Inhalt

  1. Inhalt
  2. Titel
  3. Zu diesem Buch
  4. Widmung
  5. 1
  6. 2
  7. 3
  8. 4
  9. 5
  10. 6
  11. 7
  12. 8
  13. 9
  14. 10
  15. 11
  16. 12
  17. 13
  18. 14
  19. 15
  20. 16
  21. 17
  22. 18
  23. 19
  24. 20
  25. 21
  26. 22
  27. 23
  28. 24
  29. 25
  30. 26
  31. 27
  32. 28
  33. 29
  34. 30
  35. 31
  36. 32
  37. 33
  38. 34
  39. Epilog
  40. Danke
  41. Die Autorin
  42. Simona Ahrnstedt bei LYX
  43. Impressum

SIMONA AHRNSTEDT

Eine unerhörte Affäre

Roman

Ins Deutsche übertragen
von Corinna Roßbach

Zu diesem Buch

Graf Gabriel de la Grip ist einer der reichsten Männer Schwedens. Nach dem Tod seiner Brüder muss er sich der Verantwortung eines Erbes stellen, das er nie wollte. Die Gesellschaft gelangweilter Adliger ist ihm zuwider, viel lieber würde er weiterhin die Weltmeere besegeln, Handel treiben und leidenschaftliche Stunden mit schönen Frauen verbringen. Doch als er auf einem Fest der verarmten Magdalena Swärd begegnet, ist er trotz ihres steifen Auftretens fasziniert von der intelligenten und scharfzüngigen jungen Frau. Sie ist das Gegenteil der weltgewandten und lasterhaften Damen, deren Gesellschaft er sonst sucht. Magdalena hingegen verabscheut Männer wie ihn aus tiefster Seele. Männer, die sich nicht darum scheren, wem sie das Herz brechen oder ob sie eine Frau in den Ruin treiben. Doch dann bringt eine gedankenlose Wette die beiden dazu, einen gefährlichen Pakt zu schließen. Und obwohl sie sich dagegen wehrt, kann sich Magdalena Gabriels Anziehungskraft immer weniger entziehen. Je besser sie ihn kennenlernt, desto mehr begreift sie, dass sich hinter der Fassade des arroganten Grafen ein Mann verbirgt, der den Zwängen der Gesellschaft ebenso entfliehen möchte wie sie selbst. Eine leidenschaftliche Affäre beginnt, die ihrer beider Herzen in Gefahr bringt …

Für meine Freundinnen, in Liebe.

Ihr wisst, wen ich meine und ihr wisst, warum.

1

Stockholm, im Juli 1685

Magdalena Swärd saß im Wohnzimmer ihrer kleinen Mietwohnung und betrachtete die Wassertropfen, die von der Decke auf den Fußboden fielen. Der Regen trommelte auf die Dachschräge, und die Tropfen bildeten einen sich stetig vergrößernden Fleck zu ihren Füßen. In den übrigen Räumen der Wohnung war es genauso: im Schlafzimmer, im Dienstbotenzimmer und in der Küche. Mit jedem Tropfen wuchs der Fleck vor ihren Füßen und breitete sich unregelmäßig weiter aus. Seine Form glich den Umrissen eines Landes. Magdalena legte den Kopf schief.

Vielleicht Frankreich …

»Jetzt ist das Dach auch hier undicht«, sagte sie.

Ihr Dienstmädchen, Beata Jensdotter, starrte auf das herabtropfende Wasser, das sich weiter ausbreitete.

»Ich werde einen Eimer darunterstellen«, meinte sie.

