Carl Hegemann, 1978

Carl Hegemann ist Chefdramaturg der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin. Dort arbeitet er mit Unterbrechungen seit dem Beginn der Intendanz von Frank Castorf im Jahr 1992.

Er studierte von 1969 bis 1978 Philosophie, Sozial- und Literaturwissenschaften in Frankfurt am Main und promovierte dort mit der hier wieder veröffentlichten Dissertation. Carl Hegemann wirkte an zahlreichen Theatern und Opernhäusern u. a. in Tübingen, Wiesbaden, Recklinghausen, Bochum, Berlin, Leipzig, Hamburg, Zürich, München, Wien, Köln, Bayreuth und Manaus (Brasilien). Von 2006 bis 2014 war er Professor für Dramaturgie an der Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy« in Leipzig. Derzeit lehrt er u. a. an Universitäten in Hamburg, Zürich und Frankfurt am Main.

Carl Hegemann

IDENTITÄT UND SELBST-ZERSTÖRUNG

Grundlagen einer historischen Kritik moderner Lebensbedingungen bei Fichte und Marx

Das Drama der Subjektkonstitution

Mit einem Vorwort von Christoph Menke und einem Text von René Pollesch

Für Helene, Janine und Julian.

Und für Yuval Noah Harari.

© by Alexander Verlag Berlin 2017

Inhalt

Vorwort

Christoph Menke

»DAS THEATER IST GENAUSO RANDSTÄNDIG WIE DIE PHILOSOPHIE«

Carl Hegemanns Begründung einer transzendentalen Dramatik

Carl Hegemann

IDENTITÄT UND SELBST-ZERSTÖRUNG

Grundlagen einer historischen Kritik moderner Lebensbedingungen bei Fichte und Marx (1978)

Vorbemerkung

I. Kapitel
Einleitung

A. Zwei konträre »lebensphilosophische« Konzepte

1. Das »undeterminierte Ich« und der Mythos vom fröhlichen Sisyphos (Cohen/Taylor)

2. Die Preisgabe des Subjekts und die Freisetzung der Maschinen (Deleuze/Guattari)

Zusammenfassung

B. Theoretische Grundorientierungen

1. Das Defizit traditionell materialistischer Totalitätskonzepte

2. Zur Aktualität Fichtes

II. Kapitel
Die Funktion transzendental-anthropologischer Elemente in einer historisch-kritischen Theorie moderner Lebensbedingungen

A. Historisch unspezifische Grundlagen historisch spezifischer Kritik

B. Der transzendentale Charakter omnihistorischer Bestimmungen

III. Kapitel
Grundlegende Begriffe transzendentaler Anthropologie (Fichte)

A. Produktion

B. Reflexion

C. Determination

Vorläufige Zusammenfassung

D. Intersubjektivität

Zusammenfassung

IV. Kapitel
Exkurs: Die Kontingenz von Konstitutionsbegriffen

A. Das ethnomethodologische Verständnis apriorischer Annahmen

B. Verschiedene Konsequenzen für die Theoriebildung

C. Zur letztlich pragmatischen Geltung von Konstitutionsbegriffen

V. Kapitel
Der tendenziell Selbst-zerstörende Charakter kapitalistischer Formen von Identität – Perspektiven ihrer Kritik und Überwindung

A. Zum Verfahren der Kritik

B. Die Verrücktheit fetischisierter Warenproduktion

1. Marx’ Begriff der »Verrücktheit«

2. Soziologische Schizophrenieforschung: Phänomenologie bürgerlicher Identitätsdestruktion

C. Selbst-zerstörende Tendenzen der noch kapitalistisch geprägten Lebenskonzepte von Cohen/Taylor und Deleuze/Guattari

D. Zwei »positive« Beispiele

Nachwort

Anmerkungen und Ergänzungen

Carl Hegemann

DAS DRAMA DER SUBJEKTKONSTITUTION (2012)

1. Selbstbewusstsein als unbezweifeltes, aber unerklärbares Faktum

2. Wie kann eine Bürste sich selber bürsten?

3. Lie to me, I promise, I’ll believe

René Pollesch

ICH BRAUCHE DAS DRAMA

Nachwort zur Neuausgabe und Dank

WUNDERSAME AUSGRABUNG

Literaturverzeichnis

Vorwort

Christoph Menke

»DAS THEATER IST GENAUSO RANDSTÄNDIG WIE DIE PHILOSOPHIE«

Carl Hegemanns Begründung einer transzendentalen Dramatik

Vor nahezu vierzig Jahren hat die Dissertation von Carl Hegemann bereits eine Idee entwickelt, die heute in vielen theoretischen Diskussionen wichtig geworden ist. Diese Idee besagt, dass die Kritik der Gesellschaft und die Konstitution des Subjekts zusammengedacht werden müssen: Wenn man begreifen will, worin die gegenwärtige Gesellschaft falsch ist, muss man die Grundbedingungen und -strukturen gelingender Subjektivierung verstehen. Und das kann man nicht in Form einer Ethik, einer Theorie des Guten tun. Sondern nur indem man versteht – so Hegemanns provokante Grundthese, mit der er vor vierzig Jahren noch ziemlich alleine dastand –, wie es überhaupt Subjektivität geben kann. Man muss also eine »transzendentale« Analyse der Konstitution des Subjekts ausarbeiten. Man muss Marx und Fichte zusammen lesen – aber nicht wie zwei Teile, die einander (äußerlich) ergänzen, sondern als zwei Weisen des Denkens, die innerlich verbunden sind, weil jede die andere braucht.

Das ist der eine Grund, aus dem die unveränderte Wiederveröffentlichung dieser längst vergriffenen Frankfurter Dissertation an der Zeit ist. Der andere Grund ist, dass die Verbindung von Gesellschafstheorie und Subjektphilosophie, die Hegemanns Dissertation entwirft, zugleich ein Drittes hervorbringt, das hier keinmal ausdrücklich genannt wird, aber an jeder Stelle, und nicht nur zwischen den Zeilen, lesbar ist: die Theorie und Praxis eines Theaters der Paradoxien, die Carl Hegemann in seiner Arbeit als Dramaturg anschließend entwickelt hat.1 Man muss nur die Motti lesen, unter die Hegemann die Kapitel seiner Dissertation gestellt hat, und man ist in der Volksbühne der neunziger und nuller Jahre, in deren Leporellos viele von ihnen einen Wiederauftritt hatten. Dabei zitieren Hegemanns Volksbühnen-Leporellos aber nicht seine Dissertation; vielmehr scheint dem heutigen Leser Hegemanns Dissertation seine zum Teil viel später geschriebenen Texte und Programme zum Theater zu antizipieren, ja diese Texte und Programme allererst möglich gemacht zu haben. Die Motti seiner philosophischen Dissertation sind die Keime seiner Dramaturgie. Hegemanns Dramaturgie folgt aus der Theorie, die seine Dissertation entwickelt. Denn im Theater verwirklicht sich die Verbindung zwischen der Kritik der Gesellschaft und der Erfahrung der Subjektkonstitution.

