John Lanchester

DIE $PRACHE

DES GELD€S

und warum wir sie nicht verstehen (sollen)

Aus dem Englischen von Dorothee Merkel

KLETT-COTTA

Impressum

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel: »How to Speak Money.
What the money people say – and what they really mean« im Verlag
Faber & Faber, London 2014

© 2014 by John Lanchester

Für die deutsche Ausgabe

© 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

Gesetzt von r&p digitale medien, Echterdingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94899-8

E-Book: 978-3-608-10838-5

Für Mary-Kay Wilmers

Die Gedanken der Ökonomen und Staatsphilosophen, sowohl wenn sie im Recht, als wenn sie im Unrecht sind, haben mehr Einfluss als gemeinhin angenommen wird. Die Welt wird in der Tat durch nicht viel anderes beherrscht. Praktiker, die sich ganz frei von intellektuellen Einflüssen glauben, sind gewöhnlich die Sklaven irgendeines verblichenen Ökonomen. Wahnsinnige in hoher Stellung, die Stimmen in der Luft hören, zapfen ihren wilden Irrsinn aus dem, was irgendein akademischer Schreiber ein paar Jahre vorher verfasste. Ich bin überzeugt, dass die Macht erworbener Rechte im Vergleich zum allmählichen Durchdringen von Ideen stark übertrieben wird.

John Maynard Keynes,
Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes

Sugar: Sie haben eine Yacht? Welche ist es denn? Die große da?

Joe: Um Gottes Willen. Bei der ewigen Unrast heutzutage halte ich mir doch keine Yacht mit mehr als zwölf Kabinen.

Billy Wilder und I. A. L. Diamond,
Manche mögen’s heiß

 

Inhalt

Einleitung

Die Sprache des Geldes

Ein Geldlexikon

Nachwort

Anhang

Danksagung

Anmerkungen

Weiterführende Literatur

So können Sie durch das Lexikon navigieren

Einleitung

Sobald es um wirtschaftliche Fragen geht, verhalten sich Regierungen ganz ähnlich wie Jack Nicholson als Marineoberst Jessep in Aaron Sorkins Film Eine Frage der Ehre: »Sie wollen die Wahrheit hören? Sie können die Wahrheit doch gar nicht vertragen!« Man scheint dort oben davon auszugehen, es sei für uns nicht zumutbar, den Tatsachen ins Auge zu sehen und uns damit auseinanderzusetzen, wie die Welt wirklich funktioniert. Und wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben: Wahrscheinlich ist da etwas dran. Auch wenn wir, das Volk, das nie eingestehen würden, wäre es uns doch im Großen und Ganzen lieber, man würde uns die unbequemen Wahrheiten ersparen. Oder wie es eine Figur in Martin Amis’ Roman Information ausdrückt: »Sich der Realität zu verschließen war absolut wunderbar. Es war das Beste. Sogar noch besser als zu rauchen.« Bedauerlicherweise funktioniert das in diesem Fall jedoch nicht. Als die wirtschaftlichen Strömungen, die unser Leben durchziehen, noch sanft und harmlos waren, mussten wir nicht darüber nachdenken, so wie man nicht über die Strömung nachdenkt, wenn man behaglich einen Fluss hinuntertreibt. Mehr oder weniger genau das haben wir getan, ohne es uns bewusst zu machen – wir haben uns behaglich treiben lassen.

Und dann kam das Jahr 2008. Plötzlich wurde uns klar, dass diese Strömungen sehr viel gewaltiger waren, als wir gedacht hatten. Statt uns zu verwöhnen oder uns freundlich unter die Arme zu greifen, spülten sie uns weit hinaus ins offene Meer. Und dort draußen blieb uns nichts anderes übrig, als verzweifelt gegen sie anzukämpfen, während wir nicht einmal wussten, ob unsere Anstrengungen ausreichen würden, wieder zurück ans sichere Ufer zu gelangen.

Das ist auch der eigentliche Grund, warum ich dieses Buch geschrieben habe. Es klafft eine gewaltige Lücke zwischen den Menschen, die wirtschaftliche Zusammenhänge verstehen, und jenen, die es nicht tun. Zum Teil wurde diese Kluft ganz bewusst durch Geheimnistuerei und Verschleierungstaktiken vertieft; aber den weit größeren Anteil hatte, wie ich glaube, das Gefühl, dass es so einfach viel leichter war. Und zwar für beide Seiten. Die Finanzleute mussten niemandem erklären, was sie im Schilde führten, sie durften ihre eigenen Regeln schreiben und haben nicht schlecht davon profitiert. Und wir anderen fanden es äußerst angenehm, uns nicht den Kopf über ökonomische Fragen zerbrechen zu müssen. Lange Zeit schien uns das die beste Lösung zu sein. Aber das ist nun vorbei. Die Strömung hat zu viele von uns aufs offene Meer hinausgespült, und selbst diejenigen, die es wieder zurück an Land geschafft haben, können sich nur zu gut daran erinnern, wie gewaltig der Sog war und wie hilflos sie sich fühlten. Wir müssen die Lücke unbedingt schließen, sowohl auf der »Makroebene«, damit wir sachkundige, demokratische Entscheidungen treffen können, als auch auf der »Mikroebene«, bei den Alternativen, die sich uns ganz persönlich bieten.

