Das Buch

 

Ella Carina Werner wächst Ende der achtziger Jahre in der ostwestfälischen Provinz in einer ganz normalen Familie auf. Die Normalität hat allerdings ein Ende, als die Mutter eines Tages beschließt, dass ihr ein Hausfrauendasein zu wenig ist und sie gerne Bauchtanzen lernen will. Aus dem anfänglichen Spleen wird bald ein Teilzeitjob: Mit Perücke, falschen Wimpern, Tönungscreme und unter dem Namen »Shahzadi« tritt Ursula Werner auf Betriebsfeiern und Schützenfesten auf – mit großem Erfolg: Sie bekommt Standing Ovations, Heiratsanträge und jede Menge Trinkgeld. Dumm nur, dass Mutter Werners Liebe zum Bauchtanz in der Folge auch nicht vor den eigenen Kindern Halt macht ...

 

 

Die Autorin

 

Ella Carina Werner, geboren 1979, aufgewachsen in Bad Oeynhausen als Tochter eines Psychologen und einer Bauchtänzerin. Nach dem Studium der Kulturwissenschaften Veröffentlichungen in der Titanic, taz, Zeit Online, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und dem Missy Magazine. Danach Redakteurin des Exot, einer Zeitschrift für komische Literatur, sowie freie Mitarbeiterin des NDR. Sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg.

Ella Carina Werner

 

 

Die mit dem Bauch tanzt

 

 

Eine ostwestfälische
Familiengeschichte

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ullstein

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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage März 2012

© Ullstein Buchverlage GmbH , Berlin 2012

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Titelillustrationen: © Leontura/iStockphoto;
© MikeBause/iStockphoto; © Silvia Jansen/iStockphoto;

© interlight/iStockphoto; © Olga Pohan/iStockphoto

Satz und eBook bei LVD GmbH, Berlin

 

ISBN 978-3-8437-0119-8

1. Wilder Rhabarber

Es war ein eisig kalter Abend im November 1988, als das Leben meiner Mutter eine kräftige Wendung nahm. Und das Leben meines Vaters und das von uns Kindern gleich mit.

Der Winter hatte bereits Einzug gehalten. Draußen zog ein heftiger Sturm auf, und in unserem Garten bogen sich die dürren Birken im Wind. Zu sechst saßen wir im Wohnzimmer vor dem Fernseher. Meine Eltern rechts und links auf den Ledersesseln: Vater mit einem Bier in der Hand, die Füße auf dem Beistelltisch, Mutter mit einem Glas Martini, die Wolldecke über den Knien. Dazwischen hatten wir uns zu fünft auf die Couch gezwängt: Lars, Stefan, ich, Hannah und Hannahs Teddy, der größer war als sie selber und immer mit aufs Sofa musste. Das Feuer prasselte im Kamin. Der Eichenholztisch vor uns war übersät mit Limoflaschen in drei verschiedenen Farben und Kristallschalen voll Salzstangen und Erdnussflips, so dass man kein einziges Astloch mehr sah. Es war ein Abend, wie es keinen schöneren gab. Ein Abend, wie es bei uns nicht mehr viele geben sollte. Tatsächlich, alles war perfekt.

Wir sahen »Ali Baba und die vierzig Räuber« im ersten Programm, ein Kostümfilm voll atemberaubender Kämpfe, Blut und Säbelrasseln, ein Film, in dem man das Böse an den schwarzen Bärten erkennen konnte und das Gute in Gestalt des gewieften Ali Baba immer obsiegte. Die Salzstangen zwischen unseren Zähnen knackten mit den Holzscheiten im Kamin um die Wette. Funken stoben in Richtung Rauchfang.

Dann kam ein Palast ins Fernsehbild. Auf einem goldbestickten Diwan räkelte sich ein bärtiger Typ, den alle nur den »Pascha« nannten, auf dem Kopf ein gewaltiger Turban, groß wie ein Gartenkürbis. Und weil er sich so schrecklich langweilte, schnippte er mit den Fingern, eine schwarzlockige Sklavin trat hinter einer Säule hervor und stellte sich vor ihm auf.

