Mabel Collins: Licht auf den Pfad

Der Kommentar

Annie Besant • Charles W. Leadbeater


ISBN: 978-3-96861-227-0
1. Auflage 2021
© Aquamarin Verlag GmbH

Titel der englischen Originalausgabe:
Talks on the Path of Occultism Vol III: Light on the Path

Deutsche Übersetzung: Hannelore Huber (Kommentar)
Hank Troemel (Text)





Umschlaggestaltung: Annette Wagner

Aquamarin Verlag GmbH, Voglherd 1, 85567 Grafing, www.aquamarin-verlag.de

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

Inhalt

Vorwort

 

Licht auf den Pfad ist eines der ganz besonderen Juwelen der theosophischen Literatur. Es ist für Geistesschüler und aufrichtig Suchende bestimmt und soll ihnen Lebensregeln an die Hand geben, an die sie sich halten können.

Die Lehrsätze in Teil I und II enthalten tiefe esoterische Wahrheiten und sind nicht leicht zu verstehen. Deshalb werden sie hier zusätzlich mit Kommentaren und Erläuterungen von Annie Besant und C. W. Leadbeater veröffentlicht.

Diese Kommentare und Erläuterungen sind Aufzeichnungen von Vorträgen, die von den Zuhörern zu verschiedenen Zeiten und an unterschiedlichen Orten gemacht wurden, vor allem in Adyar, London und Sydney. Alle, die davon erhältlich waren, wurden gesammelt und geordnet. Dann wurden sie zusammengefasst, wobei Wiederholungen ausgesondert wurden.

Von Erläuterungen dieser Art heißt es:

»Es genügt nicht, von diesen Lehren zu sagen, sie seien wahr und schön; sie müssen sehr genau befolgt werden, wenn sie dem Menschen helfen sollen. Der bloße Anblick der Nahrung wird den Hungrigen nicht sättigen; er muss seine Hand ausstrecken und muss essen. Ebenso genügt es nicht, des Meisters Wort nur zu hören; du musst selbst tun, was er sagt, musst jedes Wort beachten, jeden Wink befolgen …«

Daher äußerte Annie Besant im Vorwort zur englischen Ausgabe den Wunsch:

»Möge dieses Buch einigen unserer jüngeren Brüder und Schwestern helfen, mehr von diesen unschätzbaren Lehren zu verstehen. Je mehr sie studiert und gelebt werden, desto mehr wird in ihnen gefunden werden.«

Der Text - Teil I

Diese Regeln sind für jeden, der die Wahrheit sucht. Folge ihnen!

 

Ehe die Augen sehen können, dürfen sie der Tränen nicht mehr fähig sein.

 

Ehe das Ohr hören kann, muss es seine Empfindlichkeit verloren haben.

 

Ehe die Stimme in Gegenwart der Meister sprechen kann, muss sie die Fähigkeit des Verletzens verloren haben.

 

Ehe die Seele vor den Meistern stehen kann, muss das Blut des Herzens ihre Füße netzen.

 

1. Ertöte den Ehrgeiz

Ehrgeiz ist der erste Fluch, der große Verführer jener Menschen, die über ihre Mitmenschen hinauswachsen. Er ist der einfache Ausdruck des Wunsches nach Belohnung.

Fortwährend werden Menschen von Intelligenz und Kraft durch ihn von ihren höheren Entwicklungsmöglichkeiten abgelenkt.

Doch er ist ein unentbehrlicher Lehrmeister. Will man seine Belohnungen genießen, so werden sie zu Staub und Asche; und wie Tod und Entfremdung, zeigt er schließlich dem Menschen, dass egoistisches Handeln nur Enttäuschung bringt.

Aber obgleich diese erste Regel so einfach und leicht erscheint, gehe nicht zu schnell an ihr vorüber. Denn die Laster des gewöhnlichen Menschen machen eine feine Umwandlung durch und erscheinen in veränderter Gestalt im Herzen des Jüngers wieder.

Es ist leicht zu sagen: »Wenn der Meister in meinem Herzen liest, wird er es vollkommen rein finden.«

Der echte Künstler, der nur aus Liebe zu seinem Werk schafft, steht manchmal fester auf dem rechten Weg als der Esoteriker, welcher wähnt, sein Interesse gelte nicht mehr dem eigenen Ich, der aber in Wirklichkeit nur die Grenzen der Erfahrung und des Begehrens ausgedehnt und sein Interesse auf Dinge übertragen hat, die diesem größeren Lebensbereich entsprechen.

Derselbe Grundsatz gilt auch für die beiden folgenden scheinbar einfachen Lehren. Verweile bei ihnen und lasse dich nicht durch dein eigenes Herz täuschen.

Denn jetzt, an der Schwelle, kann ein Fehler noch korrigiert werden. Trägst du ihn aber mit dir weiter, dann wird er wachsen und reifen. Später dann bereitet dir seine Vernichtung großes Leiden.

 

2. Ertöte den Wunsch nach Lebensbegierde.

 

3. Ertöte den Wunsch nach Behaglichkeit.

 

4. Wirke, wie jene, die ehrgeizig sind. Achte das Leben wie jene, welche es begehren. Sei glücklich wie jene, die dem Glück nur leben.

Suche in deinem Herzen den Ursprung des Bösen und vernichte ihn; denn das Böse ist im Herzen des ergebenen Jüngers ebenso fruchtbar wie im Herzen des sinnlichen Menschen. Nur der Starke kann es vernichten. Der Schwache muss das Anwachsen des Bösen, seine Macht und seinen Tod abwarten. Einem Unkraut gleich lebt es und wächst zu allen Zeiten. Zur vollen Blüte kommt es, wenn der Mensch Erfahrungen aus zahllosen Leben gesammelt hat. Wer den Pfad der Macht betreten will, muss es aus seinem Herzen reißen. Dann wird ihm das Herz bluten, und das ganze Leben des Menschen wird scheinbar zerfallen. Diese schwere Prüfung muss ertragen werden. Sie kann vielleicht schon beim ersten Tritt auf der gefahrvollen Leiter kommen, welche zum Pfad des Lebens hinaufführt, oder sie kommt vielleicht erst beim letzten. Aber bedenke, oh Jünger, sie muss ertragen werden. Setze daher alle Kräfte deiner Seele für diese Aufgabe ein. Lebe weder in der Gegenwart noch in der Zukunft, sondern im Ewigen. Dort kann dieses große Unkraut nicht gedeihen. Schon durch den Gedanken an das Ewige wird dieser Schatten auf dem Dasein aufgelöst.

 

5. Ertöte jedes Gefühl des Getrenntseins.

Doch stehe allein und abgesondert, weil nichts, was verkörpert ist, nichts, was sich der Trennung bewusst ist, nichts, was außerhalb des Ewigen ist, dir helfen kann.

