Autorin:
Anne Jacobs lebt und arbeitet in einem kleinen Ort im Taunus, wo ihr die besten Ideen für ihre Bücher kommen. Unter anderem Namen veröffentlichte sie bereits historische Romane und exotische Sagas, bis ihr mit »Die Tuchvilla« der große Durchbruch und der Sprung auf die Bestsellerliste gelang.
Die Tuchvilla
Augsburg, 1913. Die junge Marie tritt eine Anstellung als Küchenmagd in der imposanten Tuchvilla an, dem Wohnsitz der Industriellenfamilie Melzer. Während das Mädchen aus dem Waisenhaus seinen Platz unter den Dienstboten sucht, sehnt die Herrschaft die winterliche Ballsaison herbei, in der Katharina, die hübsche, jüngste Tochter der Melzers, in die Gesellschaft eingeführt wird. Nur Paul, der Erbe der Familie, hält sich dem Trubel fern und zieht sein Münchner Studentenleben vor – bis er Marie begegnet …
Die Töchter der Tuchvilla
Augsburg, 1916. Die Tuchvilla, der Wohnsitz der Industriellenfamilie Melzer, ist in ein Lazarett verwandelt worden. Die Töchter des Hauses pflegen gemeinsam mit dem Personal die Verwundeten, während Marie, Paul Melzers junge Frau, die Leitung der Tuchfabrik übernommen hat. Da erreichen sie traurige Nachrichten: Ihr Schwager ist an der Front gefallen, ihr Ehemann in Kriegsgefangenschaft geraten. Während Marie darum kämpft, das Erbe der Familie zu erhalten und die Hoffnung an ein Wiedersehen mit Paul nicht aufzugeben, kommt der elegante Ernst von Klippstein in die Tuchvilla. Und wirft ein Auge auf Marie …
Das Erbe der Tuchvilla
Augsburg, 1920. In der Tuchvilla blickt man voller Optimismus in die Zukunft. Paul Melzer ist aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück und übernimmt die Leitung der Tuchfabrik, um der Firma wieder zu altem Glanz zu verhelfen. Seine Schwester Elisabeth zieht mit einer neuen Liebe wieder im Herrenhaus der Familie ein. Und Pauls junge Frau Marie will sich einen lang gehegten Traum erfüllen: ihr eigenes Modeatelier. Ihre Modelle haben großen Erfolg, doch es kommt immer wieder zu Streitigkeiten mit Paul – bis Marie schließlich die Tuchvilla mit den Kindern verlässt …
Anne Jacobs
Die Tuchvilla-Saga
Band 1-3
Die Tuchvilla
Die Töchter der Tuchvilla
Das Erbe der Tuchvilla
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by Blanvalet Verlag,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion »Die Tuchvilla«: Miriam Vollrath
Redaktion »Die Töchter der Tuchvilla«: Angela Kuepper
Redaktion »Das Erbe der Tuchvilla«: René Stein
Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign
»Die Tuchvilla« (l.o.):
nach einer Originalvorlage von © Johannes Frick
Umschlagmotive: Arcangel Images (Susan Fox; Yolande de Kort)
»Die Töchter der Tuchvilla« (l.u.):
nach einer Originalvorlage von © Johannes Frick
Umschlagmotive: © Yolande de Kort/Trevillion Images;
Arcangel Images (Margie Hurwich; Jill Battaglia);
Shutterstock.com (June Marie Sobrito; satit_srihin; suns07butterfly)
»Das Erbe der Tuchvilla« (r.u.):
Umschlagmotive: Richard Jenkins Photography und Shutterstock.com (CCat82;
Potapov Alexander; Botond Horvath; Ysbrand Cosijn)
ISBN: 978-3-641-28661-3
V001
www.blanvalet.de
ANNE JACOBS
Roman
AUGSBURG, HERBST 1913
Nachdem sie das Jakobertor hinter sich gelassen hatte, waren ihre Schritte immer langsamer geworden. Eine andere Welt tat sich hier am östlichen Stadtrand auf. Nicht beschaulich und eng wie die Gässchen in der Unterstadt, sondern lärmend und gewaltsam. Wie mittelalterliche Festungen lagen die Fabrikanlagen in den Wiesen zwischen den Bachläufen, jede von einer Mauer umgeben, damit kein Unbefugter das Gelände betrat und kein Arbeiter der Aufsicht entging. Innerhalb dieser Festungen vibrierte und lärmte es ohne Pause, Schornsteine schickten schwarzen Rauch in den Himmel, in den Hallen ratterten die Maschinen Tag und Nacht. Marie wusste aus Erfahrung: Wer hier arbeitete, der wurde zu einem grauen Kieselstein. Taub vom Dröhnen der Maschinen, blind vom aufwirbelnden Staub, stumm von der Leere im Hirn.
Es ist deine letzte Chance!
Marie blieb stehen und blinzelte gegen die Sonne zu Melzers Tuchfabrik hinüber. Einige Fenster blitzten im Morgenlicht, als brenne dahinter ein Feuer, die Mauern waren jedoch grau, und in ihrem Schatten erschienen die Hallen fast schwarz. Die Villa auf der anderen Seite aber leuchtete in rotem Backstein, ein traumschönes Dornröschenschloss inmitten eines herbstbunten Parks.
Es ist deine letzte Chance! Warum hatte Fräulein Pappert das gestern Abend dreimal wiederholt? So, als bliebe für Marie nur Gefängnis oder Tod, falls sie auch jetzt wieder fortgeschickt würde? Sie fasste das schöne Gebäude genauer ins Auge, aber es verschwamm vor ihrem Blick, vermischte sich mit Wiesen und Bäumen des Parkgeländes. Kein Wunder, sie war noch schwach von dem Blutsturz vor drei Wochen, und dann hatte sie heute früh vor Aufregung kaum etwas gegessen.