Oder Marx und Fichte, die die Dissertation zusammenbringt, werden in Schiller aufgehoben (gegen dessen schlechtes Image als Inbegriff von bürgerlicher Ästhetik und »Vermittlungsdenken« Hegemann immer wieder angeschrieben hat). An Schiller sieht man, wie die transzendentale Analyse der Subjektkonstitution die denkbar radikalste Gesellschaftskritik begründet. Ihr zentraler Satz lautet, dass die gegenwärtige Gesellschaft eine ohne Subjekte ist. Also nicht nur eine Gesellschaft ungleicher Verteilungen, miserabler Chancen, krisenhafter Ökonomien, repressiver Staatsapparate – das alles auch –, sondern viel grundlegender: die »Ruinierung der Konstitutionsbedingungen von Subjektivität« (S. 158). Denn die Gesellschaft zerreißt das Subjekt in die beiden Pole, die nur zusammen seine Form ausmachen: in Einheit oder Identität auf der einen Seite und in Offenheit und Rezeptivität nach außen auf der anderen Seite. In unseren Gesellschaften, so Hegemanns Diagnose, haben die Subjekte entweder eine personale Identität, die schlecht abstrakt bleibt, oder sie sind einer chaotischen Fülle von Reizen reflexhaft ausgeliefert. (Schiller nennt die ersten kultivierte »Barbaren« und die zweiten unzivilisierte »Wilde«.) Indem aber die Subjekte nur entweder das eine oder das andere sind, sind sie gar keine Subjekte mehr. Hegemann versteht den Begriff der Verdinglichung wörtlich: Gesellschaftliche Verdinglichung ist die Auflösung von Subjektivität (S. 154). Aber das kann man nur erkennen, wenn man weiß, was Subjektivität ist, wie also ihre Konstitution »gelingt«: Man braucht eine allgemeine Theorie des Subjekts. (Hegemann sagt: Man braucht Einsicht in die »transzendentalen Minimalbedingungen, die ich mit Hilfe der Fichteschen Bewusstseinstheorie entwickelt habe«; S. 144.)

Schiller ist aber auch noch in einer zweiten Hinsicht das Modell dafür, wie man Marx und Fichte zusammendenken kann. Denn Schiller begründet aus der Verbindung von Gesellschaftskritik und Subjekttheorie, warum es Kunst geben muss und worum es in der Kunst gehen muss. Und das tut er am Paradigma des Theaters. Genau denselben Schritt macht Hegemann nach seiner Dissertation: den Schritt zur Dramaturgie. Das ist nicht der Schritt von der Theorie zur Praxis; es geht nicht um Anwendung oder, schlimmer noch, Illustration. Der Schritt zur Dramaturgie hat einen viel tieferen Grund: Er gründet in der Einsicht, dass es in der Konstitution des Subjekts und in der Dramaturgie des Theaters um dasselbe geht.

Diese Einsicht, die seine eigene Arbeit leitet, hat Hegemann als eine Grundüberzeugung »der entwickelten klassischen deutschen Philosophie« verstanden, der seine Dissertation gewidmet war. Denn: »Hier ist etwas entstanden, das die Subjektkonstitution mit dem Drama und das Drama mit der Subjektkonstitution strukturell verbindet.«2 Diese Verbindung zwischen dem Drama und der Subjektkonstitution liegt nicht im Thematischen. Sie ist strukturell. Die These lautet: Die Konstitution des Subjekts hat die Struktur des Dramas, und das Drama hat die Struktur der Subjektkonstitution. Man versteht also den Schritt, der Hegemann von der Philosophie zur Dramaturgie geführt hat, gar nicht, wenn man die Philosophie als Grundlage und die Dramaturgie als deren Anwendung sieht.3 Der Gedanke, durch den Hegemann die Philosophie und das Theater miteinander verbindet, ist viel grundlegender und weitreichender. Es ist der Gedanke, dass die Subjektkonstitution in sich selbst dramatisch ist und dass deshalb das Theater – ob es das nun weiß oder nicht (und meistens weiß es das nicht) – nichts anderes als das Drama der Subjektkonstitution spielt.

Aber worin besteht denn das Drama, das sich in der Selbstkonstitution abspielt? In seiner Dissertation beschreibt es Carl Hegemann mit Hilfe von Fichtes Wissenschaftslehre (S. 72–88). In ihr fragt Fichte danach, wie die Welt, in der wir leben, und das, was wir in ihr erkennend und handelnd tun, möglich ist: wie sich das Subjekt konstituiert, das handeln und erkennen kann. Handeln und erkennen zu können heißt, Selbstbewusstsein zu haben (oder selbstbewusst zu sein). Fichtes Frage ist also, wie sich Selbstbewusstsein oder »Identität« konstituiert. Um das zu begreifen, geht er davon aus, dass das »Ich« immer schon, also vorweg, von Anfang an tätig ist. Diese Tätigkeit ist »rein«: auf kein Objekt und keinen Zweck gerichtet, sondern sich unendlich fortsetzend. »Das Wesen des Ich besteht in seiner Tätigkeit« (Fichte).4 Aber so tätig zu sein, ist etwas ganz anderes als mit Selbstbewusstsein zu handeln und zu erkennen (also ein »Subjekt« im Bezug auf ein »Objekt« zu sein). Der primären, reinen oder absoluten Tätigkeit fehlt der Selbstbezug, der erst die Richtung auf einen Zweck (im Handeln) oder auf einen Gegenstand (im Erkennen) möglich macht; sie ist noch ohne Selbstbewusstsein, also unbewusst. Um ihrer selbst bewusst und damit zur Tätigkeit eines Subjekts zu werden, muss sich die Tätigkeit auf sich selbst zurück wenden. Gerade das aber, so der entscheidende Gedanke, der Carl Hegemann fasziniert, kann nur durch einen Anstoß von außen geschehen, den das Subjekt erleidet: Um also sich als aktives seiner selbst bewusst zu sein, muss das Subjekt passiv sein. Das ist die »für das Selbstbewusstsein konstitutive Paradoxie«: Der Anstoß von außen, der passiv erlitten wird, »ist konstitutive Bedingung für das auf sich reflektierende Bewusstsein, das sonst kein Ich wäre« (S. 83). Das Subjekt wird also durch sein Paradox konstituiert. Es ist der Effekt einer Vereinigung von Aktivität und Passivität, die zugleich wesentlich gegeneinander gerichtet sind. Das selbstbewusste Subjekt – und damit alles, was es tut: Erkennen und Handeln, also unsere gemeinsame, soziale Welt – ist nicht eine gesicherte, in sich ruhende Einheit; es ist nichts anderes als Vollzug eines Streits. Die »Identität« des Subjekts ist sein »Selbst-Widerspruch« (Hegemann).