Einer der wichtigsten Gründe, warum es diese Lücke überhaupt gibt, ist geradezu beschämend einfach: Die meisten verstehen nicht einmal, wovon diese Finanzleute überhaupt reden. Wenn im Radio oder Fernsehen oder auch in der Zeitung von »fiskalischen« oder »monetären« Inhalten die Rede ist, wenn jemand von »marginalen Zinssätzen« spricht oder auch von »Anleiherenditen« und »Aktienkursen«, dann wissen wir zwar ungefähr, mehr oder minder, was das alles heißen soll, aber genau dann eben doch nicht, jedenfalls nicht so, dass wir in der Lage wären, der Diskussion zu folgen. Der Begriff »Zinssatz« zum Beispiel ist ein einfaches Kompositum, in dem jedoch ein ungeheures Wissen steckt, und zwar nicht nur über Kapitalmärkte und die Finanzwelt, sondern auch darüber, wie ganze Gesellschaften funktionieren. Ich bin mit der erwähnten Art von Halbwissen nur zu vertraut, weil ich selbst einmal zu den Menschen gehörte, die zwar ungefähr, aber genau dann eben doch nicht wussten, wovon die Rede war, jedenfalls nicht genug, um sich kenntnisreich und vernünftig an der Diskussion zu beteiligen. Jetzt, da ich mir ein wenig Wissen angeeignet habe, finde ich, dass alle anderen dies auch tun sollten. C. P. Snow hat einmal gesagt, jeder sollte den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik kennen.1 Genauso, denke ich, sollte auch jeder über Zinssätze Bescheid wissen und warum sie wichtig sind, und auch darüber, was Monetarismus oder das BIP ist. Jeder sollte verstehen, was eine inverse Renditekurve ist und weshalb sie einem Angst einjagen kann. Dieser Ausgangspunkt – die Sprache – ermöglicht uns, die Werkzeuge zu schmieden, mit deren Hilfe wir uns ein Bild von der Wirtschaft machen können, oder auch mehrere, voneinander abweichende Bilder. Das möchte ich mit diesem Buch erreichen: dem Leser Werkzeuge an die Hand geben. Und ich hoffe, dass Sie nach der Lektüre in der Lage sein werden, sich die Wirtschaftsnachrichten anzuhören oder den Wirtschaftsteil der Zeitung oder auch die gesamte Financial Times zu lesen und zu verstehen, wovon die Rede ist. Und dass Sie dann – was ebenso wichtig ist – ein Gefühl dafür bekommen, ob Sie mit dem, was gesagt oder geschrieben wird, einverstanden sind oder nicht. Die einzelnen Details der modernen Finanzwirtschaft sind oft sehr kompliziert, aber die zugrundeliegenden Prinzipien sind es nicht. Ich hoffe, das vorliegende Buch wird Ihnen dabei helfen, diese Prinzipien am Ende sehr viel besser nachvollziehen zu können. Geld und Kleinkinder haben einiges gemeinsam, und wenn Sie deren Sprache erst einmal beherrschen, gilt die gleiche Regel wie in Dr. Spocks Buch Säuglingspflege und Kinderpflege: »Haben Sie ruhig Selbstvertrauen – Sie wissen mehr, als Sie glauben.«

 

 

 

Die Sprache des Geldes

1.

Das wichtigste Geheimnis der alten Ägypter wurde von der Priesterschaft gehütet. Es betraf dise alljährliche Nilschwemme, also die Überflutung der Flusslandgebiete. Von dieser Flut hing die ägyptische Landwirtschaft und mit ihr, wenn man so will, die gesamte Zivilisation ab. Jahrhundertelang stand sie im Zentrum der Gesellschaft, sowohl in praktischer als auch in ritueller Hinsicht, und machte das alte Ägypten zur stabilsten Gesellschaftsform, die es je auf der Welt gegeben hat. Sogar der ägyptische Kalender richtete sich nach dem Fluss. Er war in drei Jahreszeiten aufgeteilt, die alle in direktem Zusammenhang mit dem Nil und dem von ihm vorgegebenen ackerbaulichen Kreislauf standen: Achet – die Überschwemmung, Peret – die Zeit der Aussaat, und Shemu – die Zeit der Ernte. Die Höhe der Flut bestimmte, wie reichhaltig die Ernte wurde: Gab es zu wenig Wasser, kam es zu einer Hungersnot; gab es zu viel, geschah eine Katastrophe. Aber wenn die Wassermenge genau richtig war, dann wuchs und gedieh das ganze Land. Jedes einzelne Detail des ägyptischen Lebens war mit der Nilschwemme verknüpft. Sogar das Steuerwesen wurde vom Wasserpegel bestimmt, denn dieser legte fest, wie wohlhabend die Bauern in der folgenden Jahreszeit sein würden. Die Priester führten äußerst komplizierte Rituale durch, mit denen sie das Ausmaß der alljährlichen Flut und der daraus resultierenden Ernte prophezeiten. Die religiöse Elite konnte auf ein reichhaltiges System von Mythen zurückgreifen, das nicht nur die emotionalen Bedürfnisse der Menschen stillte, sondern auch über eine subtile, komplexe Symbolsprache verfügte, die sich aus eben jener Mythologie speiste. Daher nahm die Priesterschaft eine unangefochtene Machtposition im Zentrum dieser Gesellschaft ein – einer Gesellschaft, die außergewöhnlich stabil war und über Tausende von Jahren mehr oder weniger unverändert blieb.

Aber die Priester schummelten. Sie verfügten nämlich auch noch über etwas anderes: den Nilometer. Dabei handelte es sich um eine geheime Vorrichtung, mit deren Hilfe man den Flutpegel messen und im Voraus einschätzen konnte, wie hoch er werden würde. Die Einrichtung bestand aus einer großen, stationären Messanlage am Flussufer, mit Linien und Markierungen, die dazu dienten, den jährlichen Flutpegel vorherzusagen. An der Skala ließ sich mithilfe des Wasserstands ablesen, wie die Ernte aussehen würde, von »Entbehrung« bis hin zu »Hungersnot«, von »Glück« und »Sicherheit« bis hin zum »Überfluss« und – in den Jahren mit zu viel Wasser – zur »Katastrophe«. Die Nilometer waren ein – ja vielleicht das – Geheimnis der Priesterschaft und befanden sich innerhalb von Tempelanlagen, zu denen nur Priester Zutritt hatten. Herodot, der im 5. Jahrhundert vor Christus als erster Fremder einen Bericht über das Leben in Ägypten verfasste, erfuhr von ihrer Existenz, bekam aber keine Erlaubnis, einen von ihnen zu besichtigen. Sogar noch bis ins Jahr 1810, Tausende Jahre nachdem die Nilometer in Gebrauch genommen worden waren, war Ausländern der Zugang zu ihnen untersagt. Zusammen mit den jahrhundertealten, akribisch genauen Aufzeichnungen der Hochwasserperioden waren die Nilometer für die Ägypter ein unverzichtbares Machtinstrument. Und die herrschende Klasse musste dieses Instrument unbedingt geheim halten, denn nur so konnte es ein zentraler Pfeiler ihrer Herrschaftsgewalt bleiben.