»Werden nicht alle schon benutzt?« fragte Magdalena und überlegte, wie viele Eimer sie besaßen. Das Platschen der Regentropfen in den anderen Räumen war deutlich im Wohnzimmer zu vernehmen. Die Wohnung war sehr klein, selbst für eine alleinstehende Frau, die nur ein Dienstmädchen hatte. Der Regen, der durch das undichte Dach in Eimer, Schüsseln und andere Gefäße tropfte, war überall zu hören. Seit Tagen regnete es in Stockholm. Der Regen goss in Strömen über Straßen und Häfen und hämmerte auf die Dächer. Inzwischen war es schwer geworden, sich an etwas anderes als ständige Nässe und Kälte zu erinnern. Die Straßen und Gassen glichen lehm- und schmutzgefüllten Bächen. Wer nicht gezwungen war, das Haus zu verlassen, blieb drinnen. Wer hinausmusste – Angestellte, Dienstboten, Hafenarbeiter und alle anderen, die den komplizierten Mechanismus der Hauptstadt am Laufen hielten – dem blieb nichts anderes übrig, als sich damit abzufinden, dass ihm Dreck und Abfälle Kleidung und Schuhe verschmutzten. Es war ein Regen biblischen Ausmaßes. Alles war feucht. Auch drinnen. Jedenfalls dann, wenn man wie Magdalena direkt unter einem undichten Dach wohnte. Ganz oben, wo schräge Decken und dicke Balken das Möblieren erschwerten, aber auch die Miete niedrig hielten. Magdalena nahm ihr Taschentuch, kniete nieder und versuchte, einen Teil des Regenwassers aufzuwischen. Viele, viele Male hatte sie während des letzten Jahres ihr Mantra wiederholt: Es könnte schlimmer sein. Doch das undichte Dach und die Nässe erschienen ihr nun unerträglich.

Außerdem fror sie.

Gott, wie sie fror!

»Haben wir Tee?«, fragte sie hoffnungsvoll. Eine Tasse warmen Tees konnte Wunder vollbringen.

Doch Beata schüttelte den Kopf. »Und auch keine Milch«, fügte sie auf ihre gewohnt praktische Art hinzu. Sie wies mit dem Kinn auf Magdalenas Wischversuche und sagte: »Das Einzige, was Ihr damit bewirkt, ist, ein vortreffliches Taschentuch zu zerstören.«

Magdalena erhob sich. Sie legte das durchnässte Taschentuch in Beatas ausgestreckte Hand. »Gut, damit ist die Sache entschieden«, sagte sie. »Ich werde den Atlas verkaufen.«

Beata hob eine rotblonde Augenbraue. »Den großen ausländischen? Von Eurem Vater? Den Ihr unbedingt behalten wolltet?«

Doch die Sehnsucht nach einer Tasse warmen Tees konnte einen Menschen dazu bringen, seine letzten Prinzipien über Bord zu werfen. Magdalenas Leben hatte seine Höhen und Tiefen gehabt. Sie konnte sich an Zeiten erinnern, wo frisches Brot und trockene Kleidung eine Selbstverständlichkeit gewesen waren. Sie erinnerte sich auch an andere, deutlich härtere Zeiten. Aber jetzt schien es ihr, als sei es ihr noch nie schlechter gegangen. Der Atlas war das Letzte, was ihr noch von ihren Eltern geblieben war. Ansonsten waren ihre Mittel aufgebraucht. »Dafür kann ich eine Menge verlangen«, antwortete sie und setzte ein Lächeln auf, von dem sie hoffte, dass es beruhigend und selbstbewusst wirkte, als hätte sie einen Plan für die Zukunft. Einen Plan, der trockene Dielen, heißen, starken Tee und Lohn für eine viel zu loyale Dienstmagd beinhaltete. Beata hätte schon längst das sinkende Schiff verlassen und sich eine andere Stellung suchen können.

Das Dienstmädchen erwiderte nichts, sondern ging in die Küche und begann dort, mit Töpfen und Geschirr zu hantieren.

Magdalena blickte aus dem Fenster. Der Regen auf den bleieingefassten Fensterscheiben glich Tränen. Wütenden Tränen. Den Atlas hatte sie wirklich behalten wollen. Alle anderen Bücher ihres Vaters hatte sie nacheinander verkauft, doch sie hatte sich geschworen, das in Leder gebundene geografische Werk mit den vielen Abbildungen zu behalten. Sie schluckte. Würde sie den Tränen freien Lauf lassen, die so locker saßen, war sie sich nicht sicher, ob sie wieder zu weinen aufhören würde können. Magdalena betrachtete die Dächer und die Stadt außerhalb des dicken Fensterglases. Sicherlich gab es Dinge, die schlimmer waren, als ohne Milch und Tee auszukommen. Sie besaß ein Dach über dem Kopf – auch wenn es undicht war –, und sie war nicht allein. Sie hatte Beata, die treue, gute Beata. Dankbar sollte sie sein, und sich nicht selbst bedauern.

