Inhaltsverzeichnis
ZUM GELEIT
Dieses Buch möchte allen, die mit Kindern leben und arbeiten, eine konkrete Hilfe sein, menschliche Werte gemeinsam mit ihnen im Alltag zu entdecken und zu erfahren. In den letzten zwei, drei Jahren wurde ich privat, an Kursen und Tagungen immer wieder angesprochen auf das Thema Werteerziehung in der Familie und im Kindergarten. Was läuft falsch? Was könnten wir anders machen? Ich habe mit Müttern, Vätern, Großeltern, Erzieherinnen, Lehrern, Kinderpsychologen, Bildungsfachleuten, Familienpolitikern und Kindern darüber diskutiert, was wirklich zählt im Leben und wie man der heutigen sozialen Kälte und der gesellschaftlichen Verarmung etwas entgegensetzen kann. Kinder lernen Werte nicht durch Reden, sondern durch Handeln. Wir alle stellten uns der Frage: Wie lassen sich Werte im Alltag am besten an Kinder weitergeben?
Für mich steht als Motto für das Zusammenleben mit Kindern und Erwachsenen die »Goldene Regel« im Zentrum, die Hans Küng in seinem »Weltethos« wie folgt beschreibt: Es gibt ein Prinzip, das seit Jahrtausenden in religiösen und ethischen Traditionen der Menschheit zu finden ist und sich bewährt hat: Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem anderen zu. Oder positiv ausgedrückt: Was du willst, das man dir tut, das tue auch den anderen! Dies sollte die unverrückbare, unbedingte Norm für alle Lebensbereiche sein, für Familie und Gemeinschaften, für Rassen, Nationen und Religionen.
Weil das Thema so vielfältig ist, habe ich versucht, es aus verschiedenen Richtungen zu beleuchten, und viele praktische Beispiele zusammengetragen. Den Grundstein für ein Wertebewusstsein legen wir, indem wir mit Kindern täglich Werte beachten, sie vorleben und gemeinsam handeln. Die Wochentage können uns eine Gedächtnisstütze sein beim Einüben konkreter Werte.
Herzlichen Dank: Für dieses Buch habe ich unzählige Gespräche geführt mit Eltern, Erzieherinnen und Kindern. Hier möchte ich allen danken, die etwas zu diesem aktuellen, komplexen Thema beigetragen haben. Besonderer Dank gebührt Gudula Brunner, sie hat mit fünf- bis achtjährigen Kindern über philosophische Fragen gesprochen und mir diese zur Verfügung gestellt. Die Antworten zeigen uns, was Kinder heute denken. Sie haben ein erstaunlich feines Gespür für Echtheiten und können ihre Gedanken dazu bemerkenswert gut formulieren. Diese Kinder-Gespräche sind eine große Bereicherung für das Buch. Lassen Sie sich inspirieren und fangen Sie an, selbst mit Kindern zu philosophieren. Viele konkrete Anregungen bekam ich im Pädagogischen Institut in München von Ruth Mayer und Elenore Höchtlen. Zur interkulturellen Pädagogik und Spracherziehung hat Inge Rainer Material beigesteuert. Herzlichen Dank auch an die erfahrene Erzieherin und Buchautorin Maria Caiati und die Kindertherapeutin Monika Sellmayer.
Ein Dankeschön allen, die dem Aufruf im Schweizer Kindergartenblatt gefolgt sind und ihre Erfahrungen mit Werteerziehung beisteuerten. Heidi Jauslin hat ihre Erkenntnisse als Pädagogin und Buchhändlerin zur Verfügung gestellt und die Kindergärtnerinnen aus Diegten (Schweiz) haben das Manuskript gegengelesen und Praxisanregungen eingebracht. Renate Läderach und Franziska Kehl erläuterten mir das Konzept »Familie Bär« der Tagesstätte Inselspital Bern. Christina Gössi brachte ihre Sicht als Spielgruppenleiterin ein. Maria Brühlmeier-Baumgartner hat Praxisanregungen für die Friedenserziehung im Kindergarten beigetragen. Aus philosophischer Sicht hat mir ein Vortrag zum Thema Wertewandel von Prof. Dr. Annemarie Pieper, Basel, viele gute Gedankenanstöße gegeben, ebenso ein Referat von Prof. Dr. Hein Retter zur Frage »Spiel und Spielzeug auf der Schwelle eines neuen Zeitalters«.
