Autorin
Lena Kiefer wurde 1984 geboren und war schon als Kind eine begeisterte Leserin und Geschichtenerfinderin. Einen Beruf daraus zu machen, kam ihr jedoch nicht in den Sinn. Nach der Schule verirrte sie sich in die Welt der Paragraphen, fand dann aber gerade noch rechtzeitig den Weg zurück zur Literatur und studierte Germanistik. Bald darauf reichte es ihr nicht mehr, die Geschichten anderer zu lesen – da wurde ihr klar, dass sie Autorin werden will. Heute lebt Lena Kiefer mit ihrem Mann in der Nähe von Bremen und schreibt in jeder freien und nicht freien Minute. Mit der »Don’t«-Reihe startet sie nach dem Erfolg ihrer »Ophelia Scale«-Trilogie nun ihr erstes New-Adult-Projekt.
Von Lena Kiefer sind bei cbj erschienen:
Don’t LOVE me (Band 1)
Don’t HATE me (Band 2)
Don’t KISS me (E-Short)
Ophelia Scale – Die Welt wird brennen (Band 1)
Ophelia Scale – Der Himmel wird beben (Band 2)
Ophelia Scale – Die Sterne werden fallen (Band 3)
Ophelia Scale – Wie alles begann (E-Short)
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Quellennachweis: Jane Austen, Stolz und Vorurteil, dtv (München, 2012), aus dem Englischen übersetzt von Helga Schulz (S. 426)
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© 2021 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Kathrin Schüler, Berlin
unter Verwendung zweier Motive von © Gettyimages (oxygen /Moment)
sh • Herstellung: AJ
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-26274-7
V003
www.cbj-verlag.de
Für meine liebe Mama,
alles Gute zum Geburtstag!
Die Drehtür schwang herum und ich betrat den hellen Boden aus langen, quer gelegten Fliesen. Stumm atmete ich durch, versuchte so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Erst dann nahm ich meine Umgebung richtig wahr. Der schwarze Empfangstresen mit dem UAL-Logo vor den weißen, kühlen Wänden erinnerte eher an den Eingang eines modernen Hotels als an eine Universität. Und der Mann im schwarzen Anzug, der dahinter saß, mehr an einen Bankangestellten als einen Rezeptionisten.
»Guten Morgen«, grüßte er freundlich. »Kann ich Ihnen helfen, Miss?«
»Guten Morgen.« Ich traute meiner Stimme nicht und räusperte mich. »Ich bin Kenzie Stayton und habe um 10 Uhr einen Interview-Termin im Institut für Interior Design.« Die Worte klangen auswendig gelernt – weil sie genau das waren. Am liebsten hätte ich gerufen: Was zur Hölle mache ich hier? Wie kann ich ein Gespräch über meine Zukunft führen, wenn mein Freund erst gestern verhaftet worden ist und nun 500 Meilen von hier in einer Zelle um seine eigene bangen muss?
Du musst das durchziehen. Wir müssen jetzt nach außen hin so tun, als wäre alles vollkommen normal. Und du darfst niemandem davon erzählen, hörst du? Niemandem.
Das waren Finlays Worte gewesen, als ich gestern mit ihm gesprochen hatte. Aber ich verstand sie immer noch nicht. Natürlich wusste ich, dass aus Lyalls Verhaftung kein öffentlicher Skandal werden durfte, weil er dann von der Unterstützung seiner Familie abgeschnitten wurde. Aber was hatte das mit mir zu tun? Wieso konnte ich jetzt nicht in Edinburgh sein, um ihn zu besuchen? Für ihn da sein, so gut es ging?
Es gibt Leute, die von dir wissen, Kenzie. Die von euch wissen. Wenn einer von denen etwas ausplaudert und man dich daraufhin beobachtet, muss es so wirken, als wäre alles wie immer.
Der Rezeptionist schien meinen Termin gefunden zu haben. »Es ist im dritten Stock, Miss Stayton, Raum 3-567. Sie können davor warten, bis man Sie hineinbittet.«
Ich nickte, nahm meine Mappe und ging zur Treppe. Den Fahrstuhl direkt neben dem Durchgang zum Blueprint Café für die Studenten ließ ich bewusst links liegen. Bewegung half mir dabei, nicht durchzudrehen. Ich hatte heute Nacht nicht eine Minute geschlafen und noch immer kreisten dieselben Fragen durch meinen Kopf: Wie hatte das passieren können? Wieso hatte man Lyall für den Mord an Ada verhaftet – fast vier Jahre, nachdem sie gestorben war? Welche Beweise hatte die Polizei dafür? Er hatte es schließlich nicht getan.
Der Flur im dritten Stock war leer, niemand schien hier zu sein. Ich suchte den richtigen Raum und setzte mich auf den Stuhl davor. An der gegenüberliegenden Seite hing ein Bild an der Wand, die Skizze eines Raumes mit Holzvertäfelung, ausgestattet mit wuchtigen Polstermöbeln im Biedermeier-Stil. Mein Magen verknotete sich schmerzhaft, als ich daran dachte, dass Lyall mit mir hatte herkommen wollen. Er hätte bestimmt über das Bild gelästert, weil er diese Stilrichtung überhaupt nicht mochte.
Aber er war nicht hier. Er war im Gefängnis.
Ich atmete tief ein und wieder aus, versuchte mich zu beruhigen. Es hatte gestern auf dem Flughafen einen Moment gegeben, eine winzige Sekunde, in der ich Angst gehabt hatte. Dass ich mich wieder irrte, was Lyall anging. Dass er mich erneut belogen hatte. Aber dann hatte ich in seine Augen gesehen und gewusst, er hatte mir die Wahrheit gesagt. Über Ada, über ihre psychischen Probleme, über seine Selbstvorwürfe, weil er nicht sensibler mit ihr umgegangen war. Über ihren Tod. Nur … was bedeutete das? Versuchte jemand, Lyall etwas anzuhängen?
Finlay hatte gesagt, das wäre sicher alles nur ein Missverständnis, und er würde das bald geregelt haben, mithilfe der Anwälte, die für die Hendersons auf Abruf bereitstanden. Aber diese tiefe, alles verzehrende Angst in meinem Inneren hielt dagegen. Eine Angst, die ich so noch nie gefühlt hatte. Als stände ich an einem Abgrund und wüsste genau, der sichere Halt würde in den nächsten Sekunden wegbrechen. Aber nicht ich würde fallen. Sondern Lyall. Und das war viel schlimmer, als wenn es um mich gegangen wäre.
Eine Tür ging auf, und ich zuckte zusammen, weil das Geräusch auf dem leeren Flur unnatürlich laut hallte.
»Kenzie Stayton?« Eine Frau kam heraus. Sie war im mittleren Alter und trug eine schwarzumrandete Brille. »Sie können reinkommen.«
Ich erhob mich, ignorierte den Schwindel, der durch Schlaflosigkeit, Sorge und mangelnden Appetit verursacht wurde. Dann nahm ich meine Tasche und Mappe und betrat den Raum hinter der Tür.
