Der Autor

Klaus Schröer, Jahrgang 1966, ist Autor, Künstler und Spieleerfinder. Sein erstes Buch sorgte 1998 mit einer rein mathematischen Interpretation der Proportionsstudie nach Vitruv von Leonardo für internationales Aufsehen. Seine intensive Auseinandersetzung mit dem Genter Altar begann Ende der 90iger Jahre und führte ihn auf zahlreichen Expeditionen quer durch Europa an die Schauplätze der hier vorliegenden Geschichte.

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Klaus Schröer,

»Das Rätsel des Lammes - Der Genter Altar und sein Vorbild«

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2017 Klaus Schröer, www.klaus-schroeer.com

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 9783744804028

Umschlagbild: Ausschnitt aus der Tafel der Anbetung des Lammes des Genter Altars

Seite →: Klaus Schröer, Foto des Bodens im Zentrum der Grabkirche La Vera Cruz

Inhalt

  1. Teil - Die Entdeckung
    • Geschichte und Rang des Genter Altars
    • Inhalt und Bedeutung des Genter Altars
    • Der Schlüssel zum Himmlischen Jerusalem
    • Jan van Eyck - ein Diplomat auf Reisen
    • Die Grabkirche La Vera Cruz
    • Das Rätsel des Lammes
  2. Teil - Materialien und Anhang
    • Zeittafel
    • Großmeister des Vlies- und Christusordens
    • Stadtpläne von Brügge, Gent und Segovia
    • Begriffe in verschiedenen Sprachen
    • Literatur
    • Anmerkungen und Quellen
    • Abbildungshinweise

Vorwort für eine Entdeckung

Eine echte Entdeckung scheint keine unmittelbare Motivation zu haben. Sie geschieht wohl eher nachdem man sich lange auf etwas konzentriert hat und dann zum erstenmal entspannt. Diesem Buch liegt eine solche zu Grunde.

Als derjenige, dem diese Entdeckung widerfuhr, möchte ich nicht den Versuch unternehmen, der ihr innewohnenden Kraft des Neuen einen Weg vorzuschreiben. Vielmehr betrachte ich es als meine Pflicht, sie vorzustellen, indem ich ihre Existenz hinreichend begründe, um sie dann gut gerüstet und für die wichtigsten Fälle gewappnet in die Freiheit zu entlassen.

Im folgenden wird also jene Entdeckung am Genter Altar über 500 Jahre nach dessen Entstehung gelüftet werden, auf daß noch größere daraus hervorgehen mögen. Es werden die ersten Ansätze zur Interpretation erörtert und den eigenen der Leser reichlich Material zur Vertiefung geboten.

Dann wird das Schicksal unter Ihnen, verehrte Leserinnen und Leser, jene Personen finden, die die nächsten Schritte in diesem geistigen Abenteuer gehen werden.

Klaus Schröer

I. Teil

Die Entdeckung

Abb. 1: van Eyck, Genter Altar, 1432; Gent, St.Bavo: Werktagsseite (ca. 380 x 240 cm mit Rahmen) und Sonntagssseite (ca. 380 x 480 cm mit Rahmen)

Geschichte und Rang des Genter Altars

Der wohl in erster Linie von Jan van Eyck geschaffene Genter Altar (Abb. 1) stand schon früh in dem Ruf, das schönste Gemälde der Christenheit überhaupt zu sein1. Tatsächlich kommt man bei seiner Würdigung nicht an Superlativen vorbei.

Sein Format kann mit 380 x 480 cm im aufgeklappten Zustand (mit Rahmen) im Vergleich zu den Dimensionen der Buchillustration, aus deren Schattendasein er 1432 heraustrat, nur als monumental bezeichnet werden.

