Der Autor:
Christian v. Ditfurth, geboren 1953, ist Historiker und lebt als freier Autor in Berlin und in der Bretagne. Neben Sachbüchern und Thrillern wie »Der 21. Juli« und »Das Moskau-Spiel« hat er Kriminalromane um den Historiker Josef Maria Stachelmann veröffentlicht; zuletzt »Böse Schatten«. Seit 2014 ermittelt Eugen de Bodt erfolgreich – sein zweiter Fall »Zwei Sekunden« wurde mit dem Stuttgarter Krimipreis ausgezeichnet, zuletzt erschien »Schattenmänner«.
Das Buch:
Berlin im Herbst 2019: Der Ehemann der Kanzlerin wird gekidnappt. Die Entführer stellen unerfüllbare Forderungen. Eine deutsche Regierung lässt sich nicht erpressen. Oder doch? Die Entführer meinen es ernst, senden eine abgetrennte Hand ins Polizeirevier. Der Machtapparat ist in Schockstarre, de Bodt schafft es allerdings, Dr. Süß zu befreien. Aber das Katz-und-Maus-Spiel hat gerade erst angefangen. In Frankreich wird die Gattin des Präsidenten entführt … Kommissar Eugen de Bodt und sein Team stehen vor einer fast unlösbaren Aufgabe.
Christian v. Ditfurth
ULTIMATUM
Ein De-Bodt-Thriller
Informationen über dieses Buch:
www.cditfurth.de
Dieses Buch ist ein Roman und kein Tatsachenbericht. Das Beschriebene hat sich so nicht ereignet. Trotz der vom Autor in künstlerischer Freiheit gewählten fiktiven Handlungsabläufe mögen im Einzelfall Anklänge an Verhaltensweisen lebender oder verstorbener Personen oder an öffentlich bekannte Unternehmen nicht immer vermeidbar gewesen sein; dies ist aber von der grundgesetzlich geschützten Freiheit der Kunst umfassend geschützt.
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Copyright © 2019 bei C. Bertelsmann, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covergestaltung: Hafen Werbeagentur gsk
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-22632-9
V005
www.cbertelsmann.de
Für Chantal
Siehst du, wie alle die Stücke zerschnitten mit frischer Verwundung
Einzeln sich winden und eitriges Blut auf dem Boden zerstreuen,
Wie sie sich selbst abmüht, mit dem Maul ihr Ende zu fassen,
Um durch den Biss sich den brennenden Schmerz
der Zerfleischung zu lindern.
Lukrez
»So spät?« Er blickte auf die Armbanduhr. Schüttelte den Kopf.
»Sei vorsichtig«, sagte sie.
»Ja, ja.« Er stützte sich mit den Händen aus dem Sessel.
Es klingelte noch einmal. »Ob Kevin was passiert ist …?« Sie blickte ihn ängstlich an. Schaltete den Tatort aus, die Wiederholung am Freitag.
»Was soll dem schon passieren, ist doch gerade vom Bund gekommen? Einzelkämpfer.« Er verdrehte die Augen.
»Vielleicht ein Unfall?«
»Ist bestimmt der Nachbar. Der Hund ist wieder abgehauen«, sagte Helmut. Winkte ab.
»Natürlich«, sagte Elke. Während er zur Wohnzimmertür ging, trank sie einen Schluck Rotwein. Mehr, um sich am Glas festzuhalten.
Er blickte durch den Türspion. »Die Polizei …«, murmelte er. Tausend Angstfetzen stoben durch sein Hirn. Wenn …
Er öffnete. Es waren drei. In Uniformen. »Ja?«
Der Beamte in der Mitte war klein, hatte aber die meisten Sterne auf den Schultern. »Helmut Knorr? Sie sind Herr Knorr?«
»Ja, gewiss …«
»Entschuldigen Sie die Störung. Dürfen wir einen Augenblick reinkommen?«
»Was ist … passiert?«
»Dürfen wir reinkommen? Bitte.«
»Natürlich, natürlich, verzeihen Sie …« Er trat zur Seite. Winkte sie mit der Hand in den Flur.
Knorr öffnete die Wohnzimmertür.
Elke starrte ihn an. »Was ist? Um Himmels willen.« Ließ ihr Glas fallen.
Die Polizisten traten ein. Standen an der Tür.
»Nehmen Sie doch Platz«, sagte Knorr. Holte einen Stuhl aus der Ecke. Der Chef setzte sich darauf. Die anderen beiden blieben stehen.
Knorr setzte sich neben seine Frau. Sie nahm seine Hand, drückte sie.
Der Polizist auf dem Stuhl zog seine Pistole und legte sie vor sich auf den Tisch. »Frau Knorr, ich darf Sie beglückwünschen. Sie machen einen Urlaub. Packen Sie schnell ein paar Dinge zusammen. Mein Kollege« – Blick zum kräftig gebauten Uniformierten – »wird Ihnen helfen.« Er klopfte auf den Tisch. »Und das Beste: Sie dürfen Ihren Sohn mitnehmen.«
»Aber«, sagte Knorr. »Aber der ist doch gar nicht da.«
»Kein Problem. Wir warten. Irgendwann wird er kommen. Nicht wahr?«
»Mozart klingt anders«, sagte Yussuf.
»Immer diese Kulturprotzerei«, erwiderte Salinger. »So weit kommt es noch, dass ihr uns unsere Musik klaut, nachdem ihr Berlin schon halb besetzt habt. Eingeschlossen dieses Büro.«
»Wo bleibt Prinz Eugen?«, fragte Yussuf.
Die Tür öffnete sich. De Bodt gähnte und setzte sich an seinen Schreibtisch.
»Guten Morgen, Chef. Deine gute Laune steckt an.« Yussuf grinste seinen Hertha-Wimpel an.
De Bodt hatte mies geschlafen. Von Bob geträumt. Grund genug, einem die Laune zu vermiesen. Irgendwas beunruhigte ihn. Nur ein Traum, sagte er sich. Ein blöder Traum. Hoffentlich. Aber natürlich würde einer wie Bob den nächsten Ausbruch schon planen. Er hatte nichts zu verlieren.
Dazu nervte de Bodt der Baulärm. Presslufthammer, Bohrer und Co. Das große Konzert. Sie hatten das LKA notdürftig saniert. Verbrecher hatten es in Trümmer bombardiert. Die meisten Büros konnten wieder benutzt werden. Also hatten die Chefs auch de Bodt und Kollegen zurückgeschickt in die Keithstraße. Ins Lärminferno. Jetzt wurde fertig gebaut. Das Landeskriminalamt erstand in einem Glanz, den die ehemalige Reichsversicherungsanstalt nie besessen hatte. Leider, leider hatte man noch keinen Platz für den Kriminalrat Tilly gefunden. Der würde auftauchen, wenn Ruhe war.
»Das ist Folter«, sagte Salinger.
»Es scheint, der Lärm hier hat mich zum Phantasten gemacht? Aller große Lärm macht, dass wir das Glück in die Stille und Ferne setzen«, murmelte de Bodt. Vielleicht kam der Albtraum daher?
Als hätte ihn der Weltgeist erhört, verstummte der Krach schlagartig.