Dieser Streit, der das Subjekt ausmacht, ist unbeendbar und unauflösbar, weil seine beiden Seiten gegeneinander gerichtet sind. Denn wie Hegemann zeigt, ist beiden die Tendenz zur Verabsolutierung eingeschrieben; beide Seiten sind pathologisch. Die Passivität, die das Subjekt erleidet, ist zugleich von ihm »gesetzt« (S. 80 f.), es will also sein Erleiden. Das Subjekt will bestimmt werden – also kein Subjekt sein. Ebenso ist die Aktivität am Grund des Subjekts nicht von ihm bewusst vollzogen und geleitet; sie ist selbst eine passiv erlittene Aktivität, die das Subjekt in »Selbstvergessenheit« (S. 85) versinken lässt. Die beiden Seiten, die nur zusammen das Subjekt ausmachen können und zugleich einander widerstreiten, bedrohen seine Einheit von innen her. Die beiden Seiten, die das Subjekt ausmachen, machen es – von innen her – verrückt.5 Sie treiben es in den Wahnsinn: den Wahnsinn des Erleidenwollens und des Immerweitertunmüssens. Wenn nun aber das Subjekt gegen diese zweifache Verrücktheit seine selbstbewusste Einheit durchzusetzen versucht, verfällt es selbst dem Wahn. Denn es gibt seine Einheit nur durch den Streit von Leiden und Tun. Die Einheit des Subjekts gegen den Wahnsinn reinen Leidens und reinen Tuns ist eine weitere, eine dritte Verrücktheit – der Wahnsinn der »Identität«.

Man sieht sofort, weshalb dies ein ungemein produktiver Ausgangspunkt für die Kritik der gegenwärtigen Gesellschaft ist. Denn von hier aus kann Hegemann nun den »spezifischen Zusammenhang« der verschiedenen Gestalten des Wahnsinns, der Extremismen, die das Subjekt in sich trägt, »mit den herrschenden Lebensformen« in den Blick nehmen (S. 163). Durch welche Mechanismen befördert die kapitalistische Gesellschaft die verschiedenen Gestalten des Wahnsinns, die dem Subjekt eingeschrieben sind? Wie bringt sie sie hervor und beutet sie aus? Mit Marx beschreibt Hegemann die kapitalistische Gesellschaft als eine Gesellschaft, die »Verrücktheit« produziert (S. 151), als eine Gesellschaft von Wahnsinnigen: Sie verfallen dem Wahn entweder der reinen, sich endlos fortsetzenden Tätigkeit oder der passiven Auslieferung an die Welt oder aber der geschlossenen, sich selbst kontrollierenden Identität, die den Streit im Subjekt hinter sich zu lassen glaubt (S. 159–176).

Diese Bewegung, die Carl Hegemann in seiner Dissertation von der Analyse des Paradoxes der Subjektivität zur Gesellschaftskritik führt, treibt ihn sogleich darüber hinaus: Die Analyse des Paradoxes der Subjektivität führt ins Theater. Die Philosophie gelangt zur Einsicht in das Paradox der Subjektivität, indem sie sich von der alltäglichen Sorge um das Gelingen des Lebens und die Stabilität der Welt abwendet und darin darauf zurückwendet, was das Leben in der Welt, unser Erkennen und Handeln, möglich macht. Aber genau das tut auch das Theater. »Das Theater ist genauso randständig wie die Philosophie«,6 denn beide tragen nicht zur Erhaltung und Befestigung der Realität bei, sondern fragen danach zurück, was sie möglich macht; beide operieren transzendental. Das ist die Überzeugung der »entwickelten klassischen deutschen Philosophie«, die Carl Hegemann reaktualisiert. Das Theater ist selbst transzendental, weil es vom Handeln und Sprechen nicht berichtet, sondern es in seinem gegenwärtigen Vollzug zeigt und dabei in den Grund der Subjektivität zurückfaltet, aus dem es hervorgebracht wurde. Deshalb bilden die Philosophie und das Theater eine Gemeinschaft. Sie wird gestiftet durch die transzendentale Einsicht in das Paradox im Grund; sie ist die Einsicht, die sie teilen.

Indem das Theater spielend das Handeln und Sprechen wiederholt, das wir im Leben ausführen, schreibt das Theater ihm das Paradox, den Streit ein, aus dem alles Handeln und Sprechen erst hervorgeht und den es in endloser, vergeblicher Anstrengung zum Verschwinden zu bringen versucht (indem es sich etwa als die wahre Erkenntnis einer Sache, das erfolgreiche Erreichen eines Ziels, die gute Ausübung einer Tugend, die richtige Verwirklichung einer Norm präsentiert). Dramatisch ist das Handeln und Sprechen nach Hegemann nicht erst, wenn es in einen Konflikt mit dem Handeln und Sprechen eines anderen gerät. Dieser Konflikt zwischen dem einen und dem anderen Handeln ist vielmehr nur die äußere Erscheinung des fundamentalen Streits, den jedes Handeln schon in sich trägt. Theater heißt: aktives Erinnern an den Widerspruch im Grund; mehr noch: transformatives Einschreiben des Widerspruchs, aus dem es hervorgeht, in das Handeln und Sprechen selbst. Das Theater verändert das Sprechen und Handeln, das es vorführt, indem es den Schein seines Gelingens, seiner Stabilität auflöst und seine paradoxe Konstitution erscheinen lässt.