Also gut, dachte sie. Es ist wenigstens ein hübsches Haus, und ich werde nicht nähen müssen, sondern andere Dinge tun. Und wenn sie mich hinüber in die Fabrik schicken, dann laufe ich einfach fort. Niemals wieder plage ich mich zwölf Stunden am Tag mit einer verölten schwarzen Nähmaschine herum, bei der ständig der Faden reißt.
Sie rückte das Bündel auf ihrer Schulter zurecht und ging langsam zum Eingang des Parkgeländes. Das altmodische Eisentor aus ineinander verschlungenen Blütenranken stand einladend offen. Der Fahrweg wand sich durch den Park und endete in einem gepflasterten Platz, in dessen Mitte sich eine kreisrunde Blumenrabatte befand. Niemand war zu sehen, aber aus der Nähe wirkte die Villa noch einschüchternder, besonders der Säulenvorbau, der sich über zwei Etagen erhob. Die Säulen stützten einen Balkon mit steinerner Einfassung – vermutlich hielt der Fabrikherr von hier oben am Silvesterabend eine Rede an seine Arbeiter. Die starrten ehrfürchtig zu ihm und seiner in Pelze gehüllten Gattin hinauf. Vielleicht bekamen sie ja Schnaps oder Freibier an den Feiertagen. Sekt ganz bestimmt nicht, den Champagner trank der Fabrikherr mit seiner Familie.
Ach, eigentlich wollte sie nicht hier arbeiten. Wenn sie hinauf in die davonziehenden Wolken schaute, schien es, als bewegte sich das hohe Backsteingebäude auf sie zu, um sie unter sich zu zermalmen. Aber es war ihre letzte Chance. Also hatte sie wohl keine Wahl. Marie musterte die Front der Villa. Rechts und links des Säulenvorbaus gab es je eine Pforte, das waren die Eingänge für die Angestellten und die Lieferanten.
Während sie noch überlegte, welche der beiden Türen sie ansteuern sollte, vernahm sie hinter sich das knatternde Geräusch eines Automobils. Eine dunkle Limousine tuckerte dicht an ihr vorüber. Als sie erschrocken zur Seite sprang, konnte sie das Gesicht des Chauffeurs erkennen. Er war noch jung und trug eine blaue Schirmmütze mit einer goldfarbigen Kokarde darauf.
Aha, dachte sie. Jetzt holt er den Fabrikherrn ab und fährt ihn in sein Büro. Dabei ist die Fabrik doch nur ein paar Schritte entfernt. Höchstens zehn Minuten zu laufen. Aber so ein reicher Herr geht nicht zu Fuß, da könnten ja seine teuren Schuhe und der gute Mantel dreckig werden.
Neugierig und ein wenig missgünstig starrte sie auf das Portal unter den Säulen, das sich jetzt öffnete. Ein Hausmädchen war zu sehen, in dunklem Kleid und heller Schürze, auf dem glatt zurückgekämmten Haar ein weißes Häubchen. Dann zwei Damen, in lange Mäntel mit weichen Pelzkrägen gehüllt, die eine in Dunkelrot, die andere in Hellgrün. Hüte wie Traumgebilde aus Blüten und Schleierstoff, beim Einsteigen in die Limousine sah man die zierlichen Stiefeletten aus braunem Leder. Ein Herr folgte den beiden Frauen – nein, das konnte nicht der Fabrikdirektor sein, dazu war er viel zu jung. Vielleicht war es der Ehemann einer der Damen? Oder der Sohn des Hauses? Er trug einen kurzen braunen Reisemantel und eine Tasche, die er mit leichtem Schwung auf das Dach des Wagens beförderte, bevor er im Wagen Platz nahm. Wie albern der Chauffeur herumhüpfte, die Wagentüren aufriss, den Damen die Hand bot, als könnten sie sich nicht ohne seine Hilfe auf den gepolsterten Sitzen niederlassen. Ja gewiss, diese Frauen waren aus Zuckerwerk gebacken. Ein Platzregen hätte sie aufgelöst und davonfließen lassen. Wie schade, dass es heute nicht regnete.
Als die Herrschaften im Wagen verstaut waren, fuhr der Chauffeur mit ihnen um die Blumenrabatte, in der rote Astern, rosafarbige Dahlien und lila Heidekraut blühten. Nach diesem gemächlichen Wendemanöver knatterte das Gefährt wieder in Richtung Tor. Es fuhr so dicht an Marie vorüber, dass das vorstehende Trittbrett ihren im Wind flatternden Rock berührte. Graue Männeraugen streiften Marie mit unverhohlener Neugier. Der junge Herr hatte den Hut abgesetzt, das nachlässig geschnittene lockige Haar und der blonde Oberlippenbart gaben ihm das Aussehen eines unbesorgten Studenten. Er lächelte Marie zu, dann beugte er sich vor und sagte etwas zu der Dame in Rot, worauf alle zu lachen begannen. Machten sie sich über das schlecht gekleidete Mädel mit dem Bündel über der Schulter lustig? Marie verspürte einen Schmerz in der Brust, sie musste wieder gegen den Impuls ankämpfen, auf der Stelle kehrtzumachen und zurück ins Waisenhaus zu laufen. Aber sie hatte keine Wahl.
Der Qualm, den das Automobil hinterließ, stank nach Benzin und heißem Gummi, sodass sie husten musste. Entschlossen ging sie um die Blumenrabatte herum zum linken Nebeneingang und betätigte den Türklopfer aus schwarzem Eisen. Es tat sich nichts – vermutlich waren alle an der Arbeit, es war schon gegen zehn. Als sie zweimal erfolglos geklopft hatte und schon entschlossen war, die Tür einfach aufzuklinken, hörte sie endlich Schritte.