»Scheiße«, sagte Yussuf. »Der Computer … Stromausfall.«
»Da hat eines der Genies draußen wohl das Stromkabel erwischt. Vielen Dank! So muss es im Paradies sein.« Salinger trat ans Fenster. Öffnete es, blickte hinaus. »Tote Hose.«
»Der Prophet brauchte keinen Strom«, sagte Yussuf. »Und keinen Nietzsche …«
»Sag bloß, du kennst das Zitat unseres gelehrten Chefs«, sagte Salinger.
»Er hat richtig geraten«, sagte de Bodt.
»Dass du mir jetzt auch noch in den Rücken fällst. Ich lass mich zu Krüger versetzen. Der ist wenigstens ein richtiger Bulle«, sagte Yussuf.
»Rechts oder links?«, fragte der Mann mit dem Backenbart. Er trug einen weißen Kittel.
»Sie werden das nicht überleben«, sagte die Frau des Präsidenten. »Entweder bringen die Sie um oder die Polizei. Auf der Flucht.«
»Festhalten«, sagte der Weißkittel.
Mathilde und Jean zogen sie zur Liege. Drückten sie darauf.
»Ihr Schweine!«
»Aber, Madame, doch nicht so unfein.« Und setzte die Spritze.
»Ich finde es gar nicht schlimm, dass du Rambo erledigt hast. Hätte ich dir nicht zugetraut, ehrlich.« Tom nickte. »Allerdings hat dir das nichts genutzt. Sogar wenn du mich auch umgebracht hättest, was hättet ihr erreicht?«
Die Handschellen drückten. Kevin schwitzte. Seine Mutter war fertig. Hatte aufgegeben. Sagte nichts mehr. Lag auf der Seite und starrte die Wand an.
»Kannst du nicht wenigstens ihr die Handschellen ersparen?«
Tom schüttelte den Kopf. »Ich habe euch alle Freiheiten gelassen. Ihr habt mich ausgenutzt. Das verstehe ich. Aber jetzt verlange ich, dass du verstehst, dass ich auch mal in Ruhe ein Nickerchen machen will.« Ging und schloss die Tür.
Kevin zog an den Handschellen. Es bewegte sich nichts. Wie hatten die sie befestigt? Wie hätte er es gemacht? Einen Steinbrocken anbohren. Kette befestigen. Steinbrocken tief eingraben. Handschellen an Kette.
Jetzt saßen sie wirklich in der Scheiße.
»Lass es«, flüsterte seine Mutter. »Wir sind ihm ausgeliefert. Er ist nicht der Übelste.«
Kevin nickte. Die Mutter schloss die Augen.
Kevins Hirn arbeitete im Turbobetrieb. Wenn er nichts tat, waren sie verloren. Sobald Helmut getan hatte, was die wollten. Sie würden nicht mehr gebraucht. Sie waren Zeugen. Besser, sie verschwinden zu lassen.
Tom schloss die Handschellen auf, wenn sie aufs Klo mussten. Und wenn sie aßen oder tranken. Würde er was Heißes zubereiten, hätten sie eine Chance. Aber das tat er nicht. Tom wandte ihnen auch nie den Rücken zu. Er hatte immer die Pistole griffbereit. Und er war fit. Muskulös, wache Augen. Er beherrschte seine Bewegungen. Kevin musste warten, bis Tom einen Fehler machte. Dann musste er zuschlagen. Egal, wie oder mit was.
»Wir haben hier schon alles umgedreht«, sagte Merkow. »Aber vielleicht haben wir etwas übersehen.«
»Haben Sie so schön aufgeräumt?«, fragte de Bodt.
Merkow schüttelte den Kopf. »Die Kumanowa muss verdammt ordentlich gewesen sein. Ihr Büro sah aus wie eine Zahnarztpraxis nach der Großreinigung. Als hätte niemand etwas berührt. Die Kollegen von der Putzkolonne hätten ein Massengrab für Bakterien ausheben können.«
»Gereinigt haben also Ihre Leute?« Er blickte Merkow von der Seite an. »Normalerweise beseitigen Täter ihre Spuren.«
»Das ist bei uns nicht unüblich. Frau Kumanowa hat in einem … sensiblen Bereich gearbeitet.«
»Da wird aufgeräumt, falls die Spionageabwehr nachguckt.«
Merkow nickte.
»Sie war ja SWR-Residentin«, sagte de Bodt.
Merkow tat ein paar Schritte in der Wohnung. De Bodt folgte ihm. Modern ausgestattete Küche mit Gasherd und Elektrobackofen. Kühl-/Gefrierschrank. Doppelbett im Schlafzimmer. Auf dem Nachttisch Goethes Werther.
»Haben Sie sie gekannt?«
»Nein.« Merkow nahm den Reclam-Band. »Vielleicht hat die Putzkolonne das Buch hinterlassen. Um abzulenken … glaube ich aber nicht.«
»Verweis auf eine Liebesgeschichte mit tödlichem Ausgang«, sagte de Bodt. »Soll vielleicht eine Selbsttötung nahelegen.«
Merkow nickte. »Nicht ungeschickt. Die Kumanowa sprach perfekt Deutsch.«
»Warum sollte eine russische Putzkolonne eine falsche Spur legen?«, fragte de Bodt.
»Man sieht, Sie haben nie für einen Nachrichtendienst gearbeitet. Es gibt niemanden, der krummer denkt als ein Spion.«
»Schöne Selbstkritik«, sagte de Bodt.
Merkow grinste. Im Wohnzimmer stand ein kleiner Schreibtisch mit Lampe darauf. Natürlich kein Rechner.
»Den aus dem Büro habe ich auch nicht gesehen«, sagte Merkow.
»Können Sie die Leute in der Botschaft nicht ausquetschen?«
»Ich darf sie befragen. Aber die wissen nichts. Schon gar nicht, wo all die Sachen aus dem Büro geblieben sind. Die hat es wahrscheinlich nie gegeben. Und die Kumanowa hat über geheime Strahlen mit ihren Leuten verkehrt.«
»Kann Ihr Präsident kein Machtwort sprechen?«
Merkow blickte ihn an. »Hat er doch. Aber wenn ein Botschaftsmitarbeiter nichts gesehen hat, hat er nichts gesehen. Daran kann auch der Präsident nichts ändern. Nur Stalin und Beria konnten das.«
»Bliebe die Hypothese, die man aus den Ereignissen zieht«, sagte de Bodt. »Sollten die Todesfälle im diplomatischen Dienst tatsächlich etwas miteinander zu tun haben, dann hat es jemand auf russische … Diplomaten abgesehen. Vielleicht verraten Sie mir, ob die Opfer wenigstens freiberuflich für einen russischen Nachrichtendienst gearbeitet haben.«
Merkow blickte ihn an. »Das weiß ich natürlich nicht. Wenn ich es wüsste, dürfte ich es Ihnen nicht verraten.« Blinzelte kräftig.
»Schade«, sagte de Bodt.
Er setzte sich auf die Couch. Frisch wie aus dem Möbelhaus. Merkow lehnte sich an den Türrahmen. »Hier ist was oberfaul«, sagte de Bodt. »Gibt’s hier Wanzen? Kameras?«
»Wenn, dann wurden die entfernt.«
»Und die Biografie des Opfers?«
»Nichts Auffälliges. Außer, dass sie brillant war. Sportlich. Lebte gesund. Die Chefs schicken niemanden ins Feindesland, der nicht alles draufhat. Sie war jung, aber keine Anfängerin. Erstklassige Karriereaussichten.«
»Und wenn sie sich mit jemandem hier angelegt hat?«, fragte de Bodt. »Ob Geheimdienst oder sonst was …«
Merkow schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.«
»Es ist auch vernünftiger, den Fall im Zusammenhang mit den anderen Fällen zu betrachten. Wäre es abwegig, von einem Angriff auf den SWR auszugehen?« Blickte Merkow mit großen Augen an.