Suzanne Stōcklin-Meier
MENSCHLICHE WERTE IN DER ERZIEHUNG
Vom Elternhaus, dem Kindergarten und der Schule wird eigentlich erwartet, dass Kinder dort das lernen, was man im weitesten Sinne als menschliche Werte bezeichnet: Ehrlichkeit, Liebe zu anderen Menschen und Konfliktfähigkeit zum Beispiel oder auch Achtung vor der Natur, Verantwortungs- und Glücksfähigkeit. Leider funktioniert das heute in der Praxis oft nicht mehr.
Die Kernfrage ist: Wie lernt man, ein »guter Mensch« zu werden? Was können Eltern und Lehrkräfte der Verrohung der modernen Gesellschaft und der immer brutaler werdenden Medienwelt entgegensetzen? Wo nehmen sie die Kraft, die Gelassenheit und die nötigen Visionen her, um den Erziehungs- und Bildungsauftrag wieder als Einheit zu verstehen?
Kinder lassen sich nicht nur »erziehen« oder »bilden«. Beides gehört untrennbar zusammen. Dabei werden auch die vorgelebten Werte der Erwachsenen an die Kinder weitergegeben. Werteerziehung lässt sich nicht »an andere« delegieren. Sie fängt bei jedem persönlich an. Aristoteles, der Philosoph aus der Antike, drückte das so aus:
Wenn du die Welt verändern willst, musst du bei dir selber anfangen.
Kinder lernen durch Nachahmung und darum hat unser Vorbild einen größeren Einfluss auf sie, als uns das allgemein bewusst ist. Aus dieser Erkenntnis sagt die Schriftstellerin Pearl S. Buck:
Wenn Sie Ihren Kindern unbedingt etwas geben wollen, dann geben Sie ihnen ein gutes Beispiel.
Wir alle sind fortwährend in der »Schule des Lebens«. Jeder wird täglich in seinen Wertvorstellungen geformt vom gesellschaftlichen Umfeld, den geltenden Regeln und Gesetzen seines Landes, den religiösen und ethischen Haltungen seiner Familie und der Öffentlichkeit. Durch menschliche Vorbilder lernen wir zwischen »gut« und »böse«, »falsch« und »richtig« unterscheiden. Vorgelebte Situationen wirken nachhaltiger auf Kinder und ihr Werteverständnis als wohlgemeinte »Predigten«! Dies erkannte der chinesische Philosoph Konfuzius schon vor langer Zeit. Ihm wird dieses weise Zitat zugeschrieben, das uns aufzeigt, wie Kinder lernen:
Erzähle es mir – und ich werde es vergessen. Zeige es mir – und ich werde mich erinnern. Lass es mich tun – und ich werde es behalten.
Wichtige Regeln für Eltern und Erziehende
• Den Mut haben, sich Fragen zu stellen wie: Was ist mir wichtig? Was muss ich über Werte wissen? Was sind meine eigenen Werte? Welche Werte erwarte ich bei anderen? Was haben sie mit meinem Verhalten zu tun? Wie viele Werte braucht der Mensch? Was ist das Minimum an verbindlichen Regeln? Welche sind überholt und welche dringend notwendig für ein friedliches, menschenfreundliches Zusammenleben? Wie kann ich Werte so weitergeben, dass Kinder sie begreifen?
• Gehorsam nicht nur fordern, sondern wenn möglich erläutern.
• Grenzen und Sanktionen in gute, fürsorgliche Verhältnisse einbinden.
• Bereit sein, an sich selbst zu arbeiten, um Kindern ein gutes Beispiel zu sein.
WERTE VERÄNDERN SICH IM LAUFE DER JAHRHUNDERTE
Heute hat bei uns jeder erwachsene Mensch die Möglichkeit, persönlich zu wählen, welche Werte er verwirklichen will. Das war nicht immer so. Jahrhundertelang gab es unangefochtene Instanzen, die den allgemeinen Verhaltenskodex festlegten und über seine Einhaltung wachten. Es waren vor allem die Kirche, die staatliche Obrigkeit, die Tradition und die bürgerliche Gesellschaft. Ein Teil unserer heutigen Werte stammt aus der Antike von Platon und Aristoteles. Damals gehörten Tapferkeit, Besonnenheit, Gerechtigkeit, Freundschaft und Wahrhaftigkeit zu den tragenden Werten.