»Jesses Maria – das ist die Neue. Warum macht ihr denn keiner auf? Traut sich nicht herein, das Mädel …«
Die Stimme war jung und hell. Marie erkannte das Hausmädchen wieder, das vorhin das Portal für die Damen geöffnet hatte. Sie war ein rosiges, blondes Wesen, kräftig und gesund, ein harmloses Lächeln lag auf ihrem breiten Gesicht. Vermutlich stammte sie aus einem der umliegenden Dörfer, ein Stadtkind war die auf keinen Fall.
»Komm herein. Brauchst dich nicht zu schämen. Bist die Marie, ja? Ich bin die Auguste. Zweites Stubenmädchen. Schon seit einem guten Jahr.«
Darauf schien sie mächtig stolz zu sein. Was für ein Haus! Sie beschäftigten zwei Stubenmädchen! Da, wo Marie vorher angestellt gewesen war, hatte sie alle Arbeit, auch das Kochen und Waschen, allein machen müssen.
»Grüß Gott Auguste. Dankschön für dein Willkommen.«
Marie stieg die drei Stufen hinunter in den engen Flur. Wie seltsam. Die rote Backsteinvilla hatte zahllose hohe und niedrige Fenster, hier im Gesindetrakt aber war es so finster, dass man kaum wusste, wohin man die Füße setzte. Aber das lag wohl daran, dass ihre Augen noch blind von der hellen Morgensonne waren.
»Hier ist die Küche. Die Köchin wird dir bestimmt einen Kaffee und eine Semmel geben. Schaust ja ganz verhungert aus …«
In der Tat. Gegen die dralle, vor Gesundheit strotzende Auguste musste sie, Marie, wie ein Gespenst erscheinen. Sie war immer dünn gewesen, aber nach der Krankheit waren auch ihre Wangen hohl geworden, und an den Schultern stachen die Knochen hervor. Dafür erschienen ihre Augen jetzt doppelt so groß wie vorher, und das dunkelbraune Haar war widerspenstig wie ein Besen. Das hatte zumindest Fräulein Pappert noch gestern Abend behauptet. Fräulein Pappert war die Leiterin des Waisenhauses der Sieben Märtyrerinnen, und sie sah aus, als habe sie jedes einzelne Martyrium selbst durchlebt. Geholfen hatte es nichts, die Pappert war boshaft wie eine Hexe und würde gewiss einst in der Hölle braten. Marie hasste sie abgrundtief.
Die Küche war ein Ort der Zuflucht. Warm, hell und voller köstlicher Düfte. Ein Raum, der von saftigem Schinken, frischem Brot und Kuchen erzählte, von köstlichen Pasteten, Hühnersüppchen und Rindsbouillon. Der nach Thymian, Rosmarin und Salbei duftete, nach Dill und Koriander, nach Nelkenblüten und Muskat. Marie stand bei der Tür und starrte auf den langen Tisch, an dem die Köchin allerlei Vorbereitungen betrieb. Erst jetzt spürte sie, wie kalt es draußen gewesen war, und sie begann zu zittern. Wie schön war die Aussicht, mit einer Tasse Milchkaffee neben dem Ofen zu sitzen, die Wärme zu spüren, den Geruch des Wohllebens einzuatmen und dabei in langsamen Schlucken den heißen Kaffee zu schlürfen.
Ein lauter Schrei ließ sie zusammenfahren. Ausgestoßen hatte ihn eine ältlich aussehende zierliche Frau, die soeben die Küche von der anderen Seite betrat und bei Maries Anblick erschrocken zurückprallte.
»Heilige Jungfrau!«, stöhnte sie und presste beide Hände auf die Brust. »Da ist sie! Der Herr steh mir bei. Genau wie der Traum. Herr Jesus Christus, beschütze uns vor allem Unheil …«
Die Frau musste sich gegen die Wand lehnen und riss dabei einen kupfernen Topf vom Haken, der scheppernd auf den gekachelten Küchenboden fiel. Marie erstarrte vor Schreck.
»Sind Sie jetzt ganz und gar verrückt geworden, Jordan?«, keifte die Köchin erbost. »Hauen mir meinen besten Gemüsetopf herunter. Gnade Ihnen Gott, wenn der jetzt eine Delle oder gar einen Sprung hat.«
Die zierliche Frau, die gerade mit »Jordan« angeredet worden war, nahm das Geschrei der Köchin kaum wahr. Schwer atmend löste sie sich von der Wand, griff sich mit den Händen in die Frisur, die mit einer schwarzen Schleife geschmückt war. Schwarz waren auch ihre Bluse und der Rock, dazu trug sie eine kleine Brosche, eine in Silber gefasste Gemme mit dem Abbild eines zarten Mädchenkopfes.
»Es … es ist nichts«, flüsterte sie und legte beide Handrücken auf ihre Schläfen, als habe sie Kopfschmerzen. Migräne bekam nur die »Gnädige«, eine Angestellte hatte ganz ordinäres Kopfweh, und das kam vom Suff und vom Nichtstun.
»Wieder geträumt, wie?«, knurrte die Köchin und angelte den Topf unter dem Tisch hervor. »Eines Tages werden Sie noch berühmt mit Ihren Träumen. Dann wird der Kaiser Sie zu sich bestellen, um sich von Ihnen die Zukunft voraussagen zu lassen.«
Sie lachte laut, es klang ein wenig wie das Meckern einer Ziege. Spöttisch, aber nicht boshaft.
»Ach lassen Sie doch diese stupiden Scherze«, wehrte Jordan ab.
