Ross Thomas

Gelbe Schatten

Ein McCorkle-und-Padillo-Fall

Aus dem Amerikanischen von Wim W. Elwenspoek,
bearbeitet von Stella Diedrich und Gisbert Haefs,
durchgesehen von jst

 

 

Alexander Verlag Berlin | Köln

Die Ross-Thomas-Edition im Alexander Verlag Berlin

Herausgegeben von Alexander Wewerka

Umweg zur Hölle. Ein Artie-Wu-und-Quincy-Durant-Fall

Am Rand der Welt. Ein Artie-Wu-und-Quincy-Durant-Fall

Voodoo, Ltd. Ein Artie-Wu-und-Quincy-Durant-Fall

Kälter als der Kalte Krieg. Ein McCorkle-und-Padillo-Fall

Die Backup-Männer. Ein McCorkle-und-Padillo-Fall (Herbst 2012)

Gottes vergessene Stadt

Teufels Küche

Die im Dunkeln

Der Yellow-Dog-Kontrakt

Der achte Zwerg

 

 

Erste vollständige deutsche Ausgabe

Die deutsche (stark gekürzte) Erstausgabe erschien 1970 unter dem Titel

Der Tod wirft gelbe Schatten im Ullstein Verlag, Frankfurt/M., Berlin.

Die amerikanische Originalausgabe erschien 1967 unter dem Titel

Cast a Yellow Shadow..

© 1967 by Ross Thomas.

Licensed with The Estate of Ross E. Thomas

© für diese Ausgabe und die bearbeitete und vollständige Übersetzung by Alexander Verlag Berlin 2012

Alexander Wewerka, Fredericiastr 8, D-14050 Berlin

info@alexander-verlag.com

www.alexander-verlag.com

Umschlaggestaltung: Antje Wewerka

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-89581-293-4 (e-book)

 

 

 

 

Das Buch: Nachdem seine Bar in Bonn in die Luft gesprengt wurde, ist McCorkle mit seiner Frau Fredl in die USA zurückgekehrt und hat ›Mac’s Place‹ in Washington neu eröffnet. Als sein Geschäftspartner Mike Padillo mit einem Messerstich von einem Schiff taumelt, löst sich der Traum von einem ruhigen Leben in Luft auf: Fredl wird von Entsandten eines südafrikanischen Landes entführt, die verlangen, daß Padillo ihren Premierminister ermordet und so die Bemühungen um Unabhängigkeit stärkt und die Gleichberechtigung von Schwarzen und Weißen verhindert. Mit Hilfe von zwielichtigen Doppelagenten und Washingtons Unterwelt unternehmen McCorkle und Padillo eine waghalsige Rettungsaktion, deren Gelingen nicht nur über Fredls Leben entscheidet …

 

Der Autor: Ross Thomas, geboren 1926in Oklahoma, richtete in den fünfziger Jahren das deutsche AFN-Büro in Bonn ein und arbeitete als Journalist, Gewerkschaftssprecher und Public-Relations-und Wahlkampfberater für Politiker in den USA. Seine vielfältigen Erfahrungen verarbeitete er in seinen Politthrillern, in denen er vor allem die Hintergründe des (amerikanischen) Politikbetriebs entlarvt und bloßstellt. Ihm wurden zweimal der Edgar Allan Poe Award und mehrmals der Deutsche Krimi Preis verliehen. Bis zu seinem Tod 1995entstanden 25 Romane.

 

 

 

Für J. Edwin und Laura E.

Inhaltsverzeichnis

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Die Ross-Thomas-Edition

1

Der Anruf kam, während ich den gescheiterten Kongreßabgeordneten zu überreden versuchte, seine Rechnung zu begleichen, bevor er seine American-Express-Karte verbrannte. Die Rechnung betrug achtzehn Dollar fünfunddreißig, und der Abgeordnete war betrunken und hatte seine Karten von Carte Blanche, Standard Oil und Diners Club bereits abgefackelt. Er hatte eine Menge Streichhölzer verbraucht, während er an der Bar saß, Scotch trank und die Karten in einem Aschenbecher verbrannte. »Zwei Stimmen pro Bezirk«, sagte er zum zwölften Mal. »Nur zwei lausige Stimmen pro Bezirk.«

»Wenn man Sie zum Botschafter macht, brauchen Sie allen Kredit, den Sie kriegen können«, sagte ich, als Karl mir den Telefonhörer reichte. Der Abgeordnete dachte einen Moment darüber nach, runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Er sagte wieder etwas von zwei Stimmen pro Bezirk und setzte die American-Express-Karte in Brand. Ich sagte hallo ins Telefon.

»McCorkle?« Es war die Stimme eines Mannes.

»Ja?«

»Hier Hardman.« Es war eine weiche Baßstimme mit einer Menge Arme-Leute-Sauce und Grütze darin. Wie er Hardman aussprach, bestand der Name aus zwei getrennten Wörtern, einem Adjektiv und einem Substantiv, und beide hatten gleiches Gewicht.

»Was kann ich für Sie tun?«

»Reservieren Sie mir für morgen einen Tisch zum Lunch? So um viertel nach eins?«

»Sie brauchen keine Reservierung.«

»Wollte nur mal von mir hören lassen.«

»Die Pferde hab ich aufgegeben«, sagte ich. »Ich hab seit zwei Tagen keine Wette abgeschlossen.«

»So was hat man mir berichtet. Mann, versuchen Sie als Gewinner auszusteigen?«

»Ich versuche nur auszusteigen. Was haben Sie auf dem Herzen?«

»Also, ich hab drüben in Baltimore was laufen.« Er machte eine Pause. Ich wartete. Ich war auf langes Warten gefaßt. Hardman kam aus Alabama oder Mississippi oder Georgia oder einem dieser Staaten, wo sie alle ähnlich reden und ein langes Wochenende brauchen, um zur Sache zu kommen.

»Sie haben in Baltimore was laufen, und Sie wollen morgen viertel nach eins einen Tisch reserviert haben, und Sie wollen wissen, warum ich seit zwei Tagen nicht mehr bei Ihnen gewettet habe. Sonst noch was?«

»Tja, wir sollten in Baltimore was von ’nem Schiff abholen, und dabei hat’s ein bißchen Ärger gegeben, und dieser Weiße ist verletzt worden. Deshalb hat Mush – Sie kennen Mush?«

Ich sagte ihm, daß ich Mush kannte.

