zumindest einen Ursprung, eine innere Verletzung aus seiner Kindheit, man tuschelte, im Grunde sei er kaputt – in welchem Grunde, das wußte keiner. Er kam auch nicht oft nach Frankreich – und seine Mutter? Er hat doch eine Mutter, denn er schreibt ihr ja, denkt er denn nicht an sie? –, überging das Land mit unhöflichem Schweigen, behielt von ihm praktisch nur die Nationalität, die in seinem Paß stand, ein gut gefülltes Bankkonto, die Neigung zum Gespräch und zu einer gewissen Bequemlichkeit, und er versäumte nie, das Radrennen Paris–Nizza zu sehen. Man hätte ihn gern mit einer inneren Erfahrung beschäftigt, introvertiert gewußt, nicht so stark, es wäre ganz einfach gewesen, es wäre viel leichter vorstellbar gewesen – ein so kraftstrotzender Mann, der im übrigen harten Alkohol schätzt, hat zwangsläufig etwas zu verbergen –; man hätte gewünscht, er könnte nicht lieben, er wäre unfähig dazu, er vergrübe sich in die Arbeit, um nicht daran zu denken. Man hätte gewünscht, er wäre melancholisch.
Diejenigen aber, die ihn auf den Baustellen erlebt hatten, lachten sich tot, wenn sie diesen Unsinn hörten: Weiberphantasien, dummes Gesülze, kitschige Klischees. Mit einem Achselzucken und spöttischen Blicken stampften sie diesen Pappkameraden ein, sie hatten ihn nämlich bei der Arbeit gesehen, ihre Erfahrungen gemacht mit dem Mann. Sie sagten: Okay, stimmt, die Zeit bedeutet ihm nichts, die vergehende, die verrinnende Zeit, all das sagt ihm nichts, da fließt nichts, und da bleiben auch keine Rückstände oder trüben Nebel – hat es damit zu tun, daß man eben allein ist in der Zeit, daß man allein ist und immer verliert und auf die Verluste starrt, auf die bazillenverseuchten Flüssigkeiten, die man in den Eimern umrührt, auf die Fetzen von Traurigkeit, die an den Fingerspitzen hängen wie alte Pflaster und die man mit den Zähnen abreißen müßte? –, er ist dagegen nicht gefeit, mag sein, aber er denkt nicht daran, interessiert sich nicht dafür, kommt gar nicht dazu, pfeift auf den Ursprung und pfeift auf die Geschichte, hat sein Blut vermischt, denkt wie alle anderen jeden Tag an den Tod, und das war's. Sie sagten: Seine Zeit wird so gezählt: one! two! three! four! let's go!, und mimten mit den Fingern schnippend einen Start, der sofort auf sein Ende zielte, seinen Zweck, die Lieferung eines Bauwerks, dessen mit roter Tinte unten auf dem Auftragsformular vermerkte Deadline die Tage einem Arbeitsplan unterwarf, entsprechend einer sorgfältigen Bauabschnittsberechnung, unter Berücksichtigung der Verträge und der Jahreszeiten – vor allem der Regenzeit und der Brutperiode, die immer ungelegen kommt, wir werden noch sehen, warum. Sie sagten: Seine Zeit ist die Gegenwart, jetzt oder nie, das Richtige tun, sich der Situation stellen, das ist seine einzige Moral und die ganze Arbeit eines Lebens, so einfach ist das. Und auch: Er ist bodenständig, er steht mit beiden Beinen auf der Erde – er würde selbst so über sich sprechen, würde mit halbgeschlossenen Lidern, Zigarette im Mund, spöttisch hinzufügen: Da ist das Abenteuer, da sind die Gefahren, da lebt mein Körper – und bei diesen Worten würde er sich mit beiden Fäusten gegen die Brust schlagen wie die großen Gorillas der Tropenwälder –, aber manchmal hob er dann, ohne zu lachen, wieder den Kopf und erklärte ernst: Was ich hasse, ist die Utopie, das gute kleine System, das schimärische, schwerelose Juwel der Welt blablabla, das ist erledigt, immer zu kleinkariert und ach so gut geölt, das ist schlechter Stoff, laßt euch das gesagt sein, das ist nichts für mich, das interessiert mich nicht, das macht mich nicht heiß; mein Name ist Georges Diderot, und was mir Spaß macht, ist, mit der Wirklichkeit umzugehen, die Parameter spielen zu lassen, mich hinabzubegeben auf den Boden der Dinge, in die Niederungen, da kann ich mich entfalten.
Er eignet sich Gebiete an, gräbt Felder um, besetzt Land, errichtet Gebäude, er nährt sich von der Vielfalt, dem Gerede, den Klängen, den verschiedenen Hautfarben und -gerüchen, den Menschenmengen der Megastädte, der revolutionären Unruhe, dem Jubel der Stadien, dem Überschwang des Karnevals und der Prozessionen, von der Sanftmut der Wildtiere, die durchs Bambusgehölz hindurch die Baustellen beobachten, dem Freiluftkino am Rand der Dörfer – eine Leinwand, in den Nachthimmel gespannt, so daß die Räume sich ineinanderschieben und die Zeiten verschwimmen –, vom Gebell der Hunde am Straßenrand. Immer draußen, konzentriert, empirisch, ungläubig: innere Erfahrung findet niemals innen statt, murmelt er spöttisch, wenn die von seiner Trivialität Enttäuschten ihn zu mehr Innerlichkeit und mehr Tiefe ermahnten, dazu ist kein Rückzug nötig, sondern ein Sich-Aussetzen, und ich setze mich gern aus.