»Morgen gehe ich hin«, rief Magdalena in Richtung des Gescheppers.

Beata kramte noch eine Weile in der Küche herum und erschien dann mit einem verbeulten Topf, den sie unter der undichten Stelle platzierte. Zusammen betrachteten beide die Regentropfen, die munter weiter in das Gefäß plumpsten. »Das war der letzte Topf«, sagte Beata. »Jetzt muss es ganz einfach aufhören zu regnen.«

Magdalena lächelte. Das vergangene Jahr hatte Beata und sie zusammengeschweißt. Es hatte Zeiten gegeben, in denen eine Freundschaft mit einer Magd undenkbar gewesen wäre. Doch wenn es etwas gab, worüber sie in allem Elend aufrichtig froh war, so war es die Gemeinschaft mit Beata. Magdalena hob leicht den Kopf und lauschte. »Hast du gehört?«, fragte sie. Jemand kam die schiefe, steile Stiege hinauf, die zu ihrer Wohnung führte.

»Erwartet Ihr jemanden?«, fragte Beata. Die Schritte waren immer deutlicher zu vernehmen. Wer immer es war – er oder sie war eindeutig auf dem Weg zu ihnen.

»Nein«, antwortete Magdalena mit einem Kopfschütteln. Die Miete war bezahlt. Wenn man von ihrem Vermieter absah, der einmal im Monat kam und misstrauisch herumschnüffelte (es war unklar, wonach), pflegte sie keinen Besuch zu bekommen. Um ehrlich zu sein, war es geradezu niederschmetternd, wie wenige Leute sie besuchten.

Ein energisches Klopfen war zu hören. Magdalena blieb halb erwartungsvoll, halb beunruhigt im Wohnzimmer, während Beata zur Tür ging, um zu öffnen. Gemurmel war zu hören, und dann das Geräusch der Tür, die wieder geschlossen wurde. Beata kam zurück und überreichte ihr einen Brief. Er war fleckig und gewellt vor Feuchtigkeit. Magdalena brach das Siegel. Der Lack war zäh, und sie konnte die Umrisse des Wappens nicht identifizieren, das in die Lackmasse gedrückt worden war. Als sie den Brief öffnete, drang ein schwacher Parfümduft an ihre Nase. Sie schloss die Augen. Ihre Mutter hatte Parfüm benutzt, und als Kind hatte Magdalena es geliebt, auf ihrem Schoß zu sitzen und ihren Duft in sich aufzusaugen.

»Wartet der Bote auf eine Antwort?«, fragte Magdalena und schüttelte die plötzliche Kindheitserinnerung ab.

Beata schielte mit unverhohlener Neugier nach dem Brief und nickte. »Er wartet auf der anderen Straßenseite, bis er die Antwort mitnehmen kann. Offensichtlich eilt es.«

Magdalena las hastig den Inhalt des Briefes. Runzelte die Stirn. Las ihn erneut.

Beata sagte nichts, doch Magdalena spürte ihre Ungeduld und wusste, dass das Dienstmädchen vor Neugier fast platzte. Weil sie seit vielen Monaten mehr für einander waren als Herrin und Magd – es waren gegenseitige Fürsorge und gemeinsame Schicksalsschläge, die sie zusammenhielten und nicht ein Lohnverhältnis –, las sie Beata den Brief vor:

Verehrtestes, entzückendes Fräulein Magdalena Swärd,

Beata prustete los, und Magdalena lächelte entschuldigend. »So steht es hier, ich lese es bloß vor«, verteidigte sie sich. ›Entzückend‹ war nicht die gängige Beschreibung ihrer Person, das wussten sie beide.

»Ja, ja … Lest weiter!«, sagte Beate mit einer ungeduldigen Handbewegung.