»Also, Mush wäre fast von so ’n paar Motherfuckern in die Mangel genommen worden, als sich dieser weiße Knabe einschaltet und Mush hilft – Sie verstehen?«

»Vollkommen.«

»Wie bitte?«

»Weiter.«

»Also, einer von den Typen hat ein Messer und ritzt den weißen Knaben ein bißchen, aber erst, als er eingegriffen und Mush geholfen hat – Sie verstehen?«

»Warum rufen Sie mich an?«

»Also, Mush hat den weißen Knaben mit nach Washington gebracht, weil er sich den Kopf gestoßen hat und blutet und weg ist und überhaupt.«

»Und Sie brauchen heute nacht noch Blut?«

Hardman kicherte, was übers Telefon wie Rumpeln klang. »Scheiße, Baby, Sie sind mir einer!«

»Wieso ich?«

»Also, der Knabe hatte nix bei sich. Kein Geld –«

»Das hat Mush überprüft, würde ich sagen.«

»Kein Gold, kein Ausweis, keine Brieftasche, nix. Bloß ein altes Stück Papier mit Ihrer Adresse drauf.«

»Hat er eine Beschreibung, oder sehen alle Weißen gleich aus?«

»Um die eins achtzig, vielleicht knapp drüber«, sagte Hard-man. »Vielleicht. Kurzes Haar, bißchen Grau drin. Dunkel für ’n Weißbrot. Ist wohl ziemlich viel in der Sonne gewesen. Ungefähr Ihr Alter, bloß dünner, aber, Teufel, wer ist das nicht?«

Ich versuchte, meiner Stimme nichts anmerken zu lassen; keine Betonung, kein Interesse. »Wo habt ihr ihn?«

»Wo ich jetzt bin, ’ne Bude an der Fairmont.« Er nannte mir die Adresse. »Meinen Sie, Sie kennen den? Er ist weggetreten.«

»Kann sein«, sagte ich. »Ich komm vorbei. Habt ihr einen Arzt geholt?«

»War da und ist wieder weg.«

»Ich komme, sobald ich ein Taxi bekommen kann.«

»Sie vergessen die Reservierung nicht?«

»Ist schon notiert.« Ich hängte ein.

Karl, der Barmann, den ich aus Deutschland importiert hatte, war in ein Gespräch mit dem Abgeordneten vertieft. Ich winkte ihn ans andere Ende der Bar.

»Kümmern Sie sich um den Ehrenwerten«, sagte ich. »Bestellen Sie ihm ein Taxi – bei der Gesellschaft, die auf Betrunkene spezialisiert ist. Wenn er kein Geld hat, soll er die Rechnung abzeichnen, und wir schicken sie ihm dann.«

»Er hat morgen um neun im Rayburn Building eine Ausschußsitzung«, sagte Karl. »Es geht um Aufforstung. Riesenmammutbäume. Ich hatte sowieso vor, mir das anzuhören, also hole ich ihn morgen früh ab, damit er auf jeden Fall hinkommt.«

Manche Leute lungern in Polizeirevieren rum. Karl lungerte im Kongreß herum. Er war noch kein Jahr in den Staaten, aber er konnte die Namen der hundert Senatoren und der vierhundertfünfunddreißig Abgeordneten des Repräsentantenhauses in alphabetischer Reihenfolge aufsagen. Er wußte, wie sie bei jeder Abstimmung ihr Votum abgegeben hatten. Er wußte, wo und wann Ausschüsse tagten und ob ihre Sitzungen öffentlich oder geheim waren. Er konnte einem den Status jeder wichtigen Gesetzesvorlage sowohl im Senat wie im Abgeordnetenhaus nennen und mit neunzig bis fünfundneunzig Prozent Sicherheit voraussagen, welche Chancen sie hatten, angenommen zu werden. Er las gewissenhaft die Protokolle des Kongresses und kicherte dabei. Er hatte früher für mich in einem Lokal gearbeitet, das mir in Bonn gehört hatte, aber der Bundestag hatte ihn nie amüsiert. Den Kongreß fand er zum Totlachen.

»Nur, daß er nach Hause kommt«, sagte ich, »obwohl er so aussieht, als ob er noch vorm Schließen umkippt.« Der Abgeordnete hing ein bißchen über seinem Glas.

Karl warf ihm einen abschätzenden Blick zu. »Zwei kann er noch vertragen, und dann gebe ich ihm Kaffee. Er wird es schon schaffen.«

Ich sagte Karl, er solle abschließen, nickte einer Handvoll Stammgästen und ein paar Kellnern zu, ging nach Osten zur Connecticut Avenue und dann nach rechts zum Mayflower Hotel. Am Stand vor dem Hotel wartete ein Taxi. Ich stieg hinten ein und nannte dem Fahrer die Adresse. Er drehte sich um und sah mich an.

»Nach Mitternacht fahre ich da nie hin«, sagte er.

»Sagen Sie das nicht mir. Sagen Sie das der Zulassungsstelle für Taxifahrer.«

»Mein Leben ist mehr wert als achtzig Cents.«

»Von mir bekommen Sie einen runden Dollar.«

Auf dem Weg zur Fairmont Street mußte ich mir einen Vortrag darüber anhören, warum George Wallace Präsident sein sollte. Es war ein ziemlich neues Apartmenthaus, flankiert von vierzig bis fünfzig Jahre alten Reihenhäusern. Ich bezahlte den Fahrer und sagte ihm, er brauche nicht zu warten. Er schnaubte, verriegelte schnell alle Türen und raste davon. Im Haus fand ich die Tür mit der Apartmentnummer und läutete. Drinnen konnte ich die Klingel hören. Hardman öffnete.

»Treten Sie ein in dieses Haus«, sagte er.

Ich trat ein. Von irgendwoher rief eine Frauenstimme: »Sag ihm, er soll die Schuhe ausziehen, hörst du?«

Ich blickte zu Boden. Ich stand auf einem tiefen Wollteppich von reinstem Weiß.

»Sie will nicht, daß ihr weißer Teppich versaut wird«, sagte Hardman und zeigte auf seine unbeschuhten Füße. Ich kniete nieder und zog mir die Schuhe aus. Als ich aufstand, reichte Hardman mir einen Drink.

»Scotch mit Wasser, okay?«

»Prima.« Ich sah mich im Wohnraum um. Er war L-förmig, hatte eine orangefarbene Couch und Sessel in Teak und Leder, einen Eßtisch, ebenfalls Teak, und eine Menge knallbunter Kissen, die sorgfältig hier und da verteilt waren, um es lässig aussehen zu lassen. An den Wänden hingen ein paar schrille Drucke. Jemand hatte sich eine Menge Gedanken über den Raum gemacht, und insgesamt wirkte er ganz gelungen und gerade noch nicht protzig.