Am 15. August 2007 kündigte die New York Times auf ihren Business-Seiten den Bau einer Brücke in der Stadt Coca an, eine dreizeilige Notiz in 12-Punkt-Minuskeln, die beim Überfliegen nichts anderes auslöste als ein Brauenhochziehen – man dachte: Da kriegen endlich mal welche Arbeit, oder: Gut so, sie kurbeln mit Großbauprojekten die Wirtschaft an, weiter nichts. Die schwer unter der ökonomischen Krise leidenden Ingenieurbüros jedoch begannen sehr viel schneller zu rotieren: Die Mitarbeiter beeilten sich, Informationen einzuholen, Kontakte zu den Unternehmen zu knüpfen, die ihre Geschäfte bereits abgeschlossen hatten, und dort Maulwürfe einzuschleusen, alles mit dem Ziel, sich auf dem Markt gut zu positionieren und ihn mit Arbeitskräften, Maschinen, Rohstoffen, Dienstleistungen aller Art zu versorgen. Aber es war zu spät, die Würfel längst gefallen, die Abmachungen besiegelt. Sie waren das Ergebnis eines umständlichen und heiklen Auswahlprozesses, der, obzwar beschleunigt, als hätte man ein Spezialverfahren angewandt, immerhin zwei Jahre brauchte, bis er in offizielle Paraphen unter den mindestens hundertfünfzig Seiten umfassenden Verträgen mündete. Er glich einem Hindernislauf: September 2005, die Stadt Coca lobt einen internationalen Wettbewerb aus; Februar 2006, Präqualifizierung von fünf Unternehmen und gleichzeitig Festlegung des Ausschreibungstextes; 20. Dezember 2006, Abgabe der Bewerbungen; 15. April 2007, Bekanntgabe der beiden Finalisten für den letzten Wahlgang; 1. Juni 2007, der Präsident der CNBC (Commission Neue Brücke Coca) verkündet den Namen des Siegers: Pontoverde – eine Gruppe französischer (Héraclès Group), amerikanischer (Blackoak Inc.) und indischer (Green Shiva Entr.) Firmen – bekommt den Zuschlag.
Der Wettbewerb hatte einen höllischen Zeitplan diktiert und Hunderte Menschen in der ganzen Welt unter Druck gesetzt. Es gab Aufregung und es gab Scherben. Die Ingenieure schufteten fünfzehn Stunden täglich und lebten in der übrigen Zeit mit dem BlackBerry oder dem iPhone am Ohr oder nachts unterm Kopfkissen, stellten beim Duschen, beim Squash oder beim Tennis den Ton lauter und, wenn sie ins Kino gingen, auf Vibrationsalarm, aber sie gingen sehr selten ins Kino, denn sie dachten nur noch an diese verdammte Brücke, diese verdammte Ausschreibung, sie waren besessen davon, das Leben fand ohne sie statt. Die Wochen verflogen, die Kinder entfernten sich von ihnen, die Häuser verschmutzten, bald berührten sie keine anderen Körper mehr als ihre eigenen. Sie litten unter Überarbeitung und Depressionen, es kam zu Fehlgeburten und Scheidungen, zu Zärtlichkeiten in Open-Space-Konferenzen, aber das war kein Spaß, war kein Spiel, nur die Gelegenheit, die Diebe macht, und die Unfähigkeit, einem Lustversprechen zu widerstehen, wenn der Nacken knackt und die Augen zwölf Stunden auf Excel-Tabellen gestarrt haben, Fieberschübe, umgemünzt in raschen Beischlaf, in egal was, und die Verlierer, obschon furchtbar enttäuscht bei der Bekanntgabe des Siegers, waren letztlich erleichtert, daß es damit sein Bewenden hatte: Sie waren gealtert, sie waren erschöpft, fertig, tot, hatten keinen Saft mehr, bis auf die Tränen der Müdigkeit, denen sie freien Lauf ließen, sobald sie auf dem Heimweg von der Arbeit allein im Auto saßen und das Radio Rockmusik brachte, einen vor Jugend und Draufgängertum strotzenden Song, Go Your Own Way von Fleetwood Mac oder irgendwas von den Beach Boys, und wenn sie dann nachts in ihrer Garage parkten, stiegen sie nicht gleich aus, sondern blieben im Dunkeln sitzen, mit ausgeschaltetem Licht, die Hände am Steuer, und überlegten plötzlich, alles aufzugeben, die Hütte zu verkaufen, die Kredite zurückzuzahlen, los, alle Mann barfuß ins Auto und ab nach Kalifornien.