Es gibt viele Priesterschaften auf der Welt. Und der Nilometer ist ein gutes Beispiel dafür, wie geschickt sie sein können und welch zahlreiche Spielarten der religiösen und professionellen Geheimnistuerei ihnen zur Verfügung stehen. Viele der Redewendungen, die wir benutzen, wenn jemand versucht, uns mit irgendwelchem Unsinn vorsätzlich zu verwirren, haben ihren Ursprung in priesterlichen Ritualen. Der englische Begriff »mumbo jumbo«, der so viel heißt wie »fauler Zauber«, stammt von dem Mandinka-Wort Maamajomboo, das einen zeremoniellen Schamanentänzer mit einer Maske bezeichnet. Und »Hokuspokus« stammt von einem Satz aus der lateinischen Messe zur Eucharistiefeier: hoc est enim corpus meum (Denn dies ist mein Leib). Auf der einen Seite stehen die ausgefeilten Sprachspiele und Rituale, die den nichtsahnenden Laien verwirren und einschüchtern sollen, auf der anderen Seite das stille und heimliche Kalkül der Profis. In fast jedem Metier, von Klempnern über Köche und Krankenschwestern bis hin zu Lehrern und Polizisten, klafft eine Lücke zwischen der Sprache, die die Eingeweihten untereinander benutzen, und der Art, wie sie mit ihren Kunden oder ihrem Publikum sprechen. Grayson Perry hat dieses Phänomen und seine Auswüchse in der Kunstwelt treffend und amüsant bei einem Interview mit Brian Eno beschrieben: »Was die Sprache der Kunstwelt betrifft – das sogenannte ›internationale Kunstenglisch‹ – denke ich, dass sie die Leute ganz bewusst verwirren sollte. Auf diese Weise wollte man das eigentlich ziemlich simple philosophische Gedankengut schützen und ein gewisses Mysterium aufrechterhalten. Man befürchtete, nicht mehr ernst genommen zu werden, falls die Sache zu leicht zu verstehen war.« Manchmal ist es gerade diese Lücke, die die Leute an einem Metier reizt. In der Politik dreht sich zum Beispiel alles um den Unterschied zwischen Öffentlichem und Privatem.

Die Wirtschafts- und Finanzwelt kann auf einen Außenseiter einen ganz ähnlichen Eindruck machen wie jener alte Trick mit dem Nilometer. Vor nicht allzu langer Zeit las ich einen Artikel in der Wochenzeitschrift The Economist. Er handelte von einer deutschen Bank, die einigen Fachleuten Sorgen bereitete. Der Verfasser des Artikels war der Ansicht, die Bank werde die Krise trotz aller Unkenrufe überstehen, weil sie »die von ihr gehaltenen Staatsobligationen der Eurozonen-Peripherieländer behutsam abstoßen kann, indem sie sie einfach auslaufen lässt«. Was um alles in der Welt soll das bedeuten? Die Art, wie in dem Satz »abstoßen«, »halten« und »auslaufen« miteinander verknüpft werden, klingt ein wenig verrückt – als befänden wir uns mitten in einer schrägen Filmkomödie aus den dreißiger Jahren. Aber das trifft die Sache nicht ganz, denn tatsächlich ist hier von Folgendem die Rede: Die Bank besitzt zu viele  Schuldverschreibungen aus Euroländern wie Griechenland, Italien, Spanien und Irland. Aber statt diese Schulden zu verkaufen, wartet sie einfach das Ende ihrer Laufzeit ab und investiert dann in keine weiteren derartigen Schuldscheine. Auf diese Weise lässt sich der Berg an Schuldverschreibungen, die der Bank gehören, nach und nach abtragen, statt ihn durch einen Verkauf schnell zu reduzieren. Also kurz gesagt: Die gehaltenen Bestände werden behutsam abgestoßen, indem man sie auslaufen lässt.

Solcherlei Formulierungen gibt es mehr als genug. Wenn Sie hören, wie Finanzleute von dem Effekt sprechen, den die QE2 auf das M3 hat oder von den  angebotsseitigen Auswirkungen einer bestimmten Strategie oder dem Effekt der Rentenrendite-Retardierung – wenn sie über einen Skandal im Zusammenhang mit ETF-Luftbuchungen oder MBS-Papieren sprechen oder über Subprime-Hypotheken und REITs und CDOs und CDSs und die gesamte übrige Palette von Akronymen, bei denen die zugrundeliegende Realität genauso kompliziert ist, wie es klingt – nun, wenn Sie solche Formulierungen hören, können Sie leicht schon mal auf den Gedanken kommen, dass man Sie gerade über den Tisch ziehen will. Oder zumindest, dass hier eine Vernebelung der Tatsachen, eine absichtliche Verwirrung vor sich geht und dass all das Geschwafel es Ihnen unmöglich machen soll, den Inhalt des Gesprächs zu begreifen, es sei denn, Sie wissen schon im Voraus, worum es sich dreht.

Während der  Kredit-Krise verbreitete sich allgemein das Gefühl, dass viele der gebräuchlichen Begriffe für die damals angebotenen Finanzprodukte mit Absicht nebulös und verwirrend waren. Es war nur sehr schwer zu verstehen, warum jene »Credit Default Swaps«, von denen man zwei Minuten zuvor das erste Mal gehört hatte, plötzlich im Begriff stehen sollten, das globale Finanzsystem zum Zusammenbruch zu bringen.

Gewiss, manchmal ist die Sprache der Finanzwelt wirklich undurchsichtig und vernebelt die Tatsachen. (Eines meiner Lieblingsbeispiele findet sich unter den Finanz- Derivaten, die während der Finanzkrise 2008 eine Rolle spielten: eine »synthetische Vanilla-Mezzanine-RMBS-CDO«2 ). Oft genug ist die Sprache der Finanzwelt aber deshalb so kompliziert, weil auch die zugrundeliegenden Inhalte kompliziert sind und erst einmal erklärt und analysiert werden müssen, bevor man sie verstehen kann. Auch für einen noch so bemühten Außenseiter ist so eine Sprache nicht leicht zu durchschauen. Doch ist diese fehlende Transparenz nicht unbedingt von Natur aus schlecht oder böse, und man trifft sie durchaus auch in anderen Bereichen an – zum Beispiel in der Welt der Gourmets. So manchen Geschmack oder Geruch verpasst man einfach deshalb, weil man den Begriff dafür nicht kennt. Und wenn man den Geschmack oder Geruch dann plötzlich ganz bewusst erlebt und im selben Augenblick das Wort, das ihn bezeichnet, kennenlernt, bereichert dies sowohl den Gaumen als auch das eigene Vokabular.