Ein großes braunes Mädchen in roten Hosen kam mit wiegendem Gang ins Zimmer und klopfte ein Fieberthermometer herunter. »Kennen Sie Betty?« fragte Hardman.

Ich sagte nein. »Hallo, Betty.«

»Sie sind McCorkle.«

Ich nickte.

»Der Mann ist krank«, sagte sie, »zwecklos, jetzt mit ihm reden zu wollen. Der ist mindestens noch ’ne Stunde bewußtlos, sagt Dr. Lambert. Der sagt auch, daß er transportiert werden kann, wenn er wach wird. Wenn das also ein Freund von Ihnen ist, schaffen Sie ihn bitte fort, wenn er aufwacht? Er liegt in meinem Bett, und ich hab nicht vor, auf ’ner Couch zu schlafen. Das wird Hard machen.«

»Aber, Honey –«

»Nenn mich nicht Honey, du nichtsnutziger Hurensohn.« Sie erhob die Stimme nicht, als sie das sagte. Das hatte sie nicht nötig. »Schleppst ’nen angestochenen Betrunkenen an und steckst ihn in mein Bett. Warum bringst du ihn nicht ins Krankenhaus? Oder zu dir nach Hause? Bloß würd das deine feine Frau nicht mitmachen.« Betty wandte sich mir zu und zeigte auf Hardman. »Sehen Sie sich ihn an: ein Meter neunzig groß, aufgeputzt wie sonstwas, läuft rum und spricht sich ›Hart-Mann‹ aus, und läßt sich von einer eins fünfzig großen Fotze an der Nase rumführen. Mach mir ’nen Drink.« Betty ließ sich auf die Couch plumpsen, und Hardman mixte ihr hastig einen Drink.

»Was ist mit dem Mann in Ihrem Bett, Betty?« sagte ich. »Kann ich ihn sehen?«

Sie zeigte achselzuckend auf die Tür. »Gleich da durch. Ist immer noch weggetreten.«

Ich nickte und stellte mein Glas auf einen Tisch, auf dem ein Untersetzer lag. Ich ging durch die Tür und betrachtete den Mann im Bett. Es war ein großes, luxuriöses Bett, das eine ovale Form hatte und den Mann kleiner erscheinen ließ, als er war. Ich hatte ihn länger als ein Jahr nicht gesehen, und auf seinem Gesicht waren ein paar neue Falten, und in seinem Haar war mehr Grau, als ich in Erinnerung hatte. Er hieß Michael Padillo, und er beherrschte akzentfrei sechs oder sieben Sprachen, konnte gut mit Schußwaffen und mit einem Messer umgehen und etwas zubereiten, was als der beste Whiskey Sour in Europa bezeichnet worden ist.

Daneben zeichnete ihn vor allem aus, daß viele Leute meinten, er sei tot. Viel mehr hofften, er wäre es.

2

Als ich Michael Padillo zum letztenmal sah, fiel er gerade von einem Lastkahn in den Rhein. Es hatte einen Kampf mit Schußwaffen, Fäusten und einer abgebrochenen Flasche gegeben. Padillo und ein Chinese namens Jimmy Ku gingen über Bord. Jemand hatte damals mit einer Flinte auf mich gezielt, und die Flinte war losgegangen, deshalb war ich mir nie ganz sicher, ob Padillo ertrunken war oder nicht, bis ich eine Postkarte von ihm erhielt. Sie war in Dahomey in Westafrika aufgegeben worden, enthielt nur ein Wort – »Well« – und war mit einem »P.« unterschrieben. Er war nie ein großer Schreiber gewesen.

Nachdem die Postkarte angekommen war, saß ich manchmal an trüben Tagen herum, trank zuviel und stellte Vermutungen darüber an, wie Padillo es vom Rhein an die Westküste Afrikas geschafft hatte und ob ihm das Klima zusagte. Er war gut darin, von einem Ort zum anderen zu kommen. Wenn er mir nicht half, unser Lokal in Bonn zu betreiben, war er im Auftrag einer dieser sonderbaren Regierungsbehörden unterwegs gewesen, die ihn ständig in Städte wie Lodz oder Leipzig oder Tallinn schickten. Ich fragte ihn nie, was er machte; er erzählte es mir nie.

Als seine Behörde beschloß, ihn gegen ein paar Überläufer in den Osten auszutauschen, versuchte Padillo, sich von seinem Vertrag freizukaufen. Das gelang ihm in jener Frühlingsnacht, als er von dem Frachtkahn in den Rhein fiel, ungefähr eine halbe Meile flußaufwärts von der Amerikanischen Botschaft entfernt. Seine Agentur schrieb ihn ab, und niemand von der Botschaft kam jemals vorbei, um sich zu erkundigen, was aus dem netten Mann geworden war, dem die Hälfte von Mac’s Place in Bad Godesberg gehörte.

Padillos Versuch, als Geheimagent auszusteigen, hatte uns beide zu einer Reise nach Ost-Berlin und zurück genötigt. Während unserer Abwesenheit hatte jemand aus Rache für eine tatsächliche oder eingebildete Kränkung unser Lokal in die Luft gesprengt, also kassierte ich die Versicherungssumme, heiratete und eröffnete in Washington, wenige Blocks westlich der Connecticut Avenue in der K Street, Mac’s Place neu. Es ist dunkel und es ist ruhig, und die Preise schrecken die jährlichen Pilgerscharen der High-School-Abschlußklassen ab.

Ich stand da im Schlafzimmer und sah Padillo eine Weile an. Ich konnte nicht sehen, wo er verletzt worden war. Er war bis zum Hals zugedeckt. Er lag vollkommen ruhig in dem Bett und atmete durch die Nase. Ich drehte mich um und ging in den Wohnraum mit dem weißen Teppich zurück.

»Wie schwer ist er verletzt?« fragte ich Hardman.

»Es hat ihn zwischen den Rippen erwischt, und er hat ziemlich geblutet. Mush meint, der Junge hätte die beiden fast erledigt. Gute, sichere und schnelle Bewegungen, als ob er das sein ganzes Leben lang gemacht hat.«

»Er ist kein Anfänger«, sagte ich.

»Ein Freund von Ihnen?«

»Mein Partner.«

»Was werden Sie mit ihm machen?« sagte Betty.