Glaube nicht, du könntest dich abwenden von schlechten oder törichten Menschen. Sie sind eins mit dir, wenn auch in geringerem Maße als dein Freund oder dein Meister. Wenn du die Vorstellung des Getrenntseins von schlechten Dingen oder Menschen in dir aufkommen lässt, dann schaffst du dadurch ein Karma, das dich an diese schlechten Dinge oder Menschen binden wird, bis deine Seele erkennt, dass sie nicht für sich allein leben kann.

Bedenke, dass die Sünde und die Schande der Welt deine Sünde und Schande sind, denn du bist ein Teil von ihr. Dein Karma ist unlösbar mit dem Großen Karma verbunden.

Um Erkenntnis zu erlangen, musst du sowohl die unreinen als auch die reinen Daseinszustände durchlaufen. Darum bedenke, dass das befleckte Gewand, vor dessen Berührung du zurückschreckst, gestern vielleicht das deine gewesen ist oder morgen deines werden kann. Und wenn du dich mit Grauen von ihm abwendest, wird es, wenn es auf deine Schultern geworfen wird, nur umso fester an dir haften. Der Selbstgerechte bereitet sich selbst ein Bett im Schmutz. Enthalte dich, weil es recht ist, Enthaltsamkeit zu üben, nicht aber um deiner eigenen Reinheit willen.

 

6. Ertöte den Wunsch nach Sinnesleben.

Lerne aus dem Erleben durch die Sinne und beobachte sie, weil du nur so mit der Wissenschaft der Selbsterkenntnis beginnen und den Fuß auf die unterste Sprosse der Himmelsleiter setzen kannst.

 

7. Ertöte den Hunger nach Wachstum.

 

8. Bleibe allein; sei auf dich selbst ausgerichtet.

Wachse, wie die Blume wächst: Unbewusst, doch eifrig bemüht, ihr Innerstes mit Luft zu erfüllen. So musst du vorwärts streben, um deine Seele dem Ewigen zu öffnen. Das Ewige aber muss es sein, das deine Kraft und Schönheit hervorruft, nicht der Wunsch nach Wachstum. Denn in dem einen Falle entfaltest du dich in der Fülle der Reinheit, im anderen Falle verhärtest du dich durch das ungestüme Begehren nach persönlicher Größe.

 

9. Begehre nur, was in dir ist.

Denn in dir ist das Licht der Welt – das einzige Licht, das sich auf den Pfad ergießen kann. Wenn du unfähig bist, es in dir wahrzunehmen, ist es nutzlos, anderswo danach zu suchen.

 

10. Begehre nur, was über dir ist.

Es ist über dir, weil du, wenn du es erreichst, dich selbst verloren hast.

 

11. Begehre nur, was unerreichbar ist.

 

12. Das Ewige Licht ist unerreichbar, weil es ewig zurückweicht.

Du wirst in das Licht eingehen, die Flamme aber wirst du nie berühren.

 

13. Eifrig strebe nach Kraft.

Und die Kraft, welche der Jünger begehren soll, ist jene Kraft, die ihn in den Augen der Menschen wie ein Nichts erscheinen lässt.

 

14. Suche inbrünstig nach Frieden.

Der Friede, den du begehren sollst, ist jener heilige Friede, den nichts stören kann und in dem die Seele wächst wie die heilige Blume auf den stillen Gewässern.

 

15. Begehre vor allem Besitz.

 

16. Aber dieser Besitz darf nur der reinen Seele angehören und muss daher in gleichem Maße der Besitz aller reinen Seelen sein, so dass nur das Ganze, wenn es vereint ist, ihn als besonderes Eigentum besitzt. Trachte nach solchem Besitz, der nur einer reinen Seele gehören kann, damit du Reichtümer gewinnst für den vereinten Geist des Lebens, der dein einzig wahres Selbst ist.

 

17. Suche den Weg.

Diese drei Worte erscheinen vielleicht zu unbedeutend, um allein zu stehen. Der Jünger könnte denken: »Würde ich mich überhaupt in diese Gedanken vertiefen, wenn ich nicht den Weg suchte?« Doch gehe nicht zu hastig darüber hinweg. Halte inne und bedenke. Ist es der Weg, den du ersehnst, oder hast du in deinen Visionen gewisse Vorstellungen von großen Höhen, die du ersteigen, oder von einer großen Zukunft, die du verwirklichen möchtest? Sei gewarnt! Der Weg muss um seiner selbst willen gesucht werden, nicht im Hinblick darauf, dass deine Füße ihn beschreiten wollen.

Zwischen dieser Regel und der siebzehnten der zweiten Folge besteht ein Zusammenhang. Wenn nach Zeitaltern des Ringens und nach vielen Siegen der letzte Kampf gewonnen, das letzte Geheimnis erfragt worden ist, dann bist du für einen weiteren Pfad vorbereitet.

Wenn das letzte Geheimnis dieser großen Lehre enthüllt ist, eröffnet sich das Mysterium des neuen Weges – eines Pfades, der über alle menschliche Erfahrung hinausführt und der gänzlich jenseits aller menschlichen Wahrnehmungs- oder Vorstellungskraft liegt. Bei jedem dieser Punkte sollte man lange verweilen und wohl überlegen. Bei jedem dieser Punkte muss man die Gewissheit haben, dass der Weg um seiner selbst willen gewählt wird. Der Weg und die Wahrheit kommen zuerst, dann folgt das Leben.

 

18. Suche den Weg durch Hinwendung nach innen.

 

19. Suche den Weg durch kühnen Fortschritt nach außen.

 

20. Suche ihn nicht bloß auf einer Straße. Es gibt für jede charakterliche Veranlagung einen Weg, der als der wünschenswerteste erscheint. Aber der Weg wird weder durch Hingebung allein gefunden, noch bloß durch religiöse Vertiefung, noch allein durch eifriges Streben, durch sich selbst aufopferndes Wirken oder aufmerksames Beobachten des Lebens. Für sich allein genommen, kann keines den Jünger mehr als einen Schritt voranbringen. Alle Sprossen sind notwendig, um die Leiter zusammenzusetzen.

Wenn ein Laster des Menschen nach dem anderen überwunden wird, wird jedes zu einer Sprosse in seiner Leiter. Die Tugenden des Menschen sind Sprossen, in der Tat notwendige, die wir durchaus nicht entbehren können. Aber obwohl sie ein gutes Gefühl und eine glückliche Zukunft verheißen, sind sie, für sich allein genommen, ohne Nutzen. Die ganze Natur des Menschen muss weise genützt werden von dem, der den Pfad zu betreten wünscht.

Jeder Mensch ist für sich selbst bedingungslos der Weg, die Wahrheit und das Leben. Aber nur dann, wenn er seine ganze Individualität wirklich versteht und durch seine erwachte geistige Willenskraft erkennt, dass diese Individualität nicht sein Wesen ausmacht, sondern unter Schmerzen von ihm als Mittel erschaffen wurde, mit dessen Hilfe er, indem sein Wachstum langsam seine geistige Erkenntnis entwickelt, das Leben jenseits des individuellen Seins zu erreichen trachtet. Wenn er begreift, dass sein wunderbar komplexes Einzelleben nur zu diesem Zweck besteht, dann wahrlich – und nur dann – ist er wirklich auf dem Weg.