Wer sich für Wein interessiert, lernt zum Beispiel auf diese Weise, wie man die einzelnen Traubensorten voneinander unterscheidet. Eines Tages ist man plötzlich in der Lage, den Geruch von Stachelbeeren im Sauvignon Blanc zu erkennen oder die Johannisbeernote im Cabernet. Man erkennt den Geschmack nach Kaugummi im Gamay oder den nach Kuhdung im Shiraz, und von diesem Augenblick an kann man die Rebsorte identifizieren und weiß, wovon die Leute reden, wenn sie sich über die jeweiligen Aromen unterhalten. Unser Gaumen und unser Vokabular erweitern sich zugleich; wir erlernen einen neuen Geschmack zur selben Zeit wie das neue Wort für diesen Geschmack. Sie werden zum Beispiel nie den Geruch einer Flasche verkorkten Weins vergessen, wenn man Sie einmal darauf hingewiesen hat (und Ihnen dann in diesem Moment klar wird, dass Sie in der Vergangenheit schon Tausende solcher Flaschen getrunken haben, immer in der Ahnung, dass daran etwas nicht stimmt, ohne aber genau sagen zu können, was.) Sie brauchen nicht einmal zu wissen, dass Sie gerade 2,4,6-Trichloranisol gerochen haben, um sich für immer an das Aroma eines verkorkten Weines zu erinnern.

Ich glaube, genau so funktioniert es: Während man die richtige Bezeichnung für etwas lernt, lernt man gleichzeitig auch, wie es schmeckt und wie man sich daran erinnert. Das klingt zunächst ganz wunderbar, nach etwas, von dem alle nur profitieren können, aber die Geschichte hat auch einen Haken. Wir können unser neues Vokabular dazu benutzen, uns mit anderen übers Essen oder über Rebsorten zu unterhalten. Wir können mit jedermann in einen Dialog treten. Das ist der gesellschaftliche Aspekt der Gourmetsprache. Sie ist für Leute, die Bescheid wissen, ungeheuer nützlich. Aber sie kann auch zum Problem werden. Die Begriffe und Verweise sind nur denjenigen verständlich, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben und über ein ähnliches Vokabular verfügen: Man bezieht sich auf eine gemeinsame Basis aus sinnlich Erlebtem und dazu passender Sprache. Menschen, die nicht daran teilhaben, werden wahrscheinlich denken, dass Sie mit Ihrem Gerede genau das von sich geben, wonach ein Shiraz riecht – und das ist nicht als Kompliment gemeint. Wenn man mehr über seinen eigenen Geschmack lernt, kann das auch zu einem Verlust führen: Während man die Bezüge zwischen Geschmack und Sprache immer besser zu erkennen lernt, geht man gleichzeitig das Risiko ein, sich mit immer weniger Menschen unterhalten zu können – nämlich nur noch mit denen, die wissen, was diese Geschmacksverweise tatsächlich bedeuten. Während Ihr Vokabular immer spezifischer, immer nützlicher und effektiver wird, wird es gleichzeitig auch immer exklusiver. Sie sprechen mit einem immer kleineren Kreis von Zuhörern.

Die Sprache der Finanzwelt funktioniert ganz genauso. Sie ist mächtig und effizient, hat aber auch einen ausschließlichen und ausschließenden Charakter. Diese beiden Eigenschaften sind eng miteinander verknüpft. Nehmen wir einmal das hypothetische Beispiel, das ich oben erwähnt habe: jemanden, der über den Effekt der QE2 auf das M3 spricht. Wenn ein Ökonom über dieses Thema redet, dann hat er oder sie nicht die Absicht, den Zuhörer zu verwirren oder auszugrenzen. Die Erklärung, was QE2 ist und wie sie funktioniert, ist tatsächlich unglaublich kompliziert. Solche Arten von Erklärungen gibt es öfter, wenn man es mit einem komplizierten Thema wie zum Beispiel einem naturwissenschaftlichen Problem zu tun hat. Man liest es und kann es währenddessen noch irgendwie nachvollziehen, man kann sich sogar noch fünf oder zehn Sekunden, nachdem man es gelesen hat, daran erinnern. Doch dann hat man es nach etwa zwei Minuten wieder vollkommen vergessen. Es bleibt einem nichts anderes übrig, als es noch einmal zu lesen, noch einmal nachzuvollziehen und noch einmal zu durchdenken. Und dann vielleicht ein weiteres Mal. Und wer weiß, vielleicht auch wieder und immer wieder. Das liegt nicht etwa daran, dass man dumm ist, sondern dass es sich um ein wirklich und wahrhaftig kompliziertes Thema handelt. In der Finanzwelt gibt es viele solcher Themen, bei denen einem die Erklärung immer wieder entgleitet, weil in einen Satz – und manchmal auch in ein einziges Wort – derart viele Erklärungen hineingepackt sind, die alle miteinander zusammenhängen.