Und ehe dieser seine Wasserpfeife an die Lippen führen und mein Vater sein drittes Bier öffnen konnte, warf die Sklavin ihren Umhang ab, kickte ihre Sandalen beiseite und stand dort, zwischen den prunkvollen Säulen, mit nichts als einem blutroten Büstenhalter und einem durchsichtigen Rock, durch den man ihre langen Beine schimmern sah, Beine, von denen ich mit meinen neun Jahren und meinen dünnen Stelzenbeinen bereits träumte. Wenn so Sklavinnen aussahen, dachte ich, dann wollte ich auch eine werden.

»Man kann ihr Höschen sehen«, lispelte meine dreijährige Schwester Hannah, die winzigen Fäuste voll Erdnussflips. Lars, der schon aufs Gymnasium ging, der Malzbier trinken durfte und sich seit einiger Zeit brennend für Mädchen interessierte, starrte auf den Bildschirm und kaute auf seinen Fingernägeln. Ob die Fremde als Nächstes noch ihren BH auszieht?, fragte ich mich und zupfte gespannt an meinen Zöpfen.

Aber das tat sie nicht. Sie tat etwas anderes. Etwas, womit wohl niemand von uns gerechnet hatte, etwas ganz und gar Eigenartiges, fast ein bisschen Unanständiges: Sie wippte mit dem Hintern. Nicht ein bisschen, wie die großen Mädchen bei uns im Dorf mit den Dauerwellen – nein, so richtig, mit Schmackes, schwenkte sie ihr prächtiges Hinterteil zu dem einsetzenden Flötengeheul vor den Augen des Paschas hin und her. Dabei schwirrten ihre Arme durch die Luft wie aufgescheuchte Schlangen, und bald bog sich ihr ganzer Körper in den sonderbarsten Verrenkungen. Wilder, dramatischer als draußen in der Dunkelheit die im Sturm ächzenden Birken.

Der Pascha kratzte sich am Turban. Seine schwarzen Augen leuchteten auf. Dann richtete er sich auf seinem Sofa auf, straffte den Rücken und zupfte schmunzelnd an seinem Bart.

Auch meine Mutter richtete sich jetzt in ihrem Sessel auf und ruckelte an ihrer Brille. Ohne den Bildschirm aus den Augen zu lassen, langte sie mit einer Hand über den Tisch, tastete zwischen Salzstangen und Limoflaschen hindurch, griff nach ihrer Zigarettenschachtel und steckte sich eine an.

»Ist das langweilig«, maulte Stefan und schob sich eine Handvoll Erdnussflips rein. »Ich will Ali Baba sehen. Ich will …«

»Ursel, schalt doch mal kurz ins Zweite«, wandte sich mein Vater an Mutter, die den Fernsehknöpfen am nächsten saß. »Würde zu gern wissen, wer es ins Weiße Haus geschafft hat.«

Mutter reagierte nicht. Beinahe reglos saß sie da, blies den Zigarettenrauch in kleinen, weißen Kringeln in die Luft und starrte auf den Bildschirm, auf dem die fremdländische Schöne mittlerweile ein paar saftige Pirouetten hinlegte, direkt vor dem Sofa des Paschas. Das irre Funkeln in dessen Augen hätte sie warnen sollen. Denn seelenruhig spreizte der Pascha seine schwarzbehaarten Finger, wartete auf den rechten Moment und zog die Sklavin unsanft zu sich auf die orientalische Couch. Doch zum Glück sprang Ali Baba ins Bild, errettete die zappelnde Sklavin aus den Fängen des Finsterlings und floh mit ihr aus dem Palast.

»War doch klar, wohin das führt«, brummte mein Vater und öffnete noch ein Bier.

Mutter ließ sich in ihren Sessel zurücksacken, drückte den glimmenden Zigarettenstummel im Aschenbecher aus und tupfte sich mit dem Ärmel ihres Ringelpullis einen Schweißtropfen von der Stirn.

»O Mann«, sagte sie. »Rolfi, hast du das gesehen?«

»Die Trottel haben es nicht anders verdient«, gluckste mein Vater vor Vergnügen, während Ali Baba gerade auf dem Bildschirm einen Palastwächter nach dem anderen umhaute. Mein Vater liebte Klamaukfilme noch mehr als wir Kinder. Niemand lachte dabei herzhafter als er. Bei nichts anderem, sagte er, konnte er sich nach seiner anstrengenden Arbeit als Psychotherapeut so wunderbar entspannen.