Magdalena fuhr fort:

ich bitte Euch – nein, ich flehe Euch an – mir zur Hilfe zu kommen. Ich setze meine ganze Hoffnung in Euch. Meine ganze! Könnt Ihr mir die große Ehre erweisen, für einige Wochen im Sommer die Gesellschaftsdame meiner Tochter – Fräulein Venus – zu sein? Der hochwohlgeborene Graf de la Grip (der neue, nicht der alte, möge Gott sich seiner Seele erbarmen) hat durch seine Mutter mehrere Damen adeligen Geschlechts auf sein Schloss einladen lassen (und nicht etwa auf eines der kleinen, sondern auf das große Schloss, Wadenstierna). Venus ist eine der Auserwählten! Das ist eine wirklich große Ehre, wie Ihr sicher versteht. Doch es ging alles so schnell. Mein Gemahl und ich haben bereits unwiderrufliche Pläne. Oh weh, warum musste mir das passieren? Meine außerordentlich liebreizende Tochter kann nicht allein verreisen. Unmöglich! Und ich kann sie nicht begleiten. Die Qualen, die ich durchleide, sind unbeschreiblich. Venus ist das entzückendste Mädchen, das man sich vorstellen kann, doch wie alle Sechzehnjährigen braucht sie eine feste Hand, die ihr den Weg weist. Unsere Gesellschaftsdame, die wir für gewöhnlich engagieren, ist krank. Die andere, die ich gebeten habe, konnte nicht, was sehr egoistisch von ihr war. In meiner Verzweiflung erinnerte ich mich daran, dass meine gute Freundin Sally van der Meer (Ehre gebühre ihrem Angedenken) erwähnte, dass Ihr eine Frau von höchsten moralischen Grundsätzen seid.

»Jetzt verdreh nicht deine Augen, Beata«, sagte Magdalena. »Ich habe hohe moralische Ansprüche.«

»Ja. Das und noch vieles mehr«, antwortete Beata trocken. »Man bekommt sozusagen einiges mitgeliefert.«

»Sie kannte Sally«, sagte Magdalena und spürte eine Welle der Trauer in sich aufsteigen. Sally van der Meer war ihre Freundin gewesen. Sally hatte ihr ein Zuhause gegeben, als Magdalena völlig am Boden gewesen war. Trotz des großen Altersunterschieds hatten sie sich sehr nahegestanden. Leider war Sally im letzten Jahr verstorben.

»Ja«, sagte Beata sanft. »Fräulein van der Meer war ein Engel. Aber seid so nett und lest weiter!«

Venus muss den Grafen natürlich treffen. Man sagt, er beabsichtige, sich eine Ehefrau auszuwählen, und meine Tochter wäre selbstverständlich perfekt für ihn. Aber wie Ihr vielleicht wisst, ist die rechtschaffene Gräfinnenwitwe de la Grip recht melancholisch veranlagt. Die Schwestern des Grafen sind sicher tadellose Frauenzimmer, doch die eine ist hochschwanger, und die andere … Nein, mein Taktgefühl verbietet es mir, etwas über sie zu sagen. Ich bitte Euch! Ich flehe Euch auf Knien an!! Ihr versteht sicher, wie verzweifelt ich bin. Ich bin natürlich bereit, Euch für Eure Mühen zu entlohnen. Nennt mir nur einen (angemessenen) Preis.

Es grüßt Euch die dankbarste aller Frauen

Catharina Sophia Euphrosyne Freifrau von Tag und Nacht

Magdalena verstummte und legte den Brief in ihren Schoß.

Beata runzelte die Stirn. »Ist das alles?«

»Was, glaubst du, bedeutet das?«, fragte Magdalena, noch ganz benommen vom überschwänglichen Tonfall des Briefes.

»Ich denke, das sind gute Neuigkeiten«, antwortete das Dienstmädchen zögernd.