»Er hat eine kleine Suite im Mayflower; da bring ich ihn hin, wenn er aufwacht, und suche jemand, der sich um ihn kümmert.«

»Das wird Mush tun«, sagte Hardman. »Er ist ihm was schuldig.«

»Dr. Lambert sagt, er ist nicht schwer verletzt, aber ganz schlapp – erschöpft«, sagte Betty. Sie sah auf ihre Uhr, die mit vielen Diamanten besetzt war. »So in ’ner halben Stunde wird er aufwachen.«

»Ich nehme an, daß Dr. Lambert nicht die Polizei gerufen hat« sagte ich.

Hardman schnaubte. »Was ist denn das für ’ne blöde Frage?«

Ich hätte es wissen müssen. »Darf ich mal telefonieren?«

Betty zeigte auf den Apparat. Ich wählte eine Nummer, und es läutete lange. Niemand meldete sich. Der Apparat war ein Tastentelefon, und ich versuchte es noch mal, weil ich mich vielleicht verwählt oder vertippt hatte. Ich rief meine Frau an und hatte die üblichen Reaktionen eines Ehemannes, dessen Frau um viertel vor zwei nachts nicht ans Telefon geht. Ich ließ es neunmal klingeln und hängte dann ein.

Meine Frau war Korrespondentin für eine Frankfurter Zeitung – jene mit den sorgfältigen Leitartikeln. Sie war zum zweiten Mal als Journalistin in den Staaten. Ich hatte sie in Bonn kennengelernt, und sie wußte über Padillo und seine Gelegenheitsarbeiten Bescheid, die er früher für die unauffällig erfolglose Konkurrenz der CIA erledigt hatte. Der Name meiner Frau war Fredl, und ehe sie mich heiratete, Fräulein Dr. Fredl Arndt. Den Doktortitel hatte sie in Politikwissenschaft an der Uni Bonn erworben, und manche ihrer schicken Freunde redeten mich mit »Herr Doktor McCorkle« an, was ich ganz gut ertrug. Nach etwas mehr als einem Jahr Ehe war ich sehr verliebt in meine Frau. Ich mochte sie sogar.

Ich rief im Lokal an und erreichte Karl. »Hat meine Frau angerufen?«

»Nicht heute abend.«

»Ist der Abgeordnete noch da?«

»Er schließt den Laden mit Kaffee und Brandy. Die Rechnung beträgt jetzt vierundzwanzig Dollar fünfundachtzig, und er sucht immer noch nach zwei Stimmen pro Wahlbezirk. Wenn er die bekommen hätte, hätte er die Stichwahl schaffen können.«

»Vielleicht können Sie ihm suchen helfen. Wenn meine Frau anruft, sagen Sie ihr, ich bin bald zu Hause.«

»Wo stecken Sie denn gerade?« Karl sprach ohne deutschen Akzent, hatte sein Englisch aber von der endlosen Prozession der Soldaten gelernt, die in den ersten Nachkriegsjahren aus dem riesigen PX in Frankfurt kamen. Als siebenjähriger Waisenjunge hatte er ihre Zigaretten gekauft, um sie auf dem schwarzen Markt zu verkaufen.

»Ich bin bei Freunden und habe noch etwas zu erledigen. Wenn Fredl also noch anruft, sagen Sie ihr, ich bin bald zu Hause.«

»Bis morgen.«

»Richtig.«

Hardman stemmte seine eins neunzig großen Knochen und harten Muskeln aus dem Sessel, ging um Betty herum, als ob sie beißen würde, und ging einen weiteren Drink mixen. Er entsprach so ziemlich dem, was Washington an Gangstern zu bieten hatte. Nehme ich an. Er stand weit oben in der Hierarchie des Zahlenlottos für Neger, betrieb ein einträgliches Buchmachergeschäft und hatte ein Team von Handlangern, die in den besseren Kaufhäusern und Spezialgeschäften alles plünderten, worauf sie Lust hatten. Er trug Anzüge für drei-oder vierhundert Dollar, Schuhe für fünfundachtzig Dollar und fuhr in einem bronzefarbenen Cadillac-Cabriolet durch die Stadt, wobei er sich über ein Funktelefon mit Freunden und Bekannten unterhielt. Er war der Volksheld der Negerjugend in Washington, und die Polizei ließ ihn die meiste Zeit in Ruhe, weil er nicht zu gierig war und dort seinen Verpflichtungen nachkam, wo es wichtig war.

Merkwürdigerweise hatte ich ihn durch Fredl kennengelernt, die einmal ein Feature über die Neger-Gesellschaft Washingtons geschrieben hatte. Hardman nahm in einer Clique dieses geheimnisvoll geschichteten gesellschaftlichen Reichs eine hohe Position ein. Als die Geschichte in Fredls Frankfurter Zeitung erschienen war, hatte sie ihm ein Exemplar geschickt. Der Artikel war auf deutsch, aber Hardman hatte ihn sich übersetzen lassen und tauchte danach mit zwei Dutzend langstieligen Rosen für meine Frau im Restaurant auf. Seitdem war er Stammgast, und ich schloß meine Rennwetten bei seinen Buchmachern ab. Hardman zeigte die Übersetzung des Artikels gern bei seinen Freunden herum und wies darauf hin, daß er als Berühmtheit von internationalem Ruf anzusehen sei.

Mit drei Gläsern in einer riesigen Hand kam er wieder zurück, ging zu Betty, bediente sie und reichte dann mir ein Glas.

»Ist mein Partner mit einem Schiff gekommen?« fragte ich.

»Hmh-mhm.«

»Mit welchem?«

»Unter liberianischer Flagge, und ob Sie’s glauben oder nicht, es kam aus Monrovia. Es heißt Frances Jane und hatte hauptsächlich Kakao geladen.«

»Mush hat aber kein Pfund Kakao abgeholt.«

»Na ja, es war ein bißchen mehr als ein Pfund.«

»Wie ist es passiert?«

»Mush wollte einen von dem Schiff treffen, hängt da rum und wartet eben auf den Mann, da sind die beiden über ihn hergefallen. Dann liegt er auch schon am Boden, und Ihr Freund mischt sich ein und legt sich mit beiden an. Das läuft auch gut, bis sie Messer rausholen. Einer erwischt Ihren Freund zwischen den Rippen, aber in der Zwischenzeit kommt Mush wieder hoch und schnappt sich den einen, dann hauen beide ab. Ihr Freund ist bewußtlos, deshalb durchsucht Mush seine Taschen und findet da Ihre Adresse und ruft mich an. Ich sag ihm, er soll noch ein bißchen warten und sehen, ob der Typ kommt, den er treffen will, aber wenn in zehn Minuten keiner auftaucht, soll er nach Washington zurückkommen und den weißen Knaben mitbringen. Hat ganz schön in Mushs Wagen geblutet.«

»Sagen Sie ihm, er soll mir die Rechnung schicken.«

»Scheiße, Mann, so hab ich’s nicht gemeint.«

»Das hab ich auch nicht gedacht.«

»Mush ist bald wieder hier. Er bringt Sie und Ihren Kumpel zum Hotel.«

»Gut.«

Ich stand auf und ging wieder ins Schlafzimmer. Padillo lag noch immer ruhig im Bett. Ich blieb stehen, sah ihn an, meinen Drink in der Hand, und rauchte eine Zigarette. Er rührte sich und schlug die Augen auf. Er sah mich, nickte langsam und ließ die Augen durch das Zimmer wandern.

