Für Dylan & Sharon Baltazar
und meinen Freund Kevyn Lee Wallace
Prolog
Der Weltuntergang war nicht so, wie man es vielleicht erwartet hätte. Er wurde nicht von einem der vielen Dinge verursacht, von denen man heute so viel hört: Kriege, Unruhen, Klimawandel. Es war weder unsere Arroganz noch unser Stolz oder unser Egoismus. Nein, letztendlich waren es unsere Kreativität und Intelligenz.
Wir hatten geglaubt, Geschichte zu schreiben, indem wir die Zukunft veränderten.
Wie sich herausstellte, taten wir beides.
Es kam von jenseits der Sterne, ein kosmischer Vorfall, den wir nicht hatten voraussehen können, ein Bruch im Raum-Zeit-Kontinuum, der unsere Existenz auseinanderriss. Nicht nur unsere Gegenwart, sondern auch unsere Vergangenheit und unsere Zukunft, alles, was der Mensch je war oder sein würde. Weg. Was blieb, war eine Leere, in der nur das leise Flüstern einer Welt widerhallte, die es nicht mehr gab.
Doch das war nicht das Ende.
Die Menschheit bekam eine zweite Chance.
Aus der großen Stille wurde die Erde wiedergeboren, aber anders, als wir es uns je vorgestellt hatten. Auf den weiten Ebenen tummelten sich Dinosaurier neben Wollmammuts und Millionen von Büffeln. Große Dampfschiffe und alte Segler fuhren in den Häfen zwischen den Beinen gigantischer Roboter hin und her. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft waren zusammengeworfen worden. Die Kontinente waren neu zusammengefügt, Meere neu gestaltet und Berge neu geformt worden. Dies war die Welt nach der Zeitkollision.
Die etwa hundert Millionen Menschen, die die Katastrophe überlebten, kamen aus allen möglichen Zeitaltern und waren über den ganzen Planeten verstreut. Die Menschen aus der zivilisierten Vergangenheit nannte man die Dampfzeitler, die aus der Zukunft waren die Ältesten und die aus der Zeit dazwischen die Mittelzeitler. Bei dem Versuch der Gestrandeten aus den unterschiedlichsten Epochen, in einer gefährlichen Welt ohne Regeln zu überleben, waren Konflikte unausweichlich. Es dauerte nicht lange, bis die wilde, aber schöne Landschaft zum Kriegsschauplatz wurde.
Nach jahrelangen Kämpfen sahen die verzweifelten Menschen schließlich ein, wie nutzlos es war, sich gegenseitig zu verletzen, und erkannten, dass sie zusammenarbeiten mussten. Sie erklärten die später als Chronos-Krieg bezeichneten Kampfhandlungen für beendet und schlossen sich widerwillig zusammen, um Regierungen, Gesetze und Gemeinschaften zu bilden.
Der labile Frieden bot die Gelegenheit, Städte wiederaufzubauen und Ländergrenzen neu zu ziehen. Kinder wurden geboren und man begann, die Wunder dieser neuen Welt zu erforschen.
Doch die Dunkelheit war nicht besiegt worden. Trotz aller Bemühungen gab es immer noch jene, die sich in der unerforschten Wildnis verbargen und sich Frieden und Ordnung nicht unterwerfen wollten. Und die jeden vernichten würden, der sich zwischen sie und die Macht stellte …
… die Welt zu beherrschen.
TEIL EINS
Eine neue Welt
Die zwei wichtigsten Tage in deinem Leben sind der, an dem du geboren wirst, und der, an dem du erkennst, warum.
Kapitel 1
Der Traum vom Fliegen
Am Morgen seines dreizehnten Geburtstags erhaschte Diego Ribera in einem Traum einen Blick auf seine Zukunft. Diesen Traum hatte er schon früher gehabt und er fürchtete ihn. Er begann immer damit, dass sein Vater ihm im Dunkeln etwas zurief.
»Diego! Wir brauchen mehr Licht!«, hallte Santiagos Stimme durch die riesige Werkstatt. Er stand hoch oben auf einem verblichenen blauen Gerüst zwischen den gigantischen Robotern, die an allen Wänden standen. Er schwang einen Schraubschlüssel, der so lang war wie sein Arm, und beugte sich gefährlich weit in das schmierige Getriebe eines riesigen Schultergelenks. Kopf, Arme und Beine des Roboters lagen in verschiedenen Stadien der Fertigstellung auf dem Boden herum.