In dem später folgenden Lexikon werden einige solcher Begriffe und Themen behandelt, aber für den Moment bleiben wir einfach mal bei dem QE2-Beispiel. Bei QE – »quantitative easing«, auf Deutsch  quantitative Lockerung – dreht es sich im Wesentlichen darum, dass eine Regierung ihre eigenen Schulden von anderen Marktteilnehmern zurückkauft. Und mit »Marktteilnehmern« sind Banken und Firmen und theoretisch – aber praktisch, glaube ich, eher seltener – auch Privatleute gemeint. Wenn die Regierung ihre Schulden zurückgekauft hat, erwächst ihr daraus zunächst kein großer Vorteil. Das ist so ähnlich, als würde man sich bei seinem Nachbarn Geld leihen und ihm dann exakt dieselbe Summe wieder zurückzahlen. Es hat sich nichts geändert. Der Trick dabei ist aber, dass die Regierung für den Rückkauf der Schulden neu geschaffenes elektronisches Geld benutzt – Geld, das vorher ganz einfach nicht existierte. Das ist so, als würde man die Zahl 100 000 in eine Tastatur tippen, und im nächsten Moment hätte man wie durch Zauberhand tatsächlich 100 000 Euro zusätzlich auf seinem Konto – neugeschaffenes Geld, mit dem man dann einfach seine Schulden zurückzahlen könnte. Genau das ist QE. Und QE2 ist einfach nur die zweite Variante der QE, die ins Leben gerufen wurde, weil die erste keinen ausreichend stimulierenden Effekt auf die Wirtschaft hatte. M3 hingegen ist eine Methode, mit der man die Geldmenge innerhalb einer Volkswirtschaft misst. Die Frage, wie viel Geld gerade im Umlauf ist, beansprucht einen ganz eigenen Zweig der Wirtschaftswissenschaften, und es gibt allein schon deshalb eine hitzige Debatte, weil man sich nicht einigen kann, wie wichtig dieser Wert überhaupt ist. Das alles steht dahinter, wenn vom »Effekt der QE2 auf das M3« die Rede ist. Die Finanzleute müssen das einander nicht erklären und auch nicht den Menschen, mit denen sie sich normalerweise unterhalten. Das liegt daran, dass jedem, der in dieser Welt zu Hause ist, diese Termini absolut vertraut sind. Außerdem sind die Erklärungen dieser Begriffe ziemlich komplex und anspruchsvoll, weshalb es für jeden, der die Sprache sowieso versteht, viel leichter ist, diesen Schritt einfach zu überspringen und zum nächsten Diskussionspunkt überzugehen. Und was die Mehrheit der Menschen betrifft – möglicherweise sogar die überwältigende Mehrheit –, die nicht so recht verstehen, worum es sich bei QE2 und M3 handelt: Die haben ohnehin schon längst aufgegeben. Sie nehmen nicht mehr wirklich an der Unterhaltung teil. Das sprichwörtliche Kind ist längst in den Brunnen gefallen.

Man darf hier aber eine Sache auf keinen Fall aus den Augen lassen. Wenn man die Sprache des Geldes benutzt, dann heißt das noch lange nicht, dass man damit auch eine bestimmte Moralvorstellung oder irgendein ideologisches Weltbild akzeptiert. Es heißt nicht, dass man das Gedankengut befürwortet, das in dieser Sprache enthalten ist. Die Finanzmenschen A und B, die sich gerade über den Effekt der QE2 auf das M3 unterhalten, können durchaus völlig gegensätzlichen ökonomischen Lagern angehören. Person A ist vielleicht ein freigiebig veranlagter, konsumfreudiger Keynesianer (keine Sorge, Sie werden noch erfahren, was das ist), nach dessen Ansicht die QE2 das Einzige ist, was die Wirtschaft noch vor einem Zusammenbruch apokalyptischen Ausmaßes bewahren kann. Person B dagegen könnte die Ansicht vertreten, dass die QE2 ein katastrophaler Fehler ist, der in den sicheren Bankrott führt, dass sie unter den Sparern bereits verheerende Schäden angerichtet hat und im Begriff steht, aus Großbritannien eine zweite Weimarer Republik zu machen. Person A findet darüber hinaus, dass die  Geldversorgung gemäß M3 kompletter  Bullshit ist, ein Paradebeispiel für »Voodoo-Ökonomie« in Reinstform, während B denkt, dass Disziplin bei der Kontrolle der Geldversorgung die letzte Überlebenschance der heutigen Demokratie und Zivilisation ist, in der Form, wie wir sie kennen. Mit anderen Worten: Sie sind in allen Diskussionspunkten vollkommen anderer Meinung und besitzen dennoch eine gemeinsame Sprache, die es ihnen erlaubt, mit Präzision und Überzeugungskraft zu debattieren. Die Sprache an sich beinhaltet nicht unbedingt schon einen Standpunkt. Sie eröffnet den Gesprächsteilnehmern erst einmal die Möglichkeit, sich auf eine ganz bestimmte Weise zu unterhalten.

Ich habe selbst schmerzlich erfahren müssen, wie schwierig es ist, diese Sprache zu erlernen – oder wenn Ihnen »schmerzlich« ein wenig zu melodramatisch klingt, dann sagen wir eben, dass es auf jeden Fall lange gedauert hat und ich mir die Sprache nur nach und nach und ganz für mich allein erschlossen habe. Ich bin auf dieses Thema während der Recherchen für einen Roman gestoßen. So etwas passiert einem Schriftsteller immer wieder – oder zumindest passiert es mir –, dass man sich nämlich mehr und mehr mit der Frage beschäftigt: Was genau steht eigentlich hinter dem Ganzen? Wie lautet die Geschichte hinter der Geschichte? Und dabei bin ich oft genug auf ein und dieselbe Antwort gestoßen: Es geht ums Geld. Ich begann mich mehr für die wirtschaftlichen Faktoren zu interessieren, die sich hinter den oberflächlich sichtbaren Lebenswirklichkeiten verbergen. Um dieses Interesse weiter zu vertiefen, schrieb ich zu dem Thema einige längere Artikel für die London Review of Books, an denen sich meine wachsende Neugier, aber auch mein zunehmendes Wissen ablesen lässt. Ich schrieb einen Artikel über Microsoft, einen über den Walmart-Konzern und einen über Rupert Murdoch. Und allmählich kam ich zu der Überzeugung, dass es eine Kluft in unserer Gesellschaft gibt. Die meisten Bücher oder Artikel zu diesem Thema wurden nämlich entweder von Wirtschaftsjournalisten geschrieben, die der Ansicht waren, dass alles, was mit der Wirtschaftswelt zu tun hat, absolut großartig ist, oder von wütenden Gegnern aus der politischen Linken, die überzeugt waren, dass alles Ökonomische so furchtbar ist, dass es nichts Interessantes dazu zu sagen gibt und es nur darum gehen kann, das Ganze erbittert anzuprangern. Beide Seiten wurden der Komplexität des Themas nicht gerecht und daher auch nicht dem, was an dieser Geschichte wahrhaft interessant war – oder zumindest war das mein Empfinden.

