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Inhaltsverzeichnis
 
 

Moderne Hexen haben keine Warzen
Flora Aurora Rosenbloom ist eine moderne Hexe: jung, frech und hexy. Längst tragen Hexen keine Warzen mehr auf den Nasen oder gammelige Klamotten. Sie sehen nett aus und kleiden sich flott und modebewusst.
Flora trägt am liebsten zartgrüne Flattergewänder und hat leuchtend grüne Strähnchen in den Haaren. Grün ist nämlich ihre Lieblingsfarbe. Sogar ihr dicker Kater Titus hat ein grüngrau getigertes Fell.
Flora lebt als Single und ist berufstätig. Ihr gehört der beliebte Blumenladen Hokuskrokus in der Narzissengasse 6.
Am Samstag, dem 18. Oktober, an dem diese aufregende Geschichte beginnt, könnte kein Samenkorn ungehindert auf den Fußboden fallen, so voll ist es im Hokuskrokus. Kurz vor Ladenschluss will jeder noch schnell einen von Floras beliebten Sträußen kaufen. Die Auswahl ist groß. Gräser, Blätter, Kräuter, Tonkugeln, Holzstücke und knorrige Äste ergänzen Floras Blumengestecke zu kunstvollen Gebilden.
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»Bitte drängeln Sie doch nicht so«, bittet der blonde Mann im grünen Overall die Leute, die neben und hinter ihm stehen. »Schließlich kann Flora nicht hexen!«
»Wer weiß?«, sagt Flora und zwinkert dem jungen Mann vergnügt zu. Er heißt Max Fax und arbeitet seit einigen Wochen bei der Computerfirma nebenan. »Jeder tut, was er kann. Das, was Sie mit Ihren Computern anstellen, ist für mich jedenfalls Zauberei.«
Max lächelt ein wenig verlegen, während Flora mit flinken Fingern den Strauß für den nächsten Kunden bindet.
Endlich ist auch Max an der Reihe.
»Wie immer: Eine rote Rose mit ein bisschen Eukalyptusblatt?«, erkundigt sich Flora.
Max nickt. »Und ohne Folie. Der Umwelt zuliebe.«
Flora gibt Max die Rose und lächelt ihn freundlich an. Ein netter junger Mann, denkt sie. Und wie aufmerksam, jeden Freitag eine Rose für seine Freundin zu besorgen. Sie seufzt leise. Nie kommt jemand auf die Idee, ihr eine Rose zu schenken. Wozu auch? Sie sitzt ja mittendrin im Blumenglück.
Max zahlt und geht.
Eine Dame mit einem Mops auf dem Arm möchte gern eine rosa Orchidee in einem weißen Luftballon. Kein Problem für Flora. Sie bläst den Ballon vorsichtig auf und zaubert die Orchidee hinein.
Der nächste Kunde, bitte!
Ein dunkel gekleideter Mann mit Baskenmütze und Aktenkoffer geht ungeduldig vor der Ladentür auf und ab. So, als warte er darauf, dass der Laden sich endlich leert. Flora ist so sehr beschäftigt, dass sie ihn gar nicht bemerkt.
Lilien, Gardenien, Gladiolen, Freesien, Sonnenblumen, aber auch Veilchen und Vergissmeinnicht wandern über den Ladentisch. Ein kleiner Junge möchte einen Geburtstagsblumenstrauß für seine Mutter. Er soll nicht viel kosten. Es wird der schönste Strauß von allen.
»Puh! Das war’s dann wieder!«, sagt Flora erleichtert, als die Glöckchen an der Ladentür den letzten Kunden hinausbimmeln. Sie spielen ein Lied, dessen Text nur Flora kennt und dessen Refrain lautet:
Hokuspokus, eins, zwei, drei,
Geschicklichkeit ist keine Hexerei!
Gerade will sie die Tür abschließen, da drückt jemand von draußen energisch die Klinke herunter.