Der schüttelte den Kopf. »Ihr Freund Ockham würde sagen: Das liegt nah.«
»Wer also? Sie haben das bestimmt immer wieder betrachtet.«
»Ja, das haben wir. Katt glaubt auch, dass es ein Angriff auf unseren Auslandsnachrichtendienst ist. Es spricht zu viel für diese These, als dass man sie abtun könnte. Aber ich bleibe misstrauisch.«
»In der Tat, was hätte ein feindlicher Dienst davon, Ihre Leute auszuschalten? Es werden andere nachrücken.«
»Vielleicht glaubt der feindliche Dienst, Leute ausschalten zu müssen, die unseren SWR besser machen könnten. Weil es ja solche Leute sind, die früher oder später in Leitungsfunktionen arbeiten werden.«
»Vielleicht«, sagte de Bodt. Schwieg. Dann: »Ich halte diese Variante für unwahrscheinlich. Es spricht aber viel für einen feindlichen Dienst, der sich vielleicht an Ihrem rächen will. Womöglich für unsere letzte gemeinsame Aktion.«
»Die CIA? Ja, die steht bei mir auf Platz eins. Es passen alle Spuren und Argumente.«
»Nur, die wären doch verrückt, so einen Geheimdienstkrieg anzuzetteln«, sagte de Bodt. »Oder haben Ihre Leute etwa angefangen mit dem Irrsinn?«
»Nicht, dass ich wüsste. Ich hätte was davon hören müssen. In den Medien war auch nichts. Ich wundere mich, dass noch kein Journalist die Sache gerochen hat. Eine Mordserie, Opfer: russische Geheimdienstoffiziere. Das ist doch eine tolle Geschichte.«
»Sie können es ja meinem Kollegen Krüger erzählen.«
Merkow lachte. »Hab schon gehört, dass der sich gern mitteilt.«
»So kann man es sagen. Vielleicht fragen Sie bei Ihren … Fachleuten für amerikanische … Verhältnisse noch einmal nach, ob die Amerikaner einen Grund haben zu glauben, sie müssten der Konkurrenz auf den Leib rücken. Ob so ein Grund wirklich existiert, ist eine andere Frage.«
Merkow kratzte sich an der Wange. »Und Sie fragen bei Verfassungsschutz und BND nach, ja?«
Merkow verschloss die Wohnungstür von außen. Im Flur die Briefkästen. Kumanowa stand auf dem rechts außen. Merkow zog einen kleinen Dietrich aus der Tasche und öffnete ihn. »Gerade die Perfekten übersehen gern mal was.« Öffnete die Tür. »Außer in unserem Fall.« Ging zur Haustür. »Scheiße!«
De Bodt folgte ihm. Wieder spielte diese Idee Domino mit seinen Hirnmolekülen. Aber irgendwo stockte es. Verkantete sich ein Molekül. Fiel nicht.
Merkow zog die Haustür auf.
Ein Knall, zwei weitere folgten. Putz platzte ab im Flur. De Bodt riss Merkow zurück. Linste hinaus. Sah nichts. Doch. Ein Schatten am anderen Ufer des Kanals. Jemand mit einem Gewehr. Der riss eine Autotür auf, warf das Gewehr auf den Rücksitz, setzte sich hinters Steuer und raste weg. Ein Mercedes, C-Klasse, neuestes Modell. Blaumetallic.
»Alles in Ordnung?« Merkow lag im Flur. Blickte de Bodt an. Schmerz in den Augen. De Bodt beugte sich zu ihm. Sah das Blut. Rief einen Notarzt und die Kollegen. Kniete sich neben Merkow. Zog seinen Mantel aus und schob ihn unter Merkows Kopf.
»Die radioaktive Wolke hätte auch nach Berlin ziehen können«, sagte Anne.
»Verdanken wir dem Wind«, sagte Salinger. Der hatte die Wolke rasch über Südfrankreich aufs Mittelmeer getrieben. Sie hinterließ Angst, wo sie gewesen war. Statistiken der Tschernobyl-Katastrophe wurden bemüht. Krebsraten errechnet. Viele waren geflohen.
»Das waren also die Russen«, sagte Anne. »Warum hab ich euch nicht in der Glotze gesehen? Bei dieser Pressekonferenz?«
»Da sitzen nur Leute, die wichtig sind«, sagte Yussuf. Er kam gerade von draußen rein. Trug Zigarettengestank ins Café Eliza.
De Bodt trank von seinem grünen Tee, dritter Aufguss. Blickte sich um. Der Tresen, Bilder an der Wand. Decken auf den Tischen. Kerzen. Am langen Tisch saßen fünf junge Leute. Die beiden Männer mit Hipsterbärten. Sie lachten immer wieder auf. Eine der Frauen blätterte in einem Modemagazin. Alles normal. Nur, dass nichts normal war.
»Was von Merkow und Katt gehört?«, fragte Yussuf.
»Die sind abgehauen und nicht wiederaufgetaucht. Es darf nie herauskommen, dass sie uns geholfen haben.«
»Hinter dem Plan stehen die beiden Desperados. Die Präsidenten in Russland und den USA«, sagte Salinger.
»Auch wenn die das nie zugeben. Der GRU-Chef sitzt im Knast. Chef einer Terrorgruppe. Zwei Amis hat es auch erwischt. Sündenböcke. Die nach Komfortferien im Luxusknast in ein paar Monaten still und heimlich entlassen werden. Neue Identitäten. Neues Leben. Ausgesorgt. Wir stehen auf der falschen Seite. Vielleicht sollten wir auch mal was in die Luft jagen.« Yussuf nahm sich einen Keks.
»Schmeiß ihn raus«, sagte Anne. »Der will meinen Laden sprengen.«
De Bodt winkte ab. »Das ist der Übermut der Jugend.«
»Immer sind ihrer nur wenige, deren Herz einen langen Mut und Übermut hat; und solchen bleibt auch der Geist geduldsam. Der Rest aber ist feige«, sagte Yussuf.
De Bodt grinste ihn an. Salinger tippte sich an die Schläfe. »Fängst du jetzt auch an mit der Nerverei.«
»Ihr wisst Bildung nicht zu schätzen«, sagte Yussuf. »Das stammt aus dem Pornobuch, das unser Meister in seinem Schlafzimmer verwahrt.«
»Ja, ja«, sagte Salinger.
»Also sprach Zarathustra. Wenn das kein Pornobuch ist, was dann? Schon der Name, Mann.«
»Nietzsches Zarathustra ist eher ein Voyeur …«, sagte de Bodt.
»Pornograf, sag ich doch. Eine Soße.«
»Was du immer so wissen willst«, sagte Salinger.
»Der guckt sich die Marotten eures Chefs ab«, rief Anne hinterm Tresen. »Das wird böse enden.«
De Bodts Telefon vibrierte. Er sah Uhlenhorsts Nummer.