»Aber wenn Sie immer nur von Unheil träumen«, fuhr die Köchin unbeirrt fort, »dann wird der Kaiser Sie wohl nicht haben wollen!«
Marie stand gegen die Tür gelehnt, ihr Herz klopfte wild, es wurde ihr plötzlich schlecht. Keine der beiden Frauen nahm Notiz von ihr, stattdessen erklärte die Jordan jetzt, das gnädige Fräulein wünsche Tee und Gebäck, die Köchin solle sich sputen.
»Das gnädige Fräulein wird sich gedulden müssen, ich muss erst Wasser aufsetzen.«
»Es ist immer das Gleiche. Hier in der Küche wird herumgetrödelt, und ich werde dafür vom gnädigen Fräulein getadelt.«
Es erschien Marie merkwürdig, dass die Stimmen zwar aufgeregter, aber dennoch immer leiser wurden. Vielleicht lag es an dem Pfeifen, das alle anderen Geräusche überlagerte. Hatte die Köchin nicht gerade gesagt, sie müsse erst Wasser aufsetzen? Wieso pfiff dann der Kessel schon?
»Herumgetrödelt?«, vernahm sie die Stimme der Köchin. »Ich habe ein Mittagessen vorzubereiten, dazu Kuchen und für heute Abend ein Diner mit zwölf Personen. Und das alles ohne Hilfe, weil Gertie, das dumme Ding, davongelaufen ist. Wenn mir nicht Auguste hin und wieder zur Hand … Ach du gütiger Himmel!«
»Heilige Jungfrau – jetzt haben wir die Bescherung!«
Marie hatte sich noch rasch hinsetzen wollen, aber es war zu spät. Die grauen und hellbraunen Fliesen des Küchenbodens näherten sich ihr in rasendem Tempo, dann war alles schwarz. Still und angenehm leicht. Ein Schweben in sanfter, zärtlicher Dunkelheit. Nur ihr dummes Herz klopfte und hämmerte, erschütterte ihren ganzen Körper und machte, dass sie zitterte. Sie konnte gar nicht mehr damit aufhören, ihre Zähne schlugen aufeinander, die Hände verkrampften sich.
»Na, das hat uns hier noch gefehlt. Eine Fallsüchtige. Da war mir ja Gertie mit ihren Männergeschichten noch lieber …«
Marie wagte nicht, die Augen aufzuschlagen. Sie musste in Ohnmacht gefallen sein. Das war ihr seit dem Blutsturz nicht mehr passiert. Hatte sie etwa wieder Blut gespuckt? O Gott – nur das nicht. Sie hatte sich damals fürchterlich erschrocken. Helles Blut war aus ihrem Mund gelaufen. Schrecklich viel. So viel, dass sie hinterher nicht mehr stehen konnte.
»Halten Sie Ihr dummes Maul«, knurrte die Köchin. »Das Mädel ist vollkommen ausgehungert, kein Wunder, wenn sie umfällt. Da – nehmen Sie mal die Tasse.«
Jemand griff ihr mit rauer Hand unter die Schultern, hob ihren Oberkörper ein wenig an. An den Lippen spürte sie den warmen Rand eines Bechers, es roch nach Kaffee.
»Trink, Mädel. Das bringt dich wieder auf die Beine. Nun trink schon. Einen kleinen Schluck.«
Marie blinzelte. Dicht vor ihr war das breite rote Gesicht der Köchin, unschön, schweißbedeckt, aber gutartig. Dahinter erkannte sie die dünne schwarze Gestalt der Jordan. Die Silberbrosche blitzte an ihrer schwarzen Bluse, und in ihrem Gesicht spiegelte sich Abscheu.
»Was päppeln Sie die noch auf? Wenn die krank ist, wird Fräulein Schmalzler sie sowieso wieder fortschicken. Ist gut so. Sehr gut so. Sie bringt Unheil, wenn sie bleibt. Großes Unglück trägt sie ins Haus, ich weiß es …«
»Gießen Sie mal den Tee über, das Wasser kocht.«
»Das ist nicht meine Aufgabe!«
Marie entschloss sich, nun doch einige Schlucke Kaffee zu trinken. Auch wenn sie damit kundtat, dass sie wieder unter den Lebenden war, was sie gern noch verborgen hätte. Sie konnte die nette Köchin nicht so hängen lassen. Und zum Glück schien sie kein Blut gespuckt zu haben.
»Na also«, murmelte die Köchin zufrieden. »Geht’s wieder?«
Marie wurde übel von dem starken, bitteren Getränk. Sie ließ den Kopf zurückfallen und lächelte mühsam.
»Geht schon … Danke für den Kaffee …«
»Bleib noch ein Weilchen liegen. Wenn’s dir wieder besser geht, bekommst du was Anständiges zu essen.«
Marie nickte gehorsam, obgleich die Vorstellung von einer Buttersemmel oder gar einer Hühnersuppe ihren Magen anhob. Die beiden Frauen hatten sie auf eine der hölzernen Bänke gelegt, auf denen die Angestellten saßen, wenn sie ihre Mahlzeit einnahmen. Marie schämte sich unendlich für diese dumme Ohnmacht. Zu zweit hatten sie sie anheben und auf die Bank legen müssen. Und dann das Gerede der Jordan. Die war wohl nicht ganz dicht im Kopf. Sie, Marie, sei fallsüchtig und würde Unheil in die Villa bringen. Umgekehrt war es richtig. Die Villa war ein Unglückshaus, das hatte sie gleich am ersten Tag erfahren, und es sollte ihr zu denken geben. Letzte Chance oder nicht – sie würde auf keinen Fall hierbleiben. Nicht für Geld und gute Worte. Und schon gar nicht wegen des dummen Geschwätzes von der Pappert.
