Das Buch
»Hexerei ist eine so große Bedrohung für das moralische und geistliche Wohlergehen der Menschen von Connecticut, dass man uns, einen immerwährenden Ausnahmestatus zugestand, was die Todesstrafe für magische Verbrechen betraf.«
Urteilsrichtlinien im Staat Connecticut.
Gepflegte Vorgärten, gutverdienende Bürger, eine harmonische Gemeinschaft – Sanctuary ist eine typische amerikanische Kleinstadt im Herzen Connecticuts. Bis es in einer lauen Sommernacht zu einer Katastrophe kommt: Als die Schüler der Sanctuary High den Ferienbeginn feiern, bricht auf der Party ein Feuer aus, mehrere Teenager werden verletzt, ein Junge stirbt. Der Tote ist Daniel Whitman, der Footballstar und Mädchenschwarm der Schule, freundlich und hilfsbereit, kurz gesagt: ein guter Junge. Das zumindest bekommt Detective Maggie Knight von allen Seiten zu hören, als sie nach Sanctuary beordert wird, um die näheren Umstände der Katastrophe aufzuklären. Schon bald jedoch machen Gerüchte, bei Daniels Tod sei es nicht mit rechten Dingen zugegangen, im Ort die Runde. Daniels Ex-Freundin Harper Fenn gerät ins Visier der Klatschmäuler, schließlich ist sie die Tochter der einzig registrierten Hexe in Sanctuary. Ist Harper, die mehr als nur einen Grund hatte, wütend auf Daniel zu sein, womöglich selbst eine Hexe? Hat sie Daniel gar mithilfe von Magie getötet? Je gründlicher Maggie ermittelt, desto dunklere Geheimnisse treten zutage. Denn in Wahrheit ist Sanctuary alles andere als eine harmonische Gemeinschaft …
Die Autorin
V. V. James studierte Geschichte und Englisch am Merton College in Oxford, wo Tolkien einst Professor war. Sie promovierte in Rom und verbrachte dann als Journalistin einige Jahre in Tokio, wo sie Japanisch lernte. Zurück in Großbritannien arbeitete sie als Produzentin für Channel 4 News und führte Regie für BBC-Dokumentationen. Ihr Leben ist voller Abenteuer und hat sie auf Reisen in die ganze Welt geführt. Inzwischen lebt sie in London und widmet sich ganz dem Schreiben.
V. V. James
SANCTUARY
Roman
Aus dem Englischen übersetzt
von Sabine Thiele
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Titel der Originalausgabe:
SANCTUARY
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Redaktion: Antonia Zauner
Copyright © 2019 by V. V. James
Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung
by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Das Illustrat GbR, München
nach einem Entwurf von Patrick Knowles/Orion Books
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-25160-4
V001
www.heyne.de
Für John.
Freundschaft ist die wahre Magie.
Der Zirkel
Sarah Fenn, Hexe
Abigail Whitman
Bridget Perelli-Lee
Julia Garcia
Die Kinder
Harper Fenn
Daniel Whitman, Quarterback der Sanctuary Spartans
Isobel Perelli-Martineau
Beatriz Garcia
Die Partner
Michael Whitman, Professor für Medizin in Yale
Cheryl Lee, Direktorin der Sanctuary High
Pierre Martineau, Bridgets Ex und Vater von Isobel
Alberto Garcia
Die Polizisten
Detective Maggie Knight, Ermittlerin der State Police
Chief Tad Bolt
Sergeant Chester Greenstreet
Lieutenant Remy Lamarr, Connecticut State Police
Rowan Andrews, unabhängige magische Ermittlungen
»Daher ist der Tod die gerechte und verdiente Strafe einer Hexe.«
– William Perkins, A Discourse of the Damned Art of Witchcraft, 1608
Als Daniel starb, tranken unsere Mütter Champagner. Sie nippten an ihren Gläsern, als Beatriz vor dem brennenden Haus schrie und ich in einen Krankenwagen geladen wurde.
Kurz bevor das erste Feuerwehrauto an ihnen vorbeiraste, erhoben die vier ihre Gläser zu einem Toast, erzählte Mom mir später. Sie prosteten sich zu und tranken auf unsere Zukunft. Sie gratulierten einander, dass wir Kinder trotz unserer »Probleme« – die vier hatten auch so ihre »Probleme« – alles gut überstanden hatten. Die schlechten Zeiten lagen hinter uns, und unsere Freundschaft, ebenso wie ihre, war stärker denn je.
Lügen, Lügen, Lügen.
Und sie alle wussten es.
»Stoßen wir darauf an, dass unsere Kinder endlich erwachsen werden«, sagt Bridget. »Also, eure drei jedenfalls. Auf Harper, Beatriz und Daniel. Noch ein paar Wochen, dann machen sie ihren Schulabschluss, und ein langer Sommer und eine strahlende Zukunft warten auf sie.«
Unsere Gastgeberin schiebt ihren Teller zur Seite und beugt sich vor, um unsere Gläser aufzufüllen.
Also ihres zumindest. Bridget hat uns den Champagner erst vor ein paar Minuten eingeschenkt, weshalb wir anderen bisher kaum davon getrunken haben. Ihr eigenes Glas ist allerdings schon leer. Genau wie die drei Weinflaschen, die zwischen den Überresten unserer Dinnerparty stehen.
Die liebe Bridge gönnt sich gern mal einen Schluck. Und morgen wird sie sich darüber beschweren, dass der Trank, den ich ihr gegen den Kater braue, nicht stark genug ist. Aber ich bin schließlich eine Hexe und keine Wunderheilerin.
Gut, bis auf das eine Mal.
Damals saßen wir an einem warmen Frühlingsabend um ebendiesen Tisch, während die salzige Brise vom Long Island Sound herüberwehte. Ein Abend wie heute.