»Ich bin am Landwehrkanal, Höhe Admiralbrücke. Die Kollegen haben gerade eine Leiche rausgefischt. Laut Papieren handelt es sich um einen Wladimir Andrejew, stellvertretender Militärattaché an der russischen Botschaft hier. Willst du den Fall übernehmen? Wenn nicht, solltest du die nächsten Anrufe nicht annehmen. Krüger ist schon ganz scharf drauf. Will auch mal in die Glotze.«
»Danke.«
Das Telefon vibrierte gleich wieder. Tilly. De Bodt wies das Gespräch ab. »Oder wollt ihr euch gleich mit der nächsten Wasserleiche beschäftigen. Andrejew …«
»Ich esse gerade Schokotorte«, sagte Yussuf.
Das Telefon vibrierte.
»Ich habe Feierabend«, sagte Salinger.
»Mein Telefon ist kaputt. Wollte mir sowieso ein neues kaufen«, sagte de Bodt. Nein, er musste den Kopf frei bekommen. Er hakte seine Fälle ab, so schnell wie möglich. Er wollte sich nicht fragen, wo Bob abgeblieben war. Dessen Leiche nicht in der ausgebrannten Etage eines Bürohochhauses in Sydney gefunden wurde. Die australischen Kollegen hatten Fotos geschickt von einem Rollstuhlfahrer, der im Hochhaus ein und aus gegangen und jetzt verschwunden war. Sie hatten die Leiche einer Taxifahrerin und eines Bootsverleihers gefunden. Sie zogen Verbindungen. Mit de Bodts Hilfe. Für den klar war, wie Bob sich abgesetzt hatte. Nur nicht, wohin. De Bodt hoffte, dass Bob in Geld schwamm. Damit er endlich Ruhe gab. Damit die Blutspur endete.
»Die Russen werden glauben, dass die Mordserie weitergeht«, sagte Salinger.
»Sie werden merken, dass sie nicht weitergeht«, sagte de Bodt. »Aber so ganz durchschaue ich diese merkwürdige Kooperation noch nicht. Woher wusste zum Beispiel die GRU, dass Bob sich mit Botulinumtoxin beschäftigt hat? Wie hat der denen den Tipp gegeben?«
»Das ist doch offensichtlich. Der hat das im Knast ausbaldowert und dann mit dem Kameraden Komani besprochen. Seinem einzigen Knastbesucher, den wir natürlich nirgendwo finden konnten. Jetzt wissen wir ja, für wen Komani arbeitet. Und dass er in Wahrheit nicht so heißt«, sagte Salinger. »Bob hat dich unfreiwillig auf die Idee gebracht, wie man Deutschland am härtesten treffen kann, wenn ein GAU nicht zum Ziel geführt hat. Wobei es ja nicht mal Bob war, sondern die Gefängnisbibliothek.«
De Bodt blickte sie an. So wird es wohl gewesen sein. Seit ihn diese Idee erfasst hatte, war er sich vorgekommen wie ein Massenmörder. Jetzt erst begriff er es. Ein Massenmörder, der immer üblere Waffen suchte. Um noch mehr Schaden anzurichten. Er hatte es selbstverständlich gefunden, dass diese Leute dieses Gift verwenden würden. Weil er es verwendet hätte. Als Massenmörder. War er diesen Leuten ins Hirn gekrochen? Oder die ihm?
Merkow hatte ihn angerufen. Aus Moskau. Da begann das große Aufräumen. Der Präsident wollte zeigen, dass er ein Ehrenmann war. Nie würde er einen verdeckten Krieg gegen Deutschland oder Frankreich anzetteln. Er hatte sich von Untergebenen distanziert. Die hätten auf eigene Faust Verbrechen begangen. Sie würden hart bestraft werden. »Vermutlich Dauerurlaub auf der Krim«, hatte Merkow gesagt. »Sie können sich nicht vorstellen, wie langweilig das sein kann. Langeweile tötet. Insofern haben wir die Todesstrafe wieder eingeführt. Der GRU-Chef Melnikow ist der erste Kandidat.«
»Meine Kollegen haben einen Wladimir Andrejew gefunden. Steht zumindest im Diplomatenausweis. Die Leiche schwamm im Landwehrkanal. Kennen Sie den? Geht das jetzt weiter mit der Diplomatenmordserie?«, fragte de Bodt.
»Zweimal nein«, erwiderte Merkow. Und lachte.
»Habt ihr das gelesen?«, fragte Anne. Legte den Tagesspiegel auf den Tisch. »Da unten. Wochenlang allein auf einem Floß im Pazifik. Ein Wunder! Der Typ hatte mehr als Glück. Halb tot, aber gerettet. Wer schippert freiwillig mit einem Floß auf dem Pazifik? Verrückt.«
De Bodt nahm die Zeitung. Auf der Titelseite stand, dass der US-Präsident den verdeckten Krieg gegen die EU verurteilt habe. Er hatte getwittert: Schande über diese Verbrecher. So etwas tun Amerikaner nicht.
Der russische Präsident verurteilte auch. Eine Hauptrolle bei der Aufklärung hätten russische Agenten gespielt. Die den Westen vor weiteren Schäden bewahrt hätten.
Auf der Kommentarseite herrschte Ungläubigkeit. Solche Operationen auf eigene Faust? Unvorstellbar. Und hätten die Terroristen nicht im Interesse von Russen und Amerikanern gehandelt?
De Bodts Telefon vibrierte. Er sah die Nummer, nahm seinen Mantel und ging hinaus.
»Jetzt kommt das Aufräumen«, sagte die Kanzlerin. »Was haben die Leute ausgesagt, die Sie festnehmen konnten?«
»Nicht viel. Sie haben auf Melnikow verwiesen. Den GRU-Chef, der gerade einen Karriereknick erlebt.«
»So kann man es auch sagen. Das sind Gestalten, die werden aufs Brett gestellt und wieder weggeräumt. Wie’s beliebt. Bauernopfer. Die wollten unser Wasser vergiften, unfassbar.«
»Das Zeug hätte gereicht. Mehr als das.«
»Warum hassen die uns so? Wir sind doch keine Bedrohung. Jedenfalls nicht für die.«
»Doch schon. Bei uns gibt es so was wie Wahlen, eine freie Presse. Da kann man abgewählt werden. Da werden Skandale aufgedeckt. Was Schlimmeres können sich Autokraten nicht vorstellen. Und die Bannon-Leute – der selbst hat natürlich alles dementiert –, die wollen alles zerstören, um auf den Trümmern ihr Faschistenparadies zu errichten. Die haben sich längst mit den europäischen Rechten zusammengetan.«
»Ja, ja«, sagte die Kanzlerin. »Ich weiß. Wie sind Sie nur auf diese Botulinumtoxin-Geschichte gekommen?«
»Durch Wedenstein, vermute ich.« Sollte er ihr sagen, dass ihn eine Idee angeflogen hatte? Nach langer Umkreisung? Dass die Wahrscheinlichkeit, dass er sich nicht irrte, vielleicht bei zehn Prozent gelegen hatte? Dass er richtig geraten hatte, weil in ihm selbst das Böse steckte, das er jagte? Dass er sich in die Hirne von Großverbrechern versetzen konnte? Und vielleicht manchmal besser als die verstand, was sie tun müssten?