»Was treiben Sie denn da?«, kreischte die Köchin. »Die Teekanne gießt man niemals bis oben hin voll. Gott steh mir bei – jetzt läuft alles über, und das gnädige Fräulein wird mich dafür verantwortlich machen!«
»Hätten Sie Ihre Arbeit getan, wie es sich gehört, wäre das nicht geschehen. Ich bin schließlich nicht fürs Teekochen zuständig. Ich bin Kammerzofe und keine Küchenwanze!«
»Küchenwanze? Ihnen schaut der Hochmut aus allen Knopflöchern. Der Hochmut und die Dummheit.«
»Was ist denn hier unten los?«, vernahm man Augustes helle Stimme. »Das gnädige Fräulein hat schon dreimal nach ihrem Tee geläutet und ist ziemlich in Rage. Und die Jordan soll sofort hinaufkommen …«
Marie sah, wie das ohnehin schon farblose Gesicht der Kammerzofe noch eine Nuance bleicher wurde. Sie selbst konnte jetzt schon den Kopf heben, die Übelkeit war verschwunden.
»Ich habe es doch geahnt«, murmelte die Jordan düster.
Während sie mit rauschendem Rock aus der Küche eilte, spürte Marie ihren Blick. Sie starrte Marie an wie ein gefährliches Insekt.
Eleonore Schmalzler war eine stattliche Frau. Die siebenundvierzig Jahre im Dienst der Familie hatten ihre Schläfen ergrauen lassen, Schultern und Rücken waren jedoch gerade wie in den besten Tagen ihrer Jugend. In Pommern war sie Kammerzofe des gnädigen Fräuleins Alicia von Maydorn gewesen, und nach deren Heirat folgte Eleonore ihrer Herrin in das Augsburger Domizil. Eigentlich eine Mesalliance – Johann Melzer war ein Fabrikant, der Sohn eines Lehrers aus der Provinz. Ein Aufsteiger, der es zu etwas gebracht hatte. Die adeligen von Maydorns hingegen hatten abgewirtschaftet, zwei Söhne waren Offiziere und kosteten nur, das Gut in Pommern war hoch verschuldet. Dazu war Alicia bei ihrer Verlobung schon Ende zwanzig, ein spätes Mädchen. Sie hatte ein steifes Fußgelenk seit ihrer Kindheit – ein unglückseliger Treppensturz, der ihren Wert auf dem Heiratsmarkt zusätzlich geschmälert hatte.
Mit der Position der Hausdame wurde Eleonore Schmalzler anfangs nur aushilfsweise betraut. Alicia Melzer misstraute dem Personal aus der Stadt, die Leute waren ihrer Ansicht nach nur auf ihren eigenen Vorteil und nicht auf das Wohl des Hauses bedacht. Es hatte zwei Butler und eine Hausdame gegeben, die Alicia nach kurzer Zeit wieder fortschickte. Eleonore Schmalzler aber bewährte sich vom ersten Tag an glänzend. Sie verband die Anhänglichkeit an ihre Herrin mit einer natürlichen Begabung, Menschen zu führen. Wer in der Tuchvilla arbeitete, der hatte seinen Dienst als Privileg zu sehen, das man sich durch Tugenden wie Ehrlichkeit, Fleiß, Verschwiegenheit und Treue verdienen musste.
Es war schon gegen elf – die gnädige Frau und das Fräulein Katharina wurden jeden Augenblick zurückerwartet. Man hatte den jungen Herrn zum Bahnhof gefahren – er studierte seit einigen Jahren Jura an der Münchner Universität. Anschließend war die Gnädige mit ihrer Tochter bei Dr. Schleicher zu einer Sitzung gewesen. Diese Arztbesuche dauerten meist nur eine halbe Stunde. Eleonore Schmalzler hielt gar nichts davon, aber die gnädige Frau setzte große Hoffnungen in den Doktor. Die knapp achtzehn Jahre alte Katharina Melzer litt unter Schlaflosigkeit, Nervosität und heftigen Kopfschmerzen.
»Auguste!«
Die Hausdame hatte die Schritte der Kammerzofe im Flur richtig erkannt. Auguste schob die Tür vorsichtig auf, sie balancierte in der rechten Hand ein kleines Silbertablett, auf dem eine benutzte Teetasse, Sahnekännchen und Zuckerdose standen.
»Ja, Fräulein Schmalzler?«
»Geht es ihr jetzt besser? Dann schickt sie zu mir herein.«
»Gern, Fräulein Schmalzler. Sie ist schon wieder munter. Ein nettes, kleines Mädel, aber schrecklich dünn, und dann hat sie auch keine …«
»Ich warte, Auguste.«
»Jawohl, Fräulein Schmalzler.«
Man musste jeden auf seine Weise behandeln. Auguste war willig, aber ihr Verstand reichte nicht allzu weit. Außerdem neigte sie zur Schwatzhaftigkeit. Dass sie es dennoch zum Stubenmädchen gebracht hatte, lag an Eleonore Schmalzlers Empfehlung. Auguste war ehrlich und der Familie treu ergeben. Es gab Mädchen, die mit einer Arbeit in der Fabrik liebäugelten und nach ein paar Monaten davonliefen. Auguste würde das nicht tun, sie hing an der Villa und an ihrer Position, auf die sie sehr stolz war.
Die Tür knarrte, als die Neue sie langsam öffnete. Die Hausdame erblickte ein dünnes, blasses Geschöpf mit riesenhaften Augen. Das dunkle Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten, aus dem überall feine Strähnen hervorstachen. Das also war sie. Marie Hofgartner, achtzehn Jahre alt. Eine Waise. Vermutlich unehelich geboren, bis zu ihrem zweiten Lebensjahr bei der Mutter aufgewachsen, nach deren Tod im Waisenhaus der Sieben Märtyrerinnen verblieben. Mit dreizehn in einen Haushalt in der Augsburger Unterstadt gegeben, dort war sie nach vier Wochen davongelaufen. Zwei weitere Versuche als Hausmädchen waren ebenfalls gescheitert, als Näherin bei einer Modeschneiderin hatte sie es ein Jahr ausgehalten, dann ein halbes Jahr in der Textilfabrik Steyermann. Ein Blutsturz vor drei Wochen …
»Grüß Gott, Marie«, sagte sie bemüht freundlich zu der kleinen Jammergestalt. »Geht es dir gut?«
Die braunen Augen blickten ungewöhnlich intensiv, die Hausdame fühlte sich unwohl unter diesem forschenden Blick. Entweder war dieses Mädchen besonders einfältig, oder das Gegenteil war der Fall.