»Auf unsere Kinder«, sage ich, hebe mein Glas, um einen Schluck zu trinken, und dränge die unwillkommenen Erinnerungen zurück. »Julia, Glückwunsch, dass Bea Politikwissenschaft studieren wird. Abigail, toll, dass Dan das Football-Stipendium bekommen hat. Die beiden werden noch richtige Stars.«
Abigail strahlt vor mütterlichem Stolz, und bei der Erwähnung ihres Sohnes leuchtet sie geradezu. Das war schon immer so.
»Und auf dich, Sarah«, fährt Julia fort. »Harper …«
Verlegen verstummt sie. Auf meine Tochter wartet diesen Herbst weder ein Stipendium noch ein Studienplatz. Harper hat sich nirgends beworben. Aber die Kinder von Hexen gehen normalerweise auch nicht aufs College. Sie gehen in die Lehre. Doch auch da wartet nichts auf Harper, aus Gründen, die meinen Freundinnen nur allzu bewusst sind.
Abigail beherrscht das Navigieren durch peinliche Situationen meisterhaft, schließlich hat sie langjährige Erfahrung mit Fakultätspartys in Yale und den Sportveranstaltungen, die sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn besucht. Sie ist die Diplomatie in Person.
»Sarah, Glückwunsch zu all den Möglichkeiten, die Harper offenstehen«, schnurrt sie.
»Genau das wollte ich auch gerade sagen.« Julia ergreift die ihr zugeworfene Rettungsleine. »Unseren Kindern stehen aufregende Zeiten bevor.«
»Und gerade feiern sie sich die Seele aus dem Leib«, merkt Bridget an und schwenkt die Flasche. »Warum tun wir das nicht auch?«
Sie schenkt uns so eifrig nach, dass der Champagner über unsere Finger schäumt. Wir lachen alle, lecken unsere klebrigen Hände ab und lächeln uns an.
Ich bin stolz auf diese Frauen, meine Freundinnen. Es war nicht immer leicht. Um den Frieden zu wahren, musste ich Geheimnisse hüten. Und noch viel mehr als das. Aber wir haben zusammengehalten und sind trotz vorübergehender Probleme befreundet geblieben. Trotz der Trennungen und Versöhnungen bei unseren Kindern.
Ein Schatten legt sich über das Licht, das durch die Terrassentür fällt. Cheryl gesellt sich zu uns, wie immer, wenn wir vier uns bei ihr zu Hause treffen. Sie mag zwar Bridgets Frau sein, doch bei unserem Anblick sieht sie keinen Hexenzirkel, sondern nur eine Gruppe von Freundinnen, zu der sie ihrer Meinung nach gehören sollte.
Cheryl glaubt, sie sei nicht willkommen, weil sie gläubig ist. Das stimmt zum Teil – Religion und Hexenkunst passen nicht so gut zusammen. Doch vor allem bleibt sie außen vor, weil sie in jener Nacht nicht dabei war.
»Wie war das Abendessen?«, fragt sie und stellt sich hinter Bridget. »Es hat köstlich gerochen.«
»Hast du das Meeresfrüchterisotto nicht probiert?« Bridget dreht sich um und nimmt die Hand ihrer Frau, wobei sie fast vom Stuhl rutscht. »Ich habe dir doch was auf die Anrichte gestellt, Schatz.«
»Es ist viel zu spät, um noch was zu essen. Es ist schließlich schon nach elf.«
Bridges Antwort geht in der lauten Sirene eines Feuerwehrautos unter, das mit hoher Geschwindigkeit am Haus vorbeifährt, gefolgt von einem zweiten. Dann kommt ein Krankenwagen. Die rotierenden Blaulichter erhellen kurz die Seite des Hauses, während die Fahrzeuge die Shore Road entlangrasen.
Cheryl schnalzt missbilligend mit der Zunge. »Das wird Izzy aufwecken.«
Sie macht um Bridgets Tochter genauso viel Aufhebens wie Bridget selbst. Izzy ist heute nicht auf der Party, angeblich ist sie krank und deshalb früh ins Bett gegangen. Die Wahrheit ist sicher viel einfacher – entweder ist sie nicht eingeladen oder hatte nicht das Gefühl, willkommen zu sein.
Izzy hält sich im Hintergrund. Die Trennung ihrer Eltern war nicht leicht für sie. Und als sich in der Stadt herumsprach, dass der neue Partner ihrer Mutter eine Frau ist … Nun, Yale ist zwar nicht weit entfernt, aber Sanctuary ist nicht so liberal, wie es sich selbst immer darstellt. Dass es sich bei dieser Frau auch noch um die Schuldirektorin handelt, hat Izzys Chancen, Freunde an der Sanctuary High zu finden, vollends zunichtegemacht.
Harper ist oft mit blauen Flecken aus der Schule gekommen, weil sie Izzy gegen die Mobber verteidigt hat. Das hätte Bridget und Cheryl fast auseinandergebracht, denn Cheryl wusste, dass sie alles nur noch schlimmer machen würde, wenn sie die Verantwortlichen zu hart bestrafte. Irgendwann – ich habe dabei ein bisschen »geholfen« – wurde es den Schultyrannen zu blöd, und sie suchten sich ein neues Opfer. Izzy fühlt sich allerdings hinter ihrem Panzer immer noch am sichersten.
Cheryl bleibt unschlüssig bei uns stehen, nimmt steif ein paar Dinge vom Tisch auf und legt sie wieder hin: ein mit rotem Wollfaden zusammengehaltenes Bündel Zweige, eine Kerze, Silberdraht, der in Formen gebogen ist, die weder völlig abstrakt noch erkennbar menschlich sind. Bridget scheint das nicht zu gefallen; Abigail auf der anderen Tischseite beugt sich vor und schaltet ihren Professoren-Ehefrauen-Charme an.
»Cheryl, du hast bestimmt unglaublich viel zu tun am Ende des Schuljahres. Wir Eltern sind so dankbar für deine Arbeit. Ich habe einen Stapel Unterlagen auf dem Küchentisch gesehen …«
Julia lächelt, weil Abigail so leicht zu durchschauen ist, aber wie schon so oft hat sie uns aus einem peinlichen Moment gerettet.