Er begann, etwas über sich zu erfahren. Seine Eitelkeit befriedigte es nicht. Ein Morast bot keine Aussicht auf Gewinn.
»Sie sind viel zu bescheiden, Herr de Bodt«, sagte die Kanzlerin. »Gute Nacht.« Es klackte.
Schneeflocken gondelten im Laternenschein aufs Straßenpflaster. »Nein«, sagte er. »Ich bin nicht bescheiden. Aber ich bin mir ein Rätsel.« Ein alter Mann ging an ihm vorbei. Drehte sich kurz um. Sein Blick traf de Bodts Augen. Der Mann wandte das Gesicht ab, schüttelte den Kopf und ging weiter.
Als de Bodt ins Café Eliza zurückkehrte, war Yussufs Stuhl leer.
»Yasmin«, sagte Salinger, als hätte de Bodt gefragt. »Hoffentlich mag die Fußball.« Sie blickte de Bodt an. »Und was machen wir jetzt?«
dem Historikerkollegen Dr. Alexander Ruoff (Berlin), der schöne Fehler gefunden hat und seine überragenden Recherchekünste auf www.history-house.de besser – wenn auch zu bescheiden – vorstellt, als ich es könnte;
an Klaus Viehmann (Berlin), der sich glücklicherweise über jeden Fehler freut, den er mir unter die Nase reiben kann;
Dr. Elfriede Müller (Berlin) fürs Korrekturlesen;
meinem Lektor Christian Rohr (München), der mit Fleiß, aber vor allem Ideen beträchtlich zum Gelingen meiner Bücher beiträgt;
Claudia Alt (Berlin) für ihre auch diesmal tolle Redaktionsarbeit;
meiner Süßstoffvollversorgerin Anne Hinkel, deren Café Eliza (Sorauer Straße 6, 10997 Berlin-Kreuzberg, www.elizaberlin.de) die fast tägliche Rettung vor dem Schreibtisch ist. Nur montags nicht;
meiner Pilatestante Ulli Zacherl, deren Folterstudio (Cuvrystr. 35, 10997 Berlin, www.breathe-berlin.de) die beste Adresse für Masochisten und Eliza-Opfer (s. o.) ist, mindestens weltweit;
Dr. Monika Niehaus (Düsseldorf), die sich nicht nur mit Giften wie Botulinumtoxin hervorragend auskennt;
Uwe Lommertin (Neuss), der aus eigener Erfahrung weiß, dass das Gerede von den »sicheren deutschen Atomkraftwerken« einen Eintrag in jeder modernen Märchensammlung verdient hätte.
»Mist«, sagte Robert Wedenstein.
Bob hatte auf dem Bett gelegen. Radio B2. Schlager. Er hatte nicht zugehört. Ihm war nur die Stille zu laut gewesen. Wenn er wach war, überlegte er, wie er rauskäme aus dem Knast. Wenn er döste, tagträumte er von einer Insel mit nackten Frauen. Wenn er schlief, weckten ihn Schüsse, Explosionen. Sprang er in letzter Sekunde ins nächste Loch, während die Handgranate im alten explodierte. Hatte er Blut im Gesicht ohne Wunde. Rief ihm John Leary etwas zu, der Kamerad, dem Bob das Leben gerettet hatte. Als er aufwachte, hatte er die Ansichtskarte vor Augen. Die John ihm aus Sydney geschrieben hatte. Er hatte die Karte weggeworfen, Johns Telefonnummer aber im Kopf.
Sie hatten ihm eine Zelle gegeben, in der vorher ein Behinderter eingesperrt gewesen war. Doppelt so groß wie die anderen Zellen. Eingebaute Dusche. Sein Einzelzimmer.
»Mist«, sagte Bob, als das Radio ausging.
»Mein Gott«, sagte die Kanzlerin. Stützte sich auf dem Schreibtisch ab. Bleich wie Pergament. Setzte sich auf ihren Stuhl. »Mein Gott!«, sagte sie.
Die LED flackerten. Nur einen Augenblick. Dann kam schon die Mail. Höchste Priorität. Stromausfall im Kanzleramt. Der Notstromgenerator war angesprungen. Sie wusste nicht, wie lange der durchhalten würde.
Die Kanzlerin stand plötzlich im Vorzimmer. Beate Kammer drehte sich mit ihrem Stuhl.
»Was ist los?«, fragte die Kanzlerin. Sie sah müde aus. Stress mit der Schwesterpartei, die mal wieder hysterisch geworden war. Wie immer vor Wahlen.
»Keine Ahnung«, sagte Kammer. »Der Generator …«
»Wie lange hält der durch?«
Kammer hob die Hände. »Weiß ich nicht. Ich werde die Verwaltung anrufen.«
»Schicken Sie einen zu mir, der Ahnung hat.« Ihr Blick auf den Bildschirm an der Wand. »Schalten Sie doch mal ein.«
»Hab ich schon.« Kammer nahm die Fernbedienung und zappte. Kein Signal.
»Rufen Sie den Innenminister«, sagte die Kanzlerin. Verharrte kurz, kehrte in ihr Büro zurück.
Kammer nahm den Hörer. Tot. Das Handy: kein Ton. »Scheißkaserne!«
Manche Gesichter kannte er. Den Innenminister, der wie sein Vorgänger aus Bayern kam. Den Chef des BND. Den Typ von der Sicherungsgruppe. Die Assistentin der Kanzlerin, die ihn angerufen hatte. Den Staatsminister. Den neuen Präsidenten des Verfassungsschutzes. Den Berliner Innensenator. Den Polizeipräsidenten. Tilly.
Der Innenminister blickte ihn nicht an. Er war immer noch sauer auf de Bodt.
»Nehmen Sie Platz, Herr Hauptkommissar«, sagte die Kanzlerin. Sie schien um zehn Jahre gealtert. »Alles, was hier besprochen wird, bleibt in diesem Raum«, sagte sie. Blickte sich um. Der Verfassungsschutz nickte. De Bodt inspizierte die Tischplatte.
»Der Sachstand in Kürze«, sagte die Kanzlerin. »Mein Mann wurde entführt.«
Stille. Der Verfassungsschutz schnaufte. Der BND runzelte die Stirn. Der Innensenator wischte sich durch die Haare. Die Assistentin war schon bleich. Der Staatsminister blickte sich um. Er schien nicht überrascht. War vielleicht der Einzige, der es schon wusste.
Was bedeutete es? Hypothesen rasten durch de Bodts Hirn. Die Regierung soll erpresst werden. Das war am wahrscheinlichsten. Wenn der Ehemann der Kanzlerin entführt wurde, dann ging es um Erpressung. Die Zahl möglicher Täter war fast unendlich. Oder hatte sich der Mann mit Verbrechern eingelassen? War er spielsüchtig? War es ein saublöder Scherz nach einem Ehekrach?
»Woher wissen Sie das, Frau Bundeskanzlerin?«, fragte er.
Sie blickte ihn an. Die Kanzlerin hatte ihre Mimik unter Kontrolle. Aber in ihren Augen war Angst. »Dass er entführt wurde?« Sie wartete nicht auf die Bestätigung. »Ich habe eine Mail der Entführer. Mit einem Foto von meinem Mann. In der Hand den Tagesspiegel von heute.« Ihre Stimme stockte. »Wenn mir das nicht reiche, könnte ich auch einen Finger zugeschickt bekommen. Oder ein Ohr.«
Sie öffnete eine Mappe und schob de Bodt zwei Blätter zu.