Zu diesem Zeitpunkt dachte ich bereits darüber nach, ein ganzes Buch zu dem Thema zu schreiben – ein Buch über die Unternehmenswelt und die Menschen, die hinter diesen Unternehmen stehen. Die Idee war, eine geheime Chronik der neuzeitlichen Welt zu schreiben, eine Chronik von deren Machthabern, und zwar anhand der Firmengeschichten der mächtigsten Unternehmen, die diese Welt geprägt haben – oder irgendetwas in der Art. Aber ich habe für gewöhnlich immer mehr als nur ein Buch in Planung, weshalb ich gleichzeitig damit beschäftigt war, einen recht umfangreichen Roman über London zu schreiben. Und dann verschmolzen die beiden Projekte miteinander, wie das eben manchmal passiert. Die Herausgeberin der London Review of Books, Mary-Kay Wilmers, rief mich an und schlug vor, ich könne doch auch mal einen Artikel über Banken statt immer nur über Unternehmen schreiben. Wie es der Zufall wollte, hatte ich genau darüber während der Arbeit an meinem Roman gerade nachgedacht. Es war mir klargeworden, dass man nicht über London schreiben kann, ohne dabei auch die  City of London zu behandeln, denn die Finanzwelt spielt im heutigen London eine zentrale Rolle. So kam es, dass ich die Sprache des Geldes erlernte – ich informierte mich über das Thema, weil ich darüber schreiben wollte. Das Ganze war jedoch beileibe kein Schnellkurs. Ich habe mich nicht sofort bis über beide Ohren in das Thema vertieft und versucht, jedes wissenswerte Detail über die Wirtschaftswelt in einem Rutsch in mich hineinzustopfen. Ich hielt einfach nur jahrelang die Augen offen, las Wirtschaftszeitschriften, Börsenblätter, den Wirtschaftsteil der Tageszeitung und verfolgte die Wirtschaftsnachrichten. Das Wichtigste dabei war, dass ich jedes Mal, wenn ich etwas nicht verstand – sei es einen Begriff oder einen Gedanken –, herauszufinden versuchte, was er bedeutete. Ich durchforstete das Internet oder schlug in dem immer größer werdenden Stapel von Büchern nach, die ich zu dem Thema besaß. Es mag ein bisschen wie in irgendeiner dämlichen Mystery-Fernsehserie klingen, wenn ich sage, es war eine Reise ins Unbekannte – aber das war es tatsächlich.

Dabei spielte eine wichtige Rolle, dass mein Vater selbst für eine Bank gearbeitet hatte. Was er beruflich tat, ähnelte jedoch nicht im Geringsten dem hippen, draufgängerischen, modernen Investmentbanking, das 2008 für den Zusammenbruch des globalen Finanzsystems sorgte. Bei den Bankgeschäften, mit denen mein Vater zu tun hatte, ging es im Wesentlichen um Anfangskredite für Kleinunternehmer. Als ich noch ein Kind war, geschah es während unserer gemeinsamen Autofahrten durch Hongkong immer wieder mal, dass er auf eine Fabrik oder Firma zeigte und sagte, er sei derjenige gewesen, der ihr das notwendige Startkapital zur Verfügung gestellt habe. In seiner Welt gab es keine synthetischen Vanilla-Mezzanine-RMBS-CDOs. Doch weil er in der Finanzwelt tätig war, wurde ich damit vertraut und bekam früh den Eindruck – und habe ihn auch heute noch –, dass es möglich ist, das Ganze zu begreifen und nachzuvollziehen. Aber viele andere Leute haben diesen Eindruck nicht. Sie sind schon im Vorhinein verwirrt, lassen sich abschrecken und glauben, der Versuch sei ohnehin hoffnungslos, irgendetwas von dem zu verstehen, was mit Geld oder Wirtschaft zu tun hat. Es ist fast so, als wohne diesem Thema eine magische Abstoßungskraft inne. Da erging es mir anders. Ich bekam sozusagen die Erlaubnis, das Ganze zu verstehen, sofern mir danach war. Vielleicht klingt das etwas seltsam, aber ich glaube, viele Menschen haben das Gefühl, eben diese Erlaubnis nie bekommen zu haben.

Doch auch mit Erlaubnis gab es Momente, an denen es mir vorkam, als versuchte ich, Chinesisch zu lernen – als müsste ich die Bedeutung des Ganzen Wort für Wort entschlüsseln. So konnte ein typischer Satz über das Finanzgeschehen etwa folgendermaßen lauten: »Obwohl der VPI nach wie vor deutlich positive Werte aufweist, sind einige Ökonomen besorgt, dass ein starker deflationärer Druck erkennbar werden könnte, sobald man die Effekte der nicht zur Kerninflation gehörenden Bereiche ausklammert.« Als ich mit meinem Versuch, die Welt des Geldes zu verstehen, noch ganz am Anfang stand, hätte ich wahrscheinlich gesagt: »Wie bitte?« Aber dann habe ich zunächst einmal herausgefunden, was der VPI ist und dann auch, warum es Ökonomen wichtig finden, dass er »deutlich positive Werte« aufweist. Und schließlich habe ich mich damit auseinandergesetzt, warum die  Deflation ihnen eine so höllische Angst einjagt und was mit den »nicht zur Kerninflation gehörenden Bereichen« gemeint ist und schließlich noch, was es bedeutet, wenn man deren Effekte aus der allgemeinen Inflationsrate ausklammert – und dann, Simsalabim, habe ich den Satz tatsächlich verstanden. Und nach Hunderten und Aberhunderten ähnlicher Beispiele habe ich schließlich gelernt, die Sprache des Geldes zu sprechen. Und ich hoffe, Sie werden das auch können, wenn Sie dieses Buch erst einmal gelesen haben.

Es war genau das Gefühl, etwas zu lernen und das Gelernte gleichzeitig weiterzuvermitteln, was das Thema Wirtschaft für mich als Schriftsteller so spannend machte. Ich wusste – sozusagen –, dass ich nicht mehr wusste, als ich wusste, und auch, dass ich bei weitem kein Experte auf dem Gebiet der Wirtschaft war. Zur gleichen Zeit hatte ich das Gefühl, dass ich dadurch näher bei den Lesern blieb, denen es so erging wie mir, die also ebenfalls neugierig und fasziniert und gleichzeitig etwas verwirrt waren und sich diese Inhalte nach und nach erarbeiten mussten. Ich sah mich in der Rolle eines Vermittlers – als eine Person, die zwischen den Experten und der breiten Öffentlichkeit stand. Ich wusste gerade genug, um diese Vermittlerrolle auszufüllen. Und gleichzeitig wuchs die ganze Zeit meine Kenntnis des Vokabulars und des dahinterstehenden Gedankenguts, ohne dass mir das völlig bewusst gewesen wäre. Ganz langsam und unaufhaltsam wurde ich zu »einem von ihnen«.