Das Telefon läutet. Mit gequältem Gesichtsausdruck sammelt Cheryl die leeren Weinflaschen ein und geht nach drinnen, um den Anruf entgegenzunehmen.
»Wahrscheinlich ein Telefonstreich von einem Schüler«, sagt Bridget und verdreht die Augen. »Wir müssen jeden Monat die Nummer ändern. Oder vielleicht haben wieder Junkies versucht, ins Schullabor einzubrechen. Der Himmel weiß, was sie da wollen. Die Schüler kochen ja schließlich kein Meth, um sich bessere Noten zu verdienen.«
Ich pruste in mein Glas.
»O nein, Scheiße!«, ertönt eine laute Stimme irgendwo hinter uns. Unglaublich, es ist tatsächlich Cheryl. »Sind Sie sicher? Ja, das mache ich. Verdammt!«
Cheryl errötet normalerweise schon, wenn man »Mist« sagt. Was ist hier los? Hat jemand die Schule abgefackelt? Sind die Feuerwehrwagen auf dem Weg dorthin? Leicht schwankend vom Alkohol steht Bridget auf, um zu ihrer Frau zu gehen.
Weit kommt sie jedoch nicht, denn Cheryl stürzt zu uns heraus. Ich dachte, sie wäre wütend, aber es ist viel schlimmer. Sie ist völlig außer sich, und bei ihrem Anblick verkrampft sich meine Brust.
»Es gab einen Unfall«, sagt sie. »Es brennt. Auf der Party.«
Der Party?
Julia, Abigail und ich tauchen unter den Tisch, um unsere Handys aus den Handtaschen zu holen. Wenn wir vier uns treffen, sind Telefone tabu. Ich wische über das Display und sehe eine Nachricht nach der anderen. Alle von Harper. Es sind zu viele, um sie zu lesen, zu schnell folgen sie aufeinander.
Ruf mich an, Mom.
Es ist etwas Schreckliches passiert.
Neben mir stöhnt Julia leise, während sie ihre Nachrichten liest. Abigail umklammert panisch ihr Handy. Auf dem Display sind keine Benachrichtigungen zu sehen.
Ich rufe Harpers nächste Textnachricht auf.
Man bringt mich ins Krankenhaus, aber es geht mir gut. Mach dir keine Sorgen.
Keine von euch meldet sich!!!! Habe den Cops gesagt, dass ihr alle bei Izzy seid. Sie rufen euch jetzt an.
Dann schließlich: Dan ist tot.
Meine Kehle ist wie zugeschnürt, als ich es lese, doch Cheryl spricht die Worte bereits laut aus. Die Worte, die ich nicht herausbringe. Die Worte, von denen ich nicht gedacht hätte, sie noch einmal in meinem Leben zu hören.
»Daniel.« Cheryl meidet unseren Blick. »Er ist tot. Es tut mir so leid, Abigail. Er ist tot.«
Eine Party. Teenager und Alkohol. Eine Tragödie.
Leider sehe ich so was öfter als das Innere meines Fitnessstudios.
Normalerweise ist ein Auto darin verwickelt. Der Collegefonds, in den Mom und Dad jahrelang eingezahlt haben, der Kampf um Bestnoten, sportliche Erfolge, sorgfältig ausgewähltes soziales Engagement – all das prallt bei hundertneunzig Kilometer die Stunde auf einem unbeleuchteten Straßenabschnitt gegen einen Baum.
Sanctuary hat alles, was zu so einer Geschichte gehört. Ich hatte verdrängt, wie arrogant diese Stadt ist. Während ich in eine weitere totenstille Vorortstraße abbiege, schiebe ich den Müll vom Beifahrersitz in den Fußraum, damit ihn niemand sieht. Sanctuary vermittelt einem sehr deutlich, dass man nicht gut genug für diese Stadt ist.
Die Häuser stehen weit zurückgesetzt und sind hinter den Bäumen kaum zu erkennen. Die Gärten sind so groß, dass man den Gärtner des Nachbarn auf seinem Sitzrasenmäher nicht hört. In jeder Auffahrt steht ein ganzer Fuhrpark an Autos: eines für jedes Familienmitglied und natürlich noch ein Sportwagen fürs Wochenende.
Ich bin in Hartford geboren und aufgewachsen, und als ich direkt nach der Connecticut Police Academy nach Sanctuary versetzt wurde, hatte ich das Gefühl, in einem fremden Land gelandet zu sein. Die Menschen reden anders, sehen anders aus – selbst die Luft ist anders. Salziger. Frischer. Teurer.
Während ich auf die Shore Road abbiege, öffne ich das Fenster, um diese exklusive Luft hereinzulassen. Die Nachmittagssonne glitzert auf dem Meer und wird vom Sand zurückgeworfen, und ich kneife die Augen gegen das helle Licht zusammen. Ein Trampelpfad führt zu einem Sportverein, bei dem früher die Teenager immer herumhingen. Die Kids hier wissen gar nicht, wie viel Glück sie haben.
Doch jetzt wurde auch diese heile Welt durch eine Tragödie erschüttert. Ich werfe einen Blick auf die Akte auf dem Beifahrersitz. Der Fall ging wegen des Alters des Opfers automatisch an die State Police. Wir müssen auch potenzielle andere Verbrechen und Vergehen untersuchen, wie Brandstiftung, Drogen und Alkoholkonsum von Minderjährigen.
»Sie waren doch mal eine Zeit lang in Sanctuary, nicht wahr?«, hatte mein Boss gesagt und kaum aufgesehen, als er mir die Akte über seinen Tisch hinweg zuwarf. »Ein Brand bei einer Privatparty von Jugendlichen. Ein Junge ist tot. Die anderen sind verletzt, nichts Ernsthaftes. Schauen Sie sich das Ganze an, tüten Sie den Fall fein säuberlich ein, und in einer Woche sind Sie wieder hier.«
Die Luft hat sich verändert, riecht nach Ruß und Rauch statt nach Salz. Vor mir liegt das Haus, die Sailaway Villa. Eine ausgebrannte Hülle ohne Dach, deren Fassade seltsamerweise noch intakt ist, als ob das Feuer in der Mitte des Hauses ausgebrochen wäre und an den Außenmauern dann keine Kraft mehr gehabt hätte.