Wir haben Ihren Mann. Wir schicken Ihnen bald unsere Forderung. Sollten Sie uns nicht glauben, schicken wir Ihnen gern auch etwas von Ihrem Gatten.
Mehr nicht. Außer dem Foto. Es zeigte Wolfgang Süß, den Chemiker an der Humboldt-Universität. Der selten in der Öffentlichkeit auftauchte. Wenn das Damenprogramm bei Staatsbesuchen angesagt war. De Bodt hatte über die Bilder geschmunzelt. Das neue Foto war nicht komisch. Den Tagesspiegel in beiden Händen. Das Datum von heute … gestern. De Bodt blickte auf die Uhr. Es war weit nach Mitternacht. Draußen die Lichter der Stadt. Als wäre nichts geschehen.
Er erhob sich. Ging zum Fenster, sah hinaus.
Blicke folgten ihm. Der Innensenator räusperte sich.
»Die wollen kein Geld«, sagte de Bodt mit dem Rücken zum Tisch. »Die machen Politik.«
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte der BND.
»Das liegt auf der Hand.«
»Wie bitte?«
»Ginge es um Geld, würden die einen Milliardär entführen. Wäre außerdem einfacher. Jetzt haben sie alle Sicherheitsapparate am Hals. Dumm sind die nicht. Bestimmt nicht.«
»Interessante Ferndiagnose«, sagte der Staatsminister. Faltete die Hände vor der Brust. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Ein ungehobelter Polizist, der Dinge wusste, die niemand wissen konnte.
»Man braucht kein Linguist zu sein, um zu verstehen, dass es sich nicht um Dummköpfe handelt. Zumindest der Entführer, der die Nachricht geschrieben hat, spricht gutes Deutsch. Die wissen natürlich, dass die Polizei sie jagt. Sie haben nicht mal gefordert, dass wir draußen bleiben sollen. Die wissen auch, dass es einen Krisenstab geben wird. Was wir diskutieren.«
»Warum haben Sie die noch nicht verhaftet?«, fragte der Verfassungsschutz.
Der BND grinste. Der Innensenator schüttelte den Kopf.
De Bodt lehnte sich zurück. »Man kann wohl falsch wissen. Es wird etwas falsch gewusst, heißt, das Wissen ist in Ungleichheit mit seiner Substanz.«
Die Runde blickte ihn verständnislos an.
»Ermitteln heißt, die Gleichheit mit der Substanz finden. Man sollte Hegel in jeden Kommissarlehrgang einbauen.«
Ratlosigkeit, Unverständnis, aufkeimender Zorn in den Augen. »Wir sollten zur Sache kommen«, sagte der Polizeipräsident. »Und unsere Zeit nicht verschwenden.«
»Wir brauchen mindestens eine vernünftige Arbeitshypothese, besser mehrere«, erwiderte de Bodt. »Sonst wissen wir nicht, in welche Richtung wir ermitteln sollen.«
»Sie wissen natürlich auch schon, was die Entführer fordern.« Der Staatsminister lächelte abfällig.
»Ja, entweder eine Änderung der Politik oder den Rücktritt der Kanzlerin. Vielleicht auch, dass sie einen Minister feuert.«
Yussufs PC bootete. Ein Presslufthammer dröhnte los. Das Telefon klingelte. Salinger nahm ab, stopfte sich den Daumen ins andere Ohr.
»Wo ist Herr de Bodt?«, fragte Tilly.
»Keine Ahnung«, sagte Salinger.
Die Tür öffnete sich. Als hätte ihn einer gerufen. Salinger deutete auf den Hörer. Ihre Lippen sagten: Tilly.
De Bodt nahm den Hörer. »Gut, wir übernehmen.«
Die Zander war schon da. Dazu Polizeiwagen mit Blaulicht. Eine Ambulanz. Beamte sicherten das Absperrband gegen Gaffer. Die drängten sich, Telefone in der Hand.
»Stromausfall vorbei«, sagte die Zander. Deutete auf die Leiche, als hätte die damit was zu tun. Eine Frau. Fahle Haut.
»Name, Adresse?«, fragte Yussuf.
Salinger stand am Ufer und sah sich um.
»Nichts«, sagte die Zander. Sie kniete sich neben die Leiche. »Nichts gefunden. Etiketten gibt’s auch nicht. Die hätten auch nicht viel geholfen. Das ist nichts Exquisites, C&A, Peek & Cloppenburg, so die Ecke.« Sie blickte über die Schulter de Bodt an. »Kommen Sie morgen nach der Mittagspause auf einen Kaffee vorbei.«
Kaum war der Lärmterror erstorben, erschien Tilly. Der Kriminalrat stieß auf einen Auflauf im ersten Stock. Kollegen, die über den Stromausfall rätselten. Tilly schickte ein paar durch die Gänge, die Kollegen zusammenzutrommeln. Als de Bodt mit seinen Leuten im Besprechungsraum auftauchte, waren alle Plätze besetzt. De Bodt lehnte sich an die Wand neben der Tür.
»Schön, dass nun alle da sind«, sagte Tilly.
Ein Knacken.
»Immerhin funktioniert unser Digitalfunk«, sagte der Kriminalrat. Seit dessen Einführung hatten die Polizisten den verflucht. Verbindungen rissen ab. Wehe, man stieg die Treppe zu einer U-Bahn runter. Verständigung per Rauchzeichen oder Trommeln wäre zuverlässiger.
»Komisch«, sagte Krüger. »Alles geht den Bach runter, nur der Digitalfunk nicht.« Er saß neben Tilly.
»Den musste niemand plattmachen, das erledigt der von selbst«, sagte Yussuf.
Eine Stimme, blechern.
»Vielleicht können Sie das mal ausmachen«, sagte Tilly.
Die Oberkommissarin Baumann hatte mit dem Gerät gespielt. Als sie es in die Hand nahm, sagte die Stimme: »Weibliche Leiche im Landwehrkanal.«
De Bodt blickte auf die Uhr. Yussuf hatte die Vermisstendatenbank durchforstet. Niemand ähnelte der Leiche aus dem Landwehrkanal. »Die kommt nicht von hier«, sagte de Bodt.
Salinger kaute auf einem Bleistift.
»Geht nach Hause, es ist fast Mitternacht.«
Salinger nickte. Nahm ihren Anorak vom Haken. »Tschüss!«
De Bodts Handy klingelte. »Guten Abend.« Er hörte zu. »Gut.«
Salinger stand in der Tür und blickte ihn an.
»Ich hab Überstunden«, sagte de Bodt.
»Warum?«, fragte Yussuf.
»Verrate ich euch später … Vielleicht.«
Am Morgen erschien Tilly im Büro. »Da haben Sie sich aber schön in die Nesseln gesetzt.«
»Es gibt Schlimmeres.« De Bodt saß auf dem Stuhl neben dem Eingang.
Die Tür hätte fast den Kriminalrat getroffen, als Salinger ins Büro stürmte. »Oh, sorry, die U-Bahn ist liegen geblieben.«
»Was wissen Sie über den Stromausfall?«, fragte de Bodt.