»Vermutlich«, sagte Magdalena, während sie den Brief drehte und wendete. Erneut legte sie ihn in den Schoß. Sah hinaus aus dem Fenster in den Regen und redete sich ein, dass sie dankbar sein sollte. Dass sie das Angebot, Gesellschafterin einer jungen Frau zu werden, nicht als Zeichen dafür sehen sollte, dass sie selbst niemals mehr heiraten würde. Selbst auf ewig unverheiratet zu bleiben.

»Was sind das für Leute?«

Magdalena überlegte, was sie über das herrschaftliche Geschlecht derer von Tag und Nacht wusste. Sie waren, wenn sie sich recht erinnerte, eine sehr alte und weitverzweigte Familie, eine der ältesten im Lande. »Sie gehören natürlich zum Hochadel«, begann sie und betrachtete die verschnörkelte Schrift des Briefes. »Ich glaube, ihre Ahnenlinie reicht bis zurück ins Mittelalter.« Graf war natürlich der edelste Adelstitel, doch viele der älteren schwedischen Freiherrengeschlechter waren äußerst vornehm und stolz auf ihre Abstammung. »Aber ich weiß nicht viel über sie. Wir haben uns nie getroffen.«

Das war nicht weiter verwunderlich. Auch als Magdalenas Leben noch unbeschwerter gewesen war, hatte der Hochadel mit seinen Grafen und Freiherren derselben unerreichbaren Sphäre angehört wie Könige und Engel. Sie hatte sich nie in diesen Kreisen bewegt. Sally van der Meer war eine Ausnahme gewesen: eine eigensinnige Aristokratin mit ausreichend Geld und Ansehen, um alles tun zu können, was sie wollte. Dazu gehörte auch, eine Freundschaft mit einer verarmten Frau ohne Familie oder Hoffnung zu pflegen, und diese bei sich wohnen zu lassen.

»Die liebe Sally … Denk nur, dass sie so gut über mich gesprochen hat«, sagte Magdalena und strich mit dem Finger über die Buchstaben des Namens ihrer Freundin im Brief. »Ich glaube, ohne sie wäre ich gestorben.« Sie blickte Beata an. »Und ohne dich natürlich.«

Beata machte wieder eine abwehrende Handbewegung. Sie mochte ein Herz aus Gold haben, aber sentimental war sie nicht. »Heißt das Mädchen wirklich Venus?«, fragte sie stattdessen skeptisch. »Welch ungewöhnlicher Name!«

»Ich glaube, sie haben alle ihre Kinder nach römischen Göttern und Göttinnen benannt«, sagte Magdalena, während sie sich an das wenige zu erinnern versuchte, was sie über das Geschlecht derer von Tag und Nacht wusste. »Sowohl der Freiherr als auch seine Frau sind sehr an Kunst und Mythologie interessiert.«

Im Grunde gab es nicht viel zu überlegen. Magdalena wollte sich nur noch etwas sammeln. Danach würde sie sich an den abgenutzten Schreibtisch setzen und ein Rückschreiben verfassen. Es gab nur eine denkbare Antwort.

»Die Bedenkzeit ist sehr kurz«, bemerkte Beata mit bekümmerter Stimme. Offensichtlich spürte das Dienstmädchen Magdalenas Vorbehalte und teilte sie.

»Ja«, stimmte Magdalena ihr zu. Die Bedenkzeit war kurz. Nur ein paar Stunden, um eine Entscheidung zu treffen, die so vieles verändern, so viele Dämonen wecken und sie in ganz neue Verhältnisse zwingen würde.

»Aber«, fuhr Beata fort, »es klingt, als würde die Freifrau dir eine Entlohnung anbieten. Ist die Familie reich?«

»Verglichen mit uns sind alle reich«, antwortete Magdalena trocken. Doch heutzutage konnte man nie wissen. Viele der vornehmsten Familien standen am Rande des Konkurses, auch wenn sie die Fassade aufrechterhielten. Diese Familie hatte vermutlich viele Töchter, die es galt zu verheiraten. Magdalena erhob sich, ging zum Tisch und nahm Papier und Tinte zur Hand.