Wie ein solches Theater funktioniert, hat Carl Hegemann zuerst an Einar Schleefs Frankfurter Inszenierungen beschrieben und dann in Zusammenarbeit vor allem mit Frank Castorf, Christoph Schlingensief und René Pollesch erprobt. Der Kernsatz dieses Theaters lautet: »nicht Realismus, sondern Realität«7; nicht die Illusion der Wirklichkeit – die immer die des Gelingens, der Stabilität, der Identität ist –, sondern die wirklichen Kräfte und Prozesse, die Kräfte des Realen, aus deren Streit und Kampf die Wirklichkeit erst hervorgeht (indem sie sie verdeckt). Das Reale erscheint nur im Spiel. Hegemann interessiert im Theater, wie das Handeln und Sprechen sich verändert, wenn es den Antagonismus der Kräfte, aus dem es hervorgeht, nicht mehr verdeckt, sondern dieser in ihm wirksam wird. Das ist es, was das Theater kann – und die Philosophie nicht: Die Philosophie kann die konstituierenden Kräfte und Prozesse denken; sie kann begreiflich machen, weshalb wir sie voraussetzen – also: ihre Existenz und Wirksamkeit annehmen – müssen, wenn wir verstehen wollen, wie das, was wir sind, nämlich selbstbewusste Subjekte, die handeln und erkennen können, möglich sein soll. Das Theater aber kann diese Kräfte, Antagonismen und Prozesse darstellen, im Theater erfahren wir sie. Das Theater ist das Paradox der Erscheinung des Grundes der Erscheinung.8

Welche kritischen Potentiale ein Theater zu gewinnen vermag, das den Realismus preisgibt, ahnt man schon, wenn man Carl Hegemanns Dissertation liest. Aber hier steht noch die Auseinandersetzung mit der Dialektik bürgerlicher Subjektivität – zwischen chaotischer Dissoziation und starrer Identität – im Zentrum. Diese Dialektik glaubt die gegenwärtige, postmoderne Gesellschaft durch das Bewusstsein der Kontingenz und die Haltung der Performativität überwunden zu haben. Dagegen richtet sich die Kritik, die Hegemann in seiner Theorie und Praxis des Theaters entwickelt. In der Postmoderne ist das Theater zum dominanten »gesellschaftliche[n] Modell« und die Gesellschaft selbst theatral geworden.9 Daher läuft in der Postmoderne der kritische Einspruch des Theaters gegen letzte Gewissheiten und Fundierungen – die Einsicht des Theaters, dass alle Realität gemacht ist – ins Leere. Das glaubt jetzt jeder; ja, an die Kontingenz zu glauben und Performativität zu praktizieren ist genau die Fähigkeit, die die postmoderne Gesellschaft jedem ihrer Mitglieder als Erfolgsbedingung abverlangt. In der postmodernen Gesellschaft kann daher die kritische Kraft des Theaters nicht mehr darin liegen, dass es immer wieder vorführt, dass alle Realität gemacht, also performativ und kontingent ist. Entscheidend ist vielmehr, wie sich im Theater das Machen der Realität vollzieht – wie die Konstitution des Subjekts im Theater verstanden und vorgeführt wird. Nämlich ganz anders als in der postmodernen Gesellschaft. In der postmodernen Gesellschaft muss daher das Theater selbst zum Ort der kritischen Unterscheidung zwischen zwei entgegengesetzten Gestalten des Theaters werden. Das Theater muss zum Ort seiner eigenen Kritik werden. Dann unterscheidet es zwischen dem »wahren« und dem falschen Theater (als einem »Theater in Anführungszeichen«10). Das wahre Theater arbeitet gegen sich selbst: Das wahre Theater ist dasjenige, das »im Theater auf das Theater verzichte[t]«.11 Ein solches – wahres – Theater setzt der postmodernen Auflösung aller Realität in Kontingenz und Performativität die Erfahrung der Ausweglosigkeit entgegen; es lässt im Spiel das Notwendige erscheinen, denn es zeigt die Verrücktheit am Grund der Subjektivität. Das wahre Theater konfrontiert uns mit »unlösbaren Problemen«.12

Zugleich aber ist die Kritik, die das Theater an der postmodernen Theatralität übt, mehr als bloße Kritik. Denn das »wahre« Theater, das Carl Hegemann beschrieben, konzipiert und praktiziert hat (und das er manchmal Tragödie nennt), beklagt nicht den Wahnsinn, den es im Inneren des Subjekts aufweist. Sondern es entfesselt ihn, es setzt auf den Wahnsinn im Subjekt. Gegen den zerstörerischen Wahnsinn, in dessen Fixierungen die Seele erstarrt, stellt es den anderen Wahnsinn, in dessen Spielen und Streiten sie sich neu hervorbringt – der die Seele verjüngt. Das Theater, das aus der Einsicht in das Paradox der Subjektivität hervorgeht, befreit; es ist ein Theater des Ja-Sagens. Der letzte Satz von Carl Hegemanns Dissertation kündigt dies an:

»Wenn eine ›Einheit‹ möglich sein soll, dann kann sie nur in der gemeinsamen Orientierung an den ›formalen‹ Bedingungen liegen, die wir zum Leben brauchen, die die kapitalistische Weise der Vergesellschaftung nur erhalten kann, indem sie sie gleichzeitig untergräbt und zu zerstören droht; eine so hergestellte Einheit würde ›ja sagen zur Divergenz‹ und wäre trotzdem nicht ›affirmativ‹.« (S. 183)

Christoph Menke ist seit 2009 Professor für Philosophie in Frankfurt am Main und leitet dort das Forschungsprojekt »Normativität und Freiheit« (EC Normative Orders). Er studierte Philosophie und Germanistik in Heidelberg und Konstanz. Nach seiner Promotion in Konstanz (1987) und seiner Habilitation in Berlin (1995) war er von 1997 bis 1999 Associate Professor an der New School for Social Research, New York. Von 1999 bis 2008 war er Professor für Philosophie mit Schwerpunkt Ethik und Ästhetik an der Universität Potsdam. Zahlreiche Veröffentlichungen (siehe Literaturverzeichnis [S. 243; Auswahl]).

1Die wichtigsten Texte dazu bis 2005 sind gesammelt in Carl Hegemann (2005): Plädoyer für die unglückliche Liebe. Texte über Paradoxien des Theaters 1980–2005, hrsg. von Sandra Umathum, Berlin. Grundlegend zum Verständnis des Zusammenhangs von Hegemanns (philosophischem und dramaturgischem) Werk ist Carl Hegemann: Das Drama der Subjektkonstitution, in diesem Band, S. 213–230.

2Hegemann: Das Drama der Subjektkonstitution, ebd., S. 214.

3Dem entspricht schon in der Dissertation der Gedanke, dass die Einsicht in die Konstituiertheit und damit Kontingenz unserer Einsichten auf die transzendentale Analyse der Subjektivität selbst angewandt werden muss – ohne dass dies die Differenz von Konstitution und Konstituiertem, von Transzendentalem und Empirischem auflöste (siehe den Exkurs zur »Kontingenz von Konstitutionsbegriffen«; S. 107 ff., v. a. 141). Die Lösung dieses Problems sieht die Dissertation in einer »pragmatischen« Geltung von Konstitutionsbegriffen: Es geht um ihre Brauchbarkeit (S. 144). Das ist zunächst die Brauchbarkeit für eine kritische (und zugleich ethisch-politische, verändernde) Praxis. Hegemanns dramaturgisches Modell setzt diesen Gedanken fort. Dieses Modell definiert das Handeln, durch dessen Erfahrung sich die Geltung der Konstitutionsbegriffe erweist, als das dramatische.