»Nein, ich meine diesen Tanz da eben«, sagte meine Mutter. »Wie das Mädchen durch den Palast geschwebt ist …« Sie murmelte noch irgendwas von »Wahnsinn« und »Habt ihr das gesehen«, aber niemand von uns hörte so recht hin, denn Ali Baba lieferte sich mit den Räubern jetzt eine rasante Verfolgungsjagd rund um die Lehmhütten. Einer nach dem anderen purzelten die bärtigen Turbanträger von den Hütten und verendeten wie die letzten brennenden Holzstücke in unserem Kamin.

Nein, niemand nahm es so genau wahr, dass Mutter noch eine Weile versunken in ihrem Sessel saß. Auch den Abspann wollte sie noch unbedingt sehen. Sogar bei den Tagesthemen blieb sie sitzen, in denen Sabine Christiansen mit Schulterpolstern und ernstem Blick verkündete, ein Mann namens George Bush sei zum 41. Präsidenten der USA gewählt worden.

»Verflucht. Dieser Schmierlappen«, sagte mein Vater. »Jetzt brauche ich noch ein Bier. Sag mal, Ursel, was ist denn eigentlich mir dir los? Und seit wann guckst du Nachrichten?«, erkundigte er sich besorgt.

Sabine Christiansen schaute jetzt noch ernster drein und berichtete, dass der saure Regen den deutschen Wäldern immer mehr zusetze, während Lars und ich noch ein paar Runden Malefiz spielten.

»Ich werd dann mal«, gähnte Mutter irgendwann. Sie trank ihr Martini-Glas in zwei Zügen leer, hievte sich aus dem Sessel, räumte die klebrigen Limogläser aufs Tablett und fluchte, dass wieder irgendwer einen Erdnussflip in den Teppich getreten hätte. Wenig später verschwand sie im Schlafzimmer. Als sie am nächsten Morgen wieder auftauchte, war sie nicht mehr dieselbe.

 

Solange ich zurückdenken kann, war immer das Erste, was ich morgens beim Aufwachen sah, meine Mutter. Durch die großen Brillengläser sah ich ihre hellblauen, noch etwas verquollenen Augen über mir. Ihr rundliches Gesicht umwehte ein Hauch von Nivea.

»Aufstehen, mein Kätzchen«, sagte sie, schmatzte mir einen Kuss auf die Wange, schlug meine Herzchen-Bettdecke unerbittlich zurück, riss das Kippfenster auf und schlappte auf ihrem morgendlichen Feldzug rüber ins Nachbarzimmer. »Aufstehen, mein Häschen«, hörte ich sie durch die dünne Trennwand mit ihrer sanften, dunklen Stimme sagen und dann das Knurren meines Bruders.

Meine Mutter hatte zwei Kätzchen und zwei Häschen, von denen das ältere, Lars, schon fast so groß war wie sie selbst. Auch ich, als die Zweitälteste, ging schon in die dritte Klasse und fühlte mich eher als Katze, aber Mutter wollte das einfach nicht wahrhaben.

Wenn ich aus meinem Kinderzimmer die Treppe hinunter in die Küche tapste, war die Erste, die ich dort traf, wieder meine Mutter. Sie steckte die Kelle in den Topf und klatschte in jede Frühstücksschale eine Ladung Haferschleim. Verzierte den dampfenden Brei, zauberte mit Gummibärchen und bunten Streuseln Gesichter darauf, mit Wimpern und Nasenlöchern, damit wir Kinder alles aufaßen. Dann bestrich sie unsere Schulbrote dick mit Margarine und Leberwurst, schlug sie in Alufolie ein, schob sie tief in unsere Ranzen und zog die halb aufgegessenen, steinharten seufzend wieder heraus. Wenn ich mit frisch gescheitelten Zöpfen und Tornister über das Kopfsteinpflaster in Richtung Grundschule lief, winkte Mutter mir durchs Küchenfenster noch lange hinterher.

Meine Mutter war gern zu Hause. Eigentlich war sie immer zu Hause, in unserem weißgetünchten Fertighaus mit den Stiefmütterchen in den Blumenkästen. Sie streifte durch unseren Garten und versorgte ihre Rosenbeete, die sie so heiß liebte. Wenn es sich irgendwie vermeiden ließ, verließ sie unser Grundstück nur auf dem Weg zum Einkaufen, zum Kindergarten oder um Rhabarber zu pflücken, der in unserem Dorf überall wild wuchs.