»Nettes Bett«, sagte er.

»Gut geschlafen?«

»Angenehm. Wie schlecht geht’s mir?«

»Du wirst es überleben. Wo bist du gewesen?«

Er lächelte flüchtig, leckte sich die Lippen und seufzte. »Unterwegs«, sagte er.

Hardman und ich halfen Padillo beim Anziehen. Er hatte ein weißes Hemd, das zwar gewaschen, aber nicht gebügelt worden war, eine Khakihose im gleichen Zustand, eine Navy-Pijacke und schwarze Schuhe sowie weiße Baumwollsocken.

»Wer ist dein neuer Schneider?« fragte ich.

Padillo sah an seiner Kleidung herunter. »Ein wenig leger, hm?«

»Betty hat alles in ihrer Maschine gewaschen«, sagte Hardman. »Das Blut war noch nicht ganz trocken, darum ging es leicht raus. Aber zum Bügeln ist sie nicht gekommen.«

»Wer ist Betty?«

»Du hast in ihrem Bett geschlafen«, sagte ich.

»Bedank dich für mich bei ihr.«

»Sie ist im Nebenzimmer. Du kannst dich selber bei ihr bedanken.«

»Können Sie gehen?« sagte Hardman.

»Gibt’s nebenan außer Betty auch einen Drink?«

»Klar.«

»Ich kann gehen.«

Er konnte, wenn auch nur langsam. Ich trug die verbotenen Schuhe. An der Tür blieb Padillo stehen, legte eine Hand an den Rahmen, um sich zu stützen. Dann trat er ins Wohnzimmer. »Vielen Dank, daß Sie mir Ihr Bett überlassen haben, Betty«, sagte er zu dem großen braunen Mädchen.

»Gern geschehen. Wie fühlen Sie sich?«

»Etwas wackelig, aber ich glaube, das kommt in erster Linie von Medikamenten. Wer hat mich verbunden?«

»Ein Arzt.«

»Hat er mir eine Spritze gegeben?«

»Hmh-mhm. Sollte bald nachlassen.«

»Hat sie praktisch schon.«

»Der Mann will einen Drink«, sagte Hardman. »Was hätten Sie gern?«

»Scotch, wenn Sie welchen haben«, sagte Padillo.

Hardman schenkte großzügig ein und reichte Padillo das Glas. »Wie steht’s mit Ihnen, Mac?«

»Ist okay.«

»Mush muß jeden Moment hier sein«, sagte Hardman. »Er bringt Sie zum Hotel.«

»Wo soll ich wohnen?« fragte Padillo.

»In deiner Suite im Mayflower.«

»Meine Suite?«

»Ich habe sie in deinem Namen gemietet, und sie wird monatlich von deinem Anteil am Gewinn bezahlt. Sie ist klein – aber ruhig und komfortabel. Du kannst sie von der Einkommensteuer absetzen, falls du je dazu kommst, eine Steuererklärung abzugeben.«

»Wie geht’s Fredl?«

»Wir haben geheiratet.«

»Du hast Glück.«

Hardman sah auf seine Uhr. »Mush muß jeden Moment hier sein«, sagte er noch einmal. »Danke für all Ihre Hilfe – Ihnen und Betty«, sagte Padillo. Hardman wedelte mit seiner großen Hand. »Sie haben uns in Baltimore vor einem großen Reinfall bewahrt. Warum haben Sie sich eigentlich da eingemischt?«

Padillo schüttelte langsam den Kopf. »Ich hatte Ihren Freund gar nicht gesehen. Ich bin einfach um die Ecke gekommen und hatte sie vor mir. Ich dachte, sie hätten es auf mich abgesehen. Der eine mit dem Messer konnte damit umgehen.«

»Waren Sie auf diesem Schiff?« sagte Hardman.

»Welchem?«

»Der Frances Jane

»Ich war Passagier darauf.«

»Sie sind nicht zufällig einem kleinen alten Engländer über den Weg gelaufen? Heißt Landeed, ist so um die Fünfzig oder Fünfundfünfzig und schielt?«

»Ich erinnere mich an ihn.«

»Ist er von Bord gegangen?«

»Nicht in Baltimore«, sagte Padillo. »Vier Tage nach dem Auslaufen aus Monrovia ist sein Blinddarm durchgebrochen. Sie haben ihn im Tiefkühlraum des Schiffs untergebracht.«

Hardman runzelte die Stirn und fluchte. Voller Hingabe. Es klingelte; Betty ging zur Tür, um zu öffnen, und ließ einen großen Neger in anthrazitfarbenem Anzug mit weißem Hemd und dunkelbrauner Krawatte ein. Er trug eine Sonnenbrille um halb drei Uhr morgens.

»Hallo, Mush«, sagte ich.

Er nickte mir zu, und das Nicken schloß Betty und Hardman mit ein. Er ging auf Padillo zu. »Wie fühlen Sie sich?« Seine Stimme war klar und leise.

»Gut«, sagte Padillo.

»Das ist Mustapha Ali«, erklärte Hardman Padillo. »Er ist der Typ, der Sie von Baltimore hergebracht hat. Er ist ein Black Muslim, aber Sie können ihn Mush nennen. Machen alle.«

Padillo sah Mush an. »Sind Sie wirklich Muslim?«

»Bin ich«, sagte der Mann ernst.

Padillo sagte etwas auf arabisch. Mush wirkte überrascht, antwortete aber schnell in der gleichen Sprache. Er schien erfreut.

»Was redest du da, Mush?« fragte Hardman.