Schier unfaßbar muß vom heutigen Standpunkt auch die Plötzlichkeit wirken, mit der er in seiner Qualität und Quantität die noch junge und geradezu jungfräuliche Bühne der europäischen Malerei betrat. In kaum einem anderen erdenklichen Bereich der abendländischen Kultur scheinen der Beginn einer Entwicklung und deren Vollendung derart eng zusammenzufallen wie in diesem Kunstwerk. Man stelle sich vor, die Gebrüder Wright hätten nicht nur das erste Flugzeug, sondern direkt die Concorde erfunden.

Tatsächlich dürfte sich diese Entwicklung aber etwas sanfter vollzogen haben. In den Jahren 1566 und 1578 wütete in den Niederlanden die Bildersturmbewegung. Die im Sinne einer Götzenanbetung geäußerte Bilderkritik der Reformatoren Calvin und Zwingli hatte einen wütenden Mop aus Arbeitern, Handwerkern und Bauern generiert, dem in zahlreichen Städten Kunstwerke von unschätzbarem Wert zum Opfer fielen2. In der Kirche St. Bavo zu Gent, von jeher die Heimat des Genter Altars, wurden unter anderem prächtige Buntglasfenster (Schenkungen von Karl V. und Philipp II.) und die Krypta zerstört3. Den Genter Altar selbst hatte man zum Glück rechtzeitig abgebaut und ins Rathaus geschafft4. Seine malerischen Vorgänger in Form von älteren mit ölhaltigen Farben geschaffenen Tafelgemälden aber gingen hier und anderen Ortes für immer verloren. So steht uns das berühmte Werk van Eycks um so mehr als einsamer Monolith der abendländischen Kunst gegenüber.

Seine Maltechnik war revolutionär. Zum erstenmal gelang die Verwendung von ölhaltigen Farben in der „Naß-in-Naß“-Technik, die dem Maler im Gegensatz zur Arbeit mit den schnell trocknenden reinen Temperafarben die Modellierung feinster Übergänge zwischen Licht und Schatten erlaubt. Der große italienische Künstlerbiograph des 16. Jhd., Giorgio Vasari, sah daher in Jan van Eyck (und seinem Bruder) gar den Erfinder der Ölmalerei selbst, was in dieser Verallgemeinerung allerdings nicht zutrifft. Zum einen verwendete van Eyck keine reine Ölfarbe, sondern mischte Temperafarben etwas Öl bei (die eigentliche Ölmalerei setzte sich erst im 16. Jhd. durch)5. Zum anderen beschrieb bereits um 1100 der deutsche Mönch Theophilus Ölfarben in einem Traktat und beurteilte mit der langen Trocknungszeit ihren größten Vorteil als „lästig“6. Im 15. Jhd. schenkte das älteste Handbuch zur Maltechnik in mittelhochdeutscher Sprache, das Straßburger Manuskript, im letzten von drei Teilen den Malern Einblick in die Herstellung des magischen Materials7.

Das grundsätzliche Wissen um diese Technik dürfte sich in den Werkstätten der frühen niederländischen Malerei also bereits einer gewissen Verbreitung erfreut haben und im Aufbau der Gemälde der Zeit van Eycks sind nur geringe Unterschiede und somit wenig Werkstattgeheimnisse auszumachen. So wurden Eichetafeln als Bildträger mit Kreide und Tierhautleimung grundiert, die nach dem Trocknen zu einer völlig glatten Fläche poliert wurden, auf welcher dann die Vorzeichnung gesetzt und mit einer Schicht reinen Öls imprägniert wurde. Erst dann folgte die eigentliche Farbe in zunächst deckenden und dann immer transparenteren Schichten von hell zu dunkel mit Ausnahme der zum Schluß zu setzenden Lichtreflexe8.

Doch gerade die drei langen Jahrhunderte zwischen Theophilus und dem Genter Altar lassen erahnen, daß für die optimale Nutzung der ölhaltigen Farbe noch eine ganze Reihe von weniger spektakulären Erfindungen notwendig gewesen war, wie z.B. das Beimischen von Schwermetalloxiden, Blei und Zinn zur Aussteuerung der Trocknungszeit. Die Werkstatt der van Eycks scheint die erste gewesen zu sein, die zu jeder in diesem Zusammenhang entstandenen Herausforderung die richtige alchimistische Antwort fand.