Die anderen, jene, die für Pontoverde arbeiteten, kehrten am Abend der Bekanntgabe als Sieger nach Hause zurück, kämpferisch, sie hatten eine Brücke zu bauen, ihre gesunden Körper standen für den Fortschritt, ihre Hände trugen einen Teil zum Gebäude bei, sie genossen ihren Job in Form eines Schicksals, jetzt waren sie sicher, Akteure der Welt zu sein. Auch sie blieben bei abgestelltem Motor noch in ihrem Fahrzeug sitzen, den Blick auf ein vertrocknetes Lorbeerblatt an der Windschutzscheibe geheftet, die Arme über dem Bauch verschränkt, ins Polster zurückgelehnt, und auch sie schwiegen und dachten an ihr kommendes Exil, taxierten ihre Karriere, die sich plötzlich beschleunigte, weil sie die günstige Gelegenheit wahrzunehmen wußten, berechneten die Punkte, die sie so sammeln würden, bevor sie zurückkehrten, um in der Firma höhere Funktionen auszuüben, planten die Umstrukturierung der Abteilung, die sie in die Hand nehmen wollten, und dann dachten sie über den Umzug der Familie nach oder stellten sich als Junggesellen auf Zeit vor, die zwischen ihrer ausgelagerten Arbeitsstelle und den Schulferien pendelten, auf einmal waren auch sie im Begriff abzuhauen, aber nicht, um alles hinter sich zu lassen, nur für eine Spritztour, keinen richtigen Urlaub, sie mußten sich jetzt aufraffen und mit ihren Frauen reden, die Neuigkeit berichten – und mancher Ehefrau würde vor Stolz und Freude die Brust schwellen, sie war eine gute Gefährtin, ihr Mann war erfolgreich, er hatte Format, und sie träumte davon, bald von der Firma hofiert, vom lokalen Personal bedient zu werden, eine Villa mit Pool, ja, das war das mindeste, zwei Autos, ein Gärtner, ein Ganztagskindermädchen oder sogar eine ergebene Köchin, genial, sie freute sich schon und weckte die Kinder, bereit, die gesellschaftliche Leiter ein schönes Stück hinaufzuklettern; andere würden nervös die Küche aufräumen, bestürzt schweigend, und schließlich angstvoll zu ihrem Mann aufblicken, denn, Liebling, wie soll das werden mit der Einschulung der Großen, mit den kranken Eltern, mit dem Logopäden des Jüngsten, und diese Frauen würden beruhigt werden wollen, man würde abwiegeln müssen, versprechen, daß sie bei alldem mitzureden hätten, und ihnen klarmachen, daß man auf sie zählte; ein paar wenige endlich, und das wären bei weitem die Zähesten, würden sich, wenn die Spülmaschine lief, eine Fluppe anstecken und sich dann, zack, umdrehen, frontal zum Raum, den Hintern am Spülbecken, das Gesicht von der Küchenlampe merkwürdig beleuchtet, irreal und doch marmorn wie das von Marlene Dietrich, ein zwielichtiges Gesicht, das sie rätselhaft und abscheulich fremd erscheinen ließe, und sie würden lächeln und amüsiert einwenden, ich freue mich ja für dich, aber was habe ich damit zu tun? Sie würden sich an ihren Job klammern, man mußte sie überreden, sie bearbeiten, bis ihr Fuß eines Abends unter der Decke wieder den des Mannes suchte, der neben ihnen lag, man mußte Tricks anwenden, bis sie diese kleine Geste vollzogen, diese Berührung, ein subtiles Zeichen der Zustimmung, das ihnen die Welt öffnete, und er würde dann schweigend triumphieren, auf dem Rücken liegend, vollkommen regungslos. Wäre die Abreise erst einmal klar, würde eine fieberhafte Unruhe das Haus erfassen. Sie mußten Mietverträge kündigen, Telefon und Strom abmelden, eine Lagermöglichkeit für die Möbel finden – also das Chaos sortieren, das der Kinder und ihr eigenes, kaputte Spielsachen, zu klein gewordene Klamotten, Stapel alter Zeitschriften, angeschlagene Vasen, verblaßte Bilder, alles auf den Müll –, Arztbesuche absolvieren, dann von den Freunden, der Familie Abschied nehmen, schließlich die Koffer packen und nach Coca fahren. Und genau das taten sie Ende August, Anfang September.