Ein uniformierter Beamter befestigt das flatternde Absperrband wieder um den Tatort, ein Kollege sieht ihm zu. Die Erde ist aufgewühlt und schlammig, wo die Einsatzfahrzeuge hin und her gefahren sind und die Feuerwehrschläuche alles unter Wasser gesetzt haben. Meine Schuhe sinken ein, als ich aus dem Wagen steige.
Der untätig herumstehende Cop kommt mit abwehrend erhobenen Armen auf mich zu, bis er meine Dienstmarke sieht.
»Sie sind der Detective?«, fragt er skeptisch.
Hat dieses Arschloch etwa noch nie einen schwarzen, weiblichen Detective gesehen? Falls nicht, hat er ein paar echt gute Fernsehserien verpasst.
»Detective Knight?«, ruft sein Kollege, verknotet das Absperrband und kommt zu uns. »Der Chief wollte, dass ich das hier für Sie vorbereite. Alle Kids, die auf der Party waren.«
Er reicht mir eine Liste der Partygäste. Sie ist ellenlang, und ich seufze innerlich.
»So ziemlich die ganze Abschlussklasse der Sanctuary High«, erklärt der hilfsbereite Cop. »Außerdem Mädchen von der Privatschule außerhalb der Stadt und Football-Typen aus dem ganzen Bezirk. Vermutlich hat Dan sie alle eingeladen – er war der Starathlet der Schule und sehr beliebt.«
Ach, wirklich? Dan war der Prototyp von Mr. Charming. Ich rufe mir das Foto in Erinnerung, das der Akte beiliegt: dichte, blonde Haare und ein perfektes Lächeln. Das Abbild strahlender Jugend. Irgendwo in Sanctuary hat eine Mutter jetzt ein gebrochenes Herz – auch wenn ich nur zu gut weiß, dass die Herzen von Müttern auch wegen böser und hässlicher Kinder brechen.
Etwas kitzelt an meiner Wange und fällt auf die Liste der Schüler. Ich wische es weg und hinterlasse einen schwarzen Streifen auf dem Papier. Ruß. Lange, federleichte Spiralen wehen durch die Luft, als hätte jemand einen ganzen Krähenschwarm hochgeschossen.
Die Sailaway Villa war beeindruckend, bevor man sie in Schutt und Asche gelegt hat. Laut meiner Akte war sie ein Ferienhaus und zum Zeitpunkt der Party unbewohnt. Vielleicht ist eine Sicherung wegen der Stereoanlage oder zu vieler Lautsprecher durchgebrannt. Oder die Kids haben leichtsinnigerweise Joints am Küchenherd angezündet. Oder vielleicht hing auch nur ein Handy an einem defekten Ladekabel.
Wie auch immer: Zuerst bricht das Feuer aus. Dann rennen alle panisch nach draußen. Ein Junge stolpert und bricht sich das Genick. Ein Junge, in dessen Blut sicher nicht gerade wenig Alkohol gefunden werden wird.
Also: eingeschränktes Urteilsvermögen wegen Alkohol und vielleicht auch Drogen. Ein Unfall, der zum Tod führt. Fall abgeschlossen. Vielleicht können die Eltern noch Zivilklage gegen die Immobilienagentur, die das Ferienhaus vermietet, einreichen, aber das wäre eine ziemlich hässliche Angelegenheit, weshalb sie sich besser auf stilles Trauern beschränken sollten.
Ich werfe einen Blick auf die Liste. Der Name des Verstorbenen steht ganz oben. Daniel Whitman.
Als ich den Namen in der Akte las, kam er mir bekannt vor. Allerdings gibt es viele Whitmans in Connecticut, die alle von sich behaupten, mit dem berühmten Dichter verwandt zu sein. Manche von ihnen sind es vielleicht sogar. Ich habe die Eltern des Jungen überprüft, und Daniels Vater ist ein semi-bekannter Medizinprofessor in Yale, nach dem ein paar seltene Krankheiten benannt wurden.
Den zweiten Namen auf der Liste kenne ich allerdings definitiv. Jacob Bolt.
»Hey«, sage ich zu dem hilfsbereiten Cop. »Bolt. Als ich hier vor sechs Jahren stationiert war, war Tad Bolt der Chief. Sind die beiden verwandt?«
»Er ist immer noch der Chief. Und ja, Jake ist der jüngste von vier Söhnen.«
Ich versuche mich an Chief Bolt zu erinnern. Groß und breit kommt mir als Erstes in den Sinn. Beliebt als Zweites. Rotgesichtig als Drittes. Ich hatte viele Einsätze hier, aber keiner hatte Folgen. Damals hatte ich immer den Eindruck, dass Sanctuary seine Gesetzesbrecher durch Verwarnungen und saftige Spenden an den Wohltätigkeitsfonds der Polizei im Griff behielt. Weniger Papierkram, saubere Führungszeugnisse, und man ist danach immer noch befreundet.
»Ich habe Jacob an die Spitze der Liste gesetzt«, sagt der hilfsbereite Cop, »weil er der beste Freund des Verstorbenen ist … war. Und das hier ist Daniels Freundin. Oder Ex-Freundin. Ich weiß es nicht genau …«
Er deutet auf den dritten Namen. Harper Fenn. Auch den kenne ich. Erschreckend, an wie viel ich mich erinnere. Vor sechs Jahren war ich zwölf Monate lang in dieser Gegend stationiert, und ich habe das Gefühl, die halbe Stadt zu kennen. Wie muss es erst sein, wenn man hier wohnt?