»Schön, dass Sie da sind, Kenzie.« Als ich hereinkam, erhob sich Gloria Fowler von ihrem Platz hinter dem weißen Schreibtisch und gab mir lächelnd die Hand. »Ich habe mich schon darauf gefreut, Sie wiederzusehen.«
»Das geht mir genauso«, erwiderte ich und schüttelte ihre Hand, bemühte mich um einen freundlichen Gesichtsausdruck. Eigentlich hätte dies einer der bedeutsamsten Momente meines Lebens sein sollen. Seit über fünf Jahren träumte ich davon, hier sitzen zu dürfen und dieses Gespräch zu führen – um danach hoffentlich an der UAL zu studieren. Aber jetzt fühlte es sich an wie ein Zahnarzttermin. Einer von der Sorte, bei der man genau wusste, man kam um den Bohrer nicht herum.
»Meine Kollegin Indra Jacobs«, stellte Gloria mir die Frau mit der Brille vor. »Wir werden das Interview zusammen führen. Haben Sie Ihr Portfolio dabei?«
Ich nahm die Mappe hoch und reichte sie über den Tisch. »Ich habe auch alles digital, wenn Sie das lieber möchten.«
»Vielleicht später.« Mrs Jacobs legte meine Skizzen beiseite. »Erzählen Sie uns doch erst einmal ein wenig über sich.«
Mit der Frage hatte ich gerechnet, sie war Standard bei dieser Art von Bewerbungsgespräch. Und ich hatte mir die passende Antwort darauf schon vor Monaten zurechtgelegt. Aber jetzt fiel mir nichts ein. Mein Kopf war wie leer gefegt. Kompletter Blackout.
Reiß dich zusammen, mahnte ich mich selbst. Das hier ist wichtig. Lyall würde nicht wollen, dass du es seinetwegen vermasselst.
Ich holte Luft und schob die lähmenden Gedanken und Gefühle beiseite. Dann erzählte ich von mir, von meiner Familie, meinem Leben. Von dem Moment, als ich gemerkt hatte, dass ich Innendesignerin werden wollte, damals in der Firma meines Vaters, der mich die Stoffe für unseren neuen Wohn-Lkw hatte aussuchen lassen, als ich 14 gewesen war. Und es half, zu reden. Solange ich sprach, hatte nichts anderes Platz in meinem Kopf, und ich sah, dass meinen Gesprächspartnerinnen gefiel, was ich sagte.
»Dann ist Ihr Vater Thomas Stayton?«, fragte da Indra Jacobs.
Ich sah überrascht auf. »Ja, richtig. Kennen Sie ihn?«
»Nicht persönlich, aber mein Bruder hat einen Campervan von ihm gekauft.« Sie lächelte. »Wir mussten uns vorletztes Weihnachten drei Tage lang anhören, wie begeistert er von dem Van ist. Mittlerweile war er sogar in Afrika damit.«
Das entlockte mir tatsächlich ein Lächeln. »Wir freuen uns immer, wenn unsere Kunden zufrieden sind.«
Es ging noch ein paar Minuten um meine Anfänge, dann sahen die beiden Frauen sich die Entwürfe an, die ich aus meinem Skizzenbuch herausgetrennt und in die Mappe gelegt hatte, weil ich sie besonders gelungen fand: die Planung eines Büros für einen Kurs am College, mein eigenes Zimmer, ein paar von den Sachen, die ich bei Olsen gemacht hatte. Und natürlich alles zum Neubau des Kilmore Grand und zu meinem Raumteiler-Konzept. Ich hatte die Mappe vor meiner Reise nach Korfu zusammengestellt und nicht bemerkt, dass auch die Zeichnung hineingeraten war, in die Lyall bei unserem ersten richtigen Gespräch Änderungen hineinskizziert hatte. Als ich sah, dass Gloria sie in die Hand nahm, schnellte ich hoch.
»Entschuldigen Sie, das ist nicht von mir«, sagte ich und nahm die Zeichnung entgegen, faltete sie zusammen und merkte, dass meine Finger mir nicht richtig gehorchten. Die Gedanken an Lyall drängten an die Oberfläche, ich spürte, wie sie an meiner Fassung kratzten. Eilig schob ich das Blatt in meine Tasche und nahm mein aktuelles Skizzenbuch hervor, um den Moment zu überspielen. Nur erinnerte mich auch das Buch aus grauem Leinen an Lyall, schließlich hatte er es mir geschenkt. »Hier habe ich auch noch einige aktuelle Zeichnungen«, sagte ich etwas zittrig. »Ich bin erst gestern von Korfu zurückgekommen, wo ich für Theodora Henderson an einem Hotelprojekt arbeiten durfte.«
Gloria sah auf. »Ich habe davon gehört. Es ist Theodoras eigenes Hotel, nicht wahr? Ohne Rückendeckung der Henderson Group?«
»Ja, richtig. Das Kefi Palace, ein eher kleines Haus für Ruhesuchende. Ich durfte eine der Villen mit Theodoras Hilfe ausstatten, das hier sind die Zeichnungen dazu. Es gibt auch Fotos, die habe ich auf dem Laptop.« Immerhin das hatte ich noch geschafft, nachdem ich nach dem Schock am Flughafen völlig fertig zu Hause eingetroffen war. Zum Glück war meine Familie bei einem Konzert in Brighton gewesen und erst sehr spät zurückgekommen. Ich hatte bisher keinen von ihnen gesehen, denn heute Morgen hatten sie noch geschlafen, als ich gefahren war.
Mrs Jacobs nickte beeindruckt, als sie die Ausstattung der Villa betrachtete. »Theodora Henderson muss ja wirklich große Stücke auf Sie halten, wenn sie Ihnen bei einem solchen Projekt vertraut. Waren Sie schon vor dem Auftrag in Kilmore mit der Familie bekannt?«
»Nein«, ich schüttelte den Kopf. »Ich habe ein Praktikum bei Paula McCoy, der Innendesignerin für den Neubau des Grand, gemacht. So bin ich mit den Hendersons in Kontakt gekommen.« Mit einem ganz besonders, dachte ich den Satz zu Ende, und die vertraute Angst zog an meinem Herz. Aber nicht nur Angst, sondern auch heftige Zuneigung zu Lyall. Von der ersten Sekunde an war da zwischen uns etwas gewesen – und es hatte sich nicht von Lügen, der Vergangenheit, Distanz oder verstrichener Zeit vertreiben lassen. Würde unsere Liebe auch das überstehen, was uns jetzt drohte?