Tilly schüttelte den Kopf. »Nichts, wird untersucht. Die Medien machen Theater. Leute, die im Aufzug stecken geblieben sind, erzählen ihre Leidensgeschichte. Unfälle an Ampeln. Chaos im Nahverkehr. Heizungen sind ausgefallen. Und so weiter.« Er blickte de Bodt an. »Sie wissen bestimmt schon, wer es war.« Häme in den Mundwinkeln.
»Vielleicht die Leute, die den Mann der Kanzlerin entführt haben?«
»Aha«, sagte Tilly.
»Was?! Der Süß wurde entführt?!« Salinger erstarrte hinter ihrem Schreibtisch.
»Aber das bleibt hier im Büro«, sagte Tilly. Blickte de Bodt streng an.
»Spätestens morgen steht es sowieso überall«, erwiderte Yussuf.
Und erntete einen finsteren Blick des Kriminalrats.
De Bodts Handy vibrierte. »Ich verbinde mit dem Innensenator«, sagte eine Frau.
»Guten Tag, Herr Hauptkommissar.« Als de Bodt nichts erwiderte: »Sie liegen diesmal so richtig daneben. Wir haben die erste Forderung der Entführer. Sie wollen, dass Wedenstein entlassen wird. Wie ich hörte, ist das ja Ihr spezieller Kunde.«
»Erste Forderung?«
»Weitere sind angekündigt. Salamitaktik.«
»Sehr schlau«, sagte de Bodt. »Das dicke Ding kommt noch.«
»Ich finde den Fall Wedenstein schon dick genug.«
»Was haben Sie vor? Wollen Sie ihn entlassen?«
»Haben wir die Wahl?«
»Natürlich. Aber die zweite Möglichkeit trauen Sie sich nicht.«
»Wie bitte?« Klang wie: Was nehmen Sie sich raus?
»Wir sollten denen mitteilen, dass wir die Forderung erfüllen werden, sobald die alle Forderungen nennen. Sonst machen die uns fertig. Stück für Stück.«
»Hm. Ich weiß nicht. Und wenn die der Kanzlerin einen Finger ihres Gatten schicken?«
»Sie sollten es mit der Kanzlerin besprechen. Wenn sie dagegen ist, kann sie auch gleich zurücktreten.«
Schweigen.
»Eine Kanzlerin, die zum Spielball von Gangstern wird …«
»Natürlich.«
»Wollen Sie sich von mir verabschieden? Das ist ja nett«, sagte Bob alias Wedenstein. Er beglotzte Salinger, wie immer. »Ich hab mir Ihr Bild eingeprägt, so ging es leichter.«
»Scheißkerl!«, erwiderte Salinger.
Sie saß Bob gegenüber. De Bodt schaute aus dem vergitterten Fenster des Besucherzimmers.
»Ich hab mir immer vorgestellt, Sie würden merken, dass ich der Richtige für Sie bin.«
»Wir klären das noch, okay?« Sie klopfte auf das leere Pistolenholster am Gürtel.
»Hätte nicht gedacht, dass Sie einen Hang zur Gewalt haben.«
»Da können Sie mal sehen.«
»Genug Süßholz geraspelt«, sagte de Bodt. »Woher wissen Sie, dass Sie freikommen?«
»Ein Vögelchen hat …«
»Wenn wir Sie wieder einfangen, kommen Sie nicht mehr aus dem Knast raus«, sagte de Bodt. »Sie werden in einer armseligen Zelle oder auf einer beschissenen Krankenstation verrecken. Nicht mal ich werde Sie noch besuchen …«
»Aber vielleicht Ihre …«
»Halten Sie das Maul«, sagte Salinger. Cool, wenigstens äußerlich.
»Sie hängen mit drin in dem Erpressungsfall«, sagte de Bodt. »Das wird teuer.« Er blickte aus dem Fenster. Durch Gitterstangen gesiebte Wirklichkeit. Zumindest deren Anschein. Warum wollten die Entführer Bob rausholen? Beim letzten Mal war es ein Ausbruch gewesen, mit brutaler Gewalt. Er erinnerte sich an den Justizbeamten, der neben ihm erschossen worden war. Und schluckte, weil sein Magen sich auch erinnerte. Bob hatte in der Szene einen sagenhaften Ruf. Immer noch. Obwohl ihm ein rachsüchtiger Tourist ein Auge weggeschossen hatte, obwohl er im Rollstuhl saß. Aber sein Hirn arbeitete. Er war immer ein Organisator gewesen. De Bodt wandte sich Bob zu. »Sie könnten den großen Preis gewinnen. Wir haben gerade so was wie eine Staatskrise …«
»Ich weiß.« Bob lächelte.
»Wenn Sie uns Hinweise geben … und ein Geständnis … die Dankbarkeit der Regierung würde Sie geradezu ersticken.«
»Die würde mich glatt laufen lassen, nach einem Anstands-Vierteljahr für die Medien, versteht sich.«
»Könnte ich mir vorstellen«, sagte de Bodt.
»Ich verlasse dieses Hotel aber schon morgen.«
»Wenn Sie für uns arbeiten …«, sagte de Bodt.
»Spricht mich der Papst heilig«, erwiderte Bob. »Das klappt ja auch bei Leichen.«
»Wann genau haben Sie erfahren, dass Sie rauskommen?«, fragte Salinger.
»Tja«, sagte Bob.
Der Direktor der JVA Tegel verbarg seinen Ärger nicht. »Sind Sie etwa nicht sauer?«
De Bodt saß ihm gegenüber. »Doch. Aber das ändert nichts. Ich möchte alles wissen. Über alles, was Wedenstein im Knast getrieben hat. Wo hat er gearbeitet? Mit wem hatte er Kontakt? Was hat er gelesen?«
Der Direktor nickte. »Er gehört zu den wenigen, die Bücher geradezu verschlingen.« Er kramte in einer Mappe. Zog ein Blatt Papier heraus. Gab es de Bodt. »Ich mach Ihnen eine Kopie.«
De Bodt überflog die Liste. Ein paar Krimis. Ein Fachbuch der Ornithologie. Lehrbuch der Toxikologie. De Bodt tippte darauf.
»Nichts Besonderes«, sagte der Direktor. »Das befriedigt vermutlich Rachefantasien.«
»Warum steht so was in der Gefängnisbibliothek?«, fragte Salinger.
»Eine Bücherspende.«
»Von wem?«
»Anonym«, sagte der Direktor. »Wir haben die Sendung gesiebt, nichts Strafbares. Vielleicht hatte jemand ein schlechtes Gewissen. Das Gewissen geht oft krumme Wege.«
»Das Buch möchte ich haben«, sagte de Bodt.
Der Direktor gab es ihm.
»Hatte Wedenstein Besuch?«, fragte Salinger.
»Ich glaube nicht. Ich schau mal nach, sicherheitshalber.« Er wackelte mit der Maus, um den PC aufzuwecken. Schüttelte den Kopf. »Doch, doch … er hatte Besuch.«
»Von wem?«, fragte de Bodt.
»Bengt Komani«, sagte der Direktor.
»Verwandt?«, fragte Salinger.
»Onkel.«
»Wer hatte Dienst an der Pforte? Wer hat diesen Komani reingelassen?«
»Ich ruf den Kollegen«, sagte der Direktor.
Es erschien ein untersetzter Mann in Uniform. »Komani, Komani … Ja, ich erinnere mich.«
»Laut Unterlagen hatte er einen polnischen Pass.«
»Er sprach auch so wie ein Pole.«
»Woher wissen Sie das?«, fragte de Bodt.