Daß Jan van Eyck diesen materialtechnischen Vorteil auch wie kein zweiter zu nutzen wußte, sollte indes weniger verwundern. Die Üppigkeit seines malerischen und zeichnerischen Talents dürfte erst jenen Innovationsdruck erzeugt haben, der diese technischen Entdeckungen wahrscheinlich machte. Die Feinheit seines Striches gilt entsprechend bis heute zurecht als unerreicht.

Die Ursprünge der seit 1540 St. Bavo und zuvor Johannes dem Täufer als St. Jan geweihten Kirche, für die der Genter Altar geschaffen wurde, gehen mindestens auf das 10. Jhd. zurück, als Transmarus, Bischof von Doornik-Noyon, hier eine Kapelle den beiden gerade genannten Heiligen sowie dem St. Vedastus weihte9. Hier fanden bedeutende kirchliche Weihen der großen Herzöge von Burgund statt. Auch Karl V. wurde hier getauft10. Die Räumlichkeit beherbergte 1445 das siebte und 1559 auch das letzte von insgesamt 23 Kapiteln (Versammlungen) des mächtigsten Ritterordens des 15. und 16. Jahrhunderts, des legendären Ordens vom Goldenen Vlies11. Die vielen Wappenschilde an den Innenwänden künden noch von jenen Momenten, in denen in diesen Hallen die mächtigsten Menschen ihrer Zeit als Ordensgroßmeister mit Ihrer Ritterschaft aus Grafen, Prinzen und Königen zusammenkamen.

Die Stadt Gent (vom keltischen Wort Ganda, „Zusammenfluss“, „Mündung“) selbst war schon im 11. Jhd. nach Paris zur zweitgrößten Stadt in Nordeuropa avanciert. Ihre Textilmanufakturen machten sie zu einer Wirtschaftsmetropole, in der sich früher als an anderen Orten eine bürgerliche Kaufmannschaft als politische Macht etablierte, die sich oft gegen den Adel erhob12. 1384 fiel das Herz Flanderns wenn auch nicht widerstandslos an das in der Folge kometenhaft aufstrebende Burgund13, da die Erbin Margarete von Flandern Philipp den Kühnen von Burgund im St. Jan am 19. Juni 1369 mit gewaltigem Pomp geehelicht hatte14.

An dem Tag, an dem der Genter Altar geweiht wurde, war die Kirche wieder Schauplatz eines fürstlichen Spektakels. Isabella von Portugal hatte dem Herzog von Burgund Philipp dem Guten einen Sohn geschenkt, der zu diesem Zeitpunkt auch die Erbfolge führte (jedoch kurz darauf verstarb). Er wurde am 6. Mai 1432 in St. Jan getauft15. Dies ist das gleiche Datum, das die Widmungsinschrift des Genter Altars bzgl. seiner Weihe angibt.

Dieses wichtigste Indiz für eine Datierung wurde im Jahre 1823 bei Restaurierungsarbeiten im Berliner Kaiser-Friedrich Museum auf dem Rahmen der Werktagsseite des Altars entdeckt16.

Der nicht mehr gänzlich zu entziffernde lateinische Vierzeiler, dessen Echtheit bis zum heutigen Tag immer wieder angezweifelt wurde17, gibt Auskunft über die wesentlichen Eckdaten der Genese: den Auftraggeber, die Auftragnehmer und den Tag der Weihe. Der Text lautet mit den Ergänzungen und der entsprechenden Übersetzung nach Schneider:

Abb. 2: Der Genter Altar in der Vijd-Kapelle, St. Bavo, Gent

(PICTOR) (H)UBERTUS (E) EYCK. MAIOR QUO NEMO REPERTUS

INCEPIT PONDUSQ(UE) IOHANNES ARTE SECUNDUS (FRATER PERFUNCTUS) JUDOCI VIJD PRECE FRETUS VERSV SEXTA MAI. VOS COLLOCAT ACTA TVERI

(Der Maler) (H)ubert van Eyck - es wurde niemand gefunden, der größer war als er - begann (dieses Werk). Jan (sein Bruder), in der Kunst der zweite, vollendete die Aufgabe auf Wunsch des Jodocus Vijd. Mit dem letzten Vers lädt er euch ein, am 6. Mai das, was geschaffen wurde, zu betrachten18.