»Tut mir Leid. Ladenschluss!«, bedauert Flora.
»Ich will ja nichts kaufen. Ich möchte Ihnen etwas verkaufen«, sagt der Mann und schiebt seinen schwarzen Musterkoffer in den Türspalt, damit sie die Tür nicht mehr zumachen kann.
»Was fällt Ihnen ein!«, ruft Flora empört.
»Ich komme von der Firma Mephia-Pharm«, sagt der Mann unbeirrt. »Mein Name ist Lefiz.« Er hält ihr seine Visitenkarte unter die Nase.
M. A. Lefiz
DTG
Mephia -Pharm -Generalver tretung
Höllenstraße 4
10405 Berlin
Flora wird blass. Das Firmenzeichen DTG kommt ihr sehr bekannt vor. Zögernd öffnet sie die Tür.
»Was – was wollen Sie von mir, Herr Lefiz?«, sagt sie und sieht den aufdringlichen Vertreter erschrocken an.
»Ich will nichts. Ich bringe etwas: Floristentraum, das tollste Sortiment der Welt.«
Er klappt seinen Musterkoffer auf. Darin sind Fläschchen, Dosen und Pülverchen.
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»Alles, was die Pflanzen brauchen«, sagt er mit einem unangenehmen Lachen. »Pestizide als Pulver und Spray. Unser beliebter Worrox-Unkrautvernichter rottet auch hartnäckige Tiefwurzler aus.
Und der künstliche Dünger Bellafolia wirkt wahre Wunder: Er bringt Telegrafenmasten zum Blühen, da kriegt selbst ihr Telefon Knospen...«
»So etwas brauche ich nicht! Bei mir ist alles natürlich frisch und gesund. Ich lebe umweltbewusst«, wehrt sich Flora.
»Umwelt? Papperlapapp. Das Geschäft zählt. Geld will die Welt. Nehmen Sie mal unser Frischhaltepülverchen Mirafolix. Kein Verwelken, kein Ausschuss, kein Verlust. Da blüht das Geschäft. Da sehen Ihre Ladenhüter auch kurz vor dem Verblühen noch taufrisch aus! Selbst Tulpen halten drei Wochen.«
»Ja, ja. Und wenn die Kunden die Blumen zu Hause in normales Leitungswasser stecken, lassen sie sofort die Köpfe hängen. Nein, so ein Zeug verwende ich nicht«, protestiert Flora energisch. »Da hätte ich ein schlechtes Gewissen!«
»Gewissen? Haben Sie Gewissen gesagt?«, erkundigt sich Lefiz argwöhnisch.
»Genau!«, sagt Flora. »Und gewissen aufdringlichen Leuten möchte ich ins Gewissen reden, mich endlich in Frieden zu lassen.«
Lefiz ringt mühsam um Fassung. Aber dann hat er sich plötzlich wieder in der Gewalt und redet weiter:
»Gewissen schadet dem Geschäft! Daher empfehle ich unser Mumifax-Zauberspray. Konserviert die Blüte dauerhaft bis zum Verkauf. Einmal täglich besprühen, dann halten Mimosen so lange wie getrocknete Erbsen!«
»Bleiben Sie mir bloß mit diesem unnatürlichen Blödsinn vom Leib! Blumen sind für mich Lebewesen und keine Mumien«, ruft Flora wütend. Ihr platzt jetzt endgültig der Kragen. »Ich bin eine grüne Hexe. Das heißt, dass ich mich umweltbewusst verhalte.«
»Tja, wenn Sie so uneinsichtig sind, meine Dame«, sagt Lefiz und sieht Flora missbilligend an, »dann muss ich leider andere Maßnahmen ergreifen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich werde Ihr geschäftsschädigendes Verhalten an höchster beziehungsweise tiefster Stelle melden: bei DTG persönlich.«
»Nein!!!«, ruft Flora. »Nicht! Warten Sie...«
Aber da ist Lefiz schon verschwunden. Er hinterlässt einen leichten Schwefelgeruch.