Der griechische Philosoph Platon wird als der Gründer unserer abendländischen Philosophie angesehen. Von ihm stammt das treffende Zitat:
Es ist keine Schande nichts zu wissen,
wohl aber, nichts lernen zu wollen.
Er beklagt in einem seiner Texte den Wertezerfall der Jugend. Wenn man ihn liest, wirkt er sehr aktuell, und man könnte denken, er sei von einem heutigen Schuldirektor geschrieben:
»Wenn sich Väter daran gewöhnen, ihre Kinder einfach gewähren und laufen zu lassen, wie sie wollen, und sich vor ihren erwachsenen Kindern geradezu fürchten, ein Wort zu reden; oder wenn Söhne schon sein wollen wie die Väter, also ihre Eltern weder scheuen noch sich um ihre Worte kümmern, sich nichts mehr sagen lassen wollen, um ja recht erwachsen und selbstständig zu erscheinen, dann zerfällt die Demokratie. Und auch die Lehrer zittern bei solchen Verhältnissen vor ihren Schülern und schmeicheln ihnen lieber, statt sie sicher und mit starker Hand auf einen geraden Weg zu führen, so dass die Schüler sich nichts mehr aus solchen Lehrern machen. Sie werden aufsässig und können es schließlich nicht mehr ertragen, wenn man nur ein klein wenig Unterordnung von ihnen verlangt. Am Ende verachten sie dann die Gesetze auch, weil sie niemand und nichts als Herr über sich anerkennen wollen. Und das ist der schöne, jugendfrohe Anfang der Tyrannei.«
Im Mittelalter wirkte Thomas von Aquin als italienischer Dominikanerpater. Dem damaligen Wertebewusstsein fügte er die drei christlichen Tugenden hinzu:
Glaube, Hoffnung und Liebe. Von ihm sind die nachfolgenden drei Zitate überliefert, die mir als Gedankenanstoß im Umgang mit Kindern auch heute noch gut gefallen:
Erfahrung ist der Anfang aller Kunst
und jedes Wissens.
Freude ist die Gesundheit der Seele.
Der Anfang ist die Hälfte vom Ganzen.
Später setzte der Absolutismus den unbedingten Gehorsam auf die Werteliste und die Aufklärung die Vernunft und das Kritikvermögen. Im Laufe der Zeit wurden die so genannten »bürgerlichen Tugenden« wichtig wie Ordnung, Sauberkeit, Fleiß, Sparsamkeit, Pünktlichkeit und Pflichterfüllung.
Im letzten Jahrhundert brachte die 68er-Bewegung neue Dynamik in die Erziehungsszene. Sie versuchte, rigide Verhaltensvorschriften und sinnlose Verbote aufzubrechen und autoritäre Vaterfiguren abzuschütteln. Werte wie Solidarität, Mitsprache, Selbstständigkeit und Gleichberechtigung rückten in den Vordergrund. Die verkrusteten Erziehungsmethoden von übertriebener Autorität, Zucht und Ordnung, die mit Prügelstrafen ihr Ziel erreichen wollten, wurden über Bord geworfen. Das Pendel schlug bald ins andere Extrem aus und gipfelte in grenzenloser Freiheit und falsch verstandener antiautoritärer Erziehung. Darauf folgte eine große Verunsicherung und Ratlosigkeit in Erziehungsfragen bei Eltern und Erziehenden. Denn beide Erziehungsstile haben sich in der Praxis nicht bewährt. Die veraltete Methode der engstirnigen, autoritären Pädagogik hat, grob ausgedrückt, die Entwicklung von Duckmäusern und Anpassern begünstigt und die neue, grenzenlose Laisser-faire-Haltung förderte kleine, selbstgerechte Egoisten, die sich kaum mehr um geltende Regeln und Sozialformen kümmerten.
Heute ist die Zeit reif für einen neuen Mittelweg in der Pädagogik. Kinder brauchen gute Autorität, wo nötig klare, verbindliche Grenzen und gleichzeitig so viel Freiheit, dass sie sich zu eigenständigen, kreativen, verantwortungsbewussten Menschen entwickeln können.