Die Buchstaben der letzten Zeile, welche lateinischen Zahlzeichen entsprechen, wurden in roter Farbe auf dem Rahmen aufgetragen und ergeben ein sogenanntes Chronogramm, d.h. durch ihre Addition ergibt sich die Jahreszahl, in diesem Fall 143219.

Bereits mit dieser Inschrift deutet der Genter Altar seinen rätselhaften Charakter an. Als Auftraggeber des Werkes wird nicht etwa ein Papst oder ein bedeutender Fürst genannt, sondern ein wohlhabender Kaufmann aus Gent namens Jodocus Vijd, der zusammen mit seiner Frau auf zwei Tafeln der Werktagsseite in einer betenden bzw. büßenden Haltung wiedergegeben ist (Abb. 3). Das Altarbild war Teil seiner umfassenden Stiftung an die Kirche St. Jan. Es war für die in diesem Zuge ebenfalls entstandene Vijd-Kapelle bestimmt, die als Familiengruft dienen sollte und deren Ausschmückung etwa 1420 begann20. Wer diese Kapelle, in der sich heute nur noch eine maßstabsgetreue Kopie des Altars befindet, in der wunderbaren Kirche St. Bavo zu Gent besucht, wird unweigerlich zu dem Schluß kommen, daß das Bildwerk mitseinen Flügeln für diesen Raum völligüberdimensioniert war (Abb. 2).

Ferner muß verwundern, daß Jan van Eyck seit 1425 und somit bereits sieben Jahre vor der Fertigstellung des Genter Altars in die Dienste des schon erwähnten Philipp des Guten (Abb. 4) trat. Es ist schwer vorstellbar, daß es der Souverän für gut befand, daß Jan van Eyck einen Großteil seiner Zeit für ein privates Fremdprojekt opferte, während er vom Fürsten ein festes Einkommen bezog. Erschwerend kam hinzu, daß der Vater Jodocus Vijds den Großvater Philipps des Guten betrogen hatte21 und somit das Verhältnis zwischen Jan van Eycks Auftraggeber und seinem Arbeitgeber aufgrund dieser Erbschuld eigentlich kein Gutes hätte sein dürfen, selbst wenn man der allgemein verbreiteten Annahme folgt, der Auftrag für den Genter Altar sei etwa 1420 erteilt worden22. Tatsächlich aber war das Zusammentreffen von Jodocus Vijd und Philipp dem Guten an diesem Tag in St. Jan kein unerwünschter Zufall. Vielmehr war Jodocus Vijd der Taufpate des kleinen Joos, den Philipp der Gute und seine Gemahlin an diesem Tag stolz dem versammelten Hof und internationalen Gästen präsentierten23.

Abb. 3: van Eyck, Genter Altar: Darstellungen des Stifterehepaares auf der Werktagsseite

Die Kunsthistorikerin Elisabeth Dhanens fand für diese Ungereimtheiten eine einfache Erklärung: Mit der Stiftung des Genter Altars versuchte Vijd das Vergehen seines Vaters zu sühnen24. Dieses in der damaligen Zeit nicht unübliche Vorgehen erklärt auch die Dimensionierung des Werkes, die Tätigkeit Jan van Eycks für beide Geldgeber und natürlich die Verknüpfung der Altarweihe mit der Taufe. Der Genter Altar sollte dem großen Herzog von Burgund gefallen - Jodocus Vijd war in erster Linie für die Bezahlung zuständig.