Sie waren nicht die einzigen, die aufbrachen. Leute aller Art setzten sich in Marsch durch die violette Nacht und machten sich auf in die Stadt, deren Name in ihrem trockenen Mund wie tausend spitze Nadeln prickelte. Anzeigen im Netz warben um Kabelmonteure, Eisenbinder, Schweißer, Schalungsbauer, Maurer, Asphaltbauer, Kranführer, Gerüstbauer, Bauaufzugsmechaniker, Fassadendecker, und all die packten ihren Tornister wie ein Mann, synchron, großes Manöver, und rückten aus. Ein erster Schwung bestieg die Transportflugzeuge, die auf Arbeitskräftevermittlung spezialisierte Unternehmen gechartert hatten – sie handelten rasch, dem üblichen rassistischen Klischee entsprechend, bevorzugten also den starken Türken, den fleißigen Koreaner, den tunesischen Ästheten, den finnischen Zimmermann, den österreichischen Schreiner und den kenianischen Geometer, mieden den griechischen Tänzer und den empfindlichen Spanier, den heuchlerischen Japaner, die impulsiven Slawen –, die verängstigten Jungs, die zum ersten Mal flogen, kotzten ihren Mageninhalt in den Frachtraum. Andere sprangen auf Güterwaggons, die sie durchrüttelten, sie kauerten auf dem Boden, lehnten sich an ihre aneinanderstoßenden Taschen, bald völlig benommen vom Lärm und vom Staub, den gesenkten Kopf zwischen den Knien, weil die Augen tränten. Und manche stiegen auch in diese Busse, die nachts über die Autobahnen brettern, eine öffentliche Gefahr, gesteuert von Fahrern mit aufgerissenen Augen – Schlafmangel, Koks –, Transportmittel der Armen, die keine 300 Dollar haben, um sich auf dem Gebrauchtwagenmarkt eine Schleuder zu beschaffen, und sich deshalb wie Nachzügler vom Besenwagen aufsammeln lassen, das ist auch der Grund, warum es da drin so stinkt, Erschöpfung und kalter Schweiß hängen in den Stoffbezügen der Sitze, es riecht nach müden Füßen – wir wissen alle, daß das der Geruch der Menschheit ist –, die stellten sich also auf schäbige Parkplätze am Ortsausgang und hoben stumpf den Arm, damit der Fahrer anhielt, die Neuigkeit von der Errichtung der Baustelle hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet, und die Stadt glitzerte bereits verführerisch in ihrem Hinterkopf; schließlich kamen noch welche zu Fuß, und nichts schien sie von ihrem Weg abbringen zu können, sie gingen direkt aufs Ziel zu, wie Hunde, als folgten sie der Fährte eines Zaubertuchs, mit dem man ihnen die Schnauze gerieben hat, während andere einfach Vagabunden waren, Leute, für die Hier oder Dort egal war, die sich eine bestimmte Vorstellung von ihrem Leben machten und der stolzen Meinung waren, ein Recht auf Abenteuer zu haben.
Ein dünnbeiniger Chinese mit hartem Profil gehört zu diesen, er heißt Mo Yun. Neun Monate zuvor, Bergarbeiter inmitten von Millionen anderen, Bergarbeiter, weil Vater und Mutter es sind, weil er nichts anderes ist und weil in die Grube einfahren einfach nur heißt, mit dem Strom schwimmen, kehrt er plötzlich der Welthauptstadt des Kohlebergbaus, der brodelnden Proletarierhochburg Datong, den Rücken, in Wirklichkeit eine Überlebensstrategie, denn indem er aus den Bahnen der Kindheit ausbricht, gibt er seiner Jugend eine Chance; danach hat das Herumirren, selbst im Elend, den Geschmack der auf Grund ihrer Form und ihrer Farbe unter allen ausgewählten Kartoffel, das kleinste Radieschen duftet nach Freiheit. In Gesellschaft eines russischen Botanikerpaars durchquert Mo, auf dem Rücksitz eines Geländewagens kauernd, die Mongolei, am Stadtrand von Ulan-Bator springt er im Fahren ab und wendet sich nach rechts, immer dem Meer zu, drei Monate ist er unterwegs, man weiß nicht wie und mit welchem Geld und schon gar nicht mit welcher Kraft, dann läßt er sich auf ein niederländisches Containerschiff verladen, Wladiwostok–Vancouver in vierzehn Tagen, vierzehn Tage der Dunkelheit, an deren Ende Mo in eisiger Nacht aus seiner feuersicheren Kiste steigt. Die Stadt kommt ihm entvölkert vor. Er fährt mit einem Greyhound-Bus nach Süden, und, in San Francisco, Chinatown, angekommen, klopft er an die Tür einer dreckigen Kneipe auf der Grant Avenue, eine schmierige, aber lukrative Spelunke, in der sein Onkel ihn vier Monate lang sechzehn bis achtzehn Stunden am Tag ausbeutet. Dort, in der Spülküche, hört er zum ersten Mal von der Brücke; ruhig stellt er Teekannen und Reisdosen weg, bindet sich die Schürze ab und verläßt die Küche, geht mitten durchs Restaurant, nimmt die Vordertür, die Tür für die Kunden, die Tür auf die Straße, die große Tür, wählt für seinen Abgang genau die und keine andere, die Tür, durch die er gekommen ist, tschüs! Die Hornhaut unter seinen braunen Füßen ist jetzt dicker geworden, Schwielen und Fältchen zeichnen eine Weltkarte darauf, er ist siebzehn, und er sieht die Lichter von Coca.