KINDER BRAUCHEN REGELN UND WERTE
Es hat sich gezeigt, dass schon Kleinkinder Regeln und Werte brauchen. Mit Regeln können sie sich täglich altersgemäß und spielerisch auseinander setzen, ihre Kräfte messen und sich an vorgegebenen Grenzen ihre »Hörner« abstoßen. Regeln und Werte geben ihnen Schutz und Sicherheit. Warum? Grenzen und Regeln verleihen der Welt, die für Kinder so viel Unvorhersehbares und Neues enthält, Struktur und Verlässlichkeit. Denn diese Regeln gelten immer. Zumindest so lange, bis sie gemeinsam neu festgelegt werden. Solche Regeln, von denen es nicht zu viele geben sollte, müssen daher von Erziehenden wohl überlegt sein, damit diese mit innerer Überzeugung und Konsequenz auf ihre Einhaltung achten können.
Kinder, die in einem sozialen Umfeld mit überschaubaren Grenzen aufwachsen, haben erwiesenermaßen weniger Angst. Sie entwickeln mehr Vertrauen in sich und ihre Umwelt. Sie werden durch die täglichen Auseinandersetzungen mit den Familien- und Kindergartenregeln auf eine gute Weise konfliktfähig. Aus diesen in der Kleinkindzeit erworbenen Wertevorstellungen entsteht das Fundament ihres späteren Weltbildes, ihrer Wertewelt schlechthin. Das funktioniert nur, wenn Eltern und Erziehende sich dieser Herausforderung stellen. Aufgrund der heutigen Vielfalt an möglichen Wertorientierungen ist es besonders wichtig, dass sie eindeutige Maßstäbe und Grenzen setzen und selber klare Werte vorleben!
Große gesellschaftliche Veränderungen
Die heutigen Hauptprobleme der Kindheit liegen vielfach in den massiven gesellschaftlichen Veränderungen begründet. Sie beeinflussen Familien und Kindheit sehr stark und bringen ganz allgemein einen Wandel der Werte mit sich: Arbeitslosigkeit oder drohende Arbeitslosigkeit, Geldsorgen, Zukunftsängste und Scheidung, mangelnde Kommunikation, Belastung durch Alleinerziehung, Berufstätigkeit beider Eltern, Sinnentleerung und Entwurzelung, Angst vor sexuellen Übergriffen auf die Kinder, Angst vor Gewalt an Kindern durch Kinder und große Unsicherheit bei der Erziehung. Die Industriegesellschaft hat sich zur Informationsgesellschaft gewandelt. Wir leben heute in einer mediengeprägten Umwelt. Im Bereich der Medien tauchen Fragen auf: Wie lange darf ein Kind täglich vor dem Fernseher sitzen? Schaden Videospiele? Ist der Computer ein Spielzeug? Wie viel Mediengewalt erträgt ein Kind?
Was prägt die Kindheit heute?
Der Leistungs- und Arbeitsdruck im Beruf hat enorm zugenommen. Das bewirkt, dass Eltern zu Hause häufig diesen Stress in Form von Gereiztheit und Zeitmangel an die Kinder weitergeben. Es herrschen vielmals Unsicherheit in der persönlichen Lebensplanung und Ratlosigkeit über die »richtige« Erziehung. In den letzten vierzig Jahren hat sich das Rollenverständnis der Frau stark geändert. Die meisten sind heute Mutter und Berufsfrau in einem, doch beides ist nicht so leicht unter einen Hut zu bringen. In den modernen Kleinstfamilien fehlen die helfenden Hände der Großmütter und Tanten. Junge Eltern leben oft isoliert und haben wenig Erfahrung im Umgang mit Babys. Mütter in Kleinfamilien fühlen sich häufig allein gelassen und überfordert. In jeder Erziehungsgruppe, sei dies nun in der Krippe, in der Spielgruppe oder im Kindergarten, gibt es Kinder aus Scheidungs- und Patchwork-Familien. Dauerbelastungen entstehen auch durch Alleinerziehung oder Berufstätigkeit beider Eltern. Verhaltensauffälligkeiten, Sprachstörungen und Allergien bei Kindern steigen weltweit an. Der Einfluss der Gleichaltrigen nimmt laufend zu und kann den Familien Verhaltensmuster aufzwingen, die sie nicht wollen. Der Kinderpsychiater Bruno Bettelheim tröstet die Eltern mit folgendem Zitat:
Es gibt keine perfekten Eltern
und keine perfekten Kinder,
aber alle Eltern können gut sein.