Abb. 4: Philipp der Gute, Herzog von Burgund; Ausschnitt aus Rogier van der Weyden: Widmungsbild, „Chroniques du Hainaut“ von Jasques de Guise, um 1448; Brüssel

Denkt man diese plausible Erklärung konsequent weiter, läßt sich folgern, daß sich die Aussöhnung zwischen Fürst und Kaufmann allerspätestens schon 1424/25 vollzogen haben muß. Denn von diesem Zeitpunkt weiß man, daß Jodocus Vijd bereits einer herzoglichen Delegation nach Zeeland angehören durfte25, was für seine Geschäfte sicherlich kein Übel war. Unterstellt man Jodocus eine gesunde Mischung aus Gier und Opportunismus, so dürfte er schon kurz nach dem Amtsantritt des Herzogs 1419 den Ausgleich gesucht haben, den er bei dessen Großvater nicht erzielen konnte26. Somit rückt auch die wahrscheinliche Auftragsvergabe für den Genter Altar um 1420 wie die gesamte Stiftung Vijds an St. Jan mit dem anzunehmenden Datum der Aussöhnung eng zusammen.

Die mit der Inschrift verbundenen Fragen sind damit aber noch nicht vom Tisch. Ausdrücklich wird ein zweiter Künstler erwähnt, der das Altarwerk begann und in dem man einen älteren Bruder Jans vermutet. Im Gegensatz zu Jan van Eyck ist über dessen Leben mit Ausnahme der Altarinschrift jedoch sehr wenig bekannt. Ein wichtiges Indiz seiner Existenz soll sich bis zu seiner Zerstörung im Jahre 1578 im Boden der Vijd-Kapelle befunden haben. Es war die mutmaßliche Grabplatte jenes Hubrecht van Eyck. Ihrer überlieferten Inschrift zu Folge starb dieser 142627. Der Anteil, den dieser potentielle Bruder an den Arbeiten zum Genter Altar noch vor seinem Dahinscheiden beisteuern konnte, wird wohl nie gänzlich zu klären sein.

Der malerische Schatz von St. Bavo sorgte vom ersten Tage seiner Präsentation an für größtes Aufsehen. In Windeseile verbreitete sich die Nachricht seiner Existenz wie der Bericht über ein Wunder. Wie ein solches muß das Werk vor allem auf das einfache Volk gewirkt haben, das keinerlei textlichen Zugang zum christlichen Glauben besaß. Bereits 1435 fand vor dem Altar täglich eine Messe statt28. 1458 machte sich Philipp der Gute dessen enorme Popularität zunutze: Die Sonntagsseite wurde auf einer dreistöckigen Bühne als lebendes Bild (ohne Adam und Eva) auf seinem Festzug durch Gent nachgestellt29. Schon 1591 - zu diesem Zeitpunkt hatte eine Stadt wie Hamburg etwa 20.000 Einwohner - mußte der Zugang zum Genter Altar wegen der enormen Besucherzahlen auf vier Termine pro Jahr beschränkt werden30. Nicht nur das gemeine Volk konnte sich für van Eycks Malerei begeistern. Große Künstler wie Albrecht Dürer31, Gelehrte und Geistliche zog es nach Gent.

Der Kunstschatz weckte aber, wie alles Weltliche von Wert, auch niedere Begehrlichkeiten auf den höchsten Ebenen der Gesellschaft. So wurde die über 500-jährige Geschichte des Genter Altars immer wieder von Versuchen überschattet, in seinen Besitz zu gelangen. 1557 plante der allmächtige Philipp II. (Abb. 5) ihn mit zu seiner Thronbesteigung nach Spanien zu nehmen und scheiterte am Widerstand der Erben Vijds. Der Altar blieb in Gent und Philipp II. ließ von seinem Hofmaler M. Coxcie in nur zwei Jahren (!) eine hervorragende Kopie erstellen, für die er den Künstler mit 4000 Dukaten, dem doppelten des ausgemachten Preises32, fürstlich und ohne Rücksicht auf die ruinösen Staatsfinanzen entlohnte. Wohl aus Wut über die Reaktion der Besitzer des Originals ließ er die Tafeln mit den Darstellungen des Stifterpaares vom Künstler in der Kopie durch Evangelisten ersetzen33.