Wenn ich sage »einer von ihnen«, dann meine ich nicht die Art von Paranoia, wie David Icke sie mit seinen Verschwörungstheorien über grausame außerirdische Reptilienfürsten verbreitet. (Allerdings frage ich mich manchmal, wie Ickes Theorien wohl ankämen, würde er sie heute zum ersten Mal veröffentlichen, zu einer Zeit, da die tatsächliche globale Elite nicht ein Prozent, sondern vielmehr 0,1 Prozent oder sogar nur 0,01 Prozent der Menschheit ausmacht und immer reicher und reicher zu werden scheint und sich immer mehr abschottet – und zwar in einem immer schwindelerregenderem Tempo. Viele dieser riesigen Vermögen stützen sich auf die Art von Unternehmungen, die man in der Finanzsprache »extraktiv« nennt: Es geht einzig und allein darum, sich mithilfe von Geld und Macht ein noch größeres Stück vom Kuchen abzuschneiden, und nicht etwa darum, einen neuen Kuchen zu schaffen oder den vorhandenen zu vergrößern. Falls die Ultrareichen tatsächlich grausame außerirdische Reptilienfürsten wären, die nur auf die Erde gekommen sind, um den Rest der Welt auszubeuten, würden sie sich dann sehr viel anders verhalten?) Wenn ich sage »einer von ihnen«, dann meine ich damit diejenigen, die die Sprache des Geldes beherrschen. Und damit will ich nicht behaupten, dass ich immer alles verstehe. Aber ich verstehe genug, um zu wissen, welchen Teil ich nicht verstehe. Anders gesagt: Wenn mir ein Konzept oder eine Vokabel neu erscheinen, dann weiß ich, dass ich sie bis dahin noch nicht kannte. Ich kann mich noch sehr genau an den Moment erinnern, als mir klar wurde, dass ich zu »einem von ihnen« geworden war. Es geschah anlässlich eines Mittagessens, zu dem die Zeitschrift New Statesman eingeladen hatte und das mit einem Vortrag des damaligen Schatzkanzlers Alistair Darling verbunden war. Seine Rede war recht kurz, und im direkten Anschluss gab es zwei Frage-Antwort-Blöcke, einen von Robert Skidelsky und den anderen von Gillian Tett. (Dieses Format ist in der Wirtschaftswelt ziemlich beliebt: Jemand hält einen Vortrag und dann folgen zwei Fragen, über deren Inhalt man sich bereits im Voraus verständigt hat. Die Fragesteller geben jeweils ein paar erste gedankliche Reaktionen auf den Vortrag und lassen ihre Kommentare dann in einer Frage münden. Das ist eine recht gute Methode, um eine Diskussion in Gang zu bringen.) Darling wirkte damals sehr vernünftig und kompetent und auf eine beruhigende Weise gelassen. Zu der Zeit, 2009, befanden wir uns an einem Punkt, an dem viele Leute glaubten, die erste Phase der Kreditkrise sei eben erst vorbeigegangen, doch die Krise könne jeden Moment wieder aufflammen. Aber das war es nicht, woran ich mich bei der Veranstaltung hauptsächlich erinnere. Einen wahrhaft bleibenden Eindruck hinterließ vielmehr folgende, seltsam demoralisierende Erkenntnis: Ich dachte, oh Scheiße, ich habe das alles verstanden. Das ist eine Katastrophe! Ich bin zur anderen Seite übergelaufen. Ich bin jetzt einer von ihnen. Ich werde nie wieder über die Finanzwelt schreiben können.

Diese Schlussfolgerung stellte sich als Irrtum heraus – ich habe ganz offensichtlich weiter darüber geschrieben. Dennoch haben sich die Dinge ein wenig geändert. Vielleicht sollte ich das ja lieber nicht zugeben – aber über Wirtschaft zu schreiben fällt mir jetzt schwerer. Es ist nicht einfach, über den Graben hinweg zu kommunizieren, der zwischen den Geldmenschen und allen anderen klafft, jetzt, da ich weiß, wie präzise und kraftvoll und zweckdienlich diese Sprache sein kann. Es ist nicht sehr viel anders als zum Beispiel bei den Klempnern. Wenn sie sich über ihr Fachgebiet unterhalten, ist es für sie viel einfacher, sich nicht immer wieder unterbrechen zu müssen, um solche Sachen wie »Röhrensiphon« und »ABS-Pumpe« und »Orbitalschweißkopf« zu erklären. Dasselbe gilt für jede Art von Fachwissen. Aber stellen Sie sich vor, das Klempnerwesen würde zu einem landesweiten Problem werden, würde eine Art nationalen Notstand auslösen – wenn zum Beispiel das Abwassersystem im ganzen Land in sich zusammenbräche. Dann würden wir uns alle wehmütig an bessere Zeiten erinnern, als wir noch nicht gezwungen waren, die Klempnersprache zu beherrschen, mit der wir uns jetzt nolens volens vertraut machen müssen. Dennoch würden die Klempner sich untereinander nach wie vor in ihrer eigenen Fachsprache unterhalten, sofern wir das zulassen, einfach weil sie so effektiver arbeiten können. Die Wirtschaftsexperten sind da nicht anders. Ich habe das hautnah erleben dürfen, bei einer Veranstaltung, wie man sie sich interessanter und radikaler kaum vorstellen kann. Im Herbst 2010 nahm ich im irischen Kilkenny an »Kilkenomics« teil, dem – wie es die Veranstalter ankündigten – »weltweit ersten Wirtschaftscomedyfestival«.