»Wie sehen Sie Ihre Zukunft?«, fragte mich Gloria als Nächstes. »Was möchten Sie erreichen?«
Ich wusste, sie meinte meine geplante Karriere als Innendesignerin. Aber ich konnte nichts sehen. Kein spezielles Land, keinen Arbeitgeber, kein Projekt, das ich schon immer hatte umsetzen wollen. Ich sah nur Lyall und mich – und mir wurde klar, dass unsere Zukunft direkt vor uns gelegen hatte und uns nun brutal entrissen worden war. Alles, was mit meinem Beruf zu tun hatte, erschien mir plötzlich vollkommen banal. Neben meinen Gefühlen, neben meiner Sorge. Neben Lyall, den ich liebte. Lyall, der jetzt irgendwo in einer Zelle saß und keine Ahnung hatte, wieso.
»Eigentlich«, sagte ich, »eigentlich möchte ich nur, dass alles wieder gut wird.«
»Gut?« Die beiden Dozentinnen wechselten einen irritierten Blick. »Wie meinen Sie das?«
Ich brachte kein Wort heraus, weil die Angst meinen Verstand überwältigte. Was, wenn Lyall nie zurückkommt? Wenn sie ihn für den Rest seines Lebens einsperren? Ich hatte diese Fragen bisher eisern ferngehalten, hatte mich darauf gestützt, dass alles sich aufklären würde. Aber nun überwältigten sie mich, drangen mir in jede Faser meines Bewusstseins. Ich spürte, wie Tränen der Verzweiflung in meine Augen traten und mir schlecht wurde.
»Kenzie?« Gloria lehnte sich nach vorne. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Ich … ich fürchte, mir geht es nicht so gut«, brachte ich heraus.
»Möchten Sie eine kurze Pause?«, fragte Gloria weiter.
Ich hätte nicken und um fünf Minuten draußen vor der Tür bitten sollen, um mich wieder zu sammeln. Aber da schüttelte ich schon meinen Kopf. »Nein. Das ist sehr nett, aber ich fürchte, ich bekomme es heute nicht besser hin. Tut mir wirklich leid, dass ich Ihre Zeit verschwendet habe.« Ich stand auf, machte mir nicht die Mühe, meine Zeichnungen zusammenzusammeln, sondern schnappte nur meine Tasche und verließ fluchtartig den Raum. Der Student, der offenbar als Nächstes an der Reihe war, schreckte auf, und seine Augen wurden groß, als er sah, wie ich an ihm vorbeirannte und mir dabei mit dem Ärmel über das Gesicht wischte.
Blindlings lief ich die Treppe hinunter, landete in einem weiteren Gang. Die Leute hier sahen mich merkwürdig an, aber ich beachtete sie nicht weiter. Am Ende des Flures befand sich eine Tür nach draußen. Ich drückte den Hebel herunter und riss sie auf, trat an die frische Luft und versuchte, die Übelkeit wegzuatmen. Mein Puls war viel zu hoch, aber nicht wegen des Laufs. Es war meine Panik, die alle meine Zellen in Alarmbereitschaft versetzte. Und es gab momentan nur einen Menschen, der daran etwas ändern konnte.
Mit immer noch zittrigen Fingern zog ich mein Handy hervor und wählte die erste Nummer, die im Verlauf stand. Hinter dem Namen stand (14). So oft hatten wir gestern miteinander gesprochen, nachdem die Hölle über uns hereingebrochen war.
»Geh ran«, beschwor ich ihn leise, als könnte er mich hören, wo auch immer er gerade war. Lyalls Verhaftung war fast 24 Stunden her, er musste doch längst in Edinburgh angekommen sein. »Geh ran, geh ran, verdammt noch mal.«
»Das ist die Mailbox von Finlay Henderson«, ertönte die fröhliche Stimme von Lyalls Cousin. »Ich bin wohl gerade zu begehrt, um ans Telefon zu gehen, also sprich mir was drauf.«
Ich holte Luft, nachdem der leise Piepton verhallt war. »Finlay, wo bist du? Ich habe gerade mein UAL-Interview versaut und … ach, egal. Gibt es schon etwas Neues? Ruf mich bitte an, wenn du das abhörst, okay?« Dann legte ich wieder auf und versuchte es bei Edina – aber auch sie ging nicht an ihr Telefon. Wo waren die alle? Was war da los?
»Halt durch, Lyall«, murmelte ich leise, als könnte er mich hören. »Bitte halt durch. Wir holen dich da raus.«
So würde es sein. So musste es sein. Schließlich siegte die Gerechtigkeit immer.
Oder etwa nicht?
Haben Sie Adaline Warner umgebracht, Mister Henderson?
Nein.
Wir haben ihre Leiche gefunden. Und wir haben Beweise, dass Sie es waren. Wenn Sie jetzt gestehen, könnte Ihre Strafe milder ausfallen. Ich werde mit dem Staatsanwalt reden.
Ich möchte meine Anwältin sprechen.
Oh, kommen Sie schon. Das ist doch immer die gleiche Geschichte. Die große Liebe, die sich als gar nicht so groß entpuppt, dann die Trennung, Streit, und plötzlich wird man so wütend, dass man nur noch will, dass der andere verschwindet.
Ich habe sie nicht getötet. Ich könnte nie jemanden umbringen.
Jeder ist dazu in der Lage, Mister Henderson. Ich mache den Job schon lange genug, um das zu wissen.
Nein, ich nicht.
Dann haben Sie ihr nicht am Telefon gesagt, dass Sie wollen, dass sie verschwindet?
Ich …
Ja, Mister Henderson?
Ich will jetzt wirklich meine Anwältin sprechen.
Noch immer wurde mir kalt, wenn ich an das Verhör dachte. Mehrere Stunden hatte ich in dem Raum in einem Gebäude irgendwo in London verbracht, wo Inspector Miller versucht hatte, mir ein Geständnis abzuringen. Ewigkeiten hatte er mich dort festgehalten, ohne Wasser oder etwas zu essen, dafür mit den immer gleichen Fragen und seiner Hoffnung, ich würde irgendwann einknicken. Was nicht passiert war. Ich hatte genug über solche Situationen von Finlay gehört, um zu wissen, dass man vor der Polizei niemals irgendetwas zugab.
Irgendwann hatte er aufgegeben, und ich hatte meinen Anruf machen dürfen und war danach in einem vergitterten Transporter Richtung Norden gebracht worden, in eine Zelle im HMP Edinburgh. Sie hatten mich durchsucht, mir meine persönlichen Sachen abgenommen, und dann hatte sich die Tür hinter mir mit einem endgültigen Geräusch geschlossen. Seitdem hatte ich nichts gesehen außer diesen acht Quadratmetern mit dem winzigen Fenster. Es gab ein schmales Bett aus Metall, auf dem ich saß, in dem ich aber keine Minute geschlafen hatte – wie auch, wo mir das doch unter normalen Umständen schon schwerfiel. Dazu ein kleiner Schreibtisch mit Stuhl, ein Waschbecken, eine Toilette hinter einer Trennwand. Es fühlte sich surreal an, hier zu sein. Als würde es jemand anderem passieren.