»Ich bin eben gern zu Hause«, sagte sie immer. »Hier habe ich doch alles.« Das stimmte. Sie hatte ein prächtiges Rosenbeet, einen Handstaubsauger und einen Mann, der nicht bei der freiwilligen Feuerwehr soff, was bei uns im Dorf viel wert war.

Es gab fünf Menschen, mit denen meine Mutter gerne sprach, vier davon hatte sie selbst geboren, und mit dem letzten, unserem Vater, klangen ihre Gespräche in meinen Ohren immer gleich. »Dein Kantinenschnitzel war lecker?«, schnurrte sie in den Hörer, wenn mein Vater mittags aus der Kurklinik anrief. »Das freut mich. Unser Bohneneintopf war aber auch nicht schlecht.«

Wenn Mutter einmal nicht Stachelbeermarmelade einkochte oder Socken bügelte, saß sie in ihrem Liegestuhl auf der Terrasse, rauchte eine R1 und wartete darauf, dass die Rosensträucher so hoch gewachsen waren, dass Frau Lüdemanns wässrig blaue Augen vom Nachbargrundstück nicht mehr darüberragen konnten – auch nicht, wenn sie sich vor Neugier auf die Zehenspitzen stellte. Von unserem gesamten Nachbarschaftsleben hielt sich Mutter so gut wie möglich fern.

Wir lebten in einem kleinen Dorf bei Bad Oeynhausen, einer ostwestfälischen Kleinstadt, berühmt für ihre Heilquellen und die Staus auf der A2, die hinter dem Kurpark entlangführte.

In unserem Dorf gab es eine Kirche, einen Zierfischverein, einen Krämerladen, zwei Schlachter und sieben Bauernhöfe. Die beiden kränkelnden Dorfkrüge wurden nach und nach von der freiwilligen Feuerwehr als wichtigste Theke abgelöst, da sich im Keller des Gerätehauses eine gutsortierte Hausbar befand. Und über alledem thronte der Kaiser Wilhelm mit mürrischem Gesicht, ein neunzig Meter hoher steinerner Koloss, der aus dem Wiehengebirge aufragt.

Wir Kinder liebten unsere Mutter. Sie konnte wirklich alles, was im Leben wichtig war. Sie konnte Kaugummi und Klebstoff aus Haaren kämmen. Sie konnte Zäpfchen durch zusammengekniffene Pobacken drücken und einem einen Topfschnitt mit nur wenigen Zacken verpassen. Sie konnte zwei Kinder gleichzeitig festhalten und einem dritten die Schuhe zubinden. Sie konnte ihre Zungenspitze in ihr linkes Nasenloch stecken und dabei schielen.

Und weil sie so gut zu uns war, zahlten wir ihr ihre Liebe mit Herzen aus Salzteig, Einmachgläsern voll Marienkäfern und Aschenbechern aus gebranntem Fimo heim. »Der ist ja hinreißend, danke, das hast du aber fein gemacht«, rief sie dann aus und verstaute alle Kostbarkeiten in ihrem Nachtschrank.

Alles ging seinen gewohnten, seit Jahren eingespielten Gang.

Bis zu diesem Ali-Baba-Film. Gleich am Montagmorgen danach passierte an unserem Frühstückstisch etwas Unerhörtes. Mein Bruder Stefan, der fünf Jahre alt war, beugte sich über seine Portion Haferschleim und entdeckte es als Erster.

»Mama, mein Haferbreigesicht hat keine Nase«, beschwerte er sich und schob die Schale von sich weg. »Ohne Nase mag ich es nicht essen.«

Am Tag darauf schnitt Mutter mir einen neuen Pony und gleich fünf Zacken hinein, dass ich mich kaum in die Schule traute.

Selbst den aus Salzteig geformten Aschenbecher, den Hannah ihr nach dem Kindergarten voller Stolz überreichte, lobte meine Mutter mit deutlich weniger Überschwang als sonst.

Und dann öffnete ich eines Morgens verschlafen und nichtsahnend die Badezimmertür, und da saß meine Mutter in Unterwäsche auf den Fliesen in einem Meer aus weißem Schaum und kleinen braunen Härchen.

»Mama! Was machst du da?«, fragte ich und hielt mich erschrocken am Türrahmen fest.

»Ich rasiere mir die Beine.«

»Warum das denn?«

»Ist mal was anderes«, sagte sie. Es war ein Satz, den ich noch nie von ihr gehört hatte, ein Satz, der aus ihrem Mund seltsam fremd klang.