Suche den Weg, indem du in die geheimnisvollen leuchtenden Tiefen deines eigenen innersten Wesens tauchst. Suche ihn, indem du jegliche Erfahrung prüfst und die Sinne einsetzt, um das Wachstum und die Bedeutung des individuellen Seins zu verstehen sowie die Schönheit und Unergründlichkeit jener anderen göttlichen Geschöpfe, die neben dir ringen und jene menschliche Rasse bilden, zu der auch du gehörst. Suche ihn durch die Erforschung der Gesetze des Daseins, der Naturgesetze und der Gesetze des Übersinnlichen, und suche ihn, indem deine Seele sich tief verneigt vor dem aufschimmernden Stern, der in dir funkelt. Sein Licht wird stetig stärker werden, wenn du auf ihn achtest und ihn verstehst. So kannst du sicher sein, den Anfang des Weges gefunden zu haben. Wenn du dann sein Ende gefunden hast, wird sein Licht plötzlich das Licht der Ewigkeit werden.

Suche den Weg, indem du alle Erfahrungen prüfst; doch bedenke, dass ich damit nicht sage: »Gib den Versuchungen der Sinne nach, um sie kennenzulernen.« Solange du noch kein Wissender geworden bist, kannst du dies tun, danach nicht mehr. Sobald du den Pfad gewählt und ihn betreten hast, kannst du diesen Versuchungen nicht nachgeben, ohne Schaden zu nehmen. Doch kannst du sie abwägen, beobachten und prüfen und mit zuversichtlicher Geduld der Stunde harren, da sie dich nicht länger werden berühren können.

Aber verurteile nicht den Menschen, der ihnen erliegt. Reiche deine brüderliche Hand diesen Pilgern, deren Füße vom Schmutz schwer geworden sind! Bedenke, oh Jünger: Wie groß der Unterschied zwischen dem Gerechten und dem Sünder auch sein mag, größer ist jener zwischen dem Gerechten und dem Menschen, der Wissen erlangt hat. Unermesslich ist sie aber zwischen dem Gerechten und dem Menschen, der auf der Schwelle der Göttlichkeit steht. Hüte dich also, dass du dich nicht zu früh für ein über der Masse stehendes Wesen hältst.

Sobald du den Anfang des Weges gefunden hast, wird der Stern deiner Seele sein Licht offenbaren, und in diesem Licht wirst du erschauen, wie groß das Dunkel ist, in dem es leuchtet. Sinn, Herz und Verstand sind alle finster und umnachtet, bis der erste große Kampf gewonnen ist. Verliere nicht deinen Mut und lasse dich nicht abschrecken. Halte deine Augen fest auf das kleine Licht gerichtet – und es wird stärker und heller. Diese innere Dunkelheit wird dir helfen, die Hilflosigkeit derer zu verstehen, die noch kein Licht gesehen haben, deren Seelen noch in tiefer Finsternis verharren.

Verurteile sie nicht, lasse sie nicht allein, sondern bemühe dich, ein wenig von dem schweren Karma der Welt mitzutragen. Schenke deine Unterstützung den wenigen starken Armen, welche die Mächte der Finsternis zurückhalten, einen vollständigen Sieg zu erringen.

Dann trittst du in eine freudige Gemeinschaft ein, die zwar schwere Mühe und tiefes Leid, aber auch große und stetig wachsende Glückseligkeit schenkt.

 

21. Erwarte das Erblühen der Blume in der Stille, die dem Sturm folgt, nicht vorher.

Während der Sturm andauert, während der Kampf tobt, wird sie wachsen und sprießen, wird Zweige und Blätter treiben und Knospen bilden. Aber erst, wenn die ganze Persönlichkeit des Menschen völlig aufgelöst ist – erst wenn sie von dem Gottesfunken, der sie erschaffen hat, nur mehr als ein Werkzeug zu wichtigen Versuchen und Erfahrungen betrachtet wird – erst wenn die ganze Natur sich ergeben hat und ihrem höheren Selbst gehorsam geworden ist, kann sich der Blütenkelch öffnen. Dann wird eine Ruhe eintreten, wie sie in den Tropen einem schweren Regen folgt, in der die Natur so schnell am Werk ist, dass man ihr Wirken sehen kann. Solch eine Ruhe wird über den gequälten Geist kommen. Und in diesem tiefen Schweigen wird das geheimnisvolle Ereignis eintreten, welches beweisen wird, dass der Weg gefunden worden ist. Nenne es, mit welchem Namen du willst – es ist eine Stimme, die da spricht, wo niemand sprechen kann, es ist ein Bote, der da kommt ohne Form oder Substanz – es ist der Blütenkelch der Seele, der sich geöffnet hat. Durch kein Gleichnis kann es beschrieben werden, aber man kann es fühlen, es suchen und ersehnen – selbst im Toben des Sturmes.

Die Stille mag nur einen Augenblick dauern oder tausend Jahre währen, aber sie wird enden. Doch wirst du ihre Kraft mit dir tragen. Wieder und wieder muss der Kampf ausgefochten und gewonnen werden. Nur für einen Moment lang kann die Natur still sein.

Das Öffnen der Blüte ist der erhabene Augenblick, in dem die Einsicht erwacht; mit ihr kommen Vertrauen, Erkenntnis und Gewissheit. Die Ruhepause in dieser Seele ist der Augenblick des Erstaunens, und der folgende Augenblick der Erfüllung, das ist die Stille.

Sei gewiss, du Jünger, dass jene, welche die Stille erfahren, die ihren Frieden gefühlt und ihre Kraft erhalten haben, sich danach sehnen, dass auch du sie erleben mögest.

Darum wird der Jünger, wenn er fähig ist, in die Halle des Lernens einzutreten, dort immer seinen Meister finden.

Jenen, die bitten, wird gegeben werden. Obgleich aber der gewöhnliche Mensch fortwährend bittet, wird seine Stimme nicht gehört. Denn er bittet nur mit seinem Verstand, und die Stimme des Verstandes wird nur auf der Ebene gehört, auf welcher der Verstand tätig ist. Darum sage ich: Nicht bevor die ersten einundzwanzig Regeln beherrscht sind, wird jenen, die da bitten, gegeben werden.

Lesen, im esoterischen Sinn, bedeutet, mit den Augen des Geistes zu lesen. Bitten meint, den inneren Hunger zu fühlen, die Sehnsucht geistigen Verlangens. Fähig sein zu lesen, bezieht sich auf die Kraft, wenigstens in geringem Grad diesen Hunger stillen zu können.