Unter denen, die zur Baustelle kommen, sind auch Duane Fisher und Buddy Loo, neunzehn und zwanzig Jahre alt, rote Haut, schwarze Haut, gemischtes Blut. Zur Stunde hocken sie auf dem Parkplatz des Busbahnhofs von Coca an einer Mauer und trinken Bier. Sie sind außer Atem, geblendet, eben erst vom gegenüberliegenden Ufer gekommen, aus dem Wald hervorgekrochen nach drei Monaten Dschungel in einer illegalen Goldwäscherstation, die allzu oft von Polizisten und Berufsgangstern überfallen wurde, drei Monate haben sie goldhaltige Flußsedimente gesiebt, der Nacken zerbissen von Parasiten, mit nichts anderem zu essen als gekochten Bohnen und Maniok in allen Varianten. Sie sind aus dem Gebiet geflohen, indem sie den Bächen folgten, nackte Füße in Turnschuhen, bis zu den Knöcheln im Schlamm, der glitschige, würmerdurchsetzte Lehm schmatzte zwischen den Zehen, slurp, slurp, Moskitos verfingen sich in den Jeans, Zecken unterm Gürtel, aber sie haben Gold, ja, ein paar Gramm, eine Prise, so viel, daß sie sich Tequila kaufen können und ein Stück Schweinefleisch, um es auf Zweigen zu braten, die sie auf die schnelle an den vertrockneten Grünstreifen der Colfax Avenue abgerissen haben, außerhalb der Stadt. Vor ihnen sitzen zwei Männer im schäbigen Anzug auf der Motorhaube eines Mercedes-Geländewagens und diskutieren halblaut, besprechen sich und kommen dann auf sie zu. Sie haben Einstellungsformulare in der Hand: ein Jahr Arbeit, Jungs, Lohn, Krankenversicherung, Rentenpunkte, dazu der Stolz, an einem historischen Bauwerk mitzuarbeiten, eine Supergelegenheit, die Chance eures Lebens. Die beiden Burschen befingern das Papier, lesen es nicht, denn sie können nicht mehr lesen, wechseln einen Blick, unterschreiben unten auf dem Blatt, am 1. September sollen sie antreten, und das war's dann, sie sind engagiert: Sie werden bei der Brücke dabeisein.
Auch Frauen sind da, die sicher die Ellbogen eingesetzt haben für eine Arbeit auf der Baustelle. Nicht zahlreich, aber sehr präsent, mit angefressenem Lack auf den schwarzen Nägeln, dick getuschten Wimpern, schlaffem Hosengummi auf der undeutlichen Taille. Sie haben gerechnet und sind gekommen: die Löhne auf der Baustelle sind gut, vor allem wenn man von vornherein Überstunden und Zulagen aller Art einkalkuliert. Die meisten dieser Frauen sind von einem Tag auf den andern losgezogen, haben bestenfalls noch kurz ihren Kollegen Bescheid gesagt, ihnen eine Pflanze oder eine Katze in die freundlichen Hände gedrückt, Küßchen und los, bloß kein Abschiedsbier unter Freundinnen am letzten Abend, bloß kein Versprechen. In Coca angekommen, haben sie das örtliche Einstellungsbüro von Pontoverde belagert, sich freiwillig gemeldet für die schwersten Arbeiten, Unterqualifizierung verpflichtet, und für die beschissensten Zeiten, also Wochenenden und Nachtstunden. Dann haben sie sich in einem der vielen Motels der Colfax Avenue eingemietet, deren rivalisierende Leuchtreklamen nachts dicke neonpinkleuchtende oder goldgelbe Bänder entrollen zwischen den K-Marts, Safeways, Trader Joe's, Walgreens, den Gebrauchtwagenarealen und Markenmodeausverkaufschuppen, sämtlichen Outlets des Planeten.
In einem der Motels, dem Black Rose, macht sich in einem der kargen Zimmer mit minimalem Komfort eine dieser Frauen, Katherine Thoreau, ein Coors auf und lächelt. Sie hat noch ihren Parka an, und in ihrer Brusttasche steckt ein Vertrag. Keiner der Anwesenden – ein Mann, zwei Jungen, die fernsehen – hat sie beachtet, als sie hereingekommen ist, obwohl sie sehr wohl gehört haben, wie sie die Tür geöffnet und sich im Kühlschrank bedient hat. Sie lehnt sich mit der Schulter an die Wand, trinkt einen Schluck aus der Flasche und sagt immer noch lächelnd: Es hat geklappt! Die beiden Jungen schauen auf, yes! Der jüngere stürzt zu ihr, schmiegt eine Wange an ihren Bauch, umschlingt ihre Taille. Katherine krault ihm mit einer Hand zärtlich das Haar, nachdenklich hebt sie den Kopf, ist der Fernseher nicht ein bißchen zu laut?, blickt dem älteren in die ernsten Augen und wiederholt, es hat geklappt, wir schaffen es, der Junge nickt, dann wendet er sich wieder dem Bildschirm zu. Im Zimmer hört man nur die swingende und brutale, professionelle Stimme von Larry King und das Lachen von Sarah Jessica Parker, die zwischen ihren goldenen Ohrringen große Zähne und ein spitzes Kinn sehen läßt, Gelächter und Applaus, der Nachspann der Sendung. Ein bißchen leiser, das ist zu laut, da kriegt ihr Kopfweh, mahnt Katherine erneut. Sie trinkt langsam die Flasche aus, dann hebt sie den Kopf des Kleinen, der sich immer noch an sie drückt, streicht ihm über die Stirn, flüstert, habt ihr Billie ins Bett gebracht? Der Kleine nickt. Der Mann, behindert, bewegungslos in seinem Rollstuhl, hat kein einziges Mal den Blick vom Fernseher gelöst, seine Frau nicht angesehen.