»Warum lehnen sie die Einladung nicht einfach ab, wenn es so ungünstig ist?«, fragte Beata. »Wenn die Mutter ihre Tochter nicht selbst begleiten kann?«

Diese Eigenschaft schätzte Magdalena an Beata am meisten: Das Dienstmädchen war vollkommen unbeeindruckt, was Herkunft und gesellschaftliche Stellung betraf. Für Beata waren es die Handlungen, die einen Menschen ausmachten, nicht Geld oder Macht. Die Dienstmagd begegnete jedem, den sie traf, mit demselben Misstrauen, ob es nun der Gemüsehändler auf dem Markt war oder Sally van der Meers hochnäsige Verwandten, die sie einen Tag nach dem Tod der alten Dame hinausgeworfen hatten.

»Man sagt nicht Nein zu einer Einladung des Grafen de la Grip nach Schloss Wadenstierna«, erklärte Magdalena zerstreut. Nicht, wenn man eine Tochter im heiratsfähigen Alter hatte. Magdalena vermutete, dass die Einladung des Grafen beim Hochadel heiß begehrt war. Es gab viele mittellose Töchter zu verheiraten und viel zu wenige wohlhabende Junggesellen. Ein Graf konnte alt, fett und gemein sein. So lange er nur reich war, würde jede Familie darüber hinwegsehen. Magdalena atmete tief ein und zwang sich, sich zu entspannen. Was spielte es für eine Rolle? Die Welt des Adels war ihr zuwider. Die meisten Adeligen führten sich auf, als wären sie selbst kleine Götter. Und je höher ihre Stellung war, desto schlechter führten sie sich auf – das wusste Magdalena aus leidvoller Erfahrung.

»Ihr werdet also zusagen?«, fragte Beata. Die Dienstmagd nahm einen Staubwedel vom Kaminsims. Sie hatte eine Falte zwischen den Augenbrauen und kniff den Mund unzufrieden zusammen. Magdalena lächelte. Niemand konnte Beata vorwerfen, dass sie einen Hehl aus ihrer Stimmung machte oder dass sie illoyal war. Wie gerne hätte Magdalena gesagt, dass sie nicht gedachte, Anstandsdame für ein verwöhntes Mädchen zu spielen, das vermutlich mehr Geld als Verstand besaß und nichts kannte außer der eigenen privilegierten Welt. Dass sie nicht vorhatte, in die höhere Gesellschaft zurückzukehren. Sie hatte kein Bestreben, jemals wieder Grafen, Freiherren oder andere, die sich als etwas Besseres ansahen, zu treffen. Schon gar nicht in der Rolle der Bediensteten. Es war ihr bewusst, dass es hochmütig von ihr war, so zu denken. Am liebsten hätte sie mit den Achseln gezuckt und gesagt, dass der ganze Adel und die adeligen Herren ihr zum Hals heraushingen und sie ihr Geld und ihre arrangierten Ehen für sich behalten sollten. Aber falls das Leben Magdalena etwas gelehrt hatte, so war es, dass sie sich um ihr Wohlergehen selbst kümmern musste, auch wenn das bedeutete, den Stolz beiseitezuschieben und Anstandsdame einer Adeligen zu werden. Die Freifrau konnte von Gesellschaftsdame, fester Hand und Wegweisung reden, wie sie wollte. Magdalena wusste, was es im Grunde bedeutete. Der Brief mit der verschnörkelten Handschrift und den überschwänglichen Sätzen war ganz einfach das Angebot einer Anstellung. Es ging darum, einen Arbeitgeber zu bekommen und Befehlen zu gehorchen. Sich unterzuordnen.

»Ich sehe nicht, dass ich eine Wahl habe«, sagte Magdalena. Denn so war es. Noch ein paar Monate, und sie würde auf der Straße stehen. »Wir könnten uns Tee und die Miete leisten. Du würdest Lohn bekommen.«

»Aber da werden so viele Leute sein, so viele, die …« Beata unterbrach sich und wedelte wortlos weiter mit dem Staubwedel, doch Magdalena wusste, wovon sie sprach. So viele, die möglicherweise wussten, was letztes Jahr passiert war. Was Magdalena getan hatte.