Harper Fenn ist die Tochter der Hexe. Ob es Sarah Fenns verrückten Laden immer noch gibt? Ich erinnere mich an sie, weil die Mädchen dort immer Liebestränke oder Amulette zur Vergrößerung der Brüste kaufen wollten oder Zaubersprüche für die Schule. Fenn war da oft recht nachlässig, und ich musste sie regelmäßig verwarnen, weil Zauberei einem Mindestalter unterliegt, ebenso wie Alkohol oder Tabak. Sie versprach dann seufzend, in Zukunft die Ausweise zu kontrollieren, und kochte mir einen widerlichen Kräutertee. Eine nette Frau, wenn auch unbedeutend, wie die meisten Main-Street-Hexen.
»Wenn das mal nicht unsere kleine Maggie Knight ist.«
Tad Bolt klopft mir auf die Schulter und zwingt mich beinahe in die Knie. Es gibt da eine feine Linie zwischen Herzlichkeit und einem tätlichen Angriff. Für einen Gesetzeshüter hat Chief Bolt kein besonders gutes Gespür dafür, wo das eine aufhört und das andere anfängt.
»Chief Bolt, schön Sie zu sehen, Sir.«
Eine fleischige Pranke hält mich auf Armeslänge Abstand, damit er mich mustern kann. Auch wenn ich ihm jetzt übergeordnet bin, schrumpfe ich unter seinem Blick immer noch zusammen, als hätte ich mein Pfadfinderabzeichen nicht poliert. Seine Augen sind stechend blau, als ob seine Momma sie aus einer Schale mit Knöpfen ausgewählt hätte.
»Na, jetzt müssen Sie wohl keinen Kaffee mehr holen, was, Mags? Sanctuary hat Glück, dass Sie wieder da sind. Also, es sieht folgendermaßen aus: Unsere Gemeinde trauert. Daniel war ein guter Junge, ein echt guter Junge. Hat sich immer ans Gesetz gehalten. Ich weiß nicht, wie oft er und Jakey bei uns im Hobbykeller waren. Ich bin stolz, dass mein Sohn so einen aufrechten jungen Mann als besten Freund hatte.«
Ich stelle mir vor, was Daniel und »Jakey« im Hobbykeller so getrieben haben. Wahrscheinlich, was alle achtzehnjährigen Jungs seit Generationen machen: blutrünstige Videospiele spielen, Pot rauchen und ihre Freundinnen befummeln.
»Man wird Fragen stellen, Mags. Aber die Sache ist glasklar: Das Haus war baufällig. Man sieht sofort, wo das Feuer ausgebrochen ist. Man kann sich leicht vorstellen, wie die Kids in Panik geraten sind. Selbst stocknüchtern hätte man hier leicht stürzen und sich verletzen können. Daniel hatte einfach verdammtes Pech. Er ist so eine Art Held hier. Erstklassiger Quarterback. Hat die Kleinen trainiert. Und jetzt ist er tot. Deshalb darf man sein Andenken auch nicht beschmutzen. Oder andere Menschen da mit reinziehen.«
Die Hand drückt wieder meine Schulter. Warnend. Tad schützt nicht nur den Ruf des toten Daniel Whitman, sondern auch den seines eigenen Sohnes. Ich korrigiere sofort meine Vermutung, was die Jungs in ihrer Freizeit getrieben haben: Wahrscheinlich haben sie eher harte Drogen genommen und ihre Freundinnen nicht nur befummelt. Wie der toxikologische Bericht zu Daniels Leiche wohl ausfallen wird?
Und doch hat der Chief recht, oder? Egal, was Whitman getrunken, geraucht oder geschnupft hat, es reicht nicht für ein Verbrechen. Es war ein schrecklicher, sinnloser Unfall, der den armen Kerl das Leben gekostet und wahrscheinlich alle Teenager der Stadt traumatisiert hat. Und mein Boss will, dass ich hier in einer Woche fertig werde.
»Sieht alles eindeutig für mich aus«, sage ich daher. »Ich werde mir die Aussagen der Kids ansehen und den Fall schnell abschließen.«
Als das Telefon klingelt, habe ich kaum die Kraft, die Hand danach auszustrecken. Warum sollte ich auch? Halb Sanctuary hat schon angerufen, um mir sein Beileid auszusprechen, und die andere Hälfte hat Auflaufformen, Kuchen und Suppenschüsseln in meiner Küche abgestellt. Sie meinen es gut, aber ich will mit niemandem sprechen, ich will nichts essen. Nie wieder.
Ich will einfach nur schlafen. Jedes Mal, wenn ich aufwache, glaube ich ein paar perfekte Sekunden lang, dass alles nur ein schlechter Traum war und Daniel noch am Leben ist. Dann schlägt der Horror mit voller Wucht zu, jedes Mal schneller, wenn mir klar wird, dass dieser Albtraum mein Leben ist. Und doch sehne ich mich nach diesen kostbaren Momenten der Verwirrung.
Das Telefon klingelt beharrlich, während ich meine Hand aus dem Ärmel zu befreien versuche. Ich trage immer noch dieselben Sachen wie zum Abendessen vor zwei Tagen, als Daniel noch am Leben war. Kleidung, die er berührt hat, als ich zu Bridget aufbrach und er mich zum Abschied umarmte. Ein Teil von mir bildet sich ein, dass die Kleider noch nach ihm riechen, auch wenn mir grundsätzlich klar ist, dass sie höchstens nach meinem eigenen schalen Schweiß stinken.
Endlich habe ich meine Hand befreit und taste nach dem Telefon auf dem Nachttisch. Dabei werfe ich den Rahmen mit Daniels Bild um. Klirrend fällt er zu Boden, und ich breche in unkontrolliertes Schluchzen aus.
Ich bin zu schwach, um das Bild aufzuheben, und sinke zurück ins Kissen, schiebe mir den Zipfel der Bettdecke in den Mund, damit ich mein eigenes Weinen nicht hören muss.