Ein weiterer Arbeiter schließt sich unauffällig der Truppe an – keiner hätte etwas gegeben auf diesen kantigen, verschlagenen, mit der Sicherheitsnadel tätowierten Typen, eine ungeliebte Katze, die Schläge einsteckt und davon träumt, selber welche auszuteilen. Soren Cry ist nach dreitausend Kilometern per Anhalter hier gelandet, er kommt aus Kentucky, aus den Eastern Coalfields – Rückständigkeit, trübselige Käffer und Streithähne in einem von Armut geprägten Landstrich, Drogen und Alkohol, um mit den bösen Geistern der Cheyenne, die sich in den Apalachen verstecken, fertig zu werden, eine Jugend, die an terpentin- oder white-spirit-getränkten Tüchern schnüffelt, mit dem Karabiner Eichhörnchen jagt, Autorodeos im Schlamm organisiert, ganze Magazine auf hintereinander weggetrunkene Bierflaschen verschießt, in verrosteten Pickup-Wracks Feuer anzündet, all das, um nach Einbruch der Nacht noch ein bißchen Halligalli zu haben, die Metalrock hört, daß ihr das Trommelfell platzt, ausgekotzte Dezibel, wie Todesröcheln. Ein Morast. Vor sechs Monaten aus der Armee geflogen wegen Gewalt gegen die Vorgesetzte – der Oberst war eine dreiunddreißigjährige Frau, eine technokratische Ziege, die ihn öffentlich demütigte, als Hinterwäldler verspottete und beim Reden anspuckte, wahrscheinlich weil sie zu viele Filme gesehen hatte, etwas in ihm ist zerbrochen, er hat ihr die Zähne ausgeschlagen –, seitdem vegetiert er bei seiner Mutter, Gelegenheitsjobs, Saisonarbeit, und in der übrigen Zeit tut er nichts, hängt rum, macht dies und das, spielt Gameboy vor dem Fernseher des Hauses, das er mit dieser frommen, armen und depressiven Frau teilt, die er schon Hunderte von Malen zu erdolchen, zu erdrosseln plante, aber jeden Abend zärtlich auf die Schläfe küßt – wahrscheinlich ist er fortgegangen, um sie nicht umbringen zu müssen.
Eine Menge bewegt sich also auf Coca zu, und sie wird begleitet von einer weiteren Menge, einem geräuschvollen, breiten Strom aus Hühnerbratern, Zahnärzten, Psychologen, Friseuren, Pizzabäckern, Pfandleihern, Prostituierten, Einschweißern von amtlichen Dokumenten, Fernseh- und Multimediatechnikern, öffentlichen Schreibern, Verkäufern von T-Shirts nach Gewicht, Herstellern von Lorbeersalbe gegen Hühneraugen und Lotionen zur Läusebekämpfung, Priestern und Mobilfunkvertretern, alle werden sie angeschwemmt mit der Flutwelle, die eine solche Baustelle auslöst, alle setzen sie auf die wirtschaftlichen Nebeneffekte des Brückenbaus und machen sich bereit, in ihren Blechnäpfen dieses kollaterale Manna aufzufangen wie den ersten Regen nach der Trockenheit.
Bald Mittag an diesem 30. August. Der junge Mann auf dem Weg zum Flughafen von Coca fährt einen petrolblauen, schweren, trägen Chevrolet Impala, eine lahme Ente. Sancho Alfonso Cameron hat das Fenster heruntergelassen, um den schwelenden Asphalt zu riechen, die Autobahn ist neu, der Verkehr fließt, er hat voll getankt und genießt den Augenblick, er weiß, er verbringt seine Tage bald in siebzig Meter Höhe am Steuer eines genialen Krans, und mit der Fortbewegung in der Horizontalen wird erst einmal Schluß sein.
Er kennt die Strecke gut: Vor zehn Tagen ist er selbst auf diesem Flugplatz gelandet, eine große Hand schwenkte ein Schild mit seinem Namen, eine unverhältnismäßig große Hand, schien ihm damals, mit dicken und leicht geröteten Fingergliedern, mit manikürten, purpur lackierten Nägeln, eine Hand, die sich in Shakira Ourgas kräftigem Körper fortsetzte – ihre rauhe Stimme rollte das R seines Nachnamens. Als er sie zur Gänze sah, nachdem sie sich aus der kleinen Gruppe der Wartenden gelöst hatte, mußte Sancho aufpassen, daß ihm der Mund nicht offen stehenblieb wie einem aufgeregten Kind am Eingang des Jahrmarkts, denn das Mädchen war groß, so groß, daß sie ihn um einen Kopf überragte, ein merkwürdiger Körper, zugleich mager und athletisch, der Rücken breit, die Arme schlank, knochige Gelenke, schmale Hüften und straffe runde Brüste ohne Büstenhalter unter einem dünnen Trägerhemdchen, die langen Schenkel in eng anliegenden Jeans, die gebräunten Füße in Sandaletten mit hohem Absatz. Sie griff sich seinen Koffer und lächelte ihn an, mit einem Lächeln, das so üppig war wie der Rest, und der überraschte Sancho folgte den straßbesetzten Gesäßtaschen ihrer Jeans bis zu der Limousine, die in ihrem Metallic-Lack auf dem Parkplatz schimmerte – der gemessene Schritt der Russin zwang ihn, den seinen zu bremsen und langsam zu gehen. Als das Telefon in ihrer Tasche jaulte, entfernte sie sich ein Stück und redete lauter, wütend, hastig, dann kehrte sie mit roten Ohren und gezwungenem Lächeln zurück und sah Sancho über das Autodach hinweg an, sie hatte eine schwarze Brille mit Logo auf den Bügeln aufgesetzt und posaunte: Welcome to Coca, the brand new Coca, the most fabulous town of the moment!