»Danke. Es geht mir gut, Fräulein Schmalzler.«
Haltung hatte die Kleine. Sie war keine, die herumjammerte. Eben noch hatte sie bewusstlos auf dem Küchenboden gelegen – so hatte die Jordan ihr berichtet –, und jetzt stand sie hier und tat, als sei nichts gewesen. Fallsüchtig sei sie, hatte die Jordan behauptet. Aber die schwatzte häufig dummes Zeug. Eleonore Schmalzler verließ sich niemals auf das Urteil einer Angestellten. Sie gestattete sich sogar – allerdings nur insgeheim –, auch das Urteil ihrer Herrschaft mit dem eigenen scharfen Verstand zu überprüfen.
»Schön«, meinte sie. »Wir benötigen ein Mädchen für die Küchenarbeit, und du wurdest uns von Fräulein Pappert empfohlen. Hast du schon einmal in der Küche gearbeitet?«
Die Frage war eigentlich überflüssig, denn sie hatte das Arbeitsbuch und die Zeugnisse des Mädchens gelesen, man hatte ihr die Sachen gestern durch einen Boten bringen lassen.
Die Augen des Mädchens wanderten über die kleine Sitzgruppe mit den hohen geschnitzten Stühlen und das mit Büchern und Akten gefüllte Wandregal. Einen Augenblick lang blieben sie an den üppig drapierten grünen Fenstergardinen hängen. Der Raum, in dem die Hausdame residierte, war reich ausgestattet und schien die Kleine zu beeindrucken. Gleich darauf aber bewies ein winziges Zusammenzucken ihrer Lider, dass Marie ihre Papiere auf dem Schreibtisch entdeckt hatte. Was fragt sie eigentlich, sagte ihr Blick. Sie hat doch alles gelesen.
»Ich war dreimal in einem Haushalt angestellt, da musste ich kochen, waschen, das Essen auftragen und die Kinder beaufsichtigen. Außerdem haben wir im Waisenhaus immer Gemüse putzen, Wasser holen und den Abwasch machen müssen.«
Sie war keineswegs einfältig, eher ein wenig zu schlau. Eleonore Schmalzler mochte es nicht, wenn eine Angestellte zu intelligent war. Diese Sorte dachte nur an ihren eigenen Vorteil und nicht an das Wohl des Hauses. Auch war sie zu geschickten Betrügereien fähig, die Hausdame erinnerte sich nur ungern an einen Hausdiener, der jahrelang den herrschaftlichen Rotwein beiseitegeschafft und verkauft hatte. Noch heute warf sie sich vor, diesem Gauner so lange aufgesessen zu sein.
»Dann wirst du dich ja schnell in deine Aufgaben einfügen, Marie. Als Küchenmädchen unterstehst du vor allem Frau Brunnenmayer, unserer Köchin. Aber auch alle anderen Angestellten sind dir gegenüber weisungsbefugt, und du hast zu gehorchen, wenn sie dir einen Auftrag geben. Ich sage dir das, weil du – soweit ich sehen kann – noch niemals in einem so großen Haus gearbeitet hast.«
Sie hielt einen Augenblick inne und besah das Mädchen prüfend. Hörte sie überhaupt zu? Sie starrte auf eine gerahmte Kohlezeichnung, die über dem Schreibtisch hing. Ein Geschenk des gnädigen Fräuleins Katharina, die im vergangenen Jahr zu Weihnachten alle Angestellten mit eigenen Zeichnungen beglückt hatte. Diese zeigte die Fabrikhallen, die zackigen Dreiecke der Sheddächer, die nach Norden hin verglast waren.
»Gefällt dir das Bild?«, bemerkte sie spitz.
»Sehr. Nur ein paar Striche, und doch erkennt man sofort, was es sein soll. Das würde ich auch gern können.«
Da war Begeisterung und Sehnsucht in den braunen Augen der Kleinen. Sogar ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht. Die Hausdame wappnete sich, sie war empfindlich gegenüber unerfüllten Sehnsüchten, ein Laster, das sie mit ihren nunmehr sechzig Jahren immer noch nicht abgelegt hatte. Dabei gab es für die Seelenruhe, die für die Arbeit notwendig war, nichts Schädlicheres als solche Sentimentalitäten.
»Das Zeichnen überlasse besser dem gnädigen Fräulein. Du, Marie, hast hier in diesem Haushalt sehr viel zu lernen. Vor allem in der Küche, wo feine Speisen zubereitet werden. Aber auch in anderen Bereichen, beispielsweise den Umgang mit der Herrschaft betreffend. Wir führen ein großes Haus, es gibt häufig Diners und größere Abendgesellschaften, einmal im Jahr auch einen Ball. Für all diese gesellschaftlichen Ereignisse haben wir feste Regeln.«
Jetzt endlich keimte ein wenig Interesse im Gesicht des Mädchens auf. Bei aller Schlauheit schien sie doch reichlich naiv und verträumt. Vermutlich las sie Groschenromane und glaubte, die Welt sei voller romantischer Liebesstürme.