Ich versuchte seit Stunden einen klaren Gedanken zu fassen, aber es war schlicht nicht möglich. Mein Gehirn war in der gleichen Schockstarre wie mein Körper – schon seit dem Moment in Heathrow, als mein Leben von einer Sekunde auf die andere in seine Einzelteile zerfallen war. Ich wusste, was man mir vorwarf, aber ich fand keine Logik darin. Wieso man jetzt das mit Adas Tod herausgefunden hatte, nachdem doch alles feinsäuberlich von meiner Familie vertuscht worden war. Oder warum es Beweise geben sollte, die mich des Mordes an ihr überführen konnten. Es war absurd. Vollkommen absurd.
Das, woran ich mich klammerte, als wäre es mein einziger Halt, war Kenzie. Kenzie, die mich vollkommen fassungslos angesehen hatte. Kenzie, die sich für mich eingesetzt, sich sogar mit den Polizisten angelegt hatte. Und die genauso wenig wie ich wusste, warum ich jetzt in dieser beschissenen Lage war. Ich hoffte so sehr, dass sich an ihrer Überzeugung nichts änderte. Dass sie nicht doch zu glauben begann, an den Vorwürfen wäre etwas dran.
Das ist deine größte Sorge?, fragte eine boshafte Stimme in meinem Kopf. Wenn das hier schlecht für dich ausgeht, ist deine Beziehung mit Kenzie sowieso Geschichte.
Ich presste die Hand auf meinen schmerzenden Brustkorb, als Panik hineinströmte und mir die Luft abdrückte. Ich stand auf, lief zwei Schritte und stand vor einer Wand. Zwei Schritte in die andere Richtung, wieder eine Mauer. Mein Puls raste mehr als bei jeder Schwimmeinheit, die ich je absolviert hatte. Bewegung war mein Mittel gegen so ziemlich alles, aber ich konnte mich hier nicht bewegen. Der Raum war zu klein, alles war zu eng. Und wenn ich daran dachte, wie lange ich noch in dieser Zelle bleiben musste, bekam ich Todesangst. Ich konnte nicht atmen. Ich konnte nicht –
Es klackte laut, die Tür ging auf. Der Wärter, der mich hergebracht hatte, sah herein. Ich bemühte mich, mir nichts anmerken zu lassen.
»Henderson? Ihre Anwältin ist da.« Prüfend schaute er mich an. »Kommen wir ohne Handschellen aus?«
»Natürlich«, nickte ich. Was hatte ich auch davon, wenn ich den Kerl angriff? Dann würde man nur denken, dass ich schuldig war. Und raus kam ich so auch nicht.
»Gut. Dann kommen Sie mit.«
Ich stieß die Luft aus, als hätte ich seit Stunden nicht mehr geatmet. Dann verließ ich die Zelle und musste vorangehen, durch einen grell beleuchteten Gang mit grau gestrichenen Mauern und fleckigem Linoleum-Fußboden. Ich trug immer noch die Klamotten von gestern, mein schwarzes Shirt und die Jeans, dazu graue Sneakers, deren Sohlen beim Laufen quietschten. In Untersuchungshaft durfte man seine eigene Kleidung tragen, das hatten sie mir erklärt.
Wir gingen durch zwei Türen und landeten in einem Raum, der außer einem schmucklosen Tisch mit vier Stühlen und ein paar Warnhinweisen an der Wand nichts weiter enthielt. Ich durfte mich setzen und wartete ein paar Minuten, bis die Tür sich wieder öffnete.
»Hallo, Lyall.«
Es war Sloan Cahill, die in den Raum kam, bewaffnet mit einer teuren Aktentasche und einem wachsamen Blick. Wie alle wichtigen Funktionen in unserer Familie waren auch die unserer Anwälte meist weiblich besetzt. Ich kannte Sloan bereits seit meiner Kindheit, weil sie schon immer die Rechtsberaterin meiner Mutter gewesen war. Und trotz ihrer strengen Haltung war ich wirklich froh, sie zu sehen.
Jedoch nicht so sehr wie die Person, die danach in den Raum kam.
»Fin«, stieß ich aus, als ich meinen Cousin erkannte.
»Hey, Mann.« Finlay sah völlig übermüdet aus und sein Lächeln hatte nicht die übliche Strahlkraft. Ich konnte sehen, dass er dazu ansetzte, mich zu umarmen, aber mit einem Blick zu dem Beamten an der Tür ließ er es bleiben. Ich spürte trotzdem, wie etwas Gefühl in meinen Körper zurückkehrte.
»Hast du etwas von Kenzie gehört?«, fragte ich. »Geht es ihr gut, ist sie h...«
Sloan schnitt mir mit einer knappen Geste das Wort ab und sah den Gefängniswärter an. »Ich möchte mit meinem Mandanten sprechen«, sagte sie streng. »Allein.«
Der Beamte nickte nur knapp, erinnerte daran, dass es nicht erlaubt war, mir irgendwelche Gegenstände zu geben, und ging dann.
»Erste Regel«, sagte die Anwältin zu mir. »Rede nicht über irgendetwas von Bedeutung, wenn jemand dabei ist, der zuhört. Du weißt nie, an wen er das weitertratscht. Wer ist Kenzie? Deine Freundin?«
»Ja.« Allein bei diesem einen Wort schnürte sich mein Herz zusammen. Wir waren endlich glücklich gewesen, verdammt. Wieso musste immer so eine Scheiße passieren, wenn einmal etwas gut lief? »Ist sie hier?« Wenn ich ehrlich war, hatte ich darauf gehofft, ihr in die Augen sehen und mich vergewissern zu können, dass sie mir glaubte.
Finlay schüttelte den Kopf. »Ich habe sie gebeten, erst einmal nach Hause zu gehen und weiterzumachen, als wäre nichts Ungewöhnliches passiert. Sie würde eh so schnell keine Besuchserlaubnis bekommen.«
»Woher hast du eine?«, fragte ich.
»Ich bin sozusagen Sloans Praktikant, deswegen durfte ich mit. Allerdings habe ich echt ein paar Verrenkungen machen müssen, damit ich offiziell gar nicht in der Stadt bin. Du weißt, dass niemand Wind von dieser Sache bekommen darf.«
Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Daran, dass die Unterstützung meiner Familie sofort beendet war, wenn etwas über meine Verhaftung in der Öffentlichkeit publik wurde. Zu der ständigen Panik in meinem Inneren gesellte sich eine lähmende Kälte. Wenn das hier ein Skandal wurde, wäre nicht nur mein Ruf für alle Zeiten zerstört. Sondern auch jede Chance, freizukommen.
»Hast du mit Mum gesprochen?«, fragte ich meinen Cousin.