»Bestimmt haben die Leute inzwischen Interessanteres, über das sie klatschen können«, sagte Magdalena, ohne selbst richtig daran zu glauben.

»Wahrscheinlich«, antwortete Beata, doch der Zweifel war deutlich in ihrer Stimme zu vernehmen.

»Wenn wir reisen, kann ich es mir leisten, dich zu entlohnen«, fuhr Magdalena bestimmt fort. »Du musst auch anfangen, an deine Zukunft zu denken.«

Und damit war es beschlossen. Magdalena war sich beinahe sicher, dass niemand über sie lästern würde. Jedenfalls nicht auf Wadenstierna, dort würde es bestimmt spannendere Dinge zu besprechen geben als einen Skandal aus dem Vorjahr. Sie musste ganz einfach daran glauben. Magdalena schüttelte den Kopf, während sie das Dienstmädchen betrachtete, das ein Tuch hervorgeholt und begonnen hatte, einen Kerzenständer so gründlich zu bearbeiten, dass der Belag sich zu lösen schien. »Du bist noch jung, Beata, du solltest daran denken, zu heiraten. Noch ist es nicht zu spät.«

Beata blickte Magdalena äußerst skeptisch an, ohne dabei mit dem Putzen aufzuhören. Sie schien der Ansicht zu sein, dass Magdalenas Leben an dem Tag in die Binsen gehen würde, an dem Beata anfing, an ihre eigene Zukunft zu denken. Vermutlich hatte sie damit sogar recht. So sehr Magdalena die betagte Sally van der Meer auch geliebt hatte, so war es doch Beatas Fürsorge gewesen, die sie das letzte Jahr hatte überleben lassen. Sally war liebenswert gewesen, doch nicht sonderlich praktisch veranlagt. Es war Beata, die dafür gesorgt hatte, dass Sallys geringe Hinterlassenschaft so lange reichte.

Magdalena beobachtete Beatas energische Bewegungen. »Wie gefällt dir eigentlich deine Arbeit?«, fragte sie. »Für mich zu arbeiten, meine ich?«

Auch wenn sie einander inzwischen sehr nahestanden, so waren sie doch – abgesehen vom nicht gezahlten Lohn – Arbeitnehmerin und Arbeitgeberin. Magdalena hatte bisher nicht länger darüber nachgedacht. Vielleicht verabscheute Beata es genauso, für sie zu arbeiten, wie sie den Gedanken hasste, in den Dienst der Freifrau zu treten. Diese Einsicht erschien ihr beinahe unerträglich.

Beata blickte sie an, als wüsste sie genau, was Magdalena gerade bewegte. Die Magd war desinteressiert an allem, was nicht in irgendeiner Form mit Seife, Wasser und Scheuerlappen zu tun hatte. Sie besaß aber ein messerscharfes Gespür für die abwegigsten Details. »Es ist nichts gegen eine ehrliche Arbeit einzuwenden«, sagte sie kurz, und Magdalena hatte nicht den Mut, weitere Fragen zu stellen, auf die sie nicht unbedingt eine Antwort haben wollte.

»Diese Familie de la Grip, also … Kennt Ihr sie?«, fragte Beata, während sie ein fadenscheiniges Sofakissen aufschüttelte, ein Halstuch zusammenlegte und ein unsichtbares Staubkorn mit Daumen und Zeigefinger auflas.

»Ich habe von ihr gehört«, antwortete Magdalena.

Es gehörte zur Allgemeinbildung, die vornehmsten Familien des Landes zu kennen. Magdalena wusste, wer die Familie de la Grip war, so wie sie wusste, wer Galileo und Molière waren: leuchtende Sterne am Himmel. »Man sagt, Schloss Wadenstierna sei sehr schön«, fuhr sie fort. »Und es soll eine Menge interessanter Einrichtungsgegenstände dort geben. Der alte Graf hat das Schloss damals ordentlich aufgerüstet, und scheinbar haben sie das meiste behalten können.« Viele adelige Familien waren in den letzten Jahren ruiniert worden. König Karl XI. hatte wegen Geldnöten des Reiches in einer umfassenden Reduktion einen Großteil der Güter und Ländereien des Adels zurückgefordert und auch erhalten. Doch Schloss Wadenstierna war offenbar verschont geblieben. Es hieß, es sei nie prächtiger gewesen. Tatsächlich wollte Magdalena das Schloss gerne sehen, dessen Geschichte bis ins Mittelalter zurückreichte.