Wenn der Jünger bereit ist zu lernen, dann wird er angenommen, bestätigt und anerkannt. So muss es sein, denn er hat seine Lampe angezündet, und dieses Licht kann nicht verborgen bleiben.

Aber es ist unmöglich zu lernen, bevor der erste große Kampf gewonnen wurde. Der Verstand vermag Wahrheiten zu erkennen, aber der Geist kann sie nicht aufnehmen.

Ist der Jünger aber durch den Sturm gegangen und hat den Frieden erlangt, dann ist Lernen immer möglich, selbst wenn er schwanken, zögern und sich vom Weg abwenden sollte. Die Stimme der Stille bleibt ihm erhalten, selbst wenn er völlig vom Pfad abkäme. Eines Tages wird sie doch wieder ertönen, sie wird ihn innerlich zerreißen und seine Leidenschaften von seinem göttlichen Wesen trennen. Unter Schmerzen und verzweiflungsvollen Rufen seines niederen Ichs wird er dann zurückkehren.

Darum sage ich: Friede sei mit dir. Nur zu den geliebten Jüngern, die wie Er selbst sind, kann der Meister sagen: »Meinen Frieden gebe ich Euch.«

Auch unter jenen, welche die Weisheit des Ostens nicht kennen, sind einige, zu denen dies gesagt werden kann und zu denen es von Tag zu Tag immer nachhaltiger gesagt werden kann.

 

∆ Folge den drei Wahrheiten. Sie sind von gleicher Wichtigkeit.

 

Dies sind die ersten Regeln, die an den Wänden der Halle des Lernens geschrieben stehen. Jene, die bitten, sollen erhalten. Die zu lesen begehren, sollen lesen. Die zu lernen begehren, sollen lernen.

 

Friede sei mit dir.

Der Text - Teil II

Aus der Stille, die Frieden ist, wird eine mächtige Stimme erschallen. Sie wird sagen: Es ist nicht gut; du hast geerntet, nun musst du säen. Und weil du weißt, dass diese Stimme die Stille selbst ist, wirst du gehorchen.

Nun, da du ein Jünger bist, fähig zu stehen, fähig zu hören, fähig zu sehen, fähig zu sprechen, der du deine Begierden überwunden und Selbsterkenntnis erlangt hast, da du deine Seele in ihrer Blüte gesehen und sie erkannt und die Stimme der Stille vernommen hast – gehe zur Halle des Lernens und lies, was dort für dich geschrieben steht.

Stehen zu können, bedeutet, Vertrauen zu haben; hören zu können, bedeutet, die Tore der Seele geöffnet zu haben.

Sehen zu können, bedeutet, zur Fähigkeit des Wahrnehmens gelangt zu sein.

Sprechen zu können, bedeutet, die Kraft erworben zu haben, anderen zu helfen.

Die Begierden überwunden zu haben, bedeutet, gelernt zu haben, wie das irdische Ich eingesetzt und beherrscht werden soll. Selbsterkenntnis erworben zu haben, bedeutet, den Rückzug nach innen vollzogen zu haben, von wo aus die Persönlichkeit des Menschen unvoreingenommen betrachtet werden kann.

Deine Seele in ihrer Blüte gesehen zu haben, bedeutet, innerlich für einen Augenblick jene Verklärung geschaut haben, die einst aus dir mehr als einen Menschen machen wird.

Erkenntnis bedeutet, die große Aufgabe zu vollbringen, in das strahlende Licht zu schauen, ohne die Augen zu senken und ohne vor Schreck zurückzuweichen wie vor einer gespenstischen Erscheinung. Dies widerfährt so manchem, und dadurch geht ihm der fast schon errungene Sieg verloren.

Die Stimme der Stille zu vernehmen, bedeutet, zu verstehen, dass die einzig wahre Führung von innen kommt. Zur Halle des Lernens zu gehen, bedeutet, die Stufen zu erreichen, auf der Lernen möglich wird. Dann werden dort viele Worte für dich in feurigen Buchstaben geschrieben stehen, die leicht für dich zu lesen sind. Denn wenn der Jünger bereit ist, dann ist auch der Meister bereit.

 

1. Beteilige dich nicht am kommenden Kampf; und wenn du auch kämpfst, sei du nicht der Krieger.

Er ist du selbst, aber du bist nur endlich und dem Irrtum ausgesetzt. Er ist ewig und irrt nicht. Er ist die ewige Wahrheit. Wenn Er einmal in dich eingezogen und dein Krieger geworden ist, wird Er dich niemals ganz verlassen, und an dem Tag des großen Friedens wird Er eins mit dir werden.

 

2. Halte Ausschau nach dem Krieger, und lasse Ihn in dir kämpfen.

Suche nach Ihm, sonst könntest du im Eifer des Gefechtes an Ihm vorübereilen, und Er wird dich nicht erkennen, wenn du Ihn nicht erkennst. Wenn dein Ruf Sein lauschendes Ohr erreicht, dann wird Er in dir kämpfen und die dumpfe Leere in dir füllen. Und wenn dies geschieht, dann kannst du durch den Kampf kühl und unermüdet gehen, beiseite stehen und Ihn für dich kämpfen lassen. Dann wird kein einziger deiner Schläge sein Ziel verfehlen.

Wenn du Ihn aber nicht suchst, wenn du an Ihm vorübereilst, dann gibt es keinen Schutz für dich. Dein Kopf wird wirr, dein Herz unsicher werden, und in dem Staub des Schlachtfeldes werden Gesicht und Sinne dir versagen, und du wirst deine Freunde nicht von deinen Feinden unterscheiden können.

 

3. Nimm Seine Befehle zum Kampf an und gehorche ihnen.

 

4. Gehorche Ihm, nicht als ob er ein Feldherr wäre, sondern als wäre Er du selbst, und als wären Seine Worte die Äußerung deiner geheimen Wünsche; denn Er ist du selbst, jedoch unendlich weiser und stärker als du.

 

5. Lausche dem Lied des Lebens.

Das Leben selbst hat Sprache und schweigt nie. Und seine Stimme ist kein Schrei, wie du, der du taub bist, wähnen magst: Sie ist Gesang. Lerne daraus, dass du ein Teil der Harmonie bist; lerne daraus, den Gesetzen der Harmonie zu gehorchen.

Suche danach und lausche dem Lied zuerst in deinem eigenen Herzen. Anfangs sagst du vielleicht: »Dort ist es nicht; wenn ich suche, finde ich nur Missklang.« Suche tiefer. Wenn du wieder enttäuscht bist, halte eine Weile inne und suche noch tiefer. In jedem Menschenherzen klingt eine natürliche Melodie, entspringt eine geheimnisvolle Quelle. Sie mag verdeckt, gänzlich verborgen und verstummt sein – aber sie ist da. Auf dem tiefsten Grund deines Wesens wirst du Glauben, Hoffnung und Liebe finden.