Als ich am Nachmittag mit Lars auf seinem Zimmer Amiga spielte, berichtete ich ihm von meinem sonderbaren Erlebnis: »Ich komm ins Bad, da sitzt sie dort auf dem Boden und rasiert sich die Beine. Sogar gepfiffen hat sie dabei.«

»Irgendwas stimmt nicht mit ihr«, sagte Lars und ließ den Joystick los. Lars war zwei Jahre älter als ich und gut im Kombinieren. Er konnte schon bruchrechnen und »Good morning« sagen, aber diesmal wusste er auch nicht weiter.

Ich musste nicht lange warten bis zur nächsten Wunderlichkeit in Mutters Benehmen. Und diesmal betraf es mich direkt. Normalerweise war Verlass auf sie, wenn ich ihre Unterstützung beim Geigeüben brauchte. Ich spielte Geige, seit ich fünf Jahre alt war. Ich betete die blutjunge Anne-Sophie Mutter im Fernsehen an, diese Teufelsgeigerin, und alles, was ich im Leben wollte, war, so gut zu werden wie sie. Ich übte Tonleitern und Doppelgriffe, bis meinen Fingern eine Hornhaut wuchs. Währenddessen saß meine Mutter neben mir, blätterte die Notenseiten um, machte mir hier und da ein Kompliment und klopfte mit ihren Hausschlappen den Takt.

Als ich am Tag nach unserer seltsamen Badbegegnung nach ihr suchte, um ihr meine neue D-Dur-Tonleiter vorzugeigen, fand ich sie am helllichten Tag in ihrem Schlafzimmer. Sie stand vor der alten Spiegelkommode, bekleidet mit nichts als ihrem weißen Büstenhalter und einer Bundfaltenhose. Sie betrachtete ihr Spiegelbild und strich sich über den Bauch. Dann nahm sie eine Handvoll Bauchspeck wie einen Klumpen Kuchenteig und knetete ihn vorsichtig hin und her. Da wusste ich, was mit ihr los war. Na klar. Sie war wieder schwanger.

Ich sah vor meinen Augen, wie die Nachbarn den schmuddeligen Plastikstorch zum fünften Mal auf unsere Dachpfannen setzten, wie es bei uns im Dorf üblich war. Ich sah, wie es auf unserer Wohnzimmercouch noch ein wenig enger wurde, wie ein weiteres Kleinkind durch mein aufgeräumtes Zimmer tapste und meine Glanzbildersammlung durcheinanderbrachte.

»Mama, bist du wieder schwanger?«, nagelte ich sie ohne Umschweife fest.

»Gott bewahre«, sagte Mutter. »Damit bin ich durch. Eher würde ich bei der freiwilligen Feuerwehr eintreten.«

Dann kramte sie ein Maßband aus ihrem Nähkoffer und hielt es sich um den Bauch. »Kätzchen, kannst du mal ablesen?«

Ich bückte mich etwas, um auch ja keine falsche Zahl zu verkünden. Einundachtzig.

»Heiliger Strohsack«, rief Mutter. »So viel war es ja noch nie!« Sie strich noch einmal über ihren Bauch und zog sich ihre Bluse wieder über. »Was wolltest du eigentlich von mir?«

Dann kam sie mit mir in mein Zimmer und klopfte wie immer mit den Puschen den Takt, aber richtig bei der Sache war sie nicht. Manchmal sah sie zwischendurch aus dem Fenster in den Nieselregen, als träumte sie sich weit weg. Aber wie weit weg, das ahnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Allmählich gewöhnte ich mich daran, dass Mutter zurzeit etwas abwesend war. Wenn man neun Jahre alt ist, gibt es Wichtigeres im Leben. Zum Beispiel eine Glanzbildersammlung. Ganze Nachmittage verbrachten meine beste Freundin Maja und ich damit, glänzende Herzen gegen glitzernde Täubchen zu tauschen.

Doch dann, zwei Wochen nach dem Fernsehabend, als wir alle vor Mutters frisch gebackenem Marmorkuchen saßen, zündete Mutter zwischen zwei Kuchenbissen ihre Tischrakete.

»Übrigens, ich habe vor, Bauchtanz zu lernen. Nach Neujahr geht es los«, sagte sie mit beinahe feierlicher Stimme und lächelte uns an.

Ein paar Sekunden war es still. Ich hörte auf zu kauen.