Abb. 5: Philipp II, Alcazar, Segovia

Philipp II. unternahm 1578 einen erneuten Zugriff auf das Original. Sein Versuch, das Bildwerk Elizabeth I. von England zum Geschenk zu machen, scheiterte aber ebenfalls.

1640 mußte der Genter Altar aus höchster Gefahr gerettet werden, nachdem das Dach des Chores und die kleine Campanile in Brand geraten waren34.

Im Zuge der Revolutionskriege wurden die Mitteltafeln des Genter Altars 1794 von französischen Republikanern nach Paris in das Musée Central d‘Art verschleppt35. Nachdem Napoleon in Waterloo verlor, kamen sie nach Gent zurück36.

1822 fing der St. Bavo erneut Feuer. Neben dem Dach des Chorumgangs und der Vernichtung der Seitenkapellen wurden die Mitteltafeln des Altars in Mitleidenschaft gezogen, was eine Restauration im 19. Jhd. notwendig machte37.

Bereits 1821 hatte die preußische Krone über den Belgier Nieuwenhuys und den Engländer Solly die Flügeltafeln ohne Adam und Eva (und deren Rückseiten)38, die zuvor schon der prüde Kaiser Joseph II. 1781 wegen ihrer Anstößigkeit hatte entfernen lassen, erworben.

Die Mitteltafeln hat man während des 1. Weltkrieges in Gent versteckt39. Als im Jahre 1920 aufgrund einer eigens getroffenen Regelung im Versailler Vertrag die preußischen Tafeln wieder nach Gent zurückgelangten, war der Altar zum ersten mal seit 140 Jahren wieder komplett zu bewundern40.

Nun folgte der mysteriöseste Raub der Kunstgeschichte: In der Nacht des 11.April 1934 wurden die Flügeltafeln des Hl. Johannes und der Gerechten Richter aus dem Genter Altar gestohlen. Daraufhin erhielt der Bischof von Gent diverse Erpresserbriefe, in denen ein Lösegeld von 1 Mio. belgischer France für die Herausgabe der Tafeln verlangt wurde41. Lediglich die Johannestafel wurde von dem oder den Erpressern im Zuge der Lösegeldforderung am Brüsseler Nordbahnhof deponiert und konnte so wieder an ihren ursprünglichen Ort zurückgebracht werden. Die Tafel der Gerechten Richter blieb bis zum heutigen Tag trotz zum Teil aberwitziger Versuche ihrer Wiederauffindung (wie z.B. dem Sprengen von Brücken) verschollen und wurde durch eine Kopie von J. van der Veken ersetzt.

Abb. 6: Arsène Goedertier

Nachdem Arsène Goedertier (Abb. 6), ein wohlhabender belgischer Finanzmakler und Politiker, Ende 1934 auf dem Sterbebett seinem Notar gestanden hatte, nur er wisse, wo die verschollene Tafel der Gerechten Richter sei, aber ohne deren Verbleib zu klären, erwuchs die räuberische Erpressung zu einem der größten Skandale der belgischen Geschichte. Es kam zu einigen Todesfällen im Umfeld Goedertiers. Ferner gerieten hohe Richter und selbst Minister in den Verdacht, mit der Geschichte etwas zu tun zu haben. Goedertier verfügte bei seinem Dahinscheiden über ein Vermögen von drei Millionen belgischen France (eine Lösegeldzahlung ist nie erfolgt). Seine Rolle dürfte nicht die eines Täters gewesen sein – vielmehr spricht einiges dafür, daß er den Tätern auf die Spur gekommen war.