Diego saß auf einem Stuhl und sah in das große Auge eines Roboters auf dem zentralen Arbeitsplatz. Er betrachtete die geometrischen Muster der Iris, die funktionierte wie eine Kameralinse der Mittelzeit. Diego stellte sich vor, wie sich die Stahlplättchen wie Blütenblätter nacheinander öffneten, wie die winzigen Kolben einer nach dem anderen in Gang kamen und wie sie mit den Dampfprozessoren verbunden waren. Er schien irgendwie zu wissen, wie diese Mechanik funktionierte, und ihren Sinn zu spüren. Er fragte sich, ob sein Vater das Gleiche fühlte.
In New Chicago hielt jeder Santiago für ein Genie: der hellste Kopf des neuen Zeitalters. Er war ein Baumeister, ein Erfinder, ein Visionär. Manche hatten ihn sogar einen Scharlatan genannt und behauptet, seine Kreationen wären so genial, dass irgendein Trick oder Betrug daran sein müsste, doch diese Leute hatten noch nie gesehen, wie sich Santiago in seine Arbeit vertiefte.
»Hast du mich gehört, Diego?«
»Ja, Dad, tut mir leid!«
Diego glitt von seinem Stuhl.
Plötzlich stand er an einem der großen Werkstattfenster.
Ohne sich bewegt zu haben.
Ich träume, sagte sich Diego, doch diese Erkenntnis war flüchtig. Der Rand seines Blickfelds verschwamm in wässriger Dunkelheit.
Er zog die schweren Vorhänge zurück, sodass die helle Morgensonne in den Raum schien.
»Besser?«, fragte er über die Schulter hinweg.
Keine Antwort.
»Dad?«
Diego drehte sich um und fand sich mitten im Raum wieder …
Doch sein Vater war fort. Ebenso wie der Roboter, an dem er gerade gearbeitet hatte. Und alle anderen. Kein Gerüst war mehr zu sehen und die Werkstatt war in alle Richtungen leer.
Bis auf den Tisch, an dem Diego gesessen hatte. Auch das große Auge war fort, doch stattdessen war etwas weit Spannenderes aufgetaucht und glänzte im goldenen Sonnenschein.
Ein Hoverboard.
Es war fast zwei Meter lang und aus Erlenholz, Kevlar und Chrom, mit roten und weißen Streifen verziert. Daneben lagen der Dampfrucksack und die Navigationshandschuhe. Die Hoverboards waren für Diego die beste Erfindung seines Vaters. Er und sein Freund Petey waren damit oft durch die Werkstatt geflogen.
Doch der Anblick dieses Boards bereitete ihm Sorgen: Er hatte diesen Traum schon öfter gehabt.
Das Board tauchte immer auf, gleich nachdem sein Vater verschwunden war.
Es lauerte eine Gefahr, die er nicht ganz greifen konnte.
»Diego.«
»Dad?« Diego sah ins Dunkel. Doch das klang nicht wie sein Vater. »Wer ist da?«
Seine Unruhe wuchs. Vielleicht war es ein Traum, aber es fühlte sich allzu real an.
In dem dunkeln Raum zwischen zwei Fenstern sah er eine Silhouette, die plötzlich in den Sonnenstrahl trat. Es war nicht sein Vater. Kleiner. Ein Mädchen? Schwer zu sagen. Sie trug eine dicke Schutzbrille und eine Fliegermütze und schien etwa in seinem Alter zu sein.
»Wer bist du?«, fragte Diego.
Das Mädchen rührte sich nicht. Als sie sprach, bewegten sich ihre Lippen nicht, ihre Stimme erklang stattdessen in Diegos Kopf.
Flieg.
Und dann verschwand sie.
Ein Windstoß.
Erschrocken sah er, wie das Mädchen aus dem Fenster sprang.
»Nicht!«, schrie er und rannte hinüber. Er sah auf die belebte Straße zehn Stockwerke tiefer, doch sie lag nicht zerschmettert auf den Gleisen oder trieb mit dem Gesicht nach oben im Kanal, sondern schoss auf ihrem eigenen Hoverboard durch die Luft.
Flieg!
Die Stimme brannte zwischen seinen Schläfen. Er musste sich bewegen. Musste handeln.
Diego schnappte sich das Board vom Tisch und setzte den Dampfrucksack auf. Das Gewicht des kleinen Messingkochers und des Druckkonverters brachten ihn kurz aus dem Gleichgewicht, doch er fing sich schnell wieder und lief zum Fenster. Rasch streifte er die dicken Lederhandschuhe über – sie waren mit Anzeigen übersät und durch dünne Schläuche mit dem Rucksack verbunden –, schaltete sie ein und vernahm das vertraute Zischen, als der Boiler in Gang kam.