Er nickte. »Sie ist ziemlich ausgeflippt, als ich ihr gesagt habe, was passiert ist. Und natürlich wollte sie sofort kommen, aber ich konnte sie gerade noch davon abhalten. Sie hat eingesehen, dass sie nichts für dich tun kann, bis wir Genaueres wissen. Deswegen bleibt sie auf Korfu, um niemanden aufzuschrecken.«
Sloan stellte ihre Tasche ab und setzte sich. »Okay, sprechen wir jetzt über diese Anklage und nicht über hypothetische Szenarien.« Auch sie wusste, dass sie im Fall eines Skandals das Mandat abgeben musste – sie arbeitete schließlich für meine Familie und wurde von ihrem Geld bezahlt. »Bisher haben wir noch keine Informationen darüber, was die Gegenseite für Beweise hat. Wahrscheinlich machen sie uns das Material so spät wie möglich zugänglich, so läuft das immer.« Sie schlug geschäftsmäßig ihre lederne Mappe auf und nahm einen Kugelschreiber.
»Sloan«, sagte ich und bat sie damit, mich anzusehen. »Ich habe das nicht getan.«
»Das weiß ich, Lyall, sonst wäre ich sicher nicht hier. Aber es spielt keine Rolle, was ich glaube. Wichtig ist nur, ob die Staatsanwaltschaft Beweise hat, mit denen sie dich des Mordes an Adaline Warner überführen könnte. Und womit wir gegensteuern.«
»Was sollen sie denn für Beweise haben?«, fragte Finlay aufgebracht vom Fenster, an dem er lehnte. »Sie hat Selbstmord begangen, mitten im Wald. Stunden, nachdem sie Lye das letzte Mal gesehen hat.«
Ich zuckte kaum merklich zusammen, als er das Wort Selbstmord sagte, aber mein bester Freund sah es trotzdem. »Tut mir leid«, murmelte er. Als Antwort schüttelte ich nur mit dem Kopf. Adas Tod verfolgte mich seit Jahren. Erst in den letzten Wochen seit dem Gespräch mit Kenzie hatte ich damit begonnen, mir verzeihen zu können, was ich damals gesagt und vor allem, was ich nicht getan hatte: Ada zu helfen. Was war es für eine schreckliche Fügung, dass ausgerechnet jetzt Beweise für einen Mord auftauchten, den es gar nicht gegeben hatte?
Sloan schüttelte den Kopf. »Ich werde so schnell wie möglich Akteneinsicht fordern, um herauszufinden, womit wir es zu tun haben. Selbst wenn sie einen Tipp bekommen und die Leiche gefunden haben, wird sie kaum noch Beweiswert besitzen. Meiner Erfahrung nach haben sie bei einer solchen Verhaftung aus dem Nichts also entweder die Tatwaffe oder einen Zeugen.«
»Und beides ergibt keinen Sinn«, merkte Finlay an. »Also sollten wir besser darüber reden, wer ein Interesse daran hat, dich für etwas verhaften zu lassen, das du nicht getan hast.«
»Du denkst also auch, mir will das jemand anhängen?« Eine andere Möglichkeit konnte es kaum geben.
»Natürlich.« Finlay nickte. »Ist nur die Frage, wer. Hast du eine Idee?«
Ich senkte den Kopf. »Keine Ahnung. Mein Hirn will nicht funktionieren.« Mein Verstand brachte einfach nicht überein, dass ich genau wusste, ich war unschuldig – und trotzdem hier saß.
»Wie es aussieht, ist das ein böser Traum, der Realität geworden ist.« Sloan sah mich an. »Finlay hat mir auf dem Weg hierher die grobe Geschichte über Ada und dich erzählt. Du hattest eine Beziehung mit diesem Mädchen, richtig? Und nachdem du dich getrennt hast, hat sie sich umgebracht – was deine Familie vertuscht hat?«
Ich nickte stumm.
»War Ada psychisch krank?«
Ich nickte wieder.
»Herrje, Lyall, nun rede Klartext mit mir«, sagte sie ungeduldig. »Wir können uns nur beraten, bis der Haftrichter uns sehen will, und dann möchte ich vorbereitet sein.«
»Okay.« Ich riss mich zusammen. »Ja, sie war psychisch krank, wahrscheinlich Borderline. Aber das wurde nie von einem Psychologen diagnostiziert, sondern nur von meinem eigenen Therapeuten vermutet. Und eigentlich möchte ich nicht, dass es an die Öffentlichkeit gerät.«
»Ich denke nicht, dass du dir diesen Luxus leisten kannst«, sagte Sloan trocken.
Mein Blick flog zu Finlay, aber der zuckte nur mit den Schultern. Falscher Zeitpunkt, um den Ritter zu geben schien diese Geste sagen zu wollen.
Sloan notierte sich etwas auf ihrem Block. »Ich brauche den Namen dieses Psychologen, der dich betreut hat. Und Zeugen, die in der Hauptverhandlung etwas über den Geisteszustand des Mädchens erzählen können. Du selbst wirst auf keinen Fall aussagen, der Staatsanwalt würde dich zerlegen.« Sie schaute mich an. »Erst einmal müssen wir dich aber auf Kaution hier rausbekommen.«
»Du meinst, da könnte es Probleme geben?« Das hatte ich gar nicht in Erwägung gezogen. Meine Kenntnis von Gerichtsverhandlungen beschränkte sich auf Finlays Berichte und ein paar Filme und Serien. Und dort wurden die Leute doch immer auf Kaution freigelassen, oder nicht?
»Das werden wir sehen. Du musst dich vor dem Richter in erster Linie bescheiden geben. Allein dein Name macht es sehr schwierig, so zu tun, als wärst du ein normaler Kerl, der das Land nicht von jetzt auf gleich verlassen könnte, aber wir müssen es versuchen. Je harmloser du wirkst, desto eher wird der Richter einer Kaution zustimmen.«
Ich starrte sie an. »Und was, wenn er nicht zustimmt?« Musste ich dann im Gefängnis bleiben, bis die Verhandlung begann? Wann war das überhaupt? In einem Monat, oder drei, oder sechs?
Sloan öffnete den Mund, aber bevor sie etwas sagen konnte, kam der Wärter wieder herein.
»Mrs Cahill? Der Haftrichter ist nun bereit für Sie.«
»In Ordnung, danke.« Sloan nickte. »Gehen wir.«
Ich hatte erwartet, dass wir zu einem Gericht fahren würden, aber stattdessen gingen wir nur drei Büros weiter und landeten in einem Raum, der ebenso spartanisch ausgestattet war wie der andere, aber dessen Tischanordnung an einen Verhandlungssaal erinnerte. Finlay lächelte mir aufmunternd zu, bevor wir hineingingen, aber ich brachte keine Erwiderung zustande.