»Sie meinen einen richtigen Ball? Mit Tanz und Musik und all diesen wunderschönen Kleidern?«
»Genau davon spreche ich, Marie. Du wirst davon allerdings wenig sehen, denn dein Arbeitsplatz ist unten in der Küche.«
»Aber … aber wenn das Essen serviert wird …«
»Bei großen Anlässen servieren nur männliche Angestellte. Auch dies gehört zu den Dingen, die du zu lernen hast. Kommen wir jetzt zu den praktischen Angelegenheiten. Ich stelle dich vorerst für ein Vierteljahr ein mit einem Lohn von fünfundzwanzig Mark. Der wird dir in zwei Raten ausgezahlt. Zehn Mark nach Ablauf eines Monats, der Rest zwei Monate später. Natürlich nur, wenn du dich bewährst.«
Sie machte eine kleine Pause, um die Wirkung ihrer Worte zu überprüfen. Marie blieb gleichgültig. Geldgierig schien sie nicht zu sein. Schön. Als Küchenmädchen hatte sie auch nicht mehr zu erwarten.
»Weiterhin erhältst du von uns zwei einfache Kleider und drei Schürzen. Diese Sachen hast du sauber und ordentlich zu halten und täglich zu tragen. Das Haar bindest du fest in ein Tuch ein, die Hände sind stets rein zu waschen. Socken und Schuhwerk wirst du ja wohl selber besitzen. Wie steht es mit der Wäsche? Zeig mal her.«
Das Mädchen knüpfte sein Bündel auf, und Eleonore Schmalzler stellte fest, dass es auch hier schlecht bestellt war. Wo blieb eigentlich das viele Geld, das zu den Festtagen für das Waisenhaus gesammelt wurde? Das Mädchen besaß zwei durchgescheuerte Hemden, eine Unterhose zum Wechseln, einen löchrigen wollenen Unterrock und mehrere Paar stark gestopfter Socken. Schuhe zum Wechseln gab es nicht.
»Wir werden sehen. Wenn du dich bewährst – Weihnachten ist nicht mehr weit.«
Zu den Festtagen gab es Geschenke an die Angestellten, meist Stoffe für Kleider, Leder für Schuhe oder Socken aus Baumwolle – für die höhergestellten Angestellten auch kleine Familienandenken, wie Uhren, Bilder oder Ähnliches. Man würde bei der Kleinen – vorausgesetzt, sie verdiente es – ein wenig dazulegen, sie brauchte auch einen wollenen Mantel und eine warme Mütze. Der Zorn der Hausdame auf das Waisenhaus blühte aufs Neue. Nicht einmal ein warmes Umhängetuch besaß das Mädel, man hatte sich in allem auf den neuen Arbeitgeber verlassen.
»Schlafen wirst du oben im dritten Stockwerk, wo sich die Kammern der Angestellten befinden. Es schlafen immer zwei Frauen in einer Kammer, du wirst deinen Schlafraum mit Maria Jordan teilen.«
Marie hatte begonnen, ihr Bündel wieder zu verknoten, jetzt hielt sie erschrocken inne.
»Mit Maria Jordan? Der Kammerzofe? Die eine Brosche mit einem geschnitzten Mädchenkopf trägt?«
Eleonore Schmalzler war sich darüber klar, dass die Jordan keine angenehme Schlafgenossin war. Aber es stand dem jungen Ding nicht an, in dieser Beziehung Wünsche zu äußern.
»Du hast sie ja schon kennengelernt. Maria Jordan ist eine angesehene Person in diesem Haus. Du wirst noch lernen, dass eine Kammerzofe das besondere Vertrauen ihrer Herrin besitzt, daher ist ihre Position unter den Angestellten recht hoch.«
Tatsächlich war sogar sie selbst hin und wieder eifersüchtig auf die Jordan, die nicht nur Kammerzofe der gnädigen Frau war, sondern auch die beiden gnädigen Fräulein bediente. Eleonore Schmalzler war selbst einst Kammerzofe gewesen, sie wusste um die Intimität einer solchen Stellung.
Die schmale Gestalt vor der Hausdame versteifte sich, sie wurde ein wenig größer, weil sie den Rücken geradebog.
»Verzeihung, aber ich möchte auf keinen Fall mit Maria Jordan in einer Kammer wohnen. Lieber schlafe ich irgendwo unterm Dach bei den Mäusen. Oder in der Küche. Schlimmstenfalls auch im Zwischenstock.«
Eleonore Schmalzler musste sich zusammennehmen, um ihre Fassung zu wahren. Solch eine Frechheit war ihr noch niemals begegnet. Da kam dieses abgerissene, halb verhungerte Wesen aus dem Waisenhaus, konnte nichts vorweisen als eine Menge schlechter Zeugnisse und erdreistete sich, Forderungen zu stellen. Gerade eben hatte die Hausdame noch Mitleid mit der Kleinen verspürt, jetzt war sie über deren Hochmut zutiefst entsetzt. Aber natürlich, es war ja in fast allen Zeugnissen zu lesen. Hochmütig, frech, aufsässig, faul, ungehorsam … Nur hinterhältig war sie wohl nicht. Aber das andere reichte schon aus. Eleonore Schmalzler hätte dieses Mädchen nur allzu gern zurück ins Waisenhaus geschickt. Leider gab es da ein kleines Problem. Warum auch immer – die gnädige Frau wünschte, dass das Mädel eingestellt wurde.
»Das wird sich finden«, gab sie kurz angebunden zurück. »Dann ist da noch etwas, Marie. Du hast ja schon gemerkt, dass Fräulein Jordan den Vornamen »Maria« trägt. Daher wirst du hier im Haus einen anderen Namen erhalten, es könnte sonst zu Verwechslungen kommen.«
Marie zerrte den zweiten Knoten ihres Bündels fest, sie strengte sich dabei so an, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten.