Die Idee zu diesem Festival hatten zwei brillante Köpfe aus Irland – der Wirtschaftswissenschaftler und Journalist David McWilliams und der Theateragent Richard Cook. Der Gedanke, der dahinterstand, lautete ungefähr so: Die absolut unsinnige Entscheidung der irischen Regierung, für die Schulden der  insolventen irischen Banken geradezustehen, hatte das Land in den Bankrott getrieben. Die Folgen des wirtschaftlichen Zusammenbruchs trafen die Bevölkerung hart – es kam zu Arbeitsplatzverlusten, Lohnkürzungen, Steuererhöhungen, Emigration, einem dramatischen Anstieg der Selbstmordrate –, und es sah ganz danach aus, als würde alles nur noch schlimmer werden. Das als »Keltischer Tiger« bezeichnete irische Wirtschaftswunder war in eine Katastrophe umgeschlagen. Das ganze Land war von einer seltsamen Stimmung erfüllt, die einer Mischung aus Wut und Resignation noch am nächsten kam. Dabei wechselten sich diese beiden Extreme in einem solchen Tempo ab, dass man den Eindruck hatte, als gebe es eine neue, bizarre emotionale Zwitterform: die fuchsteufelswilde schicksalsergebene Resignation. Angesichts dieses Klimas kamen Cook und McWilliams – Letzterer war übrigens einer der wenigen irischen Ökonomen, die den Zusammenbruch vorausgesagt hatten – zu folgendem Schluss: Da einem ohnehin nur zwei Möglichkeiten blieben, auf die gegenwärtige missliche Lage zu reagieren, nämlich entweder zu lachen oder zu weinen, konnte man genauso gut auch darüber lachen. Und wenn man schon darüber lachte, warum dann nicht in Kilkenny, das ohnehin schon der Austragungsort eines berühmten internationalen Comedyfestivals war. So wurden die »Kilkenomics« geboren, das erste Festival der Welt, das Comedy und Wirtschaft miteinander verband (und übrigens noch immer jedes Jahr stattfindet). Bei jeder Veranstaltung des Festivals traten Komiker zusammen mit Fachmännern und -frauen aus der Wirtschaft auf. Der Gedanke dahinter war genial einfach: Die Komiker zwangen die Ökonomen, sich nicht mehr nur untereinander zu unterhalten, sondern sich stattdessen auch ans Publikum zu wenden. Es war absolut erstaunlich, wie gut das funktionierte; man konnte es an der Körpersprache der Teilnehmer ablesen, die auf der Bühne saßen. Wann immer die Wirtschaftsexperten in Fahrt gerieten, begannen sie unweigerlich und ohne es zu merken nur noch miteinander zu reden und sich vom Publikum abzuwenden. Sobald das geschah, riss einer der Komiker einen Witz, der meistens so etwas besagte wie: »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon zum Teufel ihr da gerade redet«, und alle lachten, woraufhin den Ökonomen bewusst wurde, wo sie gerade waren, und das Publikum wieder miteinbezogen.

Es war sehr aufschlussreich zu sehen, wie wichtig den Wirtschaftsexperten dieser Dialog mit dem Publikum war. Die Menschen im Publikum wollten unbedingt verstehen, wie es zu dieser Notlage hatte kommen können, und die Experten wollten es genauso unbedingt erklären. Und auch hier ist wieder das Sprachphänomen von größter Bedeutung. Die Tendenz der Wirtschaftswissenschaftler, sich während der Diskussion einander zuzuwenden, kam daher, dass sie dieselbe Sprache sprachen und diese dazu benutzen konnten, effektiv und effizient miteinander zu kommunizieren. Es war die Sprache und ihre verführerische Macht, die sie dazu veranlasste, sich vorwiegend miteinander zu unterhalten. Eine der Veranstaltungen bei Kilkenomics bestand aus einem brillanten Ratespiel. Dabei saßen sich zwei Teams gegenüber, die jeweils aus einem Komiker und einem Ökonomen bestanden. Der Moderator hielt eine Karte hoch, auf der ein wirtschaftlicher Fachbegriff stand, dessen Bedeutung der Komiker erraten musste. Dann erklärte der Wirtschaftsexperte, was der Begriff tatsächlich bedeutete. Das Ganze war äußerst amüsant, aber gleichzeitig auch sehr erhellend, weil es einem klarmachte, wie wichtig die Wirtschaftssprache tatsächlich ist.

Das soll aber noch lange nicht heißen, dass die Ökonomen immer alle einer Meinung waren – keineswegs. Die Sprache sorgte lediglich dafür, dass ihnen ein Vokabular zur Verfügung stand, mit dem sie ihre Differenzen auf den Punkt bringen konnten. Bei Meinungsverschiedenheiten auf dem Fachgebiet der Wirtschaft geht es meistens nicht allein um Formsachen – vielmehr beruhen sie oft auf tiefgreifenden Unterschieden in der ethischen Bewertung. Doch die moralische Dimension bleibt bei wirtschaftlichen Zusammenhängen immer unter der Oberfläche des Gegenstands verborgen, über den man diskutiert. Moral und Ethik sind zu grundlegend, zu fundamental, um in der Wirtschaftswelt direkt und unmittelbar thematisiert zu werden. Die Sprache des Geldes enthält keine implizite moralische Perspektive. Ein Urteil darüber, was richtig und was falsch ist, bleibt ausgespart. Dadurch kann diese Sprache auf Menschen, die eine ganz andere Art von Kommunikation gewohnt sind, manchmal recht provozierend, um nicht zu sagen schockierend nüchtern wirken. Da der größte Teil der Sprache, die im öffentlichen Raum gebraucht wird, durchaus implizite Moralvorstellungen und politische Untertöne enthält, bekommt dadurch die Finanzsprache einen unverwechselbar eigenen Ton. »Sozialschmarotzer« klingt ganz anders als »Anspruchsberechtigter«, was wiederum ganz anders klingt als »Armut trotz Erwerbstätigkeit« – und doch sind mit allen drei Begriffen dieselben Leute gemeint, nämlich diejenigen, die einen Anspruch auf die sogenannte »Jobseeker’s Allowance« (Unterstützung für Arbeitssuchende) haben, jene staatliche Hilfe, die früher noch Arbeitslosengeld hieß. Der neue Begriff sollte die Antragssteller motivieren und gleichzeitig die konservative Presse beschwichtigen. Der eine sagt »Asylant«, der andere »Flüchtling«, und das, was für den einen die »Pensionsansprüche« sind, bezeichnet der andere als »Altersruhegeld«. Aristoteles hatte sehr recht, als er sagte, der Mensch sei ein politisches Wesen – und unsere Sprache ist mit das Politischste an uns.