Sancho fädelt sich in den Zubringer ein, der sich als Doppelhelix aus Beton um die Flughafenterminals schlingt, schaut auf seine Uhr, er ist perfekt in der Zeit, fährt den Chevrolet ins Parkhaus – siebtes Untergeschoß, die Wände schwitzen – und schaut, zurück am Tageslicht, zum Himmel, der um diese Uhrzeit von einem absolut klaren, harten Kobaltblau ist, ein riesiges Tor: Er ist hier, um den Mann abzuholen, der jetzt gerade in der business class das Gebiet von Coca überfliegt, Georges Diderot.
Das Flugzeug beginnt fünfzig Meilen davon entfernt mit dem Sinkflug. Die Passagiere recken die Hälse und schauen auf die Uhr, sie haben Hunger, die Stewardeß geht langsam durch den Mittelgang, tadellos, das Haar zur Banane hochgesteckt, fleischfarbene Strumpfhose, wirft kurze Blicke zur Seite, um die Anschnallgurte und die Stellung der Lehnen zu überprüfen, und wiegt so sanft die Hüften, daß sie selbst die Passagiere mit großer Flugangst, die bei der Landung noch ängstlicher werden, beruhigt. Georges Diderot drückt seine Nase an das Doppelglasfenster, ein Schauer überläuft ihn: der Schauplatz des Geschehens. Here we are! flüstert er in seine heißen Hände, die er zu einem Trichter um den Mund schließt. Zwei riesige Bereiche zusammengeschweißt wie siamesische Zwillinge durch eine geschlängelte Naht, und wenn man so darüberfliegt, ist es ein wahnsinnig starkes Bild, Diderot kneift die Augen zusammen, sein Herz klopft, er ist berührt.
Zwölftausend Fuß. Die Erdoberfläche zeigt deutlich ihre Zweiteilung: im Osten eine helle Weite, kreidiges Bleiweiß, das ins Blaßgelb spielt, Stoppelfeld gespickt mit Nadeln, die zu einem Metallknäuel zusammenlaufen, im Westen ein dunkles Waldmassiv, schwarzer Schaum mit smaragdgrünen Reflexen, dicht, unregelmäßig. Zehntausend Fuß: Der weiße Bereich vibriert, knistert, Tausende verstreute Splitter funkeln, der schwarze Bereich dagegen bleibt undurchdringlich, absolut verschlossen. Achttausend Fuß. Eine Frontlinie erscheint, die diese beiden Zonen trennt, an der sie sich reiben oder verschieben wie zwei tektonische Platten entlang einer Verwerfung: der Fluß. Lächeln Diderots, verschwörerisches Lächeln. Fünftausend Fuß. Er verfolgt den Flußlauf, der das Rückgrat des Raums bildet, ihn gliedert, ihn durchlüftet, Bewegung, Leben hineinbringt. Dreitausend Fuß. Er beobachtet die Farbabstufungen des Flusses – lehmiges Ziegelrot an den Ufern, dunkles Braun bis Violett in der Mitte des Stroms, türkisgrüne Schatten am Rand von Mangroven und weiße Zungen in den Flußbiegungen – ein farbiger Einschnitt in dieser schwarz-weißen Welt. Zweitausend Fuß. Rasches Sondieren des Bodens, der komplizierter wird, es gibt Reibung da unten, Streit, Konflikt: Topographie der Konfrontation, Spannung des Reliefs, man wird aufpassen müssen. Tausend Fuß. Er legt den Kopf in den Nacken und atmet tief ein, schließt die Augen, worum geht es bei dem Bauvorhaben? Es geht darum, diese beiden Landschaften zusammenzubringen: Versinterung, Versöhnung, Verflüssigung der Kräfte, den Zusammenhang herstellen, das ist es, was zu tun ist, das ist die Arbeit, das erwartet mich. Oh Lord!
Später, genau in dem Moment, als der Bauch des Flugzeugs über die Wasseroberfläche streicht, an die sich der Asphalt der Landebahn anschließt, zittert Diderot heftig, Zuckungen durchlaufen seinen Körper, er schüttelt den Kopf. Man wirft ihm besorgte oder verärgerte Blicke zu. Es ist, als sähe man ein schweres Pferd in seiner Box schnauben und mit den Hufen im Stroh scharren, weil es nach draußen will, auf die Wiese, ans Licht, in Wirklichkeit aber ist es nur ein freudiges und erschrecktes Erschauern.