Die Umstände des Verbrechens wurden bis heute nicht geklärt. Die Ereignisse von 1934 werden aber nicht wie bei vielen Veröffentlichungen im Zusammenhang mit dem Genter Altar im Zentrum dieses Buches stehen, wenngleich eine Wiederauffindung der Gerechten Richter natürlich zutiefst wünschenswert wäre. Es wird um ein älteres und fundamentaleres Geheimnis des Kunstwerks gehen42.

Nachdem der zweite Weltkrieg ausgebrochen war, geriet der Genter Altar ins Visier der deutschen Nationalsozialisten. 1940, während der Besetzung Belgiens, scheiterte ihr Versuch, das Kunstwerk unter Kontrolle zu bringen. Genter Bürger hatten in einer Nacht- und Nebelaktion den Altar ins Schloß Pau im unbesetzten Frankreich nahe der spanischen Grenze in Sicherheit gebracht. 1942 wurden die Tafeln schließlich doch von dort nach Neuschwanstein (Abb. 7) geschafft43 - auf persönlichen Befehl Adolf Hitlers und mit Duldung der Behörden der Vichy-Regierung44. Man muß sich als kunstbegeisterter Mensch fragen, was wohl das größere Verbrechen war: Die Aneignung des Altars selbst oder die Geschmacklosigkeit bei der Wahl seiner neuen Herberge? Nachdem auch das Märchenschloß in die Reichweite der Realität alliierter Bomber gelangt war, wurden die Tafeln zusammen mit anderer Beutekunst nach Altaussee in eine Salzmine gebracht, wo sie später von den Bezwingern des Deutschen Reichs sichergestellt wurden45.

Abb. 7: Beherbergte zeitweilig den Genter Altar: Schloß Neuschwanstein

Der mysteriöse Raub der Gerechten Richter, das nachweislich starke Interesse des deutschen Kunstschutzes und der SS-Organisation Ahnenerbe nährten jene Legende, nach der der Genter Altar nichts geringeres beinhalten solle, als einen Hinweis auf den Verbleib des Heiligen Grals46.

Seit 1945 kann man den Genter Altar wieder dort bewundern, wo er hingehört: im St. Bavo zu Gent47. 1952 wurde er in den zentralen Laboratorien der belgischen Museen unter Leitung von Prof. Dr. P. Coremans gereinigt und restauriert48.

1986 wurde er aus Sicherheitsgründen und Platzmangel von der Vijd-Kapelle in die ebenfalls zu kleine Villa-Kapelle des Doms verlegt49.

Es ist eine böse Ironie des Schicksals, daß der Genter Altar all die Wirren und Gefahren seiner Geschichte zwar unbeschadet überdauerte (abgesehen von der Tafel der Gerechten Richter), aber ausgerechnet beim Versuch seiner Pflege möglicherweise eine ganze Tafel verloren ging. So berichtet M. van Vaernewijk 1568 davon, daß bei Restaurierungsarbeiten im Jahre 1550 eine mit Wasserfarben gemalte Predella mit Darstellungen der Hölle zerstört wurde. Er benennt auch mit Lancelot Blondeel und Jan van Scorel die Schuldigen50. Bis heute ist ungeklärt, ob diese Schilderung ernst zu nehmen ist oder ob es hier nur darum ging, zwei Kollegen als Dilettanten oder Kunstverächter zu brandmarken.

Die Predella ist ein verzierter Unterbau eines Flügelaltars. Hier war wohl eine Bildtafel gemeint, die sich unterhalb der Mitteltafeln der Sonntagsseite befand und somit im geschlossenen wie geöffneten Zustand des Altars sichtbar gewesen wäre. Zahlreiche andere Altäre vor und nach van Eyck weisen genau so eine Tafel auf, wie z.B. der Isenheimer Altar (Abb. 8). Ferner wäre es gestalterisch durchaus folgerichtig, die Darstellung der Hölle mit einem minderwertigeren Material zu erstellen, wie die anderen Tafeln, die edle Bildgegenstände zeigen. Die Möglichkeit der Wahrhaftigkeit des Berichtes ist daher zu erwägen.