Flora sinkt ermattet auf einen Hocker.
Kater Titus streicht schnurrend um ihre Beine, um sie ein bisschen zu trösten. Sein Nackenfell sträubt sich wie Igelborsten. Ein Alarmsignal.
Flora krault ihn hinter den Ohren und sagt: »Hast du das gehört? Dieser Mistkerl will uns bei DTG verpetzen. DTG! Nun, wir lassen uns nicht einschüchtern. Findest du nicht auch? Komm, wir wollen rasch noch die Blumen in den Töpfen und Schalen gießen, damit nichts vertrocknet. Danach radeln wir nach Hause.«
Sie murmelt einen kleinen Wasserzauber. Etwas von »Wasser fließen und Schalen gießen«. Dann schickt sie ihren Zauberbesen durch den Laden. Schließlich soll am nächsten Morgen wieder alles blitzblank sauber sein.
Für so kleine, nützliche Dinge ist die Zauberei doch recht bequem! Sie macht das Licht aus und schließt den Laden ab.
Als sie vor der farngrünen Wand neben der Hintertür ihres Ladens steht, wird Flora unsichtbar, genau wie ihr Kater Titus. Er springt mit einem geübten Satz in das farngrüne Körbchen an der farngrünen Lenkstange des farngrünen Hexenfahrrads. Das Rad hat genau den Farbton der Wand und fällt daher tagsüber niemandem auf, nicht einmal Fahrraddieben.
Nur ein leichtes Schnurren und ein Luftzug verraten, dass sich Flora jetzt mit ihrem Zauberfahrrad und ihrem grün getigerten Kater in die Lüfte erhebt.
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Großstadthexen wohnen nicht in Knusperhäuschen
Trotz ihrer Liebe zur Natur wohnt die grüne Hexe Flora nicht in einem windschiefen Hexenhaus am Waldrand. Sie liebt die Großstadt, wie die meisten jungen Leute. Deshalb wohnt sie mitten in Berlin. Sie haust in luftiger Höhe zwischen Schornsteinen und Antennen, in einem Haus auf dem Haus. Es steht im Stadtteil Kreuzberg und ist himmelblau gestrichen. Floras Haus passt sich dem Himmel an: Bei Regen ist es blaugrau und nachts dunkelblau. Daher ist es für normale Menschen praktisch nicht zu sehen. Rund ums Haus hat Flora einen Dachgarten angelegt, in dem die schönsten Blumen wachsen.
Das Hexenhaus steht auf dem Flachdach einer typischen Berliner Mietskaserne. »Miezkaserne«, sagt Kater Titus immer. Und er behauptet, die Häuser heißen deshalb so, weil sie so dicht aneinander gebaut sind, dass Katzen bequem von einem Dach auf das andere spazieren können.
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Flora durchquert mit ihrem Hexenrad eine Regenwolke und steuert geradewegs auf ihren Dachgarten zu.
»Jetzt haben wir uns ein Abendessen verdient!«, sagt sie zu Titus und streift an der Eingangstür die Schuhe von den Füßen, ehe sie das blaue Haus betritt.
Als Erstes schüttet sie Trockenfutter in Titus’ Napf.
»Ich hätte lieber Rollmops«, mault Titus.
»Tut mir Leid. Hab ich nicht. Und ein Rollmopsherbeizauberspruch fällt mir so schnell nicht ein. Bin viiiiel zu müüüde!«
Flora reckt die Arme und gähnt herzhaft.
»Du hast wohl das Hexen schon total verlernt?«, motzt Titus.
»Vielleicht hast du Recht«, sagt Flora nachdenklich. Sie steht auf und holt ein Glas Buttermilch. Dann kocht sie sich eine Sauerampfersuppe. Wenig später sitzt sie an dem kleinen grasgrünen Gartentisch neben den drei mächtigen Sonnenblumen, die aus einem mit Erde gefüllten Regenfass wachsen. Aber es will ihr nicht so recht schmecken. Der Besuch dieses seltsamen Vertreters liegt ihr im Magen.