Dann sprang er in die Luft.
Um ihn herum toste der Wind. Fenster rasten an ihm vorbei. Diego stürzte der Straße entgegen, doch er hielt das Board mit beiden Händen fest und klemmte es sich unter die Füße. Dann betätigte er einen Schalter an seinen Handschuhen, der die Magnetschlösser aktivierte und seine Schuhe am Brett befestigte. Der belebte Gehweg schoss auf ihn zu. Fest stemmte er die Füße auf und balancierte sich aus, während der Boden immer näher kam …
Die Dampfturbine heulte auf höchster Stufe, das Board bekam Auftrieb und Diego schoss im Gleitflug knapp über die Vordächer der Läden und die hohen Hüte der Dampfzeitdamen hinweg.
Endlich holte er wieder Luft und hielt sein Gesicht in den Fahrtwind. Ja! Eine unsagbare Begeisterung durchströmte ihn. Nach diesem Gefühl hatte er sich sein Leben lang gesehnt. Er wusste, dass ihm das Fliegen im Blut lag.
Wieder drückte er das Board gegen den Wind und schwang hin und her. Die Bewegung kam ihm so natürlich vor, wie auf dem Boden zu laufen, nur viel besser.
Diego raste über New Chicago hinweg, dessen Kanäle und Gleise durch morgendlichen Verkehr von Dampfschiffen und Wagen verstopft waren und wo es auf den Gehwegen von Mänteln, Lederjacken und feinen Capes nur so wimmelte. Es war eine bunte, laute Welt, in der sich der Geruch von Pferdeäpfeln mit dem von Maschinenöl, gerösteten Maiskolben und dem Meer mischte.
Am Horizont färbten die Abgaswolken der großen Dampfschiffe und Hafenroboter den Sonnenaufgang golden.
Vor sich sah er das Mädchen, das durch die Luft schnitt. Er musste sie einholen, bevor es zu spät war. Er wusste nicht, warum, er wusste nur, dass es so war.
Es hat mit der Zeit zu tun, dachte er. Es ging immer um Zeit, die in dieser Welt vor und zurück lief, doch in diesem Traum …
… da lief sie ab.
Diego war der Wind. Er war der Himmel. Er war leicht wie Luft und wusste, dass das alles war, was er je gewollt hatte, genau wie seine Mutter. Frei zu fliegen.
Wieder sah er das Mädchen, das elegant um die nächste Ecke bog. Diego nahm die Kurve so eng, dass er mit der Schulter die Ziegelmauer streifte, doch er kam ihr auch näher.
Wenn er sie erreichte, konnte er den Hauptschlauch von ihrem Dampfrucksack lösen und das Board ausschalten. Dann konnte er sie zum Kanal hinuntergeleiten, wo sie sicher sein würde.
Sicher wovor? Diego wusste es nicht.
Sie wendeten scharf und erreichten einen breiten Platz vor dem Rathaus. Es war ein großer Turm, errichtet in einem Stilmix aus Mittelzeit- und Ältesten-Architektur, während der Platz aus einer Reihe von schwimmenden Gehwegen bestand, zwischen denen Wasserspiele komplizierte Muster spien. Überrascht stellte Diego fest, dass der Platz mit Leuten dicht gepackt war, eine riesige Menschenmenge. Und von allen Seiten kamen noch mehr dazu, die alle nach oben sahen und auf etwas deuteten. Doch plötzlich änderte sich die Stimmung der Menge und ihre aufgeregten Rufe klangen besorgt. Wer nicht in den Himmel zeigte, begann die anderen zu drängen und versuchte, zu verschwinden.
Diego sah sich nach seiner Flugpartnerin um, doch das Mädchen war nicht zu sehen. Sie war verschwunden.
Die Rufe unter ihm verwandelten sich in Angstschreie. Panik entstand. Die Leute schubsten einander, um wegzukommen. Diego folgte den deutenden Fingern zur großen Uhr oben am Rathaus, die in der Morgensonne glänzte.
Zuerst glaubte er, die Uhr sei kaputt, weil die Zeiger zu fehlen schienen. Gelegentlich gab es immer noch Erdbeben, wegen der neuen Bruchlinien, an denen sich die Erdoberfläche wieder zusammengefügt hatte, doch das war es nicht. Die Zeiger waren noch da, sie drehten sich nur so schnell, dass sie zu einem verwischten Schatten wurden.