Lebensrealität unserer Familien
In vielen Fällen ist diese Realität heute leider ein Wohnen ohne Spielmöglichkeiten in Gärten und Innenhöfen. Kinder können ihre Umgebung nicht alleine erkunden. Das bedeutet für sie, dass ihre Erfahrungs- und Bewegungsmöglichkeiten begrenzt sind. Zusätzlich sind sie mit den Gefahren des Straßenverkehrs konfrontiert. Das tägliche Spielen und Bewegen im Freien gehört für Kinder zum normalen Tagesablauf. Wo dies fehlt, muss bewusst für Ersatz gesorgt werden auf öffentlichen Spielplätzen, in Parks, auf Wiesen und im Wald.
Die Zeit der Kinder ist immer mehr verplant. Statt Raum für absichtsloses Spielen, Toben oder Träumen gibt es Termine für Kinderturnen, Flötenunterricht oder Ballett.
WERTEZERFALL, WERTEVERLUST?
Es wird heute viel von »Wertezerfall« und »Werteverlust« gesprochen. Doch wer behauptet, die Werte selber verschwänden, täuscht sich. Werte sind immer da, ob wir das wollen oder nicht. Es fragt sich nur, welche Rangordnung wir ihnen geben. Der Mensch setzt Prioritäten und versucht das zu verwirklichen, was er schätzt. Je nach Standpunkt können für ihn unterschiedliche Werte erstrebenswert sein. Denken wir etwa an Freiheit, Wahrheit, Frieden, Gerechtigkeit und Liebe. Sie waren und sind für Menschen zu allen Zeiten wichtig. Aber genauso verhält es sich mit Macht, Ruhm und Profit. Die Liebe zum »Tanz ums goldene Kalb« ist sehr alt und urmenschlich...
Oft wird der eine Wert auf Kosten eines anderen ersetzt. Die Wertvorstellungen haben sich in den letzten Jahren stark verschoben. Leider in eine Richtung, die Geld, Macht, Medien und Gewalt immer mehr Bedeutung verleiht. Das Ideelle, Geistige, Spirituelle und die Visionen scheinen momentan stark in den Hintergrund gerückt zu sein. Die Würde des Menschen wird heute leider oft mit Füßen getreten zu Gunsten von Macht und materiellen Werten. Mahatma Gandhi, der weise Mann aus Indien, hat »die kommenden modernen sozialen Sünden der Menschheit« als Unheil bringend vorausgesagt. Nach ihm zeigen sie sich in:
Politik ohne Prinzipien Geschäft ohne Moral Reichtum ohne Arbeit Erziehung ohne Charakter Wissenschaft ohne Menschlichkeit Genuss ohne Gewissen
Geld avanciert zum Wert schlechthin
Wenn Geld in der Wirtschaft oder privat zum wichtigsten Wert wird, ist die Folge davon ein extremer Materialismus, der alle Wertvorstellungen beherrscht. Viele Menschen kennen trotz der Vielfalt an Werten in den verschiedenen Dimensionen unserer Lebenswelt nur noch einen Grundwert: den des Profits. Dieser Wertbegriff hat sein moralisches und sein demokratisches Profil verloren und wird nur noch auf messbare Gegenstände bezogen. Einzig und allein, was Gewinn einbringt, wird als wertvoll erachtet. Das heißt im Klartext: Das Geld avanciert zum Wert schlechthin. Es ist zum Mittel aufgestiegen, durch das man sich angeblich alles beschaffen kann. Anders ausgedrückt: Geld ist Macht und regiert die Welt! Es entsteht demzufolge ein großer Egoismus. Auf der Strecke bleiben dabei Fürsorglichkeit, Solidarität und Menschlichkeit.