Wer das Böse wählt, lehnt es ab, in sein Innerstes zu blicken, verschließt sein Ohr der Melodie seines Herzens sowie seine Augen vor dem Licht seiner Seele. Dies tut er, weil es ihm leichter fällt, seinen Begierden zu frönen. Aber auf dem Grund allen Lebens fließt der mächtige Strom, der nicht aufgehalten werden kann – die großen Wasser sind wirklich dort. Finde sie, und du wirst erkennen, dass jedes Geschöpf, selbst das elendste, ein Teil davon ist, wie sehr es sich dieser Tatsache auch verschließen und sich eine trügerische äußere Schreckensgestalt erbauen mag.

In diesem Sinn ist meine Aussage gemeint: Alle Wesen, die wie du emporstreben, sind Teile des Göttlichen. So trügerisch ist die Täuschung, in der du lebst, dass es schwer zu erraten ist, wo du die feine Stimme in den Herzen anderer zuerst entdecken wirst. Sei aber gewiss, dass sie in dir selber vorhanden ist. Dort suche sie, und hast du sie einmal vernommen, wirst du sie auch leichter in deiner Umgebung erkennen.

 

6. Bewahre im Gedächtnis die Melodie, die du vernimmst.

Nur Bruchstücke des hohen Liedes gelangen an dein Ohr, solange du noch Mensch bist. Aber bewahre getreu auf, was du vernimmst, auf dass nichts verlorengehe von dem, was dich erreicht, und bemühe dich, daraus die Bedeutung des Geheimnisses, das dich umgibt, zu erfassen. Mit der Zeit wirst du keines Lehrers mehr bedürfen. Denn so, wie der Einzelne eine Stimme hat, so hat auch das Stimme, worin der Einzelne lebt.

 

7. Lerne daraus die Lehre von der Harmonie.

 

8. Du kannst nun aufrecht stehen, fest wie ein Fels inmitten des Aufruhrs, dem Krieger gehorchend, der du selber bist. Du bist dein eigener König. Am Kampf unbeteiligt, aber bereit, seinen Weisungen zu folgen, bist du um dessen Ausang nicht länger besorgt; denn nur das eine ist wichtig, dass der Krieger siege. Und du weißt, dass er nicht unterliegen kann. So stehend, kühl und wach, gebrauche das Hörvermögen, das du durch Leid und Leidvernichtung erworben hast.

 

9. Betrachte ernsthaft alles Leben, das dich umgibt.

Betrachte das beständig wechselnde und sich bewegende Le­ben, das dich umgibt, denn die Herzen der Menschen haben es gestaltet; und indem du ihr Wesen und Wollen kennenlernst, wirst du allmählich fähig werden, das größere Wort des Lebens zu lesen.

 

10. Lerne, verständnisvoll in die Herzen der Menschen zu blicken.

Erforsche die Herzen der Menschen, damit du erkennst, was die Welt ist, in der du lebst und von der du ein Teil sein willst.

Schaue von einem vollkommen unpersönlichen Gesichtspunkt aus, sonst ist dein Blick gefärbt. Darum muss Unpersönlichkeit zuerst verstanden werden.

Die Erkenntniskraft ist unparteiisch: Niemand ist dein Feind, niemand dein Freund; einer wie der andere ist dein Lehrer. Dein Feind wird zu einem Geheimnis, das ergründet werden muss, selbst wenn es Jahrtausende dauern sollte, denn der Mensch muss verstanden werden.

Dein Freund wird zu einem Teil von dir, wird eine Erweiterung deiner selbst, ein Rätsel, das schwer zu lösen ist. Nur dein eigenes Herz ist noch schwerer zu erkennen. Erst wenn die Bande der Persönlichkeit gelöst sind, kann das tiefe Geheimnis des Selbst erschaut werden.

Erst wenn du abseits von ihm stehst, wird es sich deinem Ver­ständnis offenbaren, dann, und nicht früher, kannst du es erfassen und leiten. Dann, und nicht früher, kannst du alle seine Kräfte einsetzen und sie in den Dienst einer guten Sache stellen.

 

11. Am ernsthaftesten betrachte aber dein eigenes Herz.

 

12. Denn durch dein eigenes Herz kommt das eine Licht, welches das Leben erleuchten und es deinen Augen klar machen kann.

 

13. Sprache kommt nur mit Wissen. Erlange Wissen, und du wirst Sprache erlangen.

Es ist unmöglich, anderen zu helfen, ehe du nicht selbst etwas eigene Sicherheit erworben hast.

Wenn du die ersten einundzwanzig Regeln gelernt hast und mit entwickelten Kräften und befreitem Sinn in die Halle des Lernens eingetreten bist, dann wirst du in dir eine Quelle finden, aus der Sprache entspringt.

Nach der dreizehnten Regel kann ich dem, was bereits geschrieben ist, keine Worte mehr hinzufügen.

Meinen Frieden gebe ich dir.

Diese Anmerkungen sind nur für jene geschrieben, denen ich ­meinen Frieden gebe, für jene, welche mit dem inneren Sinn ebenso wie mit dem äußeren lesen können, was ich geschrieben habe.

 

14. Nachdem du den Gebrauch der inneren Sinne erlangt, die Begierden der äußeren Sinne besiegt, die Wünsche der Ein­zel­seele überwunden und Wissen erlangt hast, bereite dich nun vor, oh Schüler, den Weg wirklich zu betreten. Der Pfad ist gefunden: Mache dich bereit, ihn zu betreten.

 

15. Erfrage von der Erde, der Luft und dem Wasser die Ge­heim­nisse, die sie für dich bereithalten. Die Entfaltung deiner inneren Sinne wird dich befähigen, dies zu tun.

 

16. Erfrage von den Heiligen der Erde die Geheimnisse, die sie für dich bewahren. Der Sieg über die Begierden der äußeren Sinne wird dir das Recht dazu geben.

 

17. Erfrage von dem Innersten, dem Einen, sein letztes Geheim­nis, das es für dich durch alle Zeiten hütet.

Der große und schwer errungene Sieg, der Sieg über die Be­gier­den deiner eigenen Seele, ist das Werk von Zeitaltern. Erwarte daher seinen Lohn nicht, ehe du die Erfahrungen von Zeitaltern gesammelt hast. Wenn die Zeit gekommen ist, diese siebzehnte Regel zu erlernen, steht der Mensch auf der Schwelle, um über sein Menschsein hinauszuwachsen.

 

18. Die Erkenntnis, welche nun dein ist, ist dir darum zu eigen, weil deine Seele eins geworden ist mit allen reinen Seelen und mit dem Innersten. Es ist ein anvertrautes Gut, mit dem der Höchste dich beschenkt hat. Verrätst du es, missbrauchst du dein Wissen oder vernachlässigst du es, dann ist es selbst jetzt noch möglich, dass du von der Höhe, welche du erreicht hast, herabstürzt. Selbst auf der Schwelle weichen Große noch zurück, unfähig, die Last der Verantwortung zu tragen, zu schwach zum Weiterschreiten. Darum blicke mit Ehrfurcht und Scheu diesem Augenblick entgegen und sei auf den Kampf vorbereitet.