4Kann dieser Ausgangspunkt selbst noch einmal begründet werden? Eine Begründung müsste erweisen, weshalb ohne diesen Ausgangspunkt in einer (»absoluten« oder »reinen«) Tätigkeit vor dem Selbstbewusstsein, also einer wesentlich unbewussten Tätigkeit, das Selbstbewusstsein nicht gedacht werden kann. Einen Vorschlag dazu habe ich skizziert in Christoph Menke (2008): Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt am Main, Kap. III. Dazu Carl Hegemann (2009): »Die Kunst der Unwahrscheinlichkeit oder das Nichtkönnen können«, in: Theater heute, 6 (2009), S. 6–9.

5Ich übertreibe hier nur ein wenig, indem ich Marx’ Rede von der »Verrücktheit« im Kapitalismus, die Hegemann in seinem gesellschaftskritischen Kapitel zitiert (S. 151; s. u.), in seine Fichterekonstruktion eintrage. Dabei denke ich an Hegels Aufweis, dass Verrücktheit und Wahnsinn am Grund des Subjekts liegen: G. W. F. Hegel (1969/70): Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Bd. III, Theorie Werkausgabe Bd. 10, Frankfurt am Main, § 408.

6Hegemann, Plädoyer für die unglückliche Liebe, S. 78.

7Ebd., S. 129.

8Das Drama, das dies leistet, nennt Hegemann, mit einem alten, scheinbar veralteten Namen: »Tragödie« (Hegemann, Plädoyer für die unglückliche Liebe, S. 56 f., 88, 166, 220, 250, 259). Die Tragödie entsteht, wenn der Widerspruch oder das Paradox im Grund des Handelns und Sprechens im Handeln und Sprechen erscheint. In der Tragödie geht es um das, »was stärker ist als wir« (S. 258) – eben weil es uns ausmacht. Deshalb sprengt die Tragödie gerade durch ihre transzendentale Selbstreflexion die selbstreferentielle Geschlossenheit des Theaters von innen heraus: Carl Hegemann stellt die Erneuerung der Tragödie unter den Titel einer »Kritik des reinen Theaters«, die »die Bedingungen und Grenzen der Entgrenzung des Theaters« erkunden soll (S. 277). Hegemanns Programm transzendentaler Dramatik erlaubt zu verstehen, weshalb die tragische Erfahrung der »Ausweglosigkeit« – dessen, worüber wir nicht disponieren können – nicht die Auslieferung an äußere Mächte bedeutet, sondern ihren Grund in der inneren Fremdheit des Subjekts hat. Im Spiel des Theaters zeigt sich das, womit wir nicht spielerisch umgehen können.

9Ebd., S. 54, 77, 87, 101, 138, 256.

10»[…] jedes wahre Theater ist eine häretische Handlung. Bleibt es orthodox, habe ich mir angewöhnt, es ›Theater‹ in Anführungszeichen zu nennen: Ein harmloses und einträgliches Ritual, von dem das [wahre] Theater sich durch einen wenig wahrscheinlichen Blitzschlag abspaltet.« (Alain Badiou [2015]: Rhapsodie für das Theater, Wien, S. 23).

11Hegemann, Plädoyer für die unglückliche Liebe, S. 256.

12Ebd., S. 166.

Carl Hegemann

IDENTITÄT UND SELBST-ZERSTÖRUNG

Grundlagen einer historischen Kritik moderner Lebensbedingungen bei Fichte und Marx (1978)

»Drum, so wandle nur wehrlos
Fort durchs Leben, und fürchte nichts!«
Friedrich Hölderlin

Vorbemerkung

»Identitätsarbeiter aller Länder,
vereinigt euch!«
nach Cohen/Taylor

Hatte es schon in den Marxschen Feuerbachthesen geheißen, dass »nur das Zusammenfallen des Änderns der Umstände […] und der Selbstveränderung als revolutionäre Praxis gefaßt und rationell verstanden« (MEW 3: 6) werden kann, so war doch bisher in historisch-materialistischen Ansätzen gewöhnlich die Selbstveränderung als eine Folge und Konsequenz aus der Veränderung der Umstände, also der objektiven Verhältnisse gesehen worden. Diese Beziehung dreht sich gegenwärtig mehr und mehr um: Das Leben des Einzelnen wird nicht mehr hinsichtlich seiner Funktion für einen objektiven Umwälzungsprozess betrachtet (im Extrem nach der Parole der KPD (AO): »Du bist nichts, die Revolution ist alles!«), sondern die politischen und ökonomischen Sachverhalte der gesellschaftlichen Entwicklung werden immer mehr unmittelbar auf subjektive Identitäts- und Lebensfragen der einzelnen Gesellschaftsmitglieder bezogen. Politische Ziele verlieren damit mehr und mehr ihren transzendenten Charakter. Politik, die »nichts mit mir zu tun hat«, wird abgelehnt, der Kampf für den besseren Zustand einer zukünftigen Menschheit muss mindestens verbunden sein mit der Verbesserung meiner eigenen Lebenssituation – und zwar »hier und jetzt«.

Diese sich im theoretischen Sozialismus etwa seit Lukács (1923) reflektierende Tendenz kommt erst in der weltweiten Revolte der sechziger Jahre, insbesondere im Pariser Mai 1968 voll zum Durchbruch. Fast zehn Jahre danach können die Autoren einer Studie über Identität und Widerstand in der modernen Lebenswelt in Abwandlung einer bekannten Parole sagen: »Die Identitätsarbeiter aller Länder vereinigen sich« (Cohen/Taylor 1977: 27). Dies freilich nicht ohne Ironie. Denn »Identitätsarbeit« und politische Einigung im Medium antikapitalistischer Praxis haben sich in der Zwischenzeit als nicht eben leicht zu verbinden erwiesen. Die historisch konstatierbare einigende Kraft der Marxschen Theorie bleibt bei dieser für sie neuartigen Problemstellung – allen Versuchen, z. B. Marxismus und Psychoanalyse zu verbinden, zum Trotz – auf der Strecke. Denn diese Theorie hat primär eine andere, eine »objektive« Thematik.

Für die, auf die Mikrostrukturen menschlichen Lebens bezogene, Arbeit an der persönlichen Identität und »Selbstveränderung« zeichnet sich nirgends, weder innerhalb noch außerhalb kultur- und sozialrevolutionärer Bewegungen, eine »klare Linie« oder einheitliche »Strategie« ab. In dieser Arbeit versuche ich einen Beitrag zu leisten, diese gegenwärtig immer deutlicher werdenden (zu Marx’ Zeiten eher uninteressanten) Defizite zu erkunden und wo möglich zu vermindern – wobei nicht vorentschieden sein soll, ob eine klare Linie oder einheitliche Strategie überhaupt wünschenswert ist. Ich verstehe mich dabei durchaus innerhalb dieser neuen Entwicklung und möchte keinesfalls das alte Verständnis von Politik gegen das neue, mehr an endliche Lebensinteressen und weniger an übergeordnete (transzendente) Gesichtspunkte gebundene, Politikverständnis wieder etablieren.