Im Bus beobachtet
Hier ein Beispiel, wie Kinder auch Wertemuster rund ums Geld nachahmen:
Eine alte Frau mit zwei Stöcken steigt sichtlich erschöpft in den voll besetzten Bus ein. Neben der Türe sitzt ein kleines Mädchen. Die alte Frau wendet sich an die Kleine und fragt: »Darf ich mich auf deinen Platz setzen?« »Kommt nicht in Frage, ich habe genauso viel bezahlt wie Sie!«, antwortet die Kleine schnippisch. Da steht eine junge Frau auf und überlässt ihren Platz der Dame mit den Stöcken. Zur Kleinen sagt sie: »Auch ich habe die Fahrkarte bezahlt, trotzdem lasse ich die Frau sitzen, weil sie es nötiger hat als ich!«
Mit Geld lässt sich nicht alles kaufen
Das nachfolgende Gedicht aus Guatemala über den Wert des Geldes hat ein unbekannter Autor festgehalten. Es regt Kinder und Erwachsene an, über Sinn und Unsinn von Geld nachzudenken. Geld allein ist an sich weder gut noch böse, es kommt darauf an, was man damit macht, ob man es sinnvoll einsetzt oder als Machtmittel missbraucht. Das Gedicht zeigt, mit Geld lässt sich nicht alles kaufen:
Ein Bett, aber keinen Schlaf,
Bücher, aber keine Intelligenz,
Essen, aber keinen Appetit,
Schmuck, aber keine Schönheit,
Häuser, aber keine Gemeinschaft,
Medizin, aber keine Gesundheit,
Luxusartikel, aber keine Freunde,
Allerlei, aber kein Glück,
Sogar eine Kirche, aber niemals den Himmel!
Nach dem 11. September
Neben all den Schreckensnachrichten, die man täglich in den Nachrichten hören kann, zeichnet sich tröstlicherweise eine Gegenbewegung ab. Skandale werden aufgedeckt, politisch werden Kurskorrekturen vorgenommen. Werte und Wertewandel sind wieder ein Thema geworden, über das man spricht und nachdenkt, privat und in der Öffentlichkeit. Der Terroranschlag vom 11. September 2001 in New York und Washington und die große Flutkatastrophe 2002 in Europa haben vieles verändert. Neben all dem Schrecken, allem Leid und aller Angst, die dadurch ausgelöst wurden, ist ein großes Potential an Hilfsbereitschaft unter den Menschen aufgebrochen. In der heutigen Zeit ist es besonders wichtig, dass wir uns als Eltern und Erziehende wieder auf lebendige, verlässliche Grundwerte besinnen. Uns Klarheit verschaffen, welche Werte wir in der Familie und im Kindergarten vorleben und fördern wollen. Denn bewusste Werteerziehung hilft, diese an die Nachkommen weiterzugeben.
Im Vorschulalter sind Kinder besonders empfänglich. Sie nehmen vorgelebte Muster unbewusst auf und ahmen sie nach. Was Kinder bis sieben erleben, wirkt prägend für ihr späteres Leben. Grundlage einer gemeinsamen Wertewelt bilden Werte wie
Wahrheit
Rechtes Handeln
Frieden und Miteinander
Liebe
Gewaltlosigkeit
Diese fünf menschlichen Werte sind die Grundpfeiler einer Demokratie und helfen uns privat und in der Öffentlichkeit, gut miteinander auszukommen. Horst-Eberhard Richter, der Publizist und Psychoanalytiker aus Frankfurt am Main, spricht von dieser gemeinsamen Wertewelt, die uns alle verbindet: »Jeder Mensch, ganz gleich welcher Religion er angehört, teilt mit den anderen einen Grundbestand von ethischen Maßstäben oder wie man heute vielleicht sagen würde: eine gemeinsame Wertewelt.«
WERTE UND IHR GEISTIGER HINTERGRUND
Wertvorstellungen hatten und haben ursprünglich immer einen geistigen Hintergrund. Sie geben dem Menschen Sinn in seinem Leben. Albert Einstein, der große Gelehrte und Entdecker der Relativitätstheorie, bringt es auf den Punkt:
Wer keinen Sinn im Leben sieht, ist nicht nur unglücklich, sondern kaum lebensfähig.
Für diesen Sinn, diese höhere Ausrichtung verwenden die Menschen seit vielen Jahrhunderten das Wort Gott.
Haben Kinder heute noch eine Vorstellung davon, wer oder was Gott ist? Da die kirchliche Religiosität in unserer Zeit stark zurückgegangen ist, ist das nicht mehr ohne weiteres von unseren Kleinen zu erwarten.