 

19. Es steht geschrieben, dass für den, der auf der Schwelle zur Göttlichkeit steht, kein Gesetz verfasst und kein Führer gegeben werden kann.

Doch zur Unterstützung des Jüngers mag das letzte Ringen so beschrieben werden:

Halte fest an dem, was weder Substanz noch Existenz hat.

 

20. Lausche nur jener Stimme, welche lautlos ist.

 

21. Schaue nur auf das, was für den inneren und den äußeren Sinn gleich unsichtbar ist.

 

Friede sei mit dir.

Der Kommentar

Teil I • Licht auf den Pfad

1: Einleitung

 

Annie Besant: Bei »Licht auf den Pfad« handelt es sich um eine Anzahl verschiedener esoterischer Abhandlungen, die sich in der Obhut der großen Lehrer befinden und bei der Unterweisung von Jüngern benutzt werden. Es ist Teil des »Buches der Goldenen Regeln«, in dem viele in verschiedenen Weltzeitaltern geschriebene Abhandlungen zusammengefasst sind, die aber ein charakteristisches Merkmal gemeinsam haben – sie enthalten eine verborgene Wahrheit. Daher sind diese anders als gewöhnliche Bücher zu studieren. Das Verständnis dieser Abhandlungen hängt von der Aufnahmefähigkeit des Lesers ab. Wird davon irgendeine für die Welt veröffentlicht und wörtlich genommen, so werden nur verzerrte Aspekte dieser Lehren wahrgenommen.

Eindeutig für die Beschleunigung der Entwicklung jener bestimmt, die sich auf dem Pfad befinden, werden in diesem Buch Ideale in den Vordergrund gestellt, die weltliche Menschen kaum zu akzeptieren bereit sind. Nur so weit, wie ein Mensch fähig und bereit ist, die Lehre zu leben, wird er in der Lage sein, diese zu verstehen. Praktiziert er sie nicht, bleibt sie für ihn ein versiegeltes Buch. Jede Anstrengung, die Lehre zu leben, wirft Licht darauf. Bemüht sich der Leser jedoch darum nicht, so wird er nicht nur einen sehr geringen Nutzen daraus ziehen, sondern sich gegen das Buch wenden und behaupten, es sei unbrauchbar.

Diese Abhandlung zerfällt ganz natürlich in bestimmte Abschnitte. Gegeben wurde sie der Welt durch den Meister Hilarion, einen der zur Weißen Loge1 gehörenden großen Lehrer – einen Meister, der in den gnostischen und neuplatonischen Bewegungen eine große Rolle spielte, eine der großen Persönlichkeiten, die Versuche unternahm, das Christentum am Leben zu erhalten. Häufig inkarnierte er in Griechenland und Rom, und er befasst sich ganz besonders mit der Lenkung der Entwicklung der westlichen Welt. Empfangen hat er das Buch, wie es uns vorliegt, von einem Venezianischen Meister, einem jener großen Lehrer, von denen H.P. Blavatsky als von Chohans sprach.

Fünfzehn der kurzen Regeln, die Sie im ersten Teil dieses Buches finden, sowie fünfzehn im zweiten Teil sind uralt und im ältesten Sanskrit geschrieben.

Diesen kurzen, als Basis für die Unterweisung von Jüngern dienenden Sätzen fügte der Chohan andere Sätze hinzu, die nun Bestandteil des Buches sind und immer mit den erstgenannten zusammen gelesen werden müssen, weil es sich dabei um Ergänzungen handelt, ohne die der Leser in die Irre geführt werden könnte.

Alle Regeln in beiden Teilen des Buches, außer den dreißig kurzen Aphorismen, wurden von dem Chohan geschrieben, der diese Meister Hilarion gab.

Zusätzlich sind von Meister Hilarion selbst stammende Anmerkungen vorhanden. Das Buch in der ursprünglichen Ausgabe von 1885 enthielt folgende drei Teile: Die Aphorismen aus dem alten Manuskript, die Zusätze des Chohan und die Anmerkungen Meister Hilarions. Diese wurden sämtlich von Mabel Collins niedergeschrieben. Der Meister war selbst der Übersetzer des Buches und übertrug dieses in ihr Gehirn. Er war die Hand, welche die Feder führte. Danach erschienen im »Lucifer« unter dem Titel »Kommentare« einige von Mabel Collins unter dem Einfluss des Meisters geschriebene Artikel, die außerordentlich wertvoll und des Lesens und Studiums wert sind.

 

Wenden wir uns nun dem Buch selbst zu, so finden wir zunächst folgende Aussage:

 

Diese Regeln sind für jeden, der die Wahrheit sucht.

Folge ihnen!

 

Hier wird ein Unterschied gemacht zwischen der Welt und den Jüngern. Das Wort Jünger muss aus einem zweifachen Blickwinkel gesehen werden: Aus dem des nicht initiierten und aus dem des initiierten. Beim sorgfältigen Lesen des Buches bemerken wir zwei unterschiedliche Arten der Unterweisung, die in dieselben Worte gekleidet sind. Jeder Satz hat eine zweifache Bedeutung, wovon die eine für den weiter, die andere für den weniger Fortgeschrittenen bestimmt ist. Diese werden wir zu skizzieren versuchen, wenn wir zu den einleitenden Erklärungen kommen.

Der zweite Teil der Abhandlung scheint vollkommen für den initiierten Jünger bestimmt zu sein, doch die erwähnte Dualität zieht sich auch durch den ersten Teil des Buches hindurch.

Viele Personen, die sich noch nicht der Jüngerschaft nähern, missverstehen diese Regeln vollkommen und kritisieren sie häufig als ein zu hoch gestecktes Ideal, das schwer erreichbar ist und es an Mitleid fehlen lässt. Das ist immer so, wenn ein Ideal präsentiert wird, welches für den Leser zu hoch ist. Keiner Person wird durch ein noch so edles Ideal geholfen, wenn es keine Anziehung auf sie ausübt. Es ist eine praktische Übung beim Umgang mit Menschen, ihnen nur solche Ideale vor Augen zu führen, die anziehend auf sie wirken. Bei allen Büchern dieser Art ist das, was ein Mensch herausholt, gleich dem, was er hineinlegt; sein Verständnis ist also abhängig von seiner eigenen Empfänglichkeit für die darin enthaltenen Gedankengänge. Selbst materielle Dinge existieren für uns nur dann, wenn wir Organe entwickelt haben, die darauf reagieren können.