Da ist er, Diderot durchquert die Flughafenhalle, man kann ihn nicht übersehen: nicht sonderlich groß, aber kräftig, Langschädel, Oberkörper wie ein Schrank, breite Handgelenke, lange ruhige Beine, gebräuntes, glattrasiertes Gesicht, schlechte Zähne, zurückgekämmtes weißes Haar, auf dem eine dunkelgetönte Ray-Ban sitzt, und immer wirkt er, als käme er von ganz weit her, von der äußersten Grenze des Raums, den Wind der Ebene in seinem Rücken – Astana, Kasachstan, der drei Tage zuvor eingeweihte Präsidentenpalast war eine Kopie des Weißen Hauses, Diderot hatte dem Diktator das Bauwerk zum festgesetzten Termin geliefert und sich noch am selben Abend mit einem aus Berlin zurückgekehrten jungen Schachmeister aufs heftigste besoffen. Sancho bahnt sich einen Weg durch die Menge, streckt ihm übertrieben forsch die Hand entgegen und registriert alles: die Fliegerjacke, die Taucheruhr, das weiße Hemd mit dem aufgestellten Kragen, die weichen Mokassins, die hoch über dem Bauch gegürteten sauberen Jeans, die unter den Arm geklemmten Zeitungen und die Sporttasche aus rotem Leder – die nicht mehr enthält als den Laptop, eine extrastarke Maglite-Taschenlampe, ein Rollmaßband, ein weißes Hemd zum Wechseln, Slips, ein paar Packungen Lusitanias, ein dickes Bündel Geldscheine und den Ordner mit den technischen Unterlagen für die zu bauende Brücke. Begrüßung, Händeschütteln mitten im Strom der Reisenden. Diderot sagt Diderot, und Sancho antwortet Sancho Alfonso Cameron – das ist sein vollständiger Name, denn Sancho Cameron riecht nach dem kleinen, allzu treuen Spanier, und Sancho mißt nur einen Meter zweiundsechzig, der Alfonso in der Mitte aber mit diesem bergförmigen A macht ihn einige Zentimeter größer: Alfonso ist der Vorname spanischer Granden, das ist seine symbolische Erhöhung des Schuhabsatzes.
Regloser, wie mit Lack überzogener Himmel, es ist so heiß, daß man unmöglich die Fenster öffnen kann, der Chevrolet kriecht dahin. In der Ferne wachsen die Hochhäuser von Coca aus der Erde, verschieden große Legosteine. Kein Radio in deiner Karre, Sancho Alfonso? Diderot hat Sanchoalfonso gesagt mit einem Zungenschnalzen, Sancho sieht darin Sarkasmus, ist gekränkt, den vollständigen Namen, das hätte nicht sein müssen, Scheiße, Scheiße. Kein Radio, Monsieur, antwortet Sancho, den Blick auf den Dodge Pickup geheftet, der zum Überholen ansetzt, keine Klimaanlage, keine Federung, kein Radio. Na, wir werden ja nicht verwöhnt, sag bloß. Diderot zieht seine Jacke aus, wirft sie auf PS
Schweigen. Die Ebene, eine versengte Strohmatte, wo sich hier und da Viehherden und Gewerbegebiete zusammendrängen. Diderot beobachtet Sanchos schlanke Finger, die nervös auf den Lenker schlagen, taptaptap, er legt den Kopf in den Nacken, betrachtet durch seine dunklen Brillengläser das gepolsterte Dach des Chevrolets, die Schmutzspuren in den Furchen des Gummis. Er weiß, was hier abgeht, unter der Oberfläche ihrer Unterhaltung. Der Kleine hat von etwas Privatem geredet und dem Mädchen, das er noch nie gesehen hat, damit gleich eins ausgewischt – etwas Privates, das klingt nach Psychologie, nach inneren Qualen, da riecht man die Frau, etwas Privates, was soll das heißen, hat sie ihre Regel? –, denn er weiß ganz genau, der bösartige Zwerg, daß es auf einer Drei-Milliarden-Dollar-Baustelle, wie die vom Firmensitz sagen, wenn sie mit geschwellter Brust und entsprechendem Lächeln die Magnumflaschen köpfen, daß es also auf einer Drei-Millionen-Dollar-Baustelle nichts Privates gibt, was standhält, niemals.
Sie verlassen die Autobahn, sie sind in Coca. Sancho fährt mit gleichbleibender Geschwindigkeit auf der linken Spur, das Schweigen macht ihm zu schaffen, er redet weiter, ihre Großmutter ist gestorben oder so was, und Diderot antwortet sanft, ich scheiß auf ihre Großmutter, dann kurbelt er die Scheibe herunter, streckt einen Arm heraus, schätzt die Lufttemperatur, siebenunddreißig, achtunddreißig, trockene, kontinentale Hitze, das ist gut. Sie nähern sich dem Fluß im Süden der Stadt, sie halten vor einem braunen Backsteingebäude in einem ruhigen Viertel am Ufer, Diderot nimmt seine Tasche, öffnet die Wagentür, dreht sich im Aussteigen zu Sancho um, blickt ihm in die Augen, morgen, sieben Uhr, Baustellenversammlung.