Wenn du schreist

8.4.2057, das Datum prangt in rosa Ziffern auf dem handgeschöpften Papier. Meine ältere Tochter hat mir die Hochzeitseinladung bei ihrem letzten Besuch persönlich überreicht, und ich bewahre sie in einer Schublade der Anrichte auf, damit die Tinte aus Rote-Bete-Saft nicht verblasst. Jeden Morgen nehme ich die Karte heraus, fahre mit den Fingern über die Zeilen, die Hannah mit einem Gänsekiel verfasst hat, und lege meine Wange auf den Kussabdruck neben ihrer Unterschrift. Trotz der Liebe, die aus der Karte spricht, ist mir, als berühre ich einen Grabstein.

Deine Kleidung von der Stange zu räumen, fiel mir nicht schwer. Hannah hat alles genommen. In dem Offline-Dorf, in dem sie lebt, ist nur Selbstgemachtes und Gebrauchtes erlaubt. Darum besitzt jede Familie eine Scheune voll Kram, der irgendwann einmal nützlich werden könnte.

Du und ich waren Minimalisten, wie alle Digitalos. Unser Besitz passte in zwei Koffer. Bei jedem materiellen Wunsch prüft der Algorithmus, ob die Ware uns nachhaltig Freude machen wird. Kommt er zu einem positiven Ergebnis, wird geordert. Dafür müssen wir nicht einmal etwas sagen. Mussten. Nein, müssen. Du kannst immer noch sprechen, wenn auch mit meinem Mund. Aber Wünsche hast du keine mehr. Wünsche brauchen eine Zukunft, und du hast nur noch eine Vergangenheit. Doch die ist in guter Qualität erhalten. Ich zog dir das Reality Shield von den Augen, als du meine Hand dreimal drücktest. Man darf nicht warten, bis die letzte Energie aus dem Körper gewichen ist. Seitdem trage ich dein Shield Tag und Nacht. Wenn ich mein eigenes benutze, schiebe ich deines auf den Hinterkopf und laufe wie ein doppelgesichtiger Dämon herum. Nach deinem Tod riet man mir, Pausen einzulegen, damit dein Shield sich langsam entlädt und ich mich verabschieden kann. Aber dazu werde ich noch früh genug gezwungen. Heute ist der 6. April. Mir bleiben nur noch zwei Tage mit dir. Ich werde sie für einen Retro-Trip nutzen.

Mit einer Schachtel Energieriegel und zwei Wasserflaschen setze ich mich in das Luftkissensofa. Du hast in deinem Shield aufgeräumt, die Jahre deiner ersten Ehe belegen kaum Speicherplatz. Trotzdem warten noch viele Erinnerungen, die ich nicht teile.

Ich wähle einen Segeltörn und kreuze mit Malte vor der holländischen Küste. Zweimal lasse ich mich nachts unter Deck von den Wellen in den Schlaf schaukeln. Malte hat eine Flasche Genever dabei. Nach dem ersten Schluck schüttele ich mich, schmecke aber nichts. Die Sensorikerfassung war damals noch nicht voll entwickelt. Als Sturm aufzieht, klingelt es an der Tür. Meine jüngere Tochter ist gekommen, um mich abzuholen.
»Habe ich dich aufgeweckt?«, fragt Ina. Dann bemerkt sie deinen Shield. »Die sind im Dorf verboten.«

»Weiß ich. Mach dir keine Sorgen. Ich schaff das schon.«

Die Shields ziehen ihre Energie aus den elektrischen Strömen der Hirnaktivitäten, und weil sie individuell angepasst sind, kann niemand sie so effizient laden wie der Besitzer. Der Akku deines Shields hält, weil ich nur vier Stunden täglich schlafe. Wenn ich es für einen ganzen Tag abnehme, wird sich der Akku leeren und dann wird der Speicher gelöscht.

Aber ich habe mir vorgenommen, diese Hochzeit mitzufeiern. Ich ziehe mich um, und Inas Auto bringt uns zu dem Treffpunkt, an dem die Kutschen warten. Aus einer davon winkt meine Enkelin Zora.

 »Oma, ich hab dir einen Platz frei gehalten!« 

 Ihre blonden Haare sind zu einem Bob geschnitten.

 »Neue Frisur?«, frage ich.

»Damit ich morgens schneller fertig bin. Ich komme doch nächsten Monat in die Schule.«

 »Bist du aufgeregt?«

»Nö. Du hast das ja auch geschafft.«

 »Stimmt.« 

»Und Mama sagt, in meiner Schule ist es wie in deiner früher.«

 »Alle Sechsjährigen lernen dasselbe.«

 »Wie denn sonst?«

 Ich schweige. Offenbar möchte Hannah ihrer Tochter nichts über die Welt außerhalb des Dorfes erzählen. Dabei war Hannah ein glückliches Kind. Die Algorithmen identifizierten sie schon früh als mathematisch begabt und reservierten für sie einen Platz in einer Spezialklasse. Dort fand sie Gleichgesinnte, lachte über mir unverständliche Witze und entdeckte Logikfehler in Science-Fiction-Filmen. Nicht ein einziges Mal kam sie weinend nach Hause, weil Mädchen mit Glitzerturnschuhen sie auslachten oder ein Junge sie wie Luft behandelte. Mit sechzehn Jahren schrieb sie sich für Biochemie ein und löste noch vor ihrem Abschluss das Trinkwasserproblem der Dritten Welt. Mit zwanzig lernte sie einen Schafhirten kennen, warf alle Pläne über Bord und zog mit ihm in die Einöde.