»Ich werde Henna anrufen«, sagt Flora zu Titus und springt auf. »Vielleicht können wir heute Abend zusammen ins Kino gehen? Im Hölli läuft ein himmlischer Film!«
Aber da fällt ihr ein, dass das Kino in der Höllenstraße ist. Und da wohnt auch dieser unsympathische Lefiz. Schon hat sie keine Lust mehr auf Kino.
In diesem Augenblick klingelt das Telefon. Auf einen Wink von Flora kommt es herangeschwebt. Es ist eines von den bequemen, luftleichten, drahtlosen Delta-1-Hexen-telefonen. Flora drückt auf den phosphorgrünen Knopf, der die Verbindung herstellt.
»Hier Henna Rubinstein«, meldet sich eine dunkle, sympathische Frauenstimme.
»Henna? Du? Das ist Gedankenzauberei! Gerade wollte ich dich auch anrufen!«
Titus macht eine Katzengrimasse, rümpft die Nase, faucht verächtlich und verzieht sich in den farngrünen Blumenkorb mit dem Moospolster, der auf der anderen Seite des Dachgartens steht. Jetzt ist er wieder unsichtbar. Und stinksauer. Wenn Flora mit Henna telefoniert, dauert das meist stundenlang. Und es ist ein Gekichere und Gequietsche, unterbrochen von tausend Ahs und Ohs. Flora bemerkt dann überhaupt nicht, dass er auch noch da ist.
So ist es auch diesmal. Titus kann ja nicht ahnen, dass das ausgedehnte Telefongespräch der beiden »zauberhaften« Damen sein Leben entscheidend verändern wird …
»Florakindchen! Es war der totale Stress heute«, stöhnt Henna. »Bei mir ging es zu wie im Bienenkorb! Der ganze Frisiersalon war voller Kundinnen. Da kam so ein Ätz-Typ. Gesicht wie ein Sauerampfer. Du weißt schon: einer von der Sorte, die morgens mit Essig gurgeln und dann abends heimlich zum Lachen in den Keller schleichen. Er wollte mir tausend Schönheitsmittelchen und chemische Haarfärbewässerchen verkaufen. Ich hab ihm gesagt, dass ich nur noch natürliche Farben verwende, weil das gesünder ist, und dass er sich sein Giftzeugs ans Käppchen stecken kann – er trug so eine komische Baskenmütze.«
»Das ist er«, murmelt Flora.
»Und dann wollte er mir Haarwuchsmittel, Schuppenspray, Warzensalbe, Pickelcreme und sonst was andrehen. Da hab ich ihm gesagt, dass das alles nichts taugt und dass man höchstens die Krätze davon bekommt.«
»Das hast du wirklich gesagt?«, ruft Flora erstaunt.
»Warum nicht?«, grinst Henna. »Ich hab einmal so ein Haarwuchsmittel bei einer Kundin ausprobiert. Die hat überall rote Flecken bekommen!«
»Und was hat der Typ geantwortet?«
»Dass er nächste Woche wiederkommt und dass ich bis dahin meine Meinung ändern soll. Er hat mir seine komische Geschäftskarte in die Hand gedrückt.«
»Hast du sie noch?«
»Nein, die hab ich vor Wut gleich in den Papierkorb geschmissen. Ich hab sie gar nicht angeschaut. Schließlich hatte ich den Laden voller Kunden.«
»Henna, ich muss mit dir reden«, flüstert Flora. »Und zwar nicht am Telefon. Das ist zu gefährlich. Und ehe ich komme, holst du diese Geschäftskarte aus dem Papierkorb und siehst sie dir genau an.«
»Oh Frau, du machst einem ja ganz schön Angst. Wie schnell kannst du kommen?«
»Schnell wie der Wind«, verspricht Flora und legt den Hörer auf. »Komm, Titus, wir fahren zu Henna!«
Murrend bewegt sich Titus aus dem Körbchen. Er dehnt und reckt sich nach Katerart.