Und sie liefen rückwärts.
Bei dem Anblick verschwamm die Welt vor Diegos Augen. Er musste sich bücken und sein Board mit beiden Händen packen, um das Gleichgewicht zu halten.
Als er es wiedergefunden hatte, sah er, dass der Platz leer war. Alle Menschen waren fort.
Auch in den Nebenstraßen war niemand zu sehen, die Schienen und die Kanäle waren verlassen, am Himmel waren keine Luftschiffe und im Hafen stieg kein Rauch von Dampfern auf.
Es war so still. In Diegos Ohren dröhnte sein Atem. Das einzige andere Geräusch war das Surren der Zeiger.
Diegos Board begann zu vibrieren. Die Gebäude erzitterten. Plötzlich stoppten die Uhrzeiger und die Welt schien stillzustehen. Selbst Diego schien mit angehaltenem Atem in der Luft zu erstarren …
Und dann begann es zu tosen.
So schnell wie möglich raste Diego davon. Hinter ihm wirbelten Wasser und Asche auf und kamen immer näher. Schiffe und Wagen wurden von der Wucht der Explosion in die Luft geschleudert. Der Himmel verdunkelte sich, überall waren Wolken aus Staub, die Diego verschluckten. Er verlor den Blick auf den Himmel, die Gebäude und …
Eine Stimme trieb über den endlosen Wind und sprach ein einziges Wort wie aus hundert Meilen Entfernung.
»Vorwärts!«
Kapitel 2
Die Riberas von
New Chicago
Diego riss die Augen auf, vor denen noch das Bild der zerfallenden Stadt stand.
Blinzelnd betrachtete er das gewölbte, mit Nieten gepunktete Metall über sich – die Innenseite seines Bettes.
Er atmete tief durch. Es war nur ein Traum gewesen … ein Albtraum. Er stützte sich auf den Ellbogen, wobei er aufpassen musste, sich nicht den Kopf in dem alten Propangastank anzuschlagen, den sein Vater so umgebaut hatte, dass er aussah wie ein altes U-Boot der Mittelzeit. Diego hatte es zum achten Geburtstag bekommen. Mittlerweile reichten seine Füße bis zum äußersten Ende, wenn er schlief.
Er sah sich in seinem Zimmer um und stellte fest, dass alles wie immer war.
Diego zitterte. Während des Traums hatte er die Bettdecke weggeschoben, doch als er danach griff, bemerkte er das durch das Fenster fallende Tageslicht. Er warf rasch einen Blick auf die Uhr – würden die Zeiger rückwärtslaufen? Nein, sie liefen vorwärts; natürlich taten sie das. Und es war Zeit aufzustehen.
Dennoch legte er sich noch einen Augenblick wieder hin und verschränkte die Arme. Immer noch hatte er die Bilder der Explosion vor Augen. Er wusste, dass es nur ein Traum war, aber trotzdem … Da war dieses Hoverboard gewesen. Etwas, das er sich mehr wünschte als alles andere.
Diego schwang die Beine aus dem Bett, stand auf und streckte sich. Dann zog er eine Cargo-Hose und sein Lieblings-T-Shirt an, das orange mit der leuchtend weißen Aufschrift ATARI.
Sein Blick blieb an dem Poster über seinem Bett hängen. Es zeigte die Skyline von Chicago, wie sie früher gewesen war – eine Reihe von eleganten Gebäuden am Ufer eines Sees. Es war die Stadt, aus der sein Vater kam. Vor der Zeitkollision. Diego gehörte zur ersten Generation von Kindern, die in der neuen Welt geboren worden waren. Alle älteren Menschen waren aus einer anderen Zeit gekommen. Viele Leute identifizierten sich noch immer mit der Ära, aus der sie ursprünglich stammten, doch seine Eltern waren anders. Obwohl Santiago aus der Mittelzeit stammte und seine Mutter Siobhan aus der Dampfzeit, betrachteten sie sich lediglich als Bürger der neuen Welt.
»Du hast Glück«, hatte Santiago einmal gesagt. »Du bist ein Kind der Zukunft. Die Vergangenheit wird dich nie belasten.«
Über die Zeitkollision oder die darauffolgenden dunklen Jahre sprach Santiago nie. Manche Gruppen waren immer noch verbittert wegen des Krieges, doch er hatte sich immer darauf konzentriert, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Aber er hatte ein paar Zeitungsausschnitte aus der Zeit nach dem Ereignis aufbewahrt. Als in Diegos Schule die Zeitkollision durchgenommen wurde, hatte sein Vater ihm diese Ausschnitte gegeben. Jetzt klebten sie an der Wand über seinem Schreibtisch.