Den gestrigen Tag habe ich auf Autopilot hinter mich gebracht. Michael und ich sind direkt von Bridget ins Krankenhaus gefahren, doch es bestand keine Hoffnung. Mein Junge war schon tot, noch bevor sie ihn in den Krankenwagen geladen haben. Michael hat ihn identifiziert. Man hat mir geraten, die Leiche nicht anzusehen. Dann sind wir nach Hause gefahren.
Ich habe frischen Lippenstift aufgetragen, Parfüm aufgelegt und den ganzen Abend und den nächsten Morgen auf der Couch gesessen und Besucher empfangen. Ich habe genickt und Hände geschüttelt, die mir voller Mitgefühl gereicht wurden. Habe Menschen gesagt, sie seien ja so nett und ihre Trauerbekundungen würden mir so viel bedeuten. Und dabei wollte ich mich die ganze Zeit nur vor- und zurückwiegen und »Geht, geht, bitte geht einfach!« brüllen.
Jetzt sind sie weg. Selbst Michael ist nach Yale gefahren – dringende Fakultätsangelegenheiten. Und auch wenn ich getobt habe, er solle dableiben, bin ich jetzt seltsam froh, weil ich allein mit Daniel bin. Allein mit meinen Gedanken an Daniel. Und so soll es für immer sein.
Außer dass das Telefon nicht aufhören will zu klingeln. Ich nehme den Hörer ab, will eigentlich gleich wieder auflegen, doch aus Gewohnheit halte ich ihn mir ans Ohr und melde mich mit meiner besten Professorengattinnenstimme: »Bei Whitman, Abigail am Apparat.«
Ich höre der höflichen, professionellen Stimme am anderen Ende der Leitung zu, die sagt, man möchte nur etwas überprüfen, wenn es mir recht ist.
Das Nächste, was ich wahrnehme, ist, dass jemand energisch an meiner Hand zieht.
»Lass los, Abigail. Abi!«
Bridget steht neben meinem Bett und versucht, mir den Hörer aus den Fingern zu entwinden. Ich wehre mich, will ihn nicht loslassen. Ich will ihn gegen meinen Kopf schlagen, bis ich bewusstlos bin. Dann würde der Schmerz aufhören, weil ich weiß, dass sonst nichts helfen wird. Der Schmerz wird nie aufhören.
Jemand ruft: »Seien Sie ruhig, seien Sie ruhig, wie können Sie es wagen, seien Sie ruhig!«
Das bin ich.
Bridget spricht in den Hörer. »Es tut mir leid, gerade passt es wirklich nicht …« Dann verstummt sie und mustert das Telefon, bevor sie auflegt.
»Es war niemand dran«, sagt sie. »Abigail, was ist los? Geht es dir gut?«
Mein Baby. Mein armes, armes Baby.
Ich packe das Telefon und schleudere es gegen die Wand. Ein befriedigendes Gefühl. Befreiend. Ich greife nach dem Gegenstand, der daneben steht – einer von Daniels schweren, auf Hochglanz polierten Football-Pokalen. Die Wut verleiht mir ungeahnte Kräfte, und ich schlage den Pokal gegen meinen Nachttisch, hoffe, dass die Glasplatte zersplittert, doch das tut sie nicht. Immer wieder schlage ich dagegen.
Wenn ich nicht bald etwas zerbrechen kann, zerbreche ich.
Und genau das tue ich. Ich lasse den Pokal fallen, rolle mich unter der Decke zusammen und weine, bis ich nicht mehr kann.
»Abi, wer war das?«, fragt Bridget.
Sie versucht, mich in diese Welt zurückzulotsen, die Welt, in der mein Sohn tot ist und man mich anruft, um Lügen und Schmutz über ihn zu verbreiten.
Ich wehre mich, doch Bridget ist stark. Sie rollt mich zu sich – und zuckt bei meinem Anblick zurück. So hat sie mich noch nie gesehen. Oder zumindest seit vielen Jahren nicht.
»Bitte lass mich allein«, flehe ich. Das Adrenalin ist verflogen, ich bin schlaff und erschöpft.
»Du musst etwas essen und duschen. Los.«
Sie stellt das Wasser im angrenzenden Bad an. Zieht mich hoch, hilft mir aus meinen Sachen, schiebt mich unter den dampfend heißen Wasserstrahl und shampooniert mir sogar die Haare, als wäre ich ein Kind. Wie ich es bei Dan gemacht habe, als er noch klein war. Ich lehne mich gegen die Glaswand, viel zu ausgelaugt, um zu weinen.
Bridge hat mir frische Kleidung herausgesucht, eine so mütterliche Geste, dass ich fast wieder zusammenbreche. Ich habe Dan immer seine Wäsche zusammengefaltet aufs Bett gelegt. Seine Sportsachen an Spieltagen.
»Ich bin unten«, sagt Bridget. »Sarah hat den Zucchinisalat gemacht, den du so gern magst. Zieh dich an und komm runter.«
Sie hat recht. Es hilft, sich wieder sauber zu fühlen. Sich zu schminken, die Haare zu bürsten. Wieder Abigail Whitman zu werden. Ich ziehe meine weichsten Kleider an, als wären sie meine stärkste Rüstung. Weil ich mich an den Anruf erinnere. Die vorsichtige Stimme, die Lügen so selbstverständlich formuliert, als bespräche sie eine Einkaufsliste. Wie ich dagegen anschreie. Selbst als die Anruferin schon aufgelegt hat, schreie ich immer noch, kann nicht aufhören.
Daniel ist tot, aber er braucht mich immer noch.
Wir essen und schieben schließlich unsere Teller weg. An der Schüssel ist ein Zettel von Sarah befestigt, auf dem in ihrer schwungvollen Handschrift steht: Ich liebe dich, und ich bin für dich da, wenn ich irgendwas tun kann. Sarah. Dann fragt Bridget erneut, wer angerufen hat. Ich erzähle ihr, was die Stimme am Telefon zu mir gesagt hat. Ich bringe die Worte kaum heraus, während meine Finger mit dem Zettel spielen.