»Ja, wisst ihr denn noch, diese Sklavin neulich im Film?«, sagte Mutter. »Das war Bauchtanz, habe ich herausgefunden. Ja, diese Leidenschaft … diese Weiblichkeit … diese Wildheit …« Dabei stach sie mit der Kuchengabel in ihr Kuchenstück. »Falls ihr wisst, was ich meine. Ja, ich denke, dieser Bauchtanz, das wäre auch was für mich.«

Mein Vater hatte gerade in sein Kuchenstück gebissen. Für einen Moment stellte er das Kauen ein. Dann kaute er langsam weiter, bis er den Bissen hinunterschlucken konnte, und spülte mit einem großen Schluck Kaffee nach. Seine grauen Augen weiteten sich. Fast sah er ein bisschen ängstlich aus.

»Urselchen, du?« Dazu zupfte er an seinem Vollbart, was er immer tat, wenn er ratlos war.

»Willst du das machen, um abzuspecken? Das kannst du doch auch einfacher haben.« Dabei spähte er auf Mutters Bauch, als ob er fürchtete, der könnte jeden Moment mit Tanzen loslegen, aber noch schmiegte er sich reglos zwischen die Sofakissen.

»Und ich dachte immer, du tanzt nicht so gern. Als ich dich das letzte Mal tanzen gesehen hab … Warte mal, war das nicht … Gott ja, das war unser Hochzeitswalzer.«

Es stimmt, dachte ich. Auch ich hatte meine Mutter tatsächlich noch nie tanzen sehen. Nicht mal beim Karneval im Kindergarten. Nicht mal auf unserem Feuerwehrfest. Bei der großen Polonaise, wenn sich das halbe Dorf einreihte und unser Schlachter jeden Einzelnen von den Biertischen mitschleppte, duckte sie sich hinter ihrem Glas.

»Ich will auch Bauchtanz lernen«, sagte meine Schwester Hannah.

Kauend schaute Vater in die Runde.

»Sonst noch irgendwer? Du vielleicht, Lars?« Aber der hatte sich grinsend hinter seinem Kuchenstück verschanzt und wollte sich nicht äußern. Stefan murrte, warum wieder Rosinen im Marmorkuchen seien. Und ich verstand die Welt nicht mehr. Denn noch mehr, als dass sie diesen seltsamen Sklaventanz lernen wollte, erstaunte es mich, dass Mutter überhaupt etwas machen wollte, das so etwas wie Sport war.

Ich dachte an die schwarzäugige, schlanke Schönheit aus dem Film und sah meine Mutter fröhlich lächelnd im Sweatshirt vor mir. Ich sah ihre kinnlangen hellbraunen Locken, ihre kurzgeschnittenen Fingernägel, ihre Pausbacken, ihre Grübchen. Meine Mutter, eine Bauchtänzerin. Eine Bauchtänzerin mit Brille.

»Mama, du siehst gar nicht wie eine Bauchtänzerin aus«, sagte ich, um auch mal irgendwas zu sagen.

»Daran lässt sich arbeiten«, sagte Mutter und pickte noch die Kuchenreste vom Teller.

Wild fuchtelnde Arme, die kannte ich von ihr, wenn sie uns aus der Küche jagte. Aufstampfende Füße, wenn sie zum Essen rief und keiner kam. Aber alles andere, Hüftkreise und Busenschütteln, wagte ich mir nicht mal vorzustellen. Andererseits: Warum sollte meine Mutter nicht auch ein Hobby haben. Die Mütter meiner Freundinnen machten auch seltsame Sachen. Irinas Mutter war Mitglied einer kommunistischen Frauengruppe, Claudias Mutter machte jeden Morgen einen Dauerlauf durchs Dorf. Und die Mutter meiner besten Freundin Maja malte den ganzen Tag einfarbige Quadrate in Öl und hängte sie überall im Haus auf. Dagegen war Bauchtanz vielleicht noch das kleinere Übel. Und vermutlich, dachte ich, würde es ohnehin enden wie vor zwei Jahren die Sache mit dem Heilfasten. Von diesem Gedanken beruhigt, sammelte ich Stefans Rosinen vom Teller.

»Und wo willst du das lernen?«, fragte mein Vater.

»In der Volkshochschule«, sagte meine Mutter.

»In der Volkshochschule«, schmunzelte mein Vater. »Na dann, viel Spaß.«