Abwesenheit von Werten schafft trotzdem Werte
Unser Handeln, Fühlen, Reden und Denken wirkt auf die Kinder, ob wir das wollen oder nicht. Auch wenn wir menschliche Werte kaum absichtlich befolgen und sie nicht bewusst an die Kinder weitervermitteln, geschieht das trotzdem.
Erwachsene haben die Tendenz, für sich und die Kinder unterschiedliche Wertmaßstäbe anzulegen. Das geschieht in der Familie ebenso wie im Kindergarten und in der Schule. Doch Doppelbotschaften verwirren unsere Kinder und ihr Wertebild.
Was stellen sich Kinder unter Gott vor?
Kinder im Alter von vier bis acht Jahren wurden nach ihrer Ansicht von Gott befragt. Was stellen sich Buben und Mädchen heute unter diesem unfassbaren Symbol vor? Hier ihre philosophischen Antworten:
Gott ist alles.
~ ~
Gott gibt es, sonst gäbe es keine Traurigkeit und Lieblichkeit, keine Träume und keine Menschen.
~ ~
Der ganze Himmel bewegt sich hin und her, weil Gott der ganze Himmel ist.
~ ~
Gott ist Mann und Frau und Kind, weil er alles ist.
~ ~
Er schickt die Sonnenstrahlen von oben runter, er macht, dass die Sonne am Abend untergeht, und schickt den Mond auf den Himmel und die Sonne bescheint ihn dann von hinten.
~ ~
Er passt auf die Menschen auf, damit es keinen Krieg und Erdbeben gibt.
~ ~
Aber er kann nicht vom Himmel runterkommen, weil ihn die Luft oben hält, deshalb kann er eigentlich die Erdbeben nicht immer verhindern.
~ ~
In Träumen kann man ihn sehen, sonst nicht.
~ ~
Gestern waren wir in der Kirche. Aber der Gott war nicht da. Trotzdem hat da eine Frau mit ihm geredet, obwohl er einfach nicht da war.
Anregungen für die Praxis
• Wenn das Kind das Telefon abnimmt und Sie deuten ihm an: »Sag, ich bin nicht zu Hause«, lernt es nebenbei, Lügen ist etwas Normales oder Akzeptables.
• Die Eltern brüllen sich im Streit gegenseitig an vor den Kindern und verlangen gleichzeitig von ihnen, Konflikte friedlich zu lösen. Den Kleinen prägt sich ein: »Wenn ich erwachsen bin, darf ich rumbrüllen und streiten. Nur Kinder müssen Konflikte ›anständig‹ lösen.«
• Was geschieht im Kind, wenn die Eltern schimpfen: »Hör sofort auf, deinen Bruder zu schlagen, sonst gibt’s einen Klaps hinter die Ohren«? Solche Drohungen untergraben die Familienregel »Wir schlagen nicht!« und zeigen: Körperliche Gewalt darf der ausüben, der die Macht hat.
• Kinder registrieren, wie achtsam oder schluderig Eltern mit Nahrungsmitteln umgehen. Wird das ganze Brot aufgegessen oder die ältere Hälfte einfach weggeworfen? Lässt man Nahrungsmittel im Kühlschrank verschimmeln und Milch sauer werden? Das Kind lernt dabei, dass wir in einer Wegwerfgesellschaft leben, und das gilt auch für die Nahrungsmittel.
• Wir können die Kinder nicht umweltbewusst erziehen und täglich Hunderte von Litern Wasser vergeuden. In einer Familie mit mehreren Personen macht es einen großen Unterschied im Wasserverbrauch, ob alle duschen oder jeder sich täglich in eine voll gelaufene Badewanne setzt...
• Kinder beobachten, wie achtsam Erwachsene mit Pflanzen umgehen. Lässt man sie verdorren, werden sie ersäuft oder begleiten sie uns über Jahre? Kinder lernen dabei, Naturliebe kann man »nur« predigen oder in die Tat umsetzen.
• Wie sprechen Eltern über Nachbarn, wenn diese abwesend sind, und wie, wenn sie zuhören können? Lernen Kinder dabei, hintenherum darf man schimpfen und in ihrer Anwesenheit ist man freundlich?