»Ich habe darum gebeten, die Prüfung hier zu machen«, raunte Sloan mir zu. »Vor Gericht ist zu viel los, und wir müssen versuchen, das Ganze zumindest bis zur Verhandlung vor der Welt zu verbergen.«
Ein älterer, gelangweilt aussehender Mann saß hinter dem Tisch und studierte eine Akte, eine blonde Frau in mittlerem Alter stand hinter einem der beiden Pulte auf der anderen Seite und musterte mich abschätzig, als ich hereinkam. Sloan begrüßte beide und stellte sich als mein Rechtsbeistand vor. Mein Puls schlug unregelmäßig und heftig gegen meinen Kehlkopf. Angst war definitiv kein ausreichendes Wort für das, was ich gerade empfand. Sloan hatte vorhin nicht auf meine Frage geantwortet, aber ich konnte mir denken, was passierte, wenn dieser Termin nicht dazu führte, dass man mich auf Kaution freiließ.
»Natalie Holden, ich bin die zuständige Staatsanwältin.« Die Blondine zeigte Sloan ein knappes Lächeln, das eher wie eine Drohgebärde wirkte. Ich ahnte nichts Gutes.
Der Richter schaute von seinen Unterlagen auf. »Können wir beginnen?«
Alle bejahten das, also las er eine Folge von Aktenzeichen vor, dazu den zuständigen Bezirk und meinen Namen sowie das Verbrechen, dessen ich mich schuldig gemacht haben sollte. Dann wandte er sich an meine Anwältin. »Mrs Cahill, was beantragen Sie?«
»Wir beantragen Freilassung auf Kaution, My Lord.« Sloan nickte höflich, offenbar war das die übliche Anrede. Ich bemühte mich um einen defensiven Gesichtsausdruck, obwohl mir meine Panik ins Gesicht geschrieben sein musste. Du musst harmlos und bescheiden wirken. Harmlos. Bescheiden. Harmlos.
»Mrs Holden, haben Sie etwas dagegen einzuwenden?«, fragte der Richter.
»Allerdings, My Lord«, entgegnete die Staatsanwältin. »Mister Henderson gehört zur einflussreichen Henderson-Familie, die Hotels und Ferienresorts auf der ganzen Welt unterhält und über nahezu unbegrenzte Geldmittel verfügt. Wenn Sie ihn auf Kaution freilassen, können Sie ihm genauso gut ein Flugticket in ein Land ohne Auslieferungsabkommen schenken. Mit einem Schleifchen darum.«
Sloan holte Luft. »Das ist Unsinn, My Lord. Mein Mandant hat einen schottischen Pass, dazu Familie vor Ort, und außerdem ist er unschuldig. Er hat keinen Grund, sich der Strafverfolgung zu entziehen.«
Der Richter sah auf. »Gibt es wichtige Bezugspersonen vor Ort – abseits der wohlhabenden Familie?«
»Seine Freundin«, wandte Finlay ein. »Sie stammt aus dem Süden, My Lord, und steht voll und ganz hinter ihm.«
»Nun, das sollte sie sich besser noch mal überlegen«, schnaubte die Staatsanwältin. »Sonst landet sie vielleicht da, wo die letzte ihr Ende gefunden hat.«
Ich zuckte bei dieser Anspielung nach vorne, aber Sloan packte meinen Arm und hielt mich so auf meinem Stuhl.
»My Lord, wie es scheint, ist Mrs Holden nicht in der Lage, ihre persönlichen Ansichten über meinen Mandanten für sich zu behalten«, sagte meine Anwältin. »Ich beantrage Austausch wegen Befangenheit.«
»Die Befangenheit der Staatsanwältin können Sie in der Hauptverhandlung anzeigen, Mrs Cahill.« Der Richter nahm seinen Kugelschreiber. »Die Argumente von Staatsanwältin Holden sind einleuchtend. Daher entscheide ich: Keine Freilassung auf Kaution. Der Beschuldigte verbleibt in Haft bis zur Eröffnung der Hauptverhandlung. Ich werde veranlassen, dass er ein zügiges Verfahren bekommt.«
Was? Nein! Meine Kehle schnürte sich zu. Ich dachte an die winzige Zelle, in der ich mich kaum bewegen konnte. Ich konnte nicht dort bleiben! Das würde ich keine weiteren Wochen überstehen, nicht mit diesen Gedanken in meinem Kopf und ohne eine Möglichkeit, Kontakt mit jemandem aufzunehmen.
»Sir, bitte, ich kann nicht –«, begann ich, wurde aber von meiner Anwältin gestoppt.
»Vielen Dank, My Lord«, unterbrach mich Sloan. »Das ist sehr freundlich von Ihnen.« Dann bugsierte sie mich so schnell wie möglich nach draußen.
»Wieso hast du mich nicht ausreden lassen?«, zischte ich vor der Tür. »Vielleicht hätte ich ihn überzeugen können, mich gehen zu lassen.«
Sloan verdrehte die Augen. »Mit dieser Staatsanwältin, die dich für eine Ausgeburt der Hölle hält? Lyall, bei dir besteht sowohl Flucht- als auch Verdunklungsgefahr! Du hättest sagen können, was du willst, du hättest keine Chance gehabt. Im Gegenteil, wahrscheinlich hätte er das Verfahren nicht priorisiert und du wärst die nächsten sechs Monate nicht aus diesem Loch rausgekommen. Wäre das besser?« Ich blieb stumm und sie atmete aus. »Jetzt bekommen wir einen schnellen Verhandlungsbeginn und ich baldige Akteneinsicht. Und die brauchen wir, wenn wir wissen wollen, was zur Hölle hier eigentlich los ist.«
»Was bedeutet ein schneller Beginn?«, fragte ich.
»Sechs Wochen, wenn es gut läuft.« Es war Finlay, der mir antwortete. Er war nach uns aus dem Raum gekommen. »Vielleicht auch zwei Monate, je nach Auslastung des Gerichts.«
Ich fuhr mir durch die Haare, griff fest danach und begrüßte den Schmerz, der verhinderte, dass ich die Fassung verlor. Sechs Wochen oder noch länger. Und dann eine Verhandlung, deren Ausgang niemand kannte. Nur langsam drang zu mir durch, dass die Staatsanwaltschaft etwas gegen mich in der Hand haben musste. Und dass diese Beweise vielleicht auch eine Jury überzeugen konnten, obwohl nichts Wahres daran war.
»Was kann ich tun?« Ich musste irgendetwas machen, sonst drehte ich durch.
»Dich ruhig verhalten«, antwortete Sloan. »Kein Aufsehen erregen, keine Schwäche zeigen. Und dich möglichst genau daran zu erinnern versuchen, was in dieser Nacht passiert ist. Das würde uns helfen.«
Ich nickte. Wir liefen, begleitet von einem Wärter, zu dem Bereich, wo ich Sloan und Finlay verabschieden musste, weil sie nicht mit in den Trakt für Untersuchungshäftlinge durften. Als wir an der massiven Stahltür angekommen waren, hatte ich meine Gedanken zu einem vorläufigen Ende gebracht.
»Können die mich … werden die mich verurteilen?«, fragte ich leise. Was bekam man für Mord? Lebenslang hörte man immer, aber was bedeutete das genau?