»Es war eine Reporterin. Ich habe nicht verstanden, von welchem Medium sie angerufen hat. Die Fragen waren so furchtbar. Hat Dan Drogen genommen? Hat er getrunken? Gab es Alkohol und Drogen auf der Party? Und dann … Hat sie nach anderen Sachen gefragt. Schmutzigen Sachen.« Ich halte inne, muss mich zusammennehmen. »Nach … nach einem Sexvideo, das auf der Party kursierte.«
Sobald ich es ausgesprochen habe, bereue ich, es erwähnt zu haben, aber wenn die Presse Bescheid weiß, dann weiß es zweifellos bereits die halbe Stadt. Cheryl wird sicher allen Klatsch in der Schule aufschnappen und ihn Bridget beim Abendessen erzählen. In ein paar Stunden weiß meine Freundin sowieso mehr als ich.
»Ein Sexvideo?«
Bridget ist sprachlos. Sie kann so unschuldig sein, genau wie ihre seltsame Tochter. Bestimmt ist sie inzwischen froh, dass Izzy nicht zu der Party eingeladen war, die der lokale Fernsehsender »den Albtraum aller Eltern« nennt.
»Offensichtlich haben einige Kids der Polizei erzählt, dass ein Video an die Wand projiziert worden ist. Kein Porno aus dem Internet, sondern ein Film von Daniel zusammen mit einem Mädchen.«
»Ein Mädchen? Er und Harper?«
»Wer weiß. Das ist nur Unsinn, den ein paar Kids verbreitet haben. Teenager, die betrunken waren, in einem Gebäude voller Rauch, um Himmels willen.«
»Das klingt …«
Bridget fehlen die Worte. Ich weiß nicht, ob es für so etwas überhaupt Worte gibt. Und plötzlich bin ich nicht mehr traurig, sondern unglaublich wütend.
»Die Reporterin hat gesagt, sie würde nur ›den Ermittlungen folgen‹. Was für Ermittlungen? Tad Bolt stand neben mir, als Michael unseren Sohn im Leichenschauhaus identifiziert hat, und er hat mir versprochen, die Ermittlerin der State Police würde schnell ihren Bericht schreiben und uns dann wieder in Ruhe lassen. Aber jetzt wühlt jemand nach Schmutz. Reicht es nicht, dass er tot ist? Mein Baby ist tot …«
Und wieder breche ich zusammen. Tränen. Rotz. Zittern. Das volle Programm. Soll das jetzt mein Leben sein? Zwischen Trauer und Wut hin und her wechseln? Keine Erholung. Nur immer wieder Schläge von allen Seiten.
Bridget legt mir eine Hand auf den Rücken und sieht sich um.
»Wo ist Michael eigentlich?«
»Fakultätssitzung. Er kommt am Abend zurück. Die Arbeit hilft ihm.«
Zumindest hat er mir das gesagt. Ich habe ihn angeschrien, dass unser einziges Kind tot und mir seine Fakultätssitzung scheißegal ist, aber er ist trotzdem gefahren.
Vielleicht hilft es ihm ja tatsächlich. Ich sollte ihn nicht dafür verurteilen, dass er sich in die Arbeit flüchten kann. Mir bleibt diese Erleichterung verwehrt, da ich nach unserer Hochzeit meinen Job aufgegeben habe.
Erst da wird mir klar – schmerzhaft klar –, wie wenig mir wirklich bleibt. Ein Ehemann, den ich nur am Wochenende sehe. Eine Karriere, die ich aufgegeben habe. Daniel hat mich immer dafür entschädigt.
Jetzt habe ich nichts mehr. Gar nichts mehr.
Und irgend so eine Schnüfflerin versucht, meinen Sohn durch den Schmutz zu ziehen, noch bevor er unter der Erde ist.
Das lasse ich nicht zu.
Ich suche meine Handtasche und den Autoschlüssel.
»Abi? In dem Zustand lasse ich dich nicht fahren«, sagt Bridget.
»Du wirst mich aber nicht aufhalten können.«
»Na gut. Gib mir den Schlüssel. Wohin soll es gehen?«
Als ich ihr den Schlüssel zuschiebe, fällt mir wieder Sarahs Zettel ins Auge. Wenn ich irgendwas tun kann …
Mir kommt ein verrückter Gedanke. Ich könnte meine Freundin besuchen, die Hexe.
Aber das wäre Wahnsinn.
»Zum Polizeirevier natürlich. Ich habe da ein paar Fragen.«
Ich war gestern schon mal hier im Krankenhaus, um mit ein paar der Jugendlichen zu sprechen, die eingeliefert worden sind, vor allem mit Harper Fenn, aber ich hatte Pech. Man sagte mir, dass sie wegen des eingeatmeten Rauchs und der versengten Luftröhre mindestens sechsunddreißig Stunden schweigen müsse und danach auch nur das Nötigste reden dürfe. Wenn sie auch nur ansatzweise so ist wie die zwei pubertierenden Kinder meiner Cousine, dann könnte ich sie per SMS befragen.
Ein paar Zeugen haben ausgesagt, Harper sei während der Party »völlig ausgeflippt«, hätte nur noch herumgeschrien. Keiner kann mir den Grund dafür nennen, aber man muss jetzt kein Einserkandidat auf der Polizeischule sein, um zu vermuten, dass es mit dem Sexvideo zusammenhängen könnte, das einige Partygäste erwähnt haben.
Natürlich sagen alle, sie hätten es nicht genau gesehen. Aber alle verwenden denselben Begriff: »Sexvideo«. Nicht »Porno«. Da hat niemand eine Pornoseite gestreamt, damit alle was zu lachen haben. Bei einem Sextape kennt man die Beteiligten.
Und ich weiß, wie die Gerüchte lauten. Dass Daniel selbst in dem Video zu sehen ist. Wahrscheinlich hat ein Teamkollege aus Spaß den Film gezeigt. Vielleicht ist Daniel da mit Harper zusammen. Vielleicht auch mit einem anderen Mädchen.