»Werkzeuge« und Orientierungsmöglichkeiten für die Bearbeitung derartiger Probleme glaube ich in der transzendentalen Bewusstseinstheorie des frühen Fichte gefunden zu haben. Diese Bewusstseinstheorie leistet meines Erachtens etwas, das ihre traditionelle Interpretation im philosophiegeschichtlichen Kontext gar nicht erwarten lässt: Sie stellt entscheidende Fragen – und beantwortet sie zumindest teilweise –, welche sich für eine materialistische Theorie ergeben, die sich auf Konstitutionsprobleme gesellschaftlicher Totalität auch in subjektiver Hinsicht einlässt. Sie kann daher helfen, genau die Defizite systematisch anzugehen, die den Marxismus relativ hilflos vor dieser für ihn neuen Problematik stehen lassen.

I. Kapitel

Einleitung

A. Zwei konträre »lebensphilosophische« Konzepte

1. Das »undeterminierte Ich« und der Mythos vom fröhlichen Sisyphos (Cohen/Taylor)

»Als hinauf! Als hinauf!
Auf den Berg im schnellen Lauf.
Sind wir oben, sind wir oben,
werden wir es nicht mehr loben,
denn wir plumpsen, denn wir plumpsen
All herab auf einen Klumpsen.
Drum aufs neu, all’ herbei
zu der lust’gen Kletterei!«
Heinrich Hoffmann

»Wie den Tag überstehen?« ist die Leitfrage einer 1977 erschienenen Abhandlung über Identität und Widerstand in der modernen Lebenswelt. Die beiden englischen Professoren Laurie Taylor und Stanley Cohen, die sich bislang in der Devianzforschung einen Namen als Sozialwissenschaftler gemacht hatten, haben sie geschrieben und unter dem Titel Ausbruchsversuche (Escape Attempts) veröffentlicht.

In ihrem Buch berichten sie »über das Alltagsleben, über die Ungewissheit dieses Lebens und über die Zerbrechlichkeit der Identitäten, die wir darin aufbauen« (Cohen/Taylor 1977: 13) – und zwar aus ihrer eigenen Perspektive. Es handelt sich dabei, wie sie gestehen, um ihren »eigene[n] Ausbruchsversuch« (ebd.: 11) aus der Routine und den eingefahrenen Strukturen ihrer wissenschaftlichen und professoralen Existenz. Sie glauben aber auch, damit der Soziologie einen Bereich zu erschließen, der von ihr bislang ignoriert worden sei.

Der historische Untersuchungs-Rahmen ist der »fortgeschrittene Kapitalismus des Westens« (ebd.), und viele der behandelten Themen beziehen sich auf die Intellektuellen der Mittelschicht, genauer auf die männlichen (vgl. ebd.: 11). Die Autoren halten allerdings die Strukturen der Ausbruchs- und Identitätserhaltungsversuche, die sie beschreiben, für verallgemeinerbar: »Wenn aber Kritiker einwenden, daß unsere Ausbruchsversuche ziemlich komisch und idiosynkratisch sind und daß sie ganz andere kennen, dann können wir darauf nur antworten, indem wir zeigen, wie ihre neuen Beispiele unserem allgemeinen Modell entsprechen« (ebd.).

Die Vorstellungen, die in diesem »allgemeinen Modell« zum Ausdruck kommen, scheinen mir drastisch das eine Extrem der Interpretation alltäglicher Lebensbewältigung zu repräsentieren. Auf das andere Extrem, das ich im Hinblick auf das Leben im Kapitalismus am deutlichsten in den Schriften von G. Deleuze und F. Guattari zu finden glaube, komme ich anschließend.

Der Titel Ausbruchsversuche ist ganz wörtlich zu nehmen. Bevor Cohen/Taylor ihre Aufmerksamkeit dem Alltag zuwandten, hatten sie sich viele Jahre mit dem »abweichenden Verhalten« von Gefängnisinsassen befasst. Bei ihrer neuen Beschäftigung mit dem »gewöhnlichen« Alltag müssen sie feststellen, dass die von ihnen selbst dereinst attackierte Metapher vom »Leben als Gefängnis« nichts Metaphorisches mehr für sie hat. Das, was sich ihnen zunächst als die »einzigartigen phänomenalen Eigenschaften der Gefängnissituation« darstellte, führt sie nun zu »allgemeinen soziologischen – und keineswegs metaphorischen – Konsequenzen« (ebd.: 19):

»Die Häftlinge selbst waren für uns nicht mehr da; es blieben uns die Fragen, die sie aufgeworfen hatten. Die Ahnung von den komplizierten kognitiven Techniken, die sie brauchten, um den Tag zu überstehen; von den subtilen Manövern, durch die sie den Unterschied zwischen sich selbst und der komplizierten Gefängnissituation zum Ausdruck brachten; von den Strategien der Absonderung, mit denen sie die Alltagsprobleme bewältigten. All dies schien uns auch für das Leben außerhalb der Gefängnismauern bedeutsam« (ebd.: 19 f.).

Im Widerspruch zwischen der Notwendigkeit der »Realitätsarbeit«, d. h. den Anforderungen der Institution zu entsprechen, und der »Identitätsarbeit«, die für sie darin besteht, sich jenseits dieser Anforderungen ein freies, »undeterminiertes« Selbst zu bewahren, das nicht restlos in den täglichen Zwängen, Gewohnheiten und gesellschaftlichen Formierungen aufgeht, zeigt sich im Zuchthaus wie im »offenen Gefängnis«, das die Gesellschaft darstellt, gleichermaßen das Zentralproblem persönlicher Lebensbewältigung. Die Unterschiede sind für sie nicht qualitativer Art, sondern nur graduell. In der Gefängnissituation aber sind die sonst wegen ihrer Selbstverständlichkeit schwer bewusst zu machenden Prozesse besser zu fassen, weil sie hier ins Extrem gesteigert, sozusagen »in vitro« zu beobachten sind. Das »offene Gefängnis« hat keine Mauern aus Stein. Trotzdem lässt es, wie die Autoren meinen, keine oder zumindest keine dauerhaften Ausbrüche zu. Buchstäblich eingeschlossen seien die Mitglieder unserer Gesellschaft in einem Netz von gesellschaftlichen Standards, Konventionen, expliziten und impliziten Zwängen. Wesentlich für das Alltagsleben sind nach Cohen/Taylor die alltäglichen Routineanforderungen an die Individuen und die gesellschaftlich festgelegten Rollen, aus deren sinnhaftem Zusammenhang sich die ungeschriebenen »Drehbücher des Alltags« ergeben, denen entsprochen werden muss. Diese von den Autoren zumeist als »Scripts« bezeichneten, Tages- und Situationsabläufe strukturierenden »Drehbücher« sind der zentrale Bezugspunkt ihres »allgemeinen Modells«.1