»Wir werden jedenfalls etwas Luxus im Sommer erleben«, sagte Beata. Als Magdalena den sehnsuchtsvollen Unterton in ihrer Stimme bemerkte, versetzte es ihr einen Stich in der Brust. Beata war jung, gerade zwanzig, dachte sie beschämt. Sie sollte nicht ihre ganze Zeit mit einer verbitterten und verarmten Jungfer verbringen müssen. Ihnen beiden würde die frische Luft auf dem Land guttun. Die Stadt war grässlich im Juli, ob es nun in Strömen goss oder heiß war wie im Hades.

Vielleicht sollte Magdalena selbst darüber nachdenken, was sie gedachte, den Rest ihres Lebens zu tun. Wie sie die einsamen Jahre ausfüllen sollte, die sich vor ihr erstreckten. Vielleicht war das doch das Beste, was ihr passieren konnte. Sie brauchte ein Einkommen, war jedoch nicht dazu erzogen worden, praktische Arbeiten auszuführen. Außerdem war sie zu alt, um mit den jungen, tüchtigen Bauernmädchen konkurrieren zu können, die in die Stadt strebten und sich um Arbeit bewarben. Sie besaß keine praktischen Fähigkeiten und hatte keine Kontakte. Doch sie besaß Bildung, auch wenn sie auf keinem Gebiet spezialisiert war. Es war sehr aufmerksam von Sally gewesen, sie weiterzuempfehlen. Magdalena wusste, was sie zu tun hatte. Sie wollte das nicht, aber diese Tatsache spielte keine Rolle – in ihrem Leben war es nie wirklich darum gegangen, was sie sich wünschte. Eigentlich war er ein Segen, dieser Brief einer Frau, die sie noch nie getroffen hatte. Sally hätte sie ermuntert, diese Gelegenheit, sich selbst zu versorgen, zu ergreifen. Sie wäre verrückt gewesen, wenn sie es nicht tat.

Und ungeachtet dessen, was einige Menschen über sie sagten, war sie nicht verrückt.

»Vielleicht kann ich ja meinen Lebensunterhalt damit verdienen, die Gesellschaftsdame junger, heiratswilliger Frauen zu sein«, sagte Magdalena ironisch und versuchte, tapfer zu lächeln.

Sie würde ihre Antwort schreiben. Und dann würde sie nach Kleidern suchen, die zu einer Anstandsdame passten, einer alten Jungfer, einer Zofe. Hässliche, schlichte Kleider, die ihre Stellung verdeutlichten und dafür sorgten, dass man über sie hinwegsah. Das jedenfalls sollte nicht allzu schwierig sein. Die wenigen Kleider, die sie besaß, waren schlicht und hässlich.

Im Brief hatte es nicht ausdrücklich gestanden, aber Magdalena wusste sehr genau, worin ihr Auftrag bestehen würde: Ihre Aufgabe war, dafür zu sorgen, dass Fräulein Venus ihren guten Ruf während der Wochen voller Feste und Geselligkeit behielt. Dass das Mädchen einen guten Eindruck auf den Grafen und dessen Familie machte. Und vor allem, dass Venus nicht in die Gesellschaft unzuverlässiger Männer geriet.

Das war eine Aufgabe, für die sie gewissermaßen wie geschaffen war – wie Sally van Meer gewusst hatte. Wenn Venus’ Mutter jemanden benötigte, der die Falschheit der Männer durchschaute, so hatte sie ohne Zweifel die Richtige gefunden. Magdalena hatte auf bittere Weise erfahren müssen, was passieren konnte, wenn eine Frau allzu gutgläubig war.

Sie führte die Feder zum Papier und begann schnell und in eleganten Schwüngen zu schreiben, ohne mit der Tinte zu klecksen.

Sie hasste sie. Die Männer.