Deshalb wirken heutzutage Hunderte von Schwingungen auf uns ein, die zu beachten wir unfähig sind. Sir William Crookes hat das einmal sehr schön am Beispiel der Elektrizität erläutert, das zeigt, wie begrenzt unser Wissen bezüglich der Elektrizität war und welche großen Fortschrittsmöglichkeiten wir deshalb in dieser Wissenschaft hatten. Er sagte, es würde für uns einen tiefgreifenden Unterschied bedeuten oder unsere Vorstellungen revolutionieren, wenn wir für elektrische Schwingungen empfängliche Organe hätten, anstatt Augen, die auf Lichtschwingungen reagieren. In trockener Luft würden wir nichts gewahr werden, weil diese Elektrizität nicht leitet. Ein Glashaus wäre undurchlässig, ein gewöhnliches Haus aber durchlässig. Ein Silberdraht sähe aus wie ein Loch oder ein Tunnel in der Luft. Was wir von der Welt wissen, beruht somit auf unserer Empfänglichkeit für Schwingungen. So ähnlich ist es auch mit der Wahrheit: Sind wir für eine Wahrheit nicht empfänglich, so ist es keine Wahrheit für uns. Befassen wir uns also mit von Esoterikern geschriebenen Büchern, so können wir deren Gedanken nur in der Relation zu unserem eigenen spirituellen Fortschritt erfassen. Jeder Teil ihrer Gedankengänge, der zu subtil oder zu hoch für uns ist, geht einfach an uns vorbei, so als gäbe es ihn nicht.

 

Durch Meditation kann viel mehr aus diesem Buch herausgeholt werden als durch reines Lesen. Sein größter Wert liegt darin, dass es uns Anweisungen für unsere Meditation gibt. Wählen Sie einen einzelnen Satz und meditieren Sie dann darüber; bringen Sie den niederen Verstand zum Schweigen und erwecken Sie das innere Bewusstsein, das direkt mit dem Denken in Kontakt kommt. So kann man von Vorstellungen des konkreten Verstandes zu einer direkten Wahrnehmung der Wahrheit gelangen. Meditation befähigt uns somit, im Gehirn eine große Menge von direkter Kenntnis der Wahrheit zu erlangen, die das Ego in seinen eigenen Welten gewann. Dennoch wird ein Mensch, der meditiert, aber nicht liest oder keinem Lehrer Gehör schenkt, das nur sehr langsam erreichen, wenn er auch mit Sicherheit auf der spirituellen Ebene Fortschritte erzielen wird. Hätte er den zusätzlichen Vorteil gehabt, zu lesen oder einem Lehrer zuzuhören, so würde er weitaus schneller Fortschritte erzielen. Das Hören von Vorträgen oder das Studium (von Büchern) kann das Gehirn des Schülers entsprechend einstimmen, so dass er durch Meditation mehr Wissen erlangt. Für einen Menschen, der nur Vorträge hört oder liest und nicht meditiert, ist jedoch kaum ein Fortschritt möglich, und seine Entwicklung geht außerordentlich langsam vonstatten. Beides sollte kombiniert werden. Tiefe Meditation, gelegentliches Anhören von Vorträge sowie das Lesen guter Bücher wird einen Menschen in der Tat weit bringen.

 

C. W. Leadbeater.: Auf der Titelseite der im Jahre 1885 veröffentlichten Ausgabe von »Licht auf den Pfad« wird dieses Buch folgendermaßen beschrieben: »Eine für den persönlichen Gebrauch jener geschriebene Abhandlung, denen die östliche Weisheit unbekannt ist, die sich aber deren Einfluss zu öffnen wünschen.« Das Buch selbst beginnt aber mit der Aussage, dass es sich dabei um für alle Schüler geschriebene Regeln handelt. Letztere Beschreibung ist sicher die genauere, wie die Geschichte des Buches zeigen wird.

Wie es uns gegenwärtig vorliegt, wurde das Buch Mabel Collins von Meister Hilarion diktiert – sie war eine in theosophischen Kreisen wohlbekannte Dame, die seinerzeit mit H.P. Blavatsky in der Redaktion des »Lucifer« zusammenarbeitete. Meister Hilarion wiederum hatte es von seinem eigenen Lehrer empfangen, jenem Großen, der von Schülern der Theosophie manchmal der Venezianer genannt wird. Aber selbst dieser war nur Autor eines Teiles des Buches. Das Buch hat drei Phasen durchlaufen: Lassen Sie uns in der richtigen Reihenfolge darauf eingehen.

Es ist selbst jetzt nur ein schmales Bändchen. In seiner ersten Form, in der wir es sahen, war es aber noch dünner. Es handelte sich dabei um ein Palmblatt-Manuskript. Unschätzbar alt, so alt, dass selbst vor der Zeitenwende die Menschen schon vergessen hatten, wann und von wem es geschrieben wurde. Man betrachtete das Wissen um seinen Ursprung als im Nebel der prähistorischen Vorzeit verlorengegangen. Es besteht aus zehn Blättern, und auf jedes Blatt wurden nur drei Zeilen geschrieben; denn bei Palmblatt-Manuskripten verlaufen die Zeilen entlang der Seite und nicht quer darüber hin, wie bei uns üblich. Jede Zeile ist in sich vollkommen: Ein kurzer Lehrspruch. Bei der Sprache, in der die Zeilen geschrieben wurden, handelt es sich um eine archaische Form des Sanskrit.

Der Venezianische Meister übersetzte diese Aphorismen vom Sanskrit ins Griechische, und zwar zum Gebrauch für seine alexandrinischen Schüler, deren Meister Hilarion in seiner Inkarnation als Jamblichos war. Die Aphorismen wurden von ihm aber nicht nur übersetzt, sondern er fügte auch gewisse Erklärungen hinzu. Man tut gut daran, diese zusammen mit dem Original zu studieren. Blicken wir beispielsweise auf die ersten drei Lehrsätze, so werden wir feststellen, dass der Absatz, der darauf folgt, eindeutig als Kommentar dazu gedacht ist. Also sollten wir ihn folgendermaßen verstehen: »Ertöte den Ehrgeiz, aber arbeite, wie die arbeiten, welche ehrgeizig sind. Ertöte den Wunsch nach Lebensbegierde, schätze aber das Leben wie die, die es begehren. Ertöte den Wunsch nach Behaglichkeit, aber sei glücklich wie die, welche dem Glück leben.«

Genauso bilden die Regeln 5, 6 und 7 eine Gruppe, gefolgt von Lehrspruch 8, der ein Kommentar des Chohan ist. Und so geht es im Buch weiter. Diese Dreiergruppen sind nicht zufällig so zusammengestellt worden, sondern absichtlich. Bei einer Überprüfung werden wir feststellen, dass in jedem Fall zwischen den drei Regeln eine gewisse Verbindung besteht. Nehmen wir beispielsweise die drei zusammengefassten Regeln betreffs des oben erwähnten Punktes der Reinheit des Herzens und der Standhaftigkeit des Geistes. Man kann sagen, dabei gehe es darum, was der Mensch mit sich selbst zu tun habe, was seine Pflicht sich selbst gegenüber sei, wenn er sich auf die Arbeit vorbereitet.