»Nur nichts überstürzen«, brummt er.
»Na, komm schon«, sagt Flora und klemmt ihn unter den Arm. »Aufs Rad mit dir und leg die Ohren an!«

Radlerhexen reiten nicht auf Besen
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Huiiijj, saust das farngrüne Hexen-Airbike im siebzehnten Gang durch die Lüfte. Augenblicke später landet Flora vor Hennas Tür in der Klatschmohnstraße 17. Sie klingelt und der Türöffner summt. Flora schiebt das Rad in den Hausgang und versteckt es hinter der Kellertreppe. Dann steigt sie in den ersten Stock hinauf. Dort hat Henna ein Zweizimmerappartment direkt über dem Frisiersalon Simsalabim. Die kleine Wohnung ist sehr geschmackvoll eingerichtet. Titus drängelt sich als Erster durch die Tür und sieht sich kampflustig um. Henna hat einen roten Papagei namens Zinnober. Mit dem streitet Titus für sein Leben gern!
»Titus, benimm dich«, mahnt Flora, die Katergedanken lesen kann. Titus macht einen Buckel und faucht. Zinnober sitzt auf der Lampe und krächzt: »Feigling!«
»Zinnober!«, ruft Henna. »Benimm dich. Sonst darfst du nicht mit in den Urlaub.«
Zinnober steckt den Kopf unter den linken Flügel und schmollt.
»Du fährst in Urlaub?«, erkundigt sich Flora.
»Das wollte ich eigentlich. Ich hab auch schon eine Idee, wohin. Und ich wollte dich fragen, ob du mitkommst. Aber erst lass uns über diesen aufdringlichen Kerl reden. Lefiz heißt er. Hier ist die Geschäftskarte.« Henna schiebt ihrer Freundin die zerdrückte Karte hin, die sie eben wieder aus dem Papierkorb gefischt hat.
Flora hält Henna die gleiche Karte unter die Nase und sagt düster: »Bei mir war er auch. Das Ganze ist eine ernste Sache. Dieser Lefiz ist ein Agent von DTG.«
»Du meinst, er kommt von der Unaussprechlichen persönlich?«
Flora nickt düster. »Bei mir wurde er richtig böse. Und weil ich sein Giftzeugs nicht kaufen wollte, drohte er, mich bei DTG zu verpfeifen.«
»Soll er doch«, sagt Henna trotzig. »Was können sie uns schon anhaben, Schätzchen?«
»Sie könnten uns immerhin die Lizenz zum Hexen entziehen. Sie können uns Pech und Unglück anhexen. Und es kann noch schlimmer kommen – ich meine lebensgefährlich schlimmer.«
»Uiij! Das jagt mir glatt eine Gänsehaut unters Hemdchen. Was machen wir jetzt?«, ruft Henna erschrocken.
»Wir dürfen uns diese Bevormundung nicht mehr gefallen lassen!«, schimpft Flora. »Ich hätte Lust, DTG die Lizenz zum Hexen vor die Füße zu knallen. Egal was passiert!«
»Das könnte katastrophale Folgen haben«, überlegt Henna. »Wir sollten auf jeden Fall morgen Abend beim Skat mit Lilli darüber sprechen. Die ist schließlich auf Katastrophen spezialisiert.«
»Gute Idee«, murmelt Flora. »Vielleicht weiß sie ja auch, wie man Katastrophen abwendet!«

Katastrophen-Lilli schlägt sich tapfer
Das Geschäft bei Katastrophen-Tours boomt in diesem Jahr. Die Menschen haben es satt, alle Unglücksmeldungen immer nur auf dem Fernsehschirm zu sehen. Dabei sein ist alles! Nervenkitzel »live« ist gefragt. Der Telefondraht in der Buchungsabteilung glüht.