Der größte hatte die Überschrift: ZEITKOLLISION! Der Artikel war selbst jetzt interessant zu lesen. In der Zeit kurz danach, als der Chronos-Krieg begann, hatten die Menschen so wenig gewusst. Die Dampfzeitler hatten mit den Kulturen der anderen Zeiten um die Weltherrschaft gekämpft und eine Weile lang waren die Menschen gefährlicher gewesen als die Dinosaurier.
Ein anderer Artikel zeigte eine Gruppe von Jägern neben einem Spinosaurus, ein weiterer die großen Wollhaarmammutherden, die nördlich der Wildnis lebten.
Und darunter hing ein Bericht über die ersten Expeditionen des großen Forschers Bartholomew Roosevelt in die fantastisch veränderten Landesteile Amerikas. Diego ging auf den Balkon vor seinem Zimmer, wo ihm eine kühle, salzige Brise ins Gesicht wehte. Es roch nach Seegras und Dieseltreibstoff. Er fasste nach dem Geländer und betrachtete die Stadt, denn er wollte sich vergewissern, dass sie so wie immer aussah.
Eine letzte Versicherung, dass sein Traum eben wirklich nur ein Traum gewesen war.
Tatsächlich lag New Chicago leuchtend in der Morgensonne vor ihm und sah so stabil und beständig aus, wie eine Stadt, die aus drei verschiedenen Epochen bestand, es nur konnte.
Er hörte eine Schiffssirene. In der Ferne hinter den Gebäuden sah er die großen Köpfe und Schultern der riesigen Roboter, die im Morgennebel am Hafen arbeiteten. Wenn die Frachtschiffe versorgt waren, würden diese Roboter durch die Kanäle ziehen und ihre Techniker würden die Stadt nach Mängeln oder Schäden durch das Salzwasser absuchen. Früher waren die Kanäle einmal die Straßen der Stadt gewesen, aber die lagen alle unter der Oberfläche des Vastlantic, eines Ur-Meeres, das jetzt ein Drittel von Nordamerika bedeckte.
Vor Diegos Fenster zog ein leuchtend blauer Roboterkran vorbei und stelzte auf seinen acht dünnen Beinen wie eine Spinne durch den belebten Kanal. Ihm folgte kurz darauf ein weiterer, kleinerer Roboter. Er war gelb und kräftig, eher wie ein Bulldozer auf Beinen, aber mit zwei kolbengetriebenen Armen anstelle der großen Schaufel. Er zog einen Lastkahn voller Stahlbalken.
In den Straßen wimmelte es von Leuten und Fahrzeugen der unterschiedlichsten Baujahre. Das war das Einzigartige an New Chicago. In den meisten Teilen der Welt waren die Zeitalter über weite geografische Flächen gleich und reihten sich glatt aneinander wie Kuchenstücke. Doch hier waren sie eher wie die Splitter eines gesprungenen Spiegels, manche lang und schmal, andere kurz und trapezförmig, und sie lagen kreuz und quer durcheinander. Dadurch war das Leben hier bunter und chaotischer als an anderen Orten, und manchmal auch gefährlicher, aber Diego fand diese Version von Chicago viel interessanter als die auf dem Poster an seiner Wand.
Der Geruch nach Speck und Eiern riss ihn aus seinen Gedanken. Von drinnen erklangen Brutzelgeräusche. Plötzlich fiel ihm wieder ein, warum es heute ein größeres Frühstück gab als sonst.
Es war sein dreizehnter Geburtstag.
Schnell lief er wieder hinein und in die Küche. Am Herd stand Siobhan in ihrem Fliegeroverall. Die dichten roten Locken hatte sie zurückgestrichen und mit einem blauen Essstäbchen festgesteckt. Sie war gerade dabei, ein weiteres Stück Speck in der Pfanne zu braten, als die Druckanzeige neben dem Herd auf null fiel. Ein schrilles Pfeifen ertönte und der Herd erlosch.
»Verflixt«, murmelte Siobhan. »Das verdammte Teil müsste noch für mindestens dreißig Minuten Energie haben.«
»Versuch es hiermit, Mom«, sagte Diego und löste den Druckmesser von seinem Gürtel. »Der hat noch einen Powervorrat von etwa drei Stunden.«
»Danke, mein Lieblings-Geburtstagsjunge!« Sie umarmte ihn fest und küsste ihn auf die Stirn.