»Immer ein Schritt nach dem anderen«, mahnte Sloan. »Ich komme wieder, sobald ich mehr weiß.«
Ich dankte ihr für ihren Einsatz, und sie trat ein paar Schritte zurück, um Finlay und mich einen Moment reden zu lassen.
»Wie fühlst du dich?«, fragte mein Cousin.
»Wie ich mich fühle?« Ich hörte die Hysterie in meiner Stimme. »Ich habe eine Scheißangst! Wenn es jemanden gibt, der mir das anhängen will … jemanden mit Einfluss oder Beziehungen … Was, wenn die mich den Rest meines Lebens einsperren? Was, wenn –«
»Hey, nicht durchdrehen. Lass nicht zu, dass dir die Gedanken das Hirn zerfressen.« Finlay fasste mich mit einem Blick zu dem Wärter an den Schultern. Er hinderte ihn nicht daran. »Du hast das nicht getan, und das ist das Einzige, was zählt. Wir werden uns was einfallen lassen. Halt solange durch, okay?«
Ich wollte nicken, aber ich schaffte es nicht.
»Bitte sag K …, sag ihr, ich …« Meine Stimme brach mir weg.
»Mach ich.« Finlay lächelte. »Sie liebt dich, Lye. Das tun wir alle. Vergiss das nicht.«
»Du musst sie beschützen, okay? Wer immer dahintersteckt, wird vielleicht auch die Leute bedrohen, die mir wichtig sind.«
»Keine Sorge. Ich kümmere mich darum, dass sie in Sicherheit ist.«
»Danke.«
Ich nickte, er nickte, der Wächter wurde ungeduldig, nahm mich mit, weg von Finlay. Wir liefen schweigend zu meiner Zelle, er ließ mich hinein.
Und dann schloss sich die Tür und ich war wieder allein.
Tomatensoße. Eier. Cornflakes.
Ich starrte auf die Einkaufsliste in meiner Hand, aber ich verstand den Sinn der Worte nicht, die darauf standen. Willa hatte den Zettel geschrieben und ich ihn aus Gewohnheit mitgenommen, weil ich meistens für den Einkauf sorgte. Nur dass ich normalerweise bei Verstand war, wenn ich das tat. Aber jetzt war nur eine Sache in meinem Kopf: Lyall. Wieso erreichte ich niemanden aus seinem Umfeld? Das konnte doch kein gutes Zeichen sein.
In diesem Moment klingelte mein Telefon und ich kramte es hektisch hervor. Einen irrationalen Moment lang hoffte ich, Lyalls Namen auf dem Display zu sehen. Dass ich rangehen und seine Stimme hören würde, die mir sagte, es wäre alles nur ein Irrtum gewesen. Aber er war es nicht. Es war Finlay.
»Endlich!«, rief ich, als ich den Anruf annahm. Die Leute im Supermarkt drehten sich irritiert zu mir um. »Wo warst du? Ich habe ungefähr tausendmal versucht, dich zu erreichen!«
»Ich war im Gefängnis, da muss man die Handys abgeben.« Finlay klang ernst und meine Hoffnung auf gute Nachrichten sank. »Wir waren gerade beim Richter wegen der Untersuchungshaft. Er hat einer Kaution nicht zugestimmt.«
»Was bedeutet das?«, fragte ich und schlug kurzerhand den Weg zu dem Raum ein, in dem immer Kinderfilme gezeigt wurden, damit die Eltern in Ruhe einkaufen konnten. Er war leer. Ich ging hinein und zog die Tür zu.
»Es bedeutet, dass Lyall in Untersuchungshaft bleibt, bis die Verhandlung beginnt.«
»Verhandlung?« Ich holte Luft. »Ich dachte, das wäre alles nur ein Missverständnis! Du hast gesagt –«
»Ich weiß, was ich gesagt habe«, unterbrach Finlay mich, aber es klang eher müde als verärgert. »Aber so wie es aussieht, gibt es irgendwelche Beweise, die Lye belasten. So schwer, dass es für eine Anklage reicht.«
»Was denn für Beweise? Er hat sie nicht getötet!«
»Kenzie, ich weiß das und du weißt das. Genau wie derjenige, der Lyall das anhängen will. Und in einer normalen Welt säße er nicht in einer Zelle, weil niemand die Mittel hätte, um so etwas zu inszenieren. Aber wir sind die Hendersons, wir leben nicht in der normalen Welt. Unsere ist voller Neider, Intrigen und irgendwelchem Scheiß, den die meisten Leute sich gar nicht vorstellen können.«
Ich schüttelte den Kopf und merkte, dass er immerhin halbwegs wieder funktionierte. Ein Wunder angesichts der Eiseskälte in meinem Inneren. »Das hat mit eurer Welt nichts zu tun. Bestimmt war es Adas Familie.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Finlay. »Die haben nicht die Möglichkeiten dazu.«
»Ihr Bruder hat Lyall letzten Sommer zusammengeschlagen.«
»Ja, genau. Er hat ihn körperlich attackiert. So machen das die Warners – mit der Brechstange. Aber das hier ist anders. Es ist das Werk von jemandem, der subtil vorgeht.« Finlay seufzte. »Bisher ist aber alles nur Spekulation. Sobald wir die Beweise kennen, werden wir wissen, womit wir es zu tun haben.«
Ich holte Luft und versuchte, meine Angst in Schach zu halten. »Sag mir, dass du ihn da rausboxen kannst. Dass er freikommt.«
»Ich tu, was ich kann, Kenzie. Glaub mir, ich werde alles dafür tun.«
Auf dem Bildschirm an der Wand versuchte Shaun das Schaf gerade, den Farmhund Bitzer abzulenken, indem er einen Knochen warf. Ich drehte dem Geflacker den Rücken zu.
»Was kann ich solange machen?«, fragte ich.
Finlay schwieg.
»Bitte sag nicht, dass ich hierbleiben und weiterhin so tun soll, als wäre alles in Ordnung.«
Er schwieg weiter.
»Finlay, komm schon!«
»Das ist ein beschissener Tanz auf dem Vulkan, verstehst du das nicht?!«, fuhr er mich an. »Wenn die Verhaftung öffentlich wird, dann wird sich alle Welt auf Lyall stürzen! Der Rat wird ihm die Unterstützung entziehen, er wird keinen Kontakt mehr zur Familie haben dürfen –«
Ich schnappte nach Luft. »Aber du würdest ihn doch nicht im Stich lassen, oder?«
»Natürlich nicht!«, rief Finlay. »Wenn ich mich entscheiden muss, wird die Antwort immer Lyall sein. Nur bin ich noch kein Anwalt, und ich kann mir auch keinen in der Liga leisten, die hier nötig ist. Wir brauchen die Unterstützung der Familie dringend.«
»Aber wieso bin ich denn ein Problem in dieser Rechnung?« Ich verstand es einfach nicht. »Du bist schließlich auch vor Ort und viel bekannter als ich. Wer sollte mir folgen, um herauszufinden, dass ich in ein Gefängnis in Edinburgh gehe, um Lyall zu sehen?«
»Darum geht es nicht. Oder nicht nur.« Finlay zögerte. »Da läuft etwas, dessen Ausmaß wir noch nicht überblicken. Wir wissen nicht, wer dahintersteckt – und wen er sich noch vornimmt. Wenn derjenige erfährt, dass ihr beide zusammen seid, könntest du in Gefahr geraten.«
»Das ist mir scheißegal«, sagte ich hart.