»Wir werden dich Rosa nennen«, bestimmte die Hausdame leichthin. Unter anderen Umständen hätte sie dem Mädel zwei oder drei Namen zur Auswahl vorgeschlagen. Aber diese da hatte solch ein Entgegenkommen nicht verdient.
»Das wäre vorerst alles, Rosa. Geh jetzt in die Küche, denn du wirst für die Arbeit gebraucht. Später wird Else dir die Kammer zeigen und dir Kleider und Schürzen aushändigen.«
Sie wandte sich ab und trat zum Fenster, um den Vorhang ein wenig beiseitezuschieben. Da waren sie ja. Robert half dem gnädigen Fräulein beim Aussteigen, die gnädige Frau war bereits auf den Stufen zum Portal. Es schien etwas wärmer geworden zu sein, das gnädige Fräulein hatte den Mantel sogar abgelegt. Sie überließ es Robert, ihr das Kleidungsstück nachzutragen, eine Aufgabe, der er sich mit großer Hingabe widmete. Die Schmalzler tat einen Seufzer, sie würde ein paar Worte mit dem jungen Mann reden müssen. Er war ein anstelliger Bursche und konnte es weit bringen, vielleicht sogar bis zum Butler. Sie konnte nur hoffen, dass an den Gerüchten, die unter dem Personal umgingen, nichts dran war.
»Else? Sag der Köchin, dass die Herrschaften zurück sind. Kaffee und den üblichen kleinen Imbiss.«
»Ja, Fräulein Schmalzler.«
»Warte. Danach holst du die Sachen für das neue Küchenmädchen aus der Wäschekammer und trägst sie hinauf in ihr Zimmer. Sie schläft bei Maria Jordan.«
»Ja, Fräulein Schmalzler.«
Die Hausdame war in den Flur hinausgetreten, um ihre Anweisungen zu geben. In der Küche herrschte das übliche Durcheinander vor einem festlichen Diner. Die Köchin war eine hervorragende Kraft, doch wenn sie zu tun hatte, war mit ihr nicht gut Kirschen essen. Auch jetzt wurde Elses Meldung mit einer unwirschen Antwort quittiert – die Hausdame wusste jedoch, dass Kaffee und Imbiss pünktlich bereit sein würden. Sie wandte sich wieder ihrem Zimmer zu, dort fand sie zu ihrer allergrößten Überraschung – Marie. Vielmehr Rosa, wie sie ab jetzt gerufen werden sollte.
»Was willst du noch hier?«
Das Mädchen hatte ihr Bündel wieder über die Schulter gelegt, ihre Augen hatten einen seltsamen Ausdruck. Wund und zugleich ungemein hart.
»Es tut mir sehr leid, Fräulein Schmalzler.«
Die Hausdame starrte sie irritiert an. Dieses Mädchen war ihr vollkommen unbegreiflich.
»Was tut dir leid, Rosa?«
Die Kleine zog die Luft tief ein, als müsse sie einen schweren Gegenstand stemmen. Sie hob den Kopf ein wenig an und machte die Augen schmal.
»Ich möchte mit meinem eigenen Namen gerufen werden. Ich heiße Marie und nicht Maria wie Fräulein Jordan. Außerdem arbeite ich in der Küche, ich glaube nicht, dass die gnädige Frau jemals nach mir rufen wird. Sie wird nach ihrer Kammerzofe rufen, aber gewiss nicht nach dem Küchenmädchen. Wir können also gar nicht verwechselt werden.«
Sie trug diese Gründe mit leiser Stimme vor und nickte dabei immer wieder. Auch wenn sie leise sprach, so redete sie doch flüssig und ohne Scheu. Die Hausdame dachte insgeheim sogar, dass sie nicht ganz Unrecht hatte. Allerdings würde sie das angesichts dieser Dreistigkeit auf keinen Fall zugeben.
»Dies zu entscheiden ist nicht deine Sache!«
Das Maß war voll. Diese Person war einfach nur arbeitsscheu, suchte einen Vorwand, um sich weiterhin im Waisenhaus durchfüttern zu lassen, anstatt ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
»Verstehen Sie denn nicht?«, fuhr das Mädchen aufgeregt fort. »Meine Eltern haben diesen Namen für mich ausgewählt. Sie haben lange und gründlich darüber nachgedacht und genau diesen Namen für mich gefunden. Marie. Es ist ihr Vermächtnis an mich. Deshalb will ich keinen anderen Namen tragen.«
Es hörte sich nach verzweifelter Entschlossenheit an, und Eleonore Schmalzler besaß genügend Menschenkenntnis, um zu begreifen, dass das Mädchen weder arbeitsscheu noch grundlos bockig war. Sie fand es eher rührend. Auch wenn die Kleine sich da ganz sicher etwas zusammenfantasierte. Ihre Eltern! Sie war unehelich und hatte ihren Vater vermutlich nie zu Gesicht bekommen.
Dieses sture Wesen würde nur schwer zu lenken sein, so viel war der Hausdame klar. Sie hätte die Kleine nur allzu gern gehen lassen. Aber da war der Wunsch ihrer Herrschaft.
»Na schön«, sagte sie und zwang sich ein Lächeln ab. »Wir versuchen es erst einmal mit deinem richtigen Namen.«
»Ja bitte, Fräulein Schmalzler.«
Triumphierte sie? Nein, sie schien nur grenzenlos erleichtert.
Nach ein paar Sekunden fügte sie hinzu:
»Vielen Dank.«
Sie machte so etwas wie einen angedeuteten Knicks, drehte sich dann um und trollte sich endlich in die Küche. Die Hausdame ließ einen kaum unterdrückten Seufzer hören.
Dieser Widerspruchsgeist muss gebrochen werden, dachte sie. Das wird auch die gnädige Frau einsehen.