»Arabisch.«

»Wo hast du Arabisch gelernt?«

»Von Platten, Mann, von Platten. Ich werd’s brauchen, wenn ich nach Mekka komme.«

»Du bist der schrägste Typ, den ich kenne«, sagte Hardman.

»Wo haben Sie Arabisch gelernt?« fragte Mush Padillo.

»Von einem Freund.«

»Sie können es richtig gut.«

»Ich hatte vor kurzem Gelegenheit zum Üben.«

»Wir bringen dich lieber ins Hotel«, sagte ich zu Padillo. Er nickte und erhob sich langsam.

»Vielen Dank für all Ihre Hilfe«, sagte er zu Betty. Sie sagte, es sei nicht der Rede wert, und Hardman sagte, er werde mich morgen beim Mittagessen sehen. Ich nickte, dankte Betty und folgte Padillo hinaus zu Mushs Wagen. Es war ein neuer Buick, ein großer, der vorn ein Telefon und hinten einen Sony-Fernseher mit Fünf-Zoll-Bildschirm hatte.

»Ich möchte auf dem Weg zum Hotel kurz bei meiner Wohnung halten«, sagte ich zu Mush. »Dauert nicht lange.«

Er nickte, und wir fuhren schweigend durch die Straßen. Padillo starrte aus dem Fenster. »Washington hat sich verändert«, sagte er einmal. »Was ist aus den Straßenbahnen geworden?«

»Wurden 1961 abgeschafft«, sagte Mush.

Fredl und ich wohnten in einem dieser neuen Apartmenthäuser aus Ziegelstein und Glas, die südlich des Dupont Circle hochgezogen worden sind, in einer Gegend, die einmal aus drei- oder vierstöckigen, auf Studenten, Kellner, Autowäscher, Rentner und Profi-Reifenwechsler ausgerichteten Wohnheimen bestand. Spekulanten rissen die Wohnheime ab, bedeckten den Boden mit Asphalt und nannten die Grundstücke einige Zeit Parkplätze. Als sie genug Parkplatz beisammen hatten, beantragten die Spekulanten von der Regierung abgesicherte Darlehen, bauten ein Apartmenthaus und nannten es The Melanie oder The Daphne nach irgendeiner Ehefrau oder Freundin. Die Miete für eine Wohnung mit zwei Schlafzimmern in diesen Häusern beruhte auf der Annahme, daß beide, Mann wie Frau, nicht nur glänzend verdienten, sondern auch noch Glück an der Börse hatten.

Niemand schien sich jemals dafür zu interessieren, was mit den Studenten, Kellnern, Autowäschern, Rentnern und Profi-Reifenwechslern passierte.

Mush parkte in der kreisförmigen Auffahrt, wo Parken verboten war, und wir fuhren mit dem Fahrstuhl in den siebten Stock.

»Fredl wird sich freuen, dich zu sehen«, sagte ich zu Padillo. »Vielleicht lädt sie dich sogar zum Abendessen ein.« Ich öffnete die Tür. Eine große Lampe im Wohnraum war an, aber die Lampe war auf den Boden geworfen worden, und der Schirm lag ein ganzes Stück entfernt. Ich ging hin, hob sie auf, stellte sie auf den Tisch und steckte den Schirm wieder darauf. Ich schaute ins Schlafzimmer, obwohl es mir albern vorkam. Sie war nicht da. Ich ging ins Wohnzimmer zurück, und dort stand Padillo neben dem Plattenspieler mit einem Stück Papier in der rechten Hand. Mush blieb an der Tür.

»Eine Nachricht«, sagte ich.

»Eine Nachricht«, bestätigte er.

»Aber nicht von Fredl.«

»Nein. Von denen, die sie mitgenommen haben.«

»Eine Lösegeldforderung«, sagte ich. Ich wollte sie nicht lesen.

»So ähnlich.«

»Wieviel wollen sie haben?«

Padillo merkte, daß ich die Nachricht nicht lesen wollte. Er legte sie auf den Couchtisch.

»Nicht viel«, sagte er. »Nur mich.«

3

Ich setzte mich in meinen Lieblingssessel und schaute den Teppich an. Dann sah ich zu, wie sich Padillo an Mush wandte und sagte: »Sie können jetzt wohl heimfahren. Das hier wird eine Weile dauern.« Ich sah Mush an. Er nickte. »Kann ich irgendwas für Sie tun?« fragte er. Er klang interessiert.

»Im Augenblick nicht«, sagte Padillo.

Wieder nickte er. »Sie wissen, wo ich zu erreichen bin.«

»Weiß ich«, sagte Padillo.

Mush drehte sich schnell um und ging. Er schloß die Tür, und das Schloß machte kaum ein Geräusch, als es einrastete. Ich sah mich im Wohnzimmer um. Die Bilder hingen noch an den Wänden, einige, die Fredl aus Deutschland mitgebracht hatte, andere, die ich mitgebracht hatte, und solche, die wir gemeinsam in Washington und New York ausgesucht hatten. Die Bücher standen noch in dem Regal, das eine Wand bedeckte. Die Möbel, eine merkwürdige Mischung, aber bequem, standen noch an ihrem Platz. Nur eine Lampe war umgeworfen worden. Mir gefiel das Zimmer. Es enthielt zwei Persönlichkeiten. In einer Ecke befand sich eine kleine Bar, die eine Facette von einer dieser Persönlichkeiten darstellte. Ich stand auf und ging hin.

»Scotch?« fragte ich Padillo.

»Scotch.«

»Was steht in der Nachricht?«

»Du liest sie besser selbst.«

»Na gut. Ich lese sie.«

Ich reichte ihm den Scotch. Er nahm die Nachricht vom Tisch und gab sie mir. Sie war getippt, einzeilig, undatiert und ohne Unterschrift.

Sehr geehrter Mr. McCorkle:

Wir haben Mrs. McCorkle in unsere Obhut genommen. Inzwischen werden Sie von ihrem Kollegen, Mr. Michael Padillo, gehört haben, der heute abend an Bord der Frances Jane in Baltimore eintreffen sollte. Sobald Mr. Padillo den Auftrag ausgeführt hat, um den wir ihn ersucht haben, werden wir Mrs. McCorkle weitgehend unversehrt freilassen.

Wir müssen Sie allerdings davor warnen, die Polizei oder das Federal Bureau of Investigation oder irgendeine andere Strafverfolgungsbehörde zu unterrichten. Falls Sie das tun, oder falls Mr. Padillo versäumt, den ihm erteilten Auftrag auszuführen, sehen wir uns zu unserem Bedauern gezwungen, Mrs. McCorkle zu beseitigen.