Abb. 8: Mathis Grünewald, Isenheimer Altar mit Predella, 1506-1515, Antoniterkloster, Colmar

Abb. 9: van Eyck, Genter Altar: Werktagsseite

Inhalt und Bedeutung des Genter Altars

Die altniederländische Malerei, zu deren wichtigsten Vertretern neben Jan van Eyck (um 1390-1441) und dessen Schüler Petrus Christus (ca. 1410/1420-1473), Robert Campin (ca. 1375-1444) und dessen Schüler Rogier von der Weyden (1400-1464), sowie Hugo van der Goes (1440-1482), Hans Memling (um 1435-1494) und Hieronymus Bosch (1450-1516) zu zählen sind, entwickelte sich aus der Buchillustration heraus. So werden auch einige Miniaturen zu einem Stundenbuch (eine nach Andachtszeiten geordnete Sammlung von Gebeten) als Jugendwerk Jan van Eycks betrachtet1. Die unglaublich feinen malerischen Strukturierungen der Bildgegenstände in van Eycks erhaltenen Tafelbildern, die zum Teil mit einzelnen Pinselhaaren gemalt worden zu sein scheinen, läßt noch den geübten Miniaturmaler erkennen.

Der Genter Altar als sein ältestes erhaltenes und datiertes großformatiges Werk ist im besonderen Maße als Illustration religiöser Texte zu verstehen, wenngleich das für die Kunst dieser Zeit ohnehin zu gelten scheint. Die Konzeption eines solch komplexen Gegenstandes war hauptsächlich eine theologische Aufgabe und nicht selten wurde sie, wie beim Isenheimer Altar des Mathis Grünewald bezeugt, nicht vom Maler selbst, sondern von einem belesenen Geistlichen, im genannten Fall Guido Guersi2, vollzogen. Beim Genter Altar gibt es keine konkreten Hinweise auf einen solchen Berater. Auch wenn Jan van Eyck höchst gebildet war, worauf seine noch näher zu beleuchtenden diplomatischen Tätigkeiten schließen lassen, dürfte er wohl inhaltliche Unterstützung erfahren haben.

Als Quellen dienten dabei nicht nur das Alte und Neue Testament als solche, sondern der gesamte damit im Zusammenhang stehende theologische Überbau, wie z.B. die Werke der Kirchenväter und die Heiligengeschichte. Ferner floßen historische, politische und zeitgeschichtliche Bezüge ein.

Die Zugehörigkeit zur Bibel der für den Genter Altar wesentlichen Offenbarung des Johannes war lange fraglich und in den Gottesdiensten der Ostkirchen wird sie bis auf den heutigen Tag gemieden3. Noch Martin Luther hatte Bedenken4, sie in seine deutsche Übersetzung aufzunehmen.

Abb. 10: Johannes, der Apokalyptiker, Ausschnitt Werktagsseite

Die Werktagsseite

Der Autor des also nicht unumstrittenen, aber seit seiner Entstehung Ende des 1. Jhd zugleich höchst populären Textes ist auf der Werktagsseite (Abb. 9) in der untersten Reihe neben der Stifterfrau Elisabeth Boorluut als steinerne Figur abgebildet.

Er hält einen durch Schlangen gekennzeichneten Giftkelch in der Hand, der seine visionäre Kraft verkörpert (Abb. 10). Direkt links neben dem Apokalyptiker, in dem man zu dieser Zeit auch den Evangelisten Johannes und somit den Namenspatron des Stifters Jodocus Vijd sah5, und in gleicher Darstellungsweise findet sich Johannes der Täufer, der sich durch das Lamm in seinen Armen ausweist (Abb. 9). Als Namensgeber der Kirche St. Jan (und als Patron der Stadt Gent)6