Ganz bestimmt hat es zum Streit zwischen den beiden geführt. Sie rennt davon. Er will ihr nachlaufen, ist jedoch zu betrunken, stolpert – und stürzt.
»Ma’am?« Die Dame am Empfang spricht mich schon zum zweiten Mal an.
»Tut mir leid. Sie sagten, entlassen?«
»Ja, sie durfte gehen. Oh, vor ein paar Minuten erst.« Die Frau blickt stirnrunzelnd auf den Bildschirm. »Das System registriert, wenn der behandelnde Arzt die Entlassung genehmigt, aber normalerweise braucht der Patient dann noch eine Weile, um sich umzuziehen, noch mal aufs Klo zu gehen, Sie wissen schon. Wenn Sie sich beeilen, erwischen Sie sie vielleicht noch.«
Nachdem ich ein paarmal falsch abgebogen bin, finde ich endlich die Überwachungsstation. Einige Partygäste hat man hierhergebracht, und mit den offenen Türen und den großen Fenstern wirkt die Station so lebhaft wie eine Schule. Zwei Teenager unterhalten sich eifrig über ihre Betten hinweg, sehr zum Missfallen der älteren Dame, die ihnen gegenüber passiv-aggressiv mit ihren Stricknadeln klappert. Ein anderes Mädchen, dessen Arm dick verbunden ist und dessen Hals vor Brandsalbe glänzt, schläft tief und fest. Beruhigungsmittel wahrscheinlich.
Ein Bett steht hinter einem Vorhang. Ich spreche zu dem steifen blauen Stoff.
»Entschuldigung, finde ich hier Harper Fenn?«
»Bleiben Sie draußen«, krächzt eine Stimme. Der Vorhang zittert, als würde sie ihn von innen zuhalten.
»Natürlich.«
Ich trete etwas zurück, will kein Aufsehen erregen. Einige der Patienten schauen schon neugierig in meine Richtung. Ein Tipp für Möchtegernverbrecher: Stellt nie etwas im Krankenhaus, in einem Altersheim oder einem Klassenzimmer an. Chronisch gelangweilte Menschen sind die besten Zeugen.
»Ich warte im Flur«, sage ich laut. Wo ist Harpers Mutter? Das Mädchen wird doch sicher nicht allein nach Hause gehen?
Kurz darauf kommt Harper Fenn heraus. Ich mustere sie eingehend. Sie ist schlank und fohlenhaft groß, trägt schwarze Jeans mit Löchern und eine Jacke, die ihre Mom ihr gestern gebracht haben muss. Das dunkle Haar ist zu einem zerzausten Zopf geflochten, und sie hat stechend blaue Augen. Ein Piercing blitzt in ihrer Nase auf, ein weiteres befestigt sie gerade in ihrer Lippe.
Eher eine Rockerin als eine Cheerleaderin. Aber ich sehe, warum sie einem Jungen wie Daniel Whitman, mit seinem Eliteprofessor-Dad und seiner Hausfrauen-Mutter, gefallen hat.
»Harper? Ich bin Detective Knight. Ich führe eine Routineermittlung zu den Ereignissen auf der Party durch und würde dazu gern mit dir sprechen. Darf ich dich unten auf einen Kaffee einladen?«
Das Mädchen sieht mich an, eine Spur von Unsicherheit im Blick. Hat sie gesehen, wie ihr Freund gestorben ist? Wie er sich nach ihrem Streit durch die Partymeute gedrängt hat, gestolpert und gestürzt ist? Wird sie gleich anfangen zu weinen und kein Wort mehr herausbringen?
Schließlich deutet Harper auf ihre Kehle. »Keine heißen Getränke«, krächzt sie.
»Dann etwas Kaltes? Vielleicht eine köstliche lauwarme Cola?«
Kein Lächeln.
»Ich kann nicht reden«, sagt sie und will an mir vorbei.
»Bitte, ich habe nur ein paar Fragen. Hast du gesehen, wie Daniel Whitman gestürzt ist?«
»Nein. Ich war nicht bei ihm.«
»Wo warst du dann?«
»Auf der Treppe. Er ist oben vom Flur übers Geländer gefallen.«
Das wusste ich schon, es passt zum Fundort der Leiche, und man kann sich das Gedränge vorstellen, das herrschte, als die Partybesucher aus dem Haus flohen. Ich stutze allerdings nicht wegen dem, was Harper sagt, sondern wie sie es sagt. Er ist oben vom Flur übers Geländer gefallen. So wenige, schmucklose Worte wirken ziemlich kalt.
Aber was habe ich denn erwartet? Sie steht vermutlich unter Schock. Das habe ich schon oft gesehen, auch wenn ich die Erinnerung an das letzte Mädchen verdränge, das ich in einem Krankenhaus befragt habe und das verzweifelt reden wollte, bevor ihre Zeit ablief.
»Hatte er getrunken? Gab es Drogen auf der Party?«
Ich erwarte das loyale Leugnen einer Freundin, doch wieder überrascht sie mich.
»Es war die erste große Party des Sommers. Was denken Sie denn?«
»Hattet ihr an dem Abend Streit, du und Daniel?«
»Ich war nicht so gut auf ihn zu sprechen.«
»Zeugen haben ausgesagt, dass du rumgeschrien hast.«
»Ja.«
»Hast du ihn angeschrien? Weshalb?«
»Nicht ihn.«
»Wen dann?«
Doch sie massiert nur schweigend ihren Hals. Eine Schwester runzelt die Stirn und kommt auf uns zu.
»Harper, hast du einen Grund zu glauben, dass Dans Sturz kein Unfall war?«
»Was soll es denn sonst gewesen sein?« Das Geräusch, das aus ihrer Kehle dringt, klingt fast wie ein Lachen. Heiser und wund. »Dan Whitman würde sich wohl kaum wegen einer blöden kleinen Schlampe wie mir umbringen.«
Ihre Worte schockieren mich. Ebenso wie der klare Blick aus ihren blauen Augen, als sie sie ausspricht.
Mit einem kaum erkennbaren Nicken geht Harper Fenn davon.