»Mom …«, begann Diego.
»Was ist?« Sie lächelte, während sie die Druckbatterie austauschte und der Herd wieder ansprang. »Soll ich jetzt lieber ›junger Mann‹ als ›Junge‹ sagen?«
»Vielleicht einfach nur nicht ›Liebling‹?«, schlug Diego vor.
Siobhan seufzte. Ihr Gesicht war schneeweiß und glatt und ihre Augen leuchteten graublau. »Du wirst älter, nicht wahr? Und ich glaube, du bist heute Nacht wieder zwei Zentimeter gewachsen.« Sie tippte ihm mit dem Zeigefinger an die Nase. »Setz dich. Du musst essen und dann in die Schule. Und vergiss nicht, dass du heute nach der Schule Dad an der Geothermalanlage Arlington treffen sollst«, erinnerte sie ihn, als er sich an den Tisch setzte.
»Ich weiß«, antwortete er.
»Du sollst dich gleich nach der Schule am Fähranleger melden. Also trödel nicht mit Petey herum. Dad sagt, dass es den ganzen Nachmittag dauern wird, den neuen Dampfkonverter einzubauen.«
»Ich weiß«, sagte Diego. »Mann, es wäre toll gewesen, wenn Dad das Kraftwerk näher hätte bauen können. Diese Fährfahrt dauert einfach zu lang.«
»Ich glaube, diesen einen Nachteil kannst du ihm verzeihen«, meinte Siobhan. »Dank deines Vaters hat die Stadt Strom, Sicherheit und Wohlstand.«
Er wusste, wie viel sein Vater für New Chicago getan hatte. In den Jahren nach der Zeitkollision hatte Santiago das Kraftwerk geplant und gebaut, die Schutzmauer, die die Territorien umgaben, und die meisten Roboter, die die Stadt warteten und schützten.
»Es ist nur so ein langer Nachmittag an meinem Geburtstag.«
»Ja«, gab Siobhan zu. »Wir hatten gehofft, dass wir dich heute Abend im Signature Room auf der 95. Straße zum Essen ausführen könnten, aber dieser Job ist sehr wichtig. Wenn dein Vater ihn auf einen anderen Tag hätte legen können, dann hätte er das sicher getan, glaub mir. Also keine weiteren Beschwerden aus den unteren Rängen, ist das klar, Kleiner?«
»Aye, aye, Captain«, antwortete Diego und salutierte vor seiner Mutter. Siobhan flog jetzt für den Rettungsdienst der Stadt, aber früher war sie eine hochdekorierte Kampfpilotin gewesen. Sie hatte gegen das Aeternum gekämpft, eine Organisation von Plünderern, die New Chicago und die anderen Küstenstädte nach dem Chronos-Krieg öfter überfallen hatte, und ihre Rolle bei der entscheidenden Schlacht von Dusable Harbor hatte sie zu einer Legende werden lassen.
Im Gang waren schwere Stiefel zu hören.
»Guten Morgen!«, sagte Santiago. Er trug seine Arbeitskleidung.
Obwohl der Titel »Leitender Mechaniker und Ingenieur« vermuten ließ, dass er einen Anzug tragen sollte, legte Santiago auf so etwas keinen Wert und machte sich kaum die Mühe, das Schmieröl unter seinen Fingernägeln wegzukratzen. Er fühlte sich am wohlsten, wenn er mit seiner Crew zusammenarbeitete und bis zu den Ellbogen in irgendeiner Maschine steckte.
Er hängte seine schwere, wettergegerbte Tasche an einen Stuhl und goss sich einen Becher Kaffee ein.
»Guten Morgen, Santi«, begrüßte ihn Siobhan und reichte ihm einen Teller, wofür er ihr einen Kuss gab.
»In deiner Uniform siehst du immer so schick und offiziell aus«, stellte er fest.