»Es gibt genug Polen in Berlin …«
»Woher wissen Sie, dass es Polen waren, die Sie gehört haben?«
Der JVA-Beamte schwieg. Schweißperlen auf der Stirn.
»Könnte es nicht auch ein Tscheche gewesen sein? Oder ein Russe?«
Im Café Eliza in der Sorauer Straße in Kreuzberg.
»Machst du gleich zu?« Salinger blickte auf ihre Uhr. Draußen war es schon dunkel. Es hatte geregnet und nach Schnee gerochen.
»Keine Sorge«, sagte Anne. »Ich muss noch backen. Seid ihr vollständig?«
Sie nickten.
Anne schloss ab. »Sonst bricht hier das Chaos aus.« Sie blickte de Bodt an. »Ihr bedient euch selbst. Wer kann mit der Kaffeemaschine umgehen?«
Yussuf streckte den Finger wie ein Pennäler.
»Hätt ich mir denken können. Wenn der die Maschine zerstört hat, ich bin in der Küche.« Anne verschwand hinter der Tür am Tresen.
»Bösartig, die Frau«, sagte Yussuf.
»Als Café-Besitzerin lernt man die Menschen kennen. Die weiß, was sie von dir zu erwarten hat«, sagte Salinger.
De Bodt blätterte im Lehrbuch der Toxikologie. »Schade, er hat nichts angestrichen. Aber diese Seite hat er sich womöglich ein paarmal angesehen. Oder er hatte bei dem einen Mal die Hände nicht gewaschen. Und die Ecke oben hat jemand geknickt, um die Stelle gleich zu finden. Ich mach das auch immer so.« Er zeigte Salinger die Seite.
»Botulinumtoxin«, sagte sie. »Muss ich das kennen?«
»Wenn du das übelste Gift der Welt suchst …« Er überlegte, aber er fand keinen Sinn. »Die Kanzlerin muss zurücktreten«, sagte de Bodt. »Aber das ändert nicht viel. Deswegen werden die den Süß nicht freilassen. Wenn ich die wäre, dann würde ich als Nächstes fordern, dass sie im Amt bleibt.« Er überlegte kurz. »Das werden sie tun. So weit kenne ich die schon.«
»Hellseherei finde ich nur begrenzt unterhaltsam«, sagte Salinger.
De Bodt schien es nicht zu hören. Yussuf misshandelte die Kaffeemaschine hinterm Tresen. Dennoch begann sie brav zu zischen und zu brubbeln.
De Bodt goss grünen Tee, dritter Aufguss, in seine Tasse. »Wie könnte man eine Regierung am besten erpressen?«, fragte er mehr sich selbst. »Die sind genial, die machen das häppchenweise. Wenn die auf einen Schlag mit einer Forderungsliste kämen, müsste die Regierung ablehnen. Wenn sie überleben will. Aber so, Salamischeibe für Salamischeibe, das ist psychologisch geschickt. Die schieben die Grenze des Erträglichen immer weiter hinaus.«
Yussuf servierte Salinger einen Cappuccino. Blieb stehen, streckte die Hand vor. »Anständige Leute geben Trinkgeld.«
Salinger legte eine Ein-Cent-Münze in die Hand. »Und Bob, das Arschloch … äh, Entschuldigung … dein bester Freund?«
»Der hat das vielleicht organisiert.«
»Im Knast?«
»Warum nicht? Vergiss Herrn Komani nicht. Läuft die Anfrage an die polnischen Kollegen?«
»Klar«, sagte Yussuf. »Ich wette, den gibt’s nicht. Jedenfalls nicht in Polen.« Er stellte einen Espresso auf den Tisch. Setzte sich. »Und wenn es das große Ablenkungsmanöver ist? Jeder weiß, dass unser Freund in Tegel einsitzt. Dass er schon mal abgehauen ist. Die Bob-Spur führt zu Söldnern, Profikillern, sofern es da einen Unterschied gibt.«
De Bodt nickte. »Möglich. Die sind schlau. Den Mann der Kanzlerin zu entführen ist eine geniale Idee. Besser, als sich die Kanzlerin zu schnappen. Zumal die gut bewacht wird.« Er hatte das Genörgel des Verfassungsschutzes im Kopf: »Leichtfertig, den Mann allein fahren zu lassen.« Die Entführer waren dem Professor gefolgt. Hatten einen Unfall vorgetäuscht. Auf der B96a, Nordrichtung, kurz vor der Abfahrt nach Blankenfelde. Als der Benz des Professors anhielt, bedrohte ein Mann Süß mit einer Maschinenpistole. Der öffnete die Türen. Zwei Typen setzten sich in den Wagen. Zwangen den Professor, mit Vollgas zu verschwinden. Der Lieferwagen reparierte sich in Windeseile selbst. Und fuhr weg. Sie waren vermutlich zu dritt gewesen. Nur zu dritt. Das hatten Zeugenaussagen ergeben. Das war aber auch alles, was die Behörden wussten. Sie hatten kein Kennzeichen, nicht mal die Farbe des Lieferwagens war bekannt. Blau oder schwarz. Inzwischen vermutlich Ferrari-Rot oder abgefackelt.
»Die haben Angst um ihre Karriere. Trauen sich nicht, der Kanzlerin ins Gesicht zu sagen, dass sie nichts wissen. Dazu hätte ein Satz genügt.« Er ärgerte sich immer noch über die Verrenkungen der Bürohengste. Was die so alles ermitteln wollten. MI5, MI6, NSA, CIA, RG. Die Abkürzungen waren durch den Raum geflattert wie hysterische Sperlinge. Die Kanzlerin hatte genickt und geschwiegen. »Die Entführer werden sich nicht lange darauf verlassen, dass sie einen Trumpf in der Hand haben. Die planen das ganz große Ding. Wenn ich die wäre, ich würde nachlegen.«
»Du solltest die Seite wechseln. Also, ich wär dabei«, sagte Yussuf. »Kohle satt, kein Tilly. Super!«
»Wundert mich nicht«, sagte Salinger. »Die werden nachlegen.«
»Wir sind erst am Anfang«, sagte de Bodt.
»Wir sind erst am Anfang«, wiederholte er am Abend im provisorischen Kanzleramt in der Julius-Leber-Kaserne. Die Kanzlerin war grau im Gesicht. Aber sie beherrschte sich. »Ich werde zurücktreten müssen. Dann läuft das ins Leere.«
»Dann werden die Ihren Mann umbringen«, sagte de Bodt. »Hat hier jemand Kontakt zu den Entführern?«
Tilly sagte leise: »Ich.«
»Und warum verraten Sie mir das nicht?«
»Ich sollte es geheim halten.«
»Aber doch nicht vor den eigenen Leuten«, sagte der Polizeipräsident. Schüttelte den Kopf. »Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen Ihre besten Leute einbeziehen …«
»Das habe ich …«
De Bodt grinste. Krüger also. »Ich bin sicher, dass der Herr Kriminalrat mich bald dazugeholt hätte«, sagte de Bodt.
Ein dankbarer Blick von Tilly.
Der Polizeipräsident hob die Brauen.
»Wir sind erst am Anfang, das haben Sie gesagt«, wiederholte die Kanzlerin.