Dieses allgemeine Modell von Cohen/Taylor geht davon aus, dass wir in unserem Verhalten und in unseren Gefühlen von »in erster Linie durch die Volkskultur« geschaffenen Scripts abhängig sind, nach denen unsere gesamte Lebenszeit abläuft und die beherrschen zu lernen Aufgabe der Sozialisation ist.2 »Die Scripts verleihen unseren Routinen und Rollen Sinn und Bedeutung, sie schreiben uns vor, wie wir in jedem Augenblick handeln und fühlen sollen« (ebd.: 52).

Als überraschendes Beispiel für solche »Scripts«, die auch die Situationen prägen, in denen scheinbar alle Rollen und Konventionen sprengende »natürliche Triebe« zum Durchbruch kommen, nennen sie etwa die plötzliche Verwandlung in ein Tier, in einer Situation, welche als sexuell definiert werden kann. Diesem Script geben Cohen/Taylor (1977: 54) den Titel »edler Wilder« und zeigen, dass es einen ganz bestimmten, obschon im Einzelnen variablen Handlungsverlauf fordert. Ein solches Script gibt z. B. an, wie sich die Akteure verhalten sollen, wie sie den anderen sehen sollen, was zur Verfehlung des Scripts führt, wann das Script »gelaufen« ist und besonders, wie man sich selbst dabei sehen und fühlen soll.3 Sie zitieren die Sexualforscher Gagnon und Simon, die ebenfalls mit einem solchen Scriptmodell arbeiten:

»Bei dem Script geht es darum, die Bedeutung innerer Zustände zu erlernen, die Abfolge spezifischer sexueller Handlungen zu organisieren, neue Situationen zu dechiffrieren und die Verbindung zur Bedeutung nichtsexueller Erfahrung herzustellen« (Gagnon/Simon 1970, zitiert nach Cohen/Taylor 1977: 54).

Die Alternative zu einer solchen Interpretation scheinbar spontanen Verhaltens wäre die Annahme einer »natürlichen« Sexualität oder in anderem Zusammenhang z. B. die Annahme »natürlicher häuslicher Gefühle«. Dies scheint aber, seitdem die Erforschung ganz anderer, »alternativer Verhältnisse« z. B. in fremden Kulturen ins Blickfeld gekommen ist, für die Autoren nicht mehr vertretbar. Das, was sich im spontanen Verhalten zeigt, ist deshalb für Cohen/Taylor (1977: 67) nicht menschliche Natur, sondern auch nur ein gesellschaftlich entstandenes Script mit dem Titel »Spontaneität«, das manche Leute dann spielen, wenn sie lange genug »scriptgetreue Standardspiele gespielt haben«. Der »Alptraum der Wiederholung« (ebd.: 48 ff.), unter dem die Autoren leiden, kommt also auch und gerade beim Versuch, Wiederholung zu vermeiden, wieder zum Vorschein: »Wer dauernd ›spontan‹ spielt, wird eines Tages wohl den Punkt erreichen, wo psychische Mobilität bloß noch durch den schleunigsten Rückzug auf ein traditionelles Script und durch dessen strenge Befolgung zu haben ist« (ebd.: 68).

Diese genauso wie die offensichtlichen gesellschaftlichen Zwänge und Routinen unabhängig vom Willen der Individuen verhaltensbestimmenden Scripts strukturieren – nach dem Modell der Autoren – unentrinnbar die gesamte Lebenszeit. Sie sind ihrerseits abhängig von »Oberscripts« und »Leitmetaphern«, aus denen sich ein jeweiliger »Lebensplan« zusammensetzt (vgl. ebd.: 55 ff.). Zunächst aber haben die Scripts die durchaus positive Funktion, zu ermöglichen, in den verschiedenen Situationen, die das Leben bietet, angemessen zu agieren und reagieren zu können:

»Sie teilen uns Einzelheiten über Andere mit, denen wir in der jeweiligen Situation begegnen und legen jeweils den nächsten Schritt der Spielhandlung, die nächste Wendung des Dramas fest. Das Script definiert die Situation, benennt die Akteure und ordnet ihr Handeln zu einem ›Plot‹« (Berne 1967: 67).

Das Erkennen und Beherrschen der jeweiligen Scripts ist also ein wichtiger Bestandteil der »Realitätsarbeit« und ermöglicht, den Anforderungen der Gesellschaft zu entsprechen. Gleichzeitig wirkt sich aber das zum zentralen Bezugspunkt des Verhaltens gemachte Scriptmodell ruinös auf die »Identitätsarbeit« aus. Alles nämlich, was dem Individuum als sein persönliches Verhalten, als freies und undeterminiertes Tun erscheinen sollte, indem es die eigene einmalige Person gegen äußere Zwänge und Notwendigkeiten festhalten wollte, bekommt für den, der das Scriptmodell ernst nimmt, nun selbst diesen Charakter von »Fremdbestimmtheit« oder »Determination«, wird Teil der Gefängnisordnung, genauso wie die offensichtlichen gesellschaftlichen Zwänge und Konventionen. All das sind Vorstellungen, die in einer spätkapitalistischen Wirklichkeit, in der jeder Versuch, sich außerhalb der herrschenden Standards zu stellen, entweder verhindert oder integriert zu werden scheint, äußerst nahe liegen.

An diesem Punkt wäre also die Bedeutung der Gefängnismetapher für die Autoren festzumachen, und damit werden für sie auch die von vornherein als prekär bestimmten Ausbruchsversuche zum entscheidenden Aspekt jeder Identitätsarbeit. In der fast enzyklopädischen Beschreibung der fortwährenden und verschiedenartigsten Versuche, dieser umfassenden Determination (der Routine, der Regelhaftigkeit, den Scripts und der »quälenden Selbstbewusstheit« desjenigen, der sich als Scriptspieler weiß) zu entkommen, besteht der Hauptinhalt des Buches.4

Es fängt an bei der »geistigen Manipulation der Routine« (vgl. Cohen/Taylor 1977: 28 ff.), die in der bewussten Distanzierung von den Anforderungen der Gesellschaft besteht, freilich nur im Kopf, oder aber auch in der geistigen »Reinvestition«, d. h. darin, sich mit den Routineanforderungen zu identifizieren, sie positiv als sinnvoll zu besetzen.