»Vielen Dank auch«, entgegnete Siobhan mit einem leichten irischen Akzent, der stets stärker zu werden schien, wenn sie entweder verlegen oder wütend war. »Wie es scheint, habe ich mich umsonst in Schale geworfen. Die ganze Flotte bleibt am Boden. Colonel McGregor hat verkündet, dass der Treibstoff, den sie gestern Abend für das Geschwader getankt haben, schlecht war.«
»Schlecht?«, fragte Santiago, als er sich setzte. »Wie kann das denn sein?«
»Total verunreinigt«, erklärte Siobhan. »Also werden wir, anstatt zu fliegen, den ganzen Tag damit verbringen, die Tanks zu leeren und die Benzinleitungen zu spülen. Das betrifft auch die meisten Schiffe der Marine. Fast alle Fahrzeuge der Basis sind lahmgelegt.«
»Das tut mir leid«, meinte Santiago. »Aber merkwürdig ist es schon. Normalerweise ist die Calumet-Raffinerie doch so zuverlässig. Haben sie gesagt, wie das passiert ist?«
»Nicht in dem Bericht, den ich bekommen habe«, erwiderte Siobhan.
Santiago runzelte die Stirn. »Ich werde sie nachher mal anrufen. Wenn es ein Problem mit einer der Pumpen gibt, dann sollte ich so bald wie möglich ein Team hinschicken.« Er nahm einen Bissen von seinem Ei und sah dann Diego an. »Ich habe gehört, wie du sie Captain genannt hast. Du wirst heute Nachmittag selbst Kapitän sein.«
Diego lächelte nervös.
»Und von was werde ich Kapitän sein?«, erkundigte er sich mit dem Hintergedanken: Sag Hoverboard, bitte sag Hoverboard!
»Ha«, schmunzelte Santiago und aß seinen Speck. »Ich meine natürlich den Frontlader. Du sollst den großen blauen Centauri-Bot fahren. Dieser Goliath-Dampfkonverter ist eine große Sache. Ich hoffe, du bist noch dabei.«
»Oh«, sagte Diego. »Stimmt ja. Dieser Bot ist echt knifflig.«
»Ich habe gesehen, dass du damit umgehst wie ein Profi«, behauptete Santiago.
»So gut bin ich nun auch wieder nicht«, wandte Diego ein. »Ich meine, wenn wir Druckventile einbauen oder so, aber … vielleicht sollte das lieber Stan Angelino machen. Er ist der beste Roboterfahrer in Arlington.«
»Komm schon, du bist mein Sohn«, meinte Santiago. »Wieso solltest du da nicht einer der Besten sein, vielleicht sogar eines Tages der Beste?« Er strich Diego über den Kopf und verwuschelte seine Haare. »Dieser Konverter ist direkt aus London gekommen. Der beste königliche Dampftriebingenieur und sein Sohn sind hier, um uns bei der Installation zu helfen. Stan ist sehr gut, aber für diesen Job brauche ich meinen besten Mann.«
Diego spürte, wie er rot wurde.
»Und außerdem«, fuhr Santiago fort, »musst du das Ding einfach sehen. Es ist gigantisch.«
Wenn sein Vater von seiner Arbeit sprach, hörte er sich immer an wie ein kleines Kind. Er behauptete, sein Job hielte ihn jung, doch in letzter Zeit hatte Diego an seinen Schläfen graue Haare bemerkt und gelegentlich ein paar weiße Haare in seinem dichten Schnurrbart.
Doch anstatt zurückzulächeln, sah Diego nur auf seinen Teller.
»Was ist los, Diego?«
»Na ja, ich verstehe einfach nicht, warum Magistrat Huston glaubt, dass wir so altmodische Dampftechnik brauchen. Erst war es dieser französische Ingenieur mit seinem revolutionären Gaslichtsystem, dann dieser grauenvolle Rohölexperte aus Texas. Und jetzt müssen wir uns mit so einem spießigen Briten auseinandersetzen?« Diego blitzte seinen Vater an. »Ich meine, du bist doch ein zehnmal besserer Techniker als der.«
Santiago nippte an seinem Kaffee.
»Es stärkt unsere Bündnisse, wenn wir unsere Technologien miteinander teilen. Es ist meine Pflicht, ihnen zu helfen, und mit diesem Konverter will uns die Königin ebenfalls helfen.« Er lächelte. »Leitender Ingenieur zu sein, bedeutet mehr, als sich mit Getrieben und Kolben auszukennen. Man muss auch mit den Menschen arbeiten können. Und die sind gelegentlich weit komplizierter. Das wirst du lernen müssen, wenn du je meinen Platz einnehmen willst.«
Diego wünschte, er hätte nichts gesagt.
»Ich weiß nicht, Dad …« Er glaubte nicht, dass er je Santiagos Stelle übernehmen würde. Er wusste nicht, ob er so genial war, und falls er es nicht war, wollte er die Enttäuschung im Blick seines Vaters nicht sehen.