Die zweite Gruppe sagt aus, dass wir jedes Gefühl des Getrenntseins, jeden Wunsch nach Sinnesleben und jeden Hunger nach Wachstum zu ertöten haben. Diese Lehrsätze enthalten die gesellschaftliche Pflicht des Menschen seinen Mitmenschen gegenüber. Der Mensch muss erkennen, dass er einer unter vielen ist. Er muss bereit sein, eigennützige und gesonderte Freuden aufzugeben. Er muss den Wunsch nach persönlichem Wachstum ertöten und für das Wachstum des Ganzen arbeiten.

In den nächsten Lehrsätzen wird uns gesagt, was wir wünschen sollen – das, was in uns ist, was über uns ist und was unerreichbar ist. Hierbei geht es eindeutig um die Pflicht des Menschen gegenüber seinem höheren Selbst. Dann folgen Aphorismen über das Streben nach Kraft, Frieden und Besitz. Hierbei handelt es sich um Bestrebungen, die uns für die Arbeit auf dem Pfad tauglich machen. Die nächste Gruppe von Regeln sagt dem Schüler, wie er den Weg zu suchen hat.

Einige Regeln sind Erklärungen und weitere Ausführungen des Venezianischen Meisters. Diese bilden zusammen mit den Original-Aphorismen das Buch, wie es zuerst im Jahr 1885 veröffentlicht wurde; denn Meister Hilarion übersetzte es vom Griechischen ins Englische – und zwar in dieser Form. Kurz nachdem es gedruckt worden war, fügte er eine Anzahl höchst wertvoller eigener Anmerkungen hinzu. Für die erste Ausgabe wurden jene Anmerkungen auf separaten Seiten gedruckt, die gummiert waren, so dass man sie am Anfang und am Ende des kleinen, gerade aus der Druckerpresse gekommenen Buches einfügen konnte. Bei den weiteren Auflagen wurden diese Anmerkungen dann an den entsprechenden Stellen eingesetzt.

Die wunderschöne kleine Abhandlung über Karma, die am Ende des Buches2 zu finden ist, stammt ebenfalls aus der Hand des Venezianischen Meisters und war bereits bei der ersten Auflage Bestandteil des Buches.

Das Manuskript in altertümlichem Sanskrit, das die Grundlage für »Licht auf den Pfad« bildete, wurde auch ins Ägyptische übersetzt, und viele Erläuterungen des Venezianischen Meisters klingen mehr wie ägyptische als wie indische Lehren. Deshalb wird der Schüler, der sich bis zu einem gewissen Grad in den Geist jener alten Zivilisation hineinzuversetzen vermag, das zum Verständnis dieses Buches als sehr hilfreich empfinden. Die Lebensumstände, mit denen wir es im alten Ägypten zu tun hatten, unterscheiden sich vollständig von unseren heutigen. Es ist fast unmöglich, diese den jetzigen Menschen verständlich zu machen. Gelingt es uns jedoch, uns in die Geisteshaltung jener alten Zeit zu versetzen, so werden wir sehr viel Zusätzliches bemerken, das uns sonst, so fürchte ich, entgeht.

Wir haben die Gewohnheit, von unserem heutigen Intellekt zu groß zu denken, und sind stolz, uns des Fortschrittes gegenüber den alten Zivilisationen rühmen zu können. Zweifellos gibt es auch gewisse Dinge, in denen wir weiter sind als jene; in anderer Beziehung haben wir aber keineswegs deren Stufe erreicht. Vielleicht ist der Vergleich jedoch ein wenig unfair, denn bis jetzt ist die unsrige ja eine sehr junge Zivilisation. Gehen wir in der Geschichte Europas und besonders in der Geschichte Englands um vierhundert Jahre zurück, so stoßen wir auf Gegebenheiten, die wirklich als sehr unzivilisiert zu bezeichnen sind. Vergleichen wir diese Jahre, inklusive der zweihundertfünfzig Jahre unserer wissenschaftlichen Entwicklung, die in der Geschichte unserer Zivilisation eine so große Rolle spielte, mit den viertausend Jahren, während der die ägyptische Zivilisation praktisch eine unveränderte Blütezeit erlebte, so erkennen wir sofort, dass unsere Zivilisation eine vergleichsweise geringe Sache ist. Jede Zivilisation, die Jahrtausende andauerte, hatte Gelegenheit, alle möglichen Experimente zu versuchen und Ergebnisse zu erzielen, die wir noch nicht erreichten. Deshalb ist es nicht fair, unsere am Anfang stehende Zivilisation mit den großen, auf dem Zenit ihrer Entwicklung befindlichen Zivilisationen zu vergleichen.

Zu Füßen des Meisters

Solche Bücher enthalten eine große Menge mehr an Bedeutung, als durch Worte übermittelt werden kann. Deshalb holt man aus einem solchen Buch weitgehend das heraus, was man einbringt: Man bringt die Kraft ein, einen gewissen Teil der Botschaft in sich aufzunehmen, und nur jenen Teil gewinnt man daraus. Es ist daher nicht genug, solche Bücher nur zu lesen oder auch nur zu studieren, man muss darüber auch meditieren. Nimmt man die Passagen, die ein wenig schwierig klingen, die rätselhaften, mystischen, paradoxen Aussagen, und denkt darüber nach und meditiert darüber, so hat man viel mehr davon – auch wenn sich das oft kaum ausdrücken lässt.

Ich versuche zum Ausdruck zu bringen, wie es mir bezüglich dieser verschiedenen Punkte erging, was sie mir bedeuteten, bin mir dabei aber ständig bewusst, dass ich die Tiefe, die sie für mich haben, nicht vollkommen übermitteln kann. Ich weiß, dass ich sehr häufig nicht die ganze Bedeutung, wie ich sie im Kopf habe, zu vermitteln vermag. Versuche ich, das in Worte zu kleiden, so klingt es ziemlich alltäglich, und trotzdem liegt für mich unendlich viel mehr Botschaft darin. Vielleicht erkenne ich diese in meinem Mentalkörper. Dasselbe trifft für jede Stufe zu. Zusätzlich zu dem, was wir mit dem Mentalkörper wahrnehmen können, gibt es noch mehr, das nur mit dem Kausalkörper oder durch Intuition erfasst werden kann. Was immer wir ausdrücken, immer gibt es noch etwas Tieferes, das in uns als Knospe vorhanden ist und zur Blüte kommt. Dass der Mensch nur ein Ausdruck des Ewigen ist und nichts außerhalb des Ewigen uns Beistand leisten kann, ist wahr – und es ist diese Wahrheit, welche die Autoren dieses Buches unerschütterlich und nachdrücklich betonen.


1 Das bezieht sich nicht auf die Farbe, sondern ist ein für die Bruderschaft der vervollkommneten Menschen gebrauchter Begriff (der Verfasser).

2 Deutsche Ausgabe des Textes S. 171ff (Ausgabe Grafing 2001).