Mr. Padillo kann Sie vollständig über seinen Auftrag informieren. Das weitere Wohlbefinden von Mrs. Mc-Corkle hängt von seiner Kooperationsbereitschaft ab. Bisher war er nicht kooperativ. Wir bedauern, daß wir zu dieser Überredungsmethode greifen müssen.

Ich las die Mitteilung zweimal und legte sie dann auf den Couchtisch zurück. »Warum Fredl?« fragte ich.

»Weil ich es für Geld nicht tun wollte, und ein anderes Druckmittel konnten sie nicht finden. Sie haben es bereits versucht.«

»Werden sie sie umbringen?«

Er sah mich an, und der Blick seiner dunklen spanischen Augen war fest und kalt und seltsamerweise ohne Spiegelung. »Sie werden sie umbringen, egal, was ich tue.«

»Ist sie schon tot? Haben sie sie schon umgebracht?«

Padillo schüttelte den Kopf. »Nein. Sie haben sie noch nicht umgebracht. Sie werden sie als Druckmittel benutzen.«

Ich stand auf, ging zu einem der Bücherregale und fuhr zerstreut mit einem Finger über die Rücken. »Vielleicht sollte ich schreien«, sagte ich. »Vielleicht sollte ich brüllen und schreien und gegen die Wand schlagen.«

»Vielleicht solltest du das«, sagte er.

»Ich habe gelesen, daß es klüger ist, die Polizei zu alarmieren. Einfach die Polizei und das FBI anrufen und ihnen alles überlassen. Sie gehen in Schulen, wo sie so was lernen.«

»Wenn du das tust, werden sie sie umbringen. Sie werden dich beobachten. Vielleicht haben sie dein Telefon angezapft. Du mußt dich irgendwo mit der Polizei oder dem FBI treffen. Wenn du das tust, stirbt sie. Und alles, was du dann hast, ist ein mit einer geliehenen Schreibmaschine auf billiges Papier geschriebener Brief und eine tote Frau.«

Ich zog ein Buch aus dem Regal und betrachtete es. Dann stellte ich es zurück. Zwei Sekunden später konnte ich mich nicht mehr an seinen Titel erinnern. »Erzähl mir lieber, worum es geht«, sagte ich. »Danach entscheide ich, ob ich die Cops rufe oder nicht.«

Padillo nickte, stand auf, ging zur Bar und schenkte sich selbst einen Drink ein. »Ich werde alles tun, um sie zurückzuholen«, sagte er. »Alles. Ich werde tun, was sie von mir verlangen, oder ich werde zur Polizei gehen oder zum FBI – falls du dich dazu entschließt. Oder wir versuchen etwas anderes. Möchtest du noch einen Drink?« Ich nickte.

»Die Entscheidung liegt aber bei dir«, fuhr er fort. »Du mußt entscheiden, was passieren soll.«

Er brachte die Gläser zum Couchtisch und setzte sich vorsichtig in einen Sessel. Dabei zuckte er zusammen. Die Messerwunde schien zu schmerzen.

»In jener Nacht auf dem Rhein, als ich mit Jimmy Ku über Bord gegangen bin«, sagte er. »Jimmy konnte nicht schwimmen. Er ist ertrunken. Ich hatte eine Schußverletzung am linken Arm, aber ich hab’s ans Ufer geschafft. Ich war krank, war angeschossen und verdammt müde. Ich habe gehört, wie sie dir die Böschung hoch geholfen haben. Ich war ganz in der Nähe. Ihr habt dann einen Lastwagen angehalten, stimmt’s?«

Ich nickte.

»Als ich dort lag, hab ich beschlossen, einige Zeit tot zu sein. Ich habe beschlossen, in der Schweiz tot zu sein. Ich bin nach Zürich gegangen. Es ist leicht, dort tot zu sein. Wie ich in die Schweiz gekommen bin, brauchst du nicht zu wissen.«

»Gehen wir davon aus, daß du nicht geschwommen bist.«

»Ja. Zuerst ging ich nach Remagen und hab einen Arzt gefunden, und dann ging’s weiter nach Zürich. Indirekt bin ich mit dir in Verbindung geblieben. Ich habe gehört, daß das Restaurant in die Luft flog, und angenommen, daß du die Versicherungssumme kassieren würdest – wir waren sowieso überversichert. Ich hab also ein paar Monate in Zürich gesessen und nichts getan. Ich habe mich bei einem Freund aufgehalten, und der Freund hat mir ein Angebot gemacht.«

»In Afrika.«

»Ganz richtig. Afrika. Westafrika. Wir saßen in seinem Büro, und er hatte eine große Karte. Er hatte auch ein großes Büro. Mein Freund hatte den Eindruck, daß ein paar westafrikanische Länder bald Bedarf an Handfeuerwaffen haben würden, und zufällig hatte er ein paar Lagerhäuser voll davon, kaum benutzt. Er zählte die Länder für mich auf: Ghana, Nigeria, Togo, Dahomey, vielleicht Kamerun und so weiter. Er brauchte einen Handelsreisenden. Er besaß die Liste von Interessenten, und was er brauchte, war eigentlich nur jemand, der Aufträge notiert. Wenn die Interessenten kauften, schön. Wenn nicht, tat es ein anderer. Ich sollte ein festes Gehalt bekommen – ein hohes.«

»Du bist gegangen«, sagte ich.

Padillo nickte. »Ich bin nach Guinea geflogen und habe mich die Küste entlanggearbeitet. An einem Tag habe ich Bestellungen von einer Interessentengruppe entgegengenommen, am nächsten von einer anderen. Die Ware war gut, und mein Freund in Zürich wußte, wer wofür reif war. Ich verschob vor allem Sachen mit Kaliber 7,62Millimeter. Er war sehr stark im Standardisieren von Waffen in ganz Afrika. Ich hab eine ganze Menge Abschlüsse gemacht. Wenn du die Zeitungen gelesen hast, wirst du wissen, wo.«

»Ich habe mich auf dem laufenden gehalten.«

»Das letzte Land, in dem ich war, war ruhig. Es stand kurz vor der Unabhängigkeit, und mein Freund in Zürich meinte, ich sollte ein paar Monate dableiben, deshalb sorgte er dafür, daß ich dort die Leitung für ein Lokal übernahm, das einem seiner Geschäftsfreunde gehörte. Das Lokal lag etwa fünfzig Meilen von nirgendwo entfernt. Es war eine langwierige Warterei, aber mein Freund in Zürich war überzeugt, daß es sich bezahlt machen würde.«

»War das so?« sagte ich.