Eine andere Art des rein geistigen Ausbruchs ist für sie die Flucht in Phantasien, in das »innere Theater der Seele« (ebd. 70). Die Autoren zeigen, dass diese erstens selbst durch und durch von der herrschenden Realität durchdrungen sind5 und zweitens als »Start-, Stopp- und Erhalter phantasien« (ebd.: 81) wesentlichen Anteil an der Aufrechterhaltung des herrschenden Status quo haben6.

Von diesen geistigen Ausbruchsversuchen, welche die Realität lassen, wie sie ist, und nur unsere Einstellung dazu verändern sollen, und die deshalb leicht integriert werden können und z. T. direkt zur Erhaltung der beherrschenden Realität beitragen, geht es weiter zu tatsächlich praktizierten Ausbruchsversuchen aus den üblichen und gewöhnlichen Determinationszusammenhängen, in denen alles festgelegt ist und in denen wir »sozusagen auf Befehl« (ebd.: 31) leben (zum Beispiel: »Vom Schwarzweiß zum Farbfernseher, vom Grammophon zur Stereoanlage, vom Kühlschrank zur Gefriertruhe bewegen wir uns folgsam auf den Schienen der Konsumgesellschaft vorwärts« [ebd.]). Diese sind in der Regel keine »Sturmangriffe« oder »Frontalattacken« auf die herrschende Realität. Sie sind »kurze Unterbrechungen der täglichen Lebensläufe, Zwischenspiele, zeitweilige Pausen, Marotten, Ahnungen von einer anderen Realität« (ebd.: 27).

Ihre vergleichsweise harmlosen Formen sind die Freiräume, Ausbruchswege und -enklaven, die z. B. durch Hobbys, Urlaub, Reisen, Spiele, »Psychospiele« und Glücksspiele, leichte Drogen und Therapie, Kunst oder Alternativkultur oder in der Sexualität durch ungewöhnliche Praktiken oder Ehebruch usw. angestrebt werden (vgl. ebd.: 94 ff.). Die Vermarktung und Integration praktisch aller Tendenzen auf diesen Sektoren zu zeigen, fällt den Autoren nicht schwer. Alle Ausbruchsversuche dieser Art laufen nach bestimmten Standards ab, gehören zur Massenkultur und erscheinen den Akteuren, wenn sie sich ihr Tun bewusst machen, leicht »lächerlich« und stürzen sie in »quälende Selbstbewusstheit«.

Die nächsthöhere Stufe des Ausbruchs ist dann die Veränderung des gesamten Lebensplans, »ausflippen« aus der herrschenden Realität, nicht nur momentan, sondern auf Dauer (Hippietum, Kommunen, »alternative Projekte«). Aber auch hier sind die, im Übrigen schon von Marx gezeigten, Integrationsmechanismen am Werk.7 Die am Schluss bleibenden Möglichkeiten sind die Ausbrüche »über alle Grenzen hinaus«, »über die Mauer«, etwa »Verbrechen« und »Terrorismus« auf der einen, »Wahnsinn« und »Mystik« auf der anderen Seite. Aber auch hier bestätigt sich das Resultat, die Grundthese der Autoren, die ihr Buch treffender »Einfangmechanismen« genannt hätten. Alle Ausbruchsversuche sind zum Scheitern verurteilt. Die Integrationsmechanismen haben in der spätkapitalistischen Gesellschaft eine umfassende Vollkommenheit erreicht. Dasjenige, was sich nicht ohne weiteres in die herrschenden Routinen und Scripts integrieren lässt, was der alles beherrschenden Realität gefährlich werden könnte im extremen Ausbruch nach außen, »Verbrechen und Terror«, »Über alles hinausgehen«, endet mit massiven sozialen Sanktionen: Man landet

»in der Gefängniszelle oder auf dem Schafott. Am Ende triumphiert die beherrschende Realität noch über ihre entschlossensten Gegner. Zurück bleiben freilich die Zeichen und Schauplätze ihrer wenigen Niederlagen – Wegweiser für künftige Protagonisten« (ebd.: 192).

Der extreme Ausbruch »nach innen«, der nicht nur partiell ist, scheint da noch »sicherer«. Doch hier lauern die Gefahren der Psychose, des Wahnsinns, der Isolation, des Nichts. Über Jack Kerouac, der prototypisch für einen solchen Weg ist, sagt ein Freund, der seine Gefühle beim Begräbnis schildert: »ein einsamer enttäuschter Mann, der alle Straßen abgefahren war – die Drogen, die Fickereien, die Phantasien, die Highs, die Hoffnungen – und in seinen zerrütteten Nerven wußte, daß ›am Ende die Nacht‹ übrigblieb‹« (ebd.: 192). Das »Fortgehen«, wie sie es nennen, ist als Lebensform nur extremen Charakteren vorbehalten, für »normale« Menschen ist es bei aller Faszination zu gefährlich und zu bedrohlich. Die Leute, die diesen Weg beschritten haben, sind

»Mystiker, Heilige, Gurus, Propheten, Visionäre und Seher. Dies sind Menschen, lebenslänglich Reisende, die alles opfern, um den momentanen Flip permanent zu machen, die nach dauerndem Dasein in einem Zustand der Ekstase verlangen« (ebd.: 184).

Für Cohen/Taylor sind solche extremen Lösungen zwar in manchen Fällen möglicherweise gelingende Ausbrüche aus der üblichen Realität – aber keine wirklich zu empfehlende Perspektive.8 Sie resümieren, ohne dass sie sich dabei von moralischen Überlegungen leiten ließen:

»Es geht wohl nicht an, daß wir zum Schluß unserer Führung durch die Galerie der Ausbruchsversuche eine Übernahme so extremer Lösungen empfehlen. Die Lichtstrahlen, die sie vielleicht aussenden, werden allzu rasch von den Schatten der Irrenstation, der Gefängniszelle, des Hinrichtungsschuppens ausgelöscht« (ebd.: 208).

Auch explizit sozial- oder kulturrevolutionäre Konzepte bieten da keine Alternative. Da auch sie von den Integrations- und Destruktionsmechanismen, welche die Autoren beschrieben haben, sozusagen überdeterminiert sind, ist es ein »Akt energischer, ja fast verzweifelter Hoffnung, hinsichtlich der Chancen einer Kulturrevolution optimistisch zu bleiben« (ebd.: 214). Einen solchen Optimismus teilen Cohen/Taylor nicht. Sie beschließen ihr Buch in tiefem »Nihilismus« und »Pessimismus« (ebd.: 215):