»Lyall aber nicht. Er will auf keinen Fall, dass dir etwas passiert.«
Diese zwei Sätze bremsten meine Wut abrupt und ersetzten sie durch Liebe, die noch viel schmerzhafter war. Selbst in so einer beängstigenden Situation dachte Lyall daran, dass ich in Sicherheit war? Obwohl er sich vor allem um sich selbst sorgen sollte? Tränen stiegen mir in die Augen und der Kloß in meinem Hals verzerrte meine Stimme. »Du hast ihn gesehen, oder? Wie geht es ihm, Fin?« Wieso fragte ich das erst jetzt? Das hätte das Erste sein müssen.
»Was denkst du denn?« Finlay stieß die Luft aus, als könnte er auf diese Art irgendetwas besser machen. »Er ist geschockt und hat Angst. Aber er ist stark und wird durchhalten, bis wir ihn freibekommen. Ich soll dir sagen, dass er dich liebt. Und hofft, dass du an ihn glaubst.«
»Das tue ich«, sagte ich leise. »Richte ihm das aus, wenn du ihn das nächste Mal siehst.«
»Vielleicht könntest du das auch selbst tun.«
Ich wusste nicht, was er meinte. »Selbst?«
»Du kannst ihm schreiben«, erklärte Finlay. »Es wird ihm sicher helfen, zu wissen, dass du auf seiner Seite bist. Aber nicht unter deinem richtigen Namen, die checken die Post dort, vor allem in Untersuchungshaft. Denk dir irgendein Pseudonym aus und wirf den Brief nicht direkt bei dir im Ort ein.«
Ich atmete aus. »Okay.« Ich sollte schreiben. Schreiben! Ich konnte doch nicht hier in High Wycombe sitzen und nichts machen, außer Briefe ins Gefängnis zu schreiben. Aber ich wusste, Finlay würde sich im Moment nicht darauf einlassen, dass ich bei den Ermittlungen half. »Das mache ich.«
»Gut. Ich muss los. Halt die Ohren steif. Ich melde mich wieder, wenn es etwas Neues gibt.«
»Was ist eigentlich mit Edina? Ist sie bei euch?«
»Nein, sie fliegt heute zurück nach London und war ähnlich begeistert wie du, die Füße stillhalten zu müssen. Wenn du willst, ruf sie doch später an.«
»Mach ich. Danke, Finlay.«
»Dank mir, wenn ich ihn da rausgeholt habe. Bis dann, Kenzie.«
Er legte auf und ich nahm das Handy vom Ohr, blieb stehen, wo ich war, mit einem merkwürdigen Gefühlsgemisch in meinem Herzen. Liebe, Hoffnung, Angst und Sorge drehten Runde um Runde, ohne eindeutigen Gewinner. Immer noch fühlte sich das alles an wie ein Albtraum, und ich erwartete, dass Lyall mich gleich wecken und mir einen guten Morgen wünschen würde. Aber nichts passierte. Da waren immer noch animierte Schafe auf dem Bildschirm hinter mir, und als mich jemand ansprach, war es nicht Lyall, sondern ein kleiner Junge, der schüchtern durch den Türspalt spähte und fragte, ob er Shaun anschauen dürfte.
»Klar, komm rein«, sagte ich. »Das ist eine gute Folge.«
Dann ging ich hinaus und versuchte, mich wenigstens für fünf Minuten auf den Einkauf zu konzentrieren.
»Kenzie, du hast noch gar nichts von Korfu erzählt.« Susanna stellte die Schüssel mit den Kartoffeln ab und lächelte mich an. »Dein Vater hat erzählt, ihr wärt dort sehr fleißig gewesen. Bist du denn trotzdem dazu gekommen, die Insel ein bisschen zu genießen?«
»Ja, ein bisschen schon.« Ich ließ die Gabel mit den Bohnen sinken. Seit wir mit dem Essen begonnen hatten, versuchte ich, etwas hinunterzuwürgen, aber es gelang mir mehr schlecht als recht. Dass heute Dads Freundin und ihr älterer Sohn Alex bei uns zu Abend aßen, war eigentlich ganz gut – so konnte mich meine Familie nicht so genau beäugen, obwohl sie sicher alle ahnten, dass etwas nicht stimmte. Vor allem Willa war durch Alex ganz gut abgelenkt, mit dem sie wahlweise flirtete oder zoffte.
»Ein bisschen mehr, oder nicht?« Jetzt grinste meine Schwester breit. »Waren Lyall und du nicht auf einer Jacht und dann an einem einsamen Strand?«
Das hatte ich nun davon, dass ich ihr am Telefon in epischer Breite davon berichtet hatte, wie Lyall und ich die letzten zwei Wochen auf der Insel verbracht hatten. Ich war einfach so glücklich gewesen, dass ich es ihr hatte erzählen müssen.
»Waren wir«, murmelte ich und gab Willa mit Blicken zu verstehen, dass sie das Thema abhaken sollte.
»Das klingt so, als hättet ihr eine gute Zeit gehabt«, sagte Susanna. Ich merkte, dass sie wegen meiner Abwesenheit mit dem Rest meiner Familie wesentlich vertrauter war als mit mir – und deswegen versuchte, Interesse zu zeigen. Aber ich war zu beschäftigt mit mir selbst, um den Gefallen zu erwidern.
»Warum ist Lyall eigentlich doch nicht mitgekommen?« Eleni sah mich an. Ich hatte gestern nur kurz in die Familiengruppe bei WhatsApp geschrieben, dass der Plan sich geändert hatte und ich allein auftauchen würde. »Habt ihr euch gestritten?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ihm ist nur was dazwischengekommen.« Eine Verhaftung wegen Mordes, um genau zu sein. Ich nahm mein Glas und umschloss es fester als nötig. »Er wird herkommen, wenn das erledigt ist.«
»Na, hoffentlich«, meinte Willa. »Ich habe schon viel zu lange keinen heißen Typen mehr gesehen. Diese Stadt hat echt nichts zu bieten, was das angeht.«
»Entschuldige mal, und was ist mit mir?«, beschwerte sich Alex. Willa hob eine Augenbraue.
»Was soll mit dir sein?« Sie gab es vollkommen verwirrt zurück, und alle lachten, sogar ich, auch wenn es sich gekünstelt anfühlte. Der Schlagabtausch zwischen den beiden begann und ich war erst einmal aus dem Schneider. Zumindest, bis das Gespräch auf Alex’ geplantes Studium kam.