Padillo nickte. »Er war der Meinung, es würde noch besser sein als Nigeria, und er hatte recht. Die Militärs haben einen Staatsstreich organisiert, und diejenigen, die nicht erschossen wurden, machten sich mit dem größten Teil der Staatskasse aus dem Staub. Sie haben einen ziemlich großen Auftrag erteilt. Als letztes auf meiner Liste stand Togo. Seit Olympio dreiundsechzig ermordet wurde, ist es dort ruhig gewesen, und mein Freund in Zürich meinte, die Zeit könnte langsam reif sein.«

Er schwieg und trank einen Schluck. »Auf meinem Weg nach Togo bin ich durch Dahomey gekommen. Von da hab ich dir eine Karte geschickt.«

»An dem Tag scheinst du einen Schreibkrampf gehabt zu haben.«

Er lächelte flüchtig. »So ähnlich. Ich war in diesem Hotel in Togo – in Lomé –, als sie vorbeikamen.«

»Dieselben, die diese Mitteilung hier geschrieben haben?«

»Wahrscheinlich. Aus irgendeinem Grund haben sie versucht, sich als Deutsche auszugeben. Sie haben mir ihren Vorschlag auf deutsch gemacht, ich habe ihn auf englisch abgelehnt, und sie haben ihr Deutsch stecken lassen. Dann haben sie ihr Angebot erhöht – von fünfzigtausend Dollar auf fünfundsiebzigtausend. Ich hab noch immer nein gesagt.«

Er legte eine kurze Pause ein. »Es waren zwei«, fuhr er fort. »Und sie erzählten mir Dinge über mich. Sie haben mir eine ganze Menge erzählt – selbst Sachen, die ich fast schon vergessen hatte. Sie wußten alles über dich und das Lokal, über mich und meine früheren Arbeitgeber. Sie wußten sogar von den beiden Überläufern und wie wir sie zurückgebracht hatten.«

»Wo hatten sie das her?«

»Wohlgemuth hat wahrscheinlich jemand in Berlin verloren, und der muß eine Akte mitgenommen haben. Wohlgemuth wußte eine Menge über uns.«

»Und was dann?«

»Sie redeten mit mir in Lomé über Erpressung, und ich hab sie ausgelacht. Ich habe gesagt, ich würde einfach in die Schweiz zurückgehen und wieder sterben. Man muß etwas zu verlieren haben, um erpreßt werden zu können, und es gab nichts, was sie mir wegnehmen konnten. Also haben sie auf die letzte Drohung zurückgegriffen, die sie alle anwenden, weil sie glauben, daß man dann anfängt zu weinen. Entweder würde ich tun, was sie wollten, oder ich wäre innerhalb von achtundvierzig Stunden tot.«

»Wen solltest du töten?«

»Ihren Premierminister. Zeit und Ort hatten sie schon bestimmt: Pennsylvania Avenue, anderthalb Blocks westlich vom Weißen Haus. Was ist heute für ein Tag?«

»Donnerstag.«

»Morgen in einer Woche soll’s passieren.«

Ich war einfach nicht in der Lage, überrascht oder auch nur beunruhigt zu sein. Ich kannte Padillo seit langem, und wir hatten zusammen schon einige Leute sterben sehen. Ein Premierminister wäre nur einer mehr, und sein Tod bedeutete nichts im Vergleich mit dem Verlust, der mir drohte. So schien es mir im Augenblick, denn Fredl war verschwunden, und ich fürchtete, daß sie für immer verschwunden sein könnte und ich wieder allein sein würde. Ich fürchtete, wenn sie tot wäre, würden all die vorangegangenen Jahre in einem Nichts enden. Doch da war keine Panik oder Aufregung oder Raserei. Ich saß ruhig mit Padillo zusammen und hörte ihm zu, wie er von dem Mann sprach, den er töten sollte, damit meine Frau nicht sterben mußte. Ich fragte mich, wie es Fredl ging und ob sie Zigaretten hatte und wo sie schlafen würde und ob sie fror und was sie zu Abend gegessen hatte.

»Morgen in einer Woche«, sagte ich.

»Ein Freitag.«

»Und was hast du ihnen geantwortet?«

»Ich sagte, ich würde ihnen Bescheid geben, und dann bin ich aus Togo verschwunden. Ich bin mit einem fünfzigjährigen Piloten der ehemaligen Luftwaffe losgeflogen, der immer noch meinte, Sturzflüge mit Stukas zu fliegen. Er hat mir tausend Dollar dafür abgenommen, mich nach Liberia zu bringen, nach Monrovia. Ich bin mit dem nächsten Schiff weitergefahren – dem Pott, der mich nach Baltimore gebracht hat.«

»Und das wußten sie«, sagte ich. »Sie wußten, daß du nach Monrovia und nach Baltimore gegangen bist, und sie wußten von mir und Fredl.«

»Sie wußten es«, sagte Padillo. »Ich hätte in die Schweiz zurückkehren sollen. Ich schleppe eine ganze Menge Schwierigkeiten mit mir herum.«

»Und wer ist der Mann, den du töten sollst?«

»Er heißt van Zandt und ist Premierminister von einem der kleineren südafrikanischen Staaten – demjenigen, das Rhodesien mit einer einseitigen Unabhängigkeiterklärung von Großbritannien folgte. Die Briten regten sich darüber auf, redeten von Hochverrat und führten ein paar Wirtschaftssanktionen durch.«

»Ich erinnere mich«, sagte ich. »Jetzt ist es ein Fall für die UNO. Das Land hat ungefähr zwei Millionen Einwohner, und hunderttausend davon sind Weiße. Was hat es sonst noch?«

»Verdammt viel Chrom – etwa ein Drittel unseres Bedarfs.«

»Darauf können wir nicht verzichten.«

»Laut Detroit nicht.«

»Wer will, daß du van Zandt tötest? Er ist ein alter Mann.«

»Die beiden, die an mich herangetreten sind, gehören seinem Kabinett an. Er trifft in einigen Tagen hier ein, um vor den Vereinten Nationen seinen Standpunkt zu vertreten. Zuerst läßt er sich in Washington blicken. Es gibt aber keinen Staatsempfang – nur ein Stellvertretender Außenminister empfängt ihn auf dem Flughafen und für eine Fahrt die Constitution Avenue herunter. Er wird nicht in die Nähe des Weißen Hauses kommen.«