»Hör zu«, meinte dieser, »ich weiß ja, dass das nicht so aufregend ist wie dein Pilotentest. Aber ich brauche dich.«
»Ich weiß«, sagte Diego.
»Und wenn du irgendwann dreizehn wirst und den Test machst, bist du immer noch der jüngste Pilot in New Chicago.«
»Dad …«, begann Diego und schob sich ein ganzes Stück Speck in den Mund.
»Was ist?«
»Ich habe heute Geburtstag.«
»Was? Heute? Aber …« Santiago zählte an den Fingern ab. »Kann nicht sein. Heute ist Dienstag, gestern war Montag. Davor war Sonntag, also muss heute …«
Plötzlich begann Santiago zu lachen.
»Dad!«, empörte sich Diego.
»Du bist grässlich«, warf Siobhan ein und boxte Santiago leicht in die Schulter.
»Sorry«, grinste der. »Aber ich hatte dich.« Er zog ein kleines Päckchen aus seiner Tasche und gab es Diego. »Keine Angst, ich habe es nicht vergessen. Hier.«
Das Paket hatte nicht die Größe eines Hoverboards. Als Diego das braune Papier entfernte, kam eine kleine, in weißes Papier gewickelte Schachtel mit einer blauen Schleife zum Vorschein. Daran hing eine Karte.
Unserem jungen Abenteurer und Sohn, Diego.
Mögest du hierdurch eine Welt voller Wunder entdecken,
die den meisten verborgen bleibt.
In Liebe,
Mom & Dad
Diego wickelte die Schachtel aus.
»Was ist das?«, wollte er wissen und hielt das Rohr ans Auge.
Durch die Linse sah er winzige Bruchstücke, die ein fantastisches buntes Muster aus verschiedenen Formen bildeten.
»Und jetzt dreh mal daran«, verlangte sein Vater.
Diego drehte an dem Zylinder am vorderen Ende, woraufhin sich das Bild bewegte, die farbigen Bruchstücke sich wieder neu ordneten und neue, immer schönere Muster bildeten.
»Wow«, entwich es Diego.
Santiago lächelte. »Das ist ein Kaleidoskop. Darin sind Spiegel und bunte Glasstückchen, die diese Muster erzeugen, wenn du daran drehst.«
»Das ist wunderschön«, befand Diego und drehte das Gerät in der Hand.
»Gefällt es dir nicht?«, fragte Siobhan.
»Doch … ich meine, es ist toll.« Diego versuchte, dankbar zu klingen, es war nur … war das alles? »Vielen Dank!«
»Man darf nie das Potenzial von Dingen unterschätzen, wie bescheiden sie auch aussehen mögen«, sagte Santiago.
»Okay«, erwiderte Diego und zwang sich zu einem Lächeln.
Doch seine Eltern grinsten immer noch.
»Santi«, meinte Siobhan, die kurz vor einem Lachkrampf stand. »War da nicht noch etwas?«
»Schon möglich«, grinste Santiago spitzbübisch.
Diego sprang auf. »Ist es …?«
»Immer schön langsam«, mahnte sein Vater. »Es ist noch in der Werkstatt. Ich muss noch ein paar Dinge daran richten, aber bis heute Abend wird es fertig sein.« Er sah, wie Diego das Gesicht verzog. »Ich glaube, das wirst du überleben. Außerdem gibt es jede Menge, was uns bis dahin ablenken kann. Ich …«
Er hielt inne und sah Diego aufmerksam an.
»Was ist?«, fragte der. Es schien, als würde Santiago ihn mustern. »Dad!«
»Sorry.« Santiago schüttelte den Kopf, als kehre er aus einem Tagtraum zurück. »Weißt du was? Wenn ich es mir recht überlege, warum gehen wir nicht noch vor der Schule in die Werkstatt?« Er sah auf die Uhr. »Wenn du schnell isst, reicht die Zeit und dann kannst du dein Geschenk doch jetzt schon bekommen.«
»Okay, cool!«, fand Diego und schlang sein Frühstück herunter.
»Wir sehen uns an der Tür«, sagte Santiago, nahm seinen Werkzeuggürtel und füllte seinen Kaffeebecher nach.
Diego stopfte sich die letzten Bissen in den Mund und sprang immer noch kauend auf.
»Auf Wiedersehen, mein Liebling«, sagte Siobhan und küsste Diego aufs Haar. »Und wenn ihr zwei heute Abend nach Hause kommt, gibt es Kuchen!«