Zwischen den einzelnen Telefonaten bleibt Lilli kaum Zeit zum Luftholen. Da klingelt es schon wieder.
Lilli atmet tief durch und nimmt den Hörer ab.
»Katastrophen-Tours, Lilli Blau am Apparat. Was kann ich für Sie tun? – Wie bitte? Nein, ich heiße Blau, nicht Gau!« Lilli verdreht die Augen. Sie hasst diesen Scherz mit ihrem Namen. Der Anrufer macht ihr klar, dass er eine Attraktion mit Nervenkitzel für einen Betriebsausflug sucht.
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»Für 150 Personen. Geld spielt keine Rolle. Wir sind im Bankgeschäft tätig. Wir legen was an! Was haben Sie denn so auf Lager?«
»Wie wär’s mit einer brennenden Bohrinsel? Der Bergung eines zerschellten Flugzeugwracks auf den Seychellen?Einer Massenkarambolage auf der Salzburger Autobahn? Oder einem leckgeschlagenen Öltanker im Atlantik?«
Endlich zeigt der Kunde Interesse.
»Wie groß ist denn der Ölteppich?«
»20 Quadratkilometer.«
»Ein bisschen wenig, finden Sie nicht? Ölteppiche hatten wir außerdem schon. Wie wäre es mit Hochwasser oder einer Feuerkatastrophe?«
»Da hätten wir ein Hochwasser am Rhein und an der Elbe. Günstig gelegen. Noch beste Plätze frei. Direkt hinter den Sandsäcken.«
»Können Sie einen kleinen Deichbruch garantieren?«, erkundigt sich der Kunde begierig.
»Da lässt sich sicher etwas arrangieren. Wir haben in solchen Fällen meist einen Agenten mit ein paar kleinen Dynamitstangen vor Ort.«
»Nun, klingt nicht schlecht.«
»Greifen Sie zu, ehe der Pegelstand sinkt«, seufzt Lilli mit schwarzem Humor. Sie wird nie verstehen, was ihre Kunden daran reizt, bei Katastrophen zuzusehen. »Reisen Sie mit dem Bus oder der Bahn an?«
»Ich denke, mit dem Bus kommen wir dichter ran«, überlegt der Kunde.
»O.K. Wir bieten Transfer zum nächsten trockenen Parkplatz. Von dort aus sorgen wir für Schlauchboote.
Katastrophen-Outfit liegt unter den Sitzbänken.
Sie werden im Zentrum des Geschehens sein.
Mit garantierter Einblendung in die Tagesschau.«
»Das hört sich gut an«, sagt der Kunde zufrieden.
»Ins Fernsehen will doch jeder.«
»Ich faxe Ihnen die Buchungsbestätigung. Sie kennen ja unsere Geschäftsbedingungen. Wir liefern nur gegen Vorkasse.«
»Ist ja klar!«, sagt der Kunde und lacht spöttisch. »Anders wäre das Risiko für Sie schließlich zu groß.«
»Katastrophen-Tours dankt für den Auftrag…«, sagt Lilli. Sie legt auf und verdreht dabei genervt die Augen. Da klingelt schon der nächste Kunde.
Er will einen aufregenden Erlebnisausflug für das Vereinsjubiläum des Taubenzüchterverbandes.
»Etwas mit viel Äktschn. Es kann ruhig weiter weg sein. Wir fliegen gern durch Turbulenzen.«
»Auf einem anderen Erdteil vielleicht?«, erkundigt sich Lilli und holt die internationalen Angebote auf den Bildschirm ihres Computers.
JE WEITER DIE REISE, DESTO HÖHER DIE PREISE – UND DESTO BESSER DIE PROVISION!, mahnt das Werbebanner der Geschäftsleitung, das jetzt über den Bildschirm weht.
»Anderer Erdteil? Sehr gut!«, murmelt der Kunde.