DIE FÜNF GRUNDWERTE
DER WERTEBAUM
Ich stelle mir die menschlichen Werte Wahrheit – Rechtes Handeln – Frieden – Liebe und Gewaltlosigkeit wie einen großen Baum vor. Die fünf Grundwerte bilden die Wurzeln, den Stamm und die Äste. Das Blätterdach entwickelt sich aus den Teilaspekten der Werte. Je öfter ich mich – symbolisch gesprochen – unter den Wertebaum setze und in seinem Schatten Schutz suche, den Wind in den Blättern beobachte, den zwitschernden Vögeln zuhöre, desto mehr Kraft spendet er mir. Ich kann hier zur Ruhe kommen, in mich hineinhören und versuchen herauszufinden, wer ich bin, woher ich komme und was ich will. Unter dem Wertebaum kann ich mich auch mit der Familie und Freunden treffen, Geschichten erzählen, Musik machen, singen, tanzen und zusammen essen.
Diese fünf menschlichen Werte sind ethische Bedürfnisse, die für jeden Menschen, ob groß oder klein, wichtig sind! Sie bilden eine gute Basis für unser Zusammenleben. Die Werte gelten auch im außerfamiliären Bereich.
Mit jedem dieser Grundwerte befasst sich im Folgenden ein Kapitel. Wenn man sich vorstellt, die Begriffe Wahrheit, Liebe oder Frieden im Alltag zu leben, kann einen das fast erschlagen. Sie sind als Sammelbegriff zu groß und zu schwer. Wenn ich sie aber in kleine Einzelaspekte unterteile, fällt es mir plötzlich leichter, mich damit auseinander zu setzen. Es ist wie bei einem Kaleidoskop. Wenn ich hindurchschaue und drehe, fügen sich die bunten Glasfassetten zu immer neuen Bildern. Darum enthält jedes der fünf Kapitel eine Wörterliste mit anderen Gesichtspunkten zum jeweiligen Thema: Liebe zeigt sich manchmal als Herzenswärme, Geborgensein, Zärtlichkeit, Liebenswürdigkeit, Mitgefühl oder Freundschaft. Wahrheit ist vielleicht zu beobachten als Realitätsnähe, Mut, Ehrlichkeit oder Unterscheidungsvermögen. Frieden im Alltag erfahren wir etwa als Sichversöhnen, innere Stille, Geduld, Zufriedenheit und Verständnis.
Erstellen wir mir den Kindern eigene Wortsammlungen zu diesen fünf Grundwerten. Vielleicht ist für sie Liebe »Bussi geben« oder »knuddeln« und Frieden gleich »sich die Hände geben«, »Kuchenbacken« oder »zusammen lachen«. Kinder können sich Werte oft besser merken, wenn sie diese als Gegensatzpaare erleben wie
Wahrheit und Lüge gut und böse falsch und richtig zärtlich und grob gemein und freundlich schimpfen und loben gute Manieren und unmögliches Benehmen
Im Rollenspiel, in Gesprächen oder beim Zeichnen können Kinder diese Gegensatzpaare altersgemäß verständlich darstellen. Beim gemeinsamen Betrachten eines Bilderbuches stellen wir Fragen nach Werten wie:
• »Was glaubst du, erzählt das Mädchen hier die Wahrheit oder schwindelt sie?«
• »Was meinst du, geht dieser Junge zärtlich oder grob um mit seinem Hund?«
• »Was denkst du, sprechen die Menschen hier freundlich oder gemein miteinander?«
• »Ist dieses Kätzchen hier wohl glücklich oder unzufrieden?«
Wertekärtchen im Blumentopf
Bevor es in den nächsten Kapiteln genauer um die fünf Werte geht, hier ein paar Anregungen, wie wir uns mit Grundbegriffen auseinander setzen können. Wir schreiben die Grundwerte und die für uns wichtig scheinenden Aspekte auf farbige Kärtchen. Alles, was mit Liebe zu tun hat, kommt etwa auf rote Kärtchen, Wahrheit vielleicht auf gelbe und alles über Frieden halten wir auf Hellblau fest... Die Kärtchen geben uns die Stichworte, auf was wir unsere Aufmerksamkeit an diesem Tag oder in dieser Woche lenken möchten.