Cover

Jan-Philipp Sendker

Herzenstimmen

Roman

Blessing Verlag

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Copyright der deutschsprachigen Ausgabe 2012
by Karl Blessing Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung: Hauptmann und Kompanie Werbeagentur, Zürich

unter Verwendung eines Fotos

von © plainpicture/Robert Harding (Silhouette Burma)

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-07988-8
V004

www.blessing-verlag.de

Für

Anna, Florentine, Theresa und Jonathan

Erster Teil

1

Der Tag, an dem meine Welt aus den Fugen geriet, begann unter einem tiefblauen, wolkenlosen Himmel. Es war ein klirrend kalter Freitag in der Woche vor Thanksgiving. Ich habe mich seitdem oft gefragt, ob ich es hätte kommen sehen können. Weshalb hatte ich nichts bemerkt? Wie konnte sich ein so folgenschweres Ereignis in meinem Leben anbahnen, ohne dass ich auch nur eine Ahnung davon gehabt hatte? Ausgerechnet ich, die Überraschungen so verabscheute. Die sich auf alles, jede Verhandlung, jede Reise, selbst einen Ausflug am Wochenende oder ein gemeinsames Kochen mit Bekannten so gewissenhaft wie möglich vorbereitete. Ich überließ nichts gern dem Zufall. Ich ertrug das Unerwartete nur schwer. Es zählte nicht zu meinen Freunden.

Amy war sich sicher, es habe erste Symptome gegeben. Es gebe sie immer. Wir seien nur so sehr in unseren Alltag vertieft, Gefangene unserer Routinen, dass wir den Blick für sie verloren haben.

Für die kleinen Geschichten, die uns Großes erzählen.

Sie war überzeugt, dass jeder Mensch sich selbst das größte Rätsel ist und unsere lebenslange Aufgabe darin besteht, der Lösung dieses Rätsels näher zu kommen. Lösen, behauptete sie, würden wir es nie. Aber auf den Weg dorthin müssten wir uns machen. Ganz gleich, wie lang er ist oder wohin er uns führt.

Ich war mir nicht sicher. Amy und ich waren oft unterschiedlicher Meinung. Das sollte nicht heißen, dass ich ihr in diesem Fall nicht bis zu einem gewissen Grad recht gab. Vermutlich hatte es in den Monaten zuvor immer wieder Momente gegeben, die mich hätten warnen können. Aber wie viel Zeit können wir tagein und tagaus damit verbringen, in uns hineinzuhorchen, um mögliche Signale und Zeichen für irgendetwas zu entschlüsseln?

Ich gehörte nicht zu den Menschen, die jede körperliche Veränderung sofort als Anzeichen einer Störung ihres seelischen Gleichgewichts deuteten.

Die kleinen, roten Pickel am Hals, die sich innerhalb weniger Tage in einen schmerzhaft brennenden Hautausschlag verwandelten, für den kein Arzt eine Erklärung fand, und die nach einigen Wochen so plötzlich wieder verschwanden, wie sie gekommen waren, konnten viele Ursachen haben. Das gelegentliche Rauschen in den Ohren ebenfalls. Meine Schlaflosigkeit. Meine zunehmende Gereiztheit und die Ungeduld, die sich in den allermeisten Fällen gegen mich selber richtete. Beides war mir nicht unbekannt, und ich führte das auf die Belastungen im Büro zurück. Der Preis, den jeder von uns in der Kanzlei zahlte und auch zu zahlen bereit war. Ich beklagte mich nicht.

Der Brief lag in der Mitte meines Schreibtisches. Es war ein leicht zerknitterter, hellblauer Luftpostumschlag, wie ihn heute kaum noch jemand benutzt. Ich erkannte seine Handschrift sofort. Niemand schrieb mit solcher Hingabe. Nur er nahm sich die Zeit, aus Briefen kleine Kunstwerke zu machen. Die geschwungenen Linien hatte er mit schwarzer Tinte so fein säuberlich gezogen, als handle es sich um eine Kalligrafie. Jeder Buchstabe ein Geschenk. Zwei Seiten eng beschrieben, jeder Satz, jede Zeile mit einer Sorgfalt und Leidenschaft aufs Papier gebracht, wie es nur Menschen vermögen, für die das Schreiben eine Gabe ist, die man nicht hoch genug achten kann.

Auf dem Kuvert klebte eine amerikanische Briefmarke. Er musste es einem Touristen mitgegeben haben, das war der schnellste und sicherste Weg. Ich schaute auf die Uhr. In zwei Minuten sollte die nächste Konferenz beginnen, nicht genug Zeit, um den ganzen Brief zu lesen, aber meine Neugier war zu groß. Ich öffnete den Umschlag und überflog in aller Eile die ersten Zeilen.

Kalaw, der neunte November,
im Jahre zweitausendundsechs

»Meine liebe kleine Schwester,

ich hoffe, … erreicht Dich … guter Gesundheit. Bitte … Schweigen, das letzte Mal … ein paar Zeilen …?

Eine Ewigkeit … erkrankt … bald sterben … ein Kommen und Gehen … das Leben … wie schnell sich Deine Welt dreht.

Gestern … etwas Sonderbares … Eine Frau … tot zusammengebrochen. … um Vergebung gebeten. Tränen … groß wie Erdnüsse …«

Ein kräftiges Klopfen holte mich zurück. Mulligan stand in der Tür. Sein wuchtiger, durchtrainierter Körper füllte fast den ganzen Rahmen aus. Ich wollte ihn um einen Augenblick Geduld bitten. Ein Brief meines Bruders aus Burma. Ein kleines Kunstwerk, das … Er lächelte, und bevor ich ein Wort sagen konnte, tippte er mit dem Finger auf seine große Armbanduhr. Ich nickte. Mulligan war einer der Partner von Simon & Koons, unser bester Anwalt, aber von Tränen, groß wie Erdnüsse, verstand er nichts. Von Buchstaben als Geschenk auch nicht. Seine Handschrift war unleserlich.

Die anderen Kollegen warteten bereits. Es roch nach frischem Kaffee, Marc steckte sich den letzten Bissen eines Muffins in den Mund und grinste mir zu. Wir hatten eine Wette laufen, ob es ihm gelingen würde, bis Weihnachten fünf Kilo abzunehmen. Es wurde ruhiger, als wir uns setzten. In der kommenden Woche würden wir eine Klageschrift für unseren wichtigsten Mandanten einreichen müssen. Eine komplizierte Geschichte. Copyright-Verletzungen, Raubkopien aus Amerika und China, mutmaßliche Wirtschaftsspionage. Internationales Wirtschaftsrecht. Schadenssumme mindestens hundert Millionen Dollar. Die Zeit war knapp.

Mulligan versenkte nach und nach vier Zuckerwürfel in seinem Kaffee, rührte in Ruhe um und wartete, bis es völlig still geworden war. Er sprach leise, und doch drang seine tiefe Stimme bis in den letzten Winkel des Raums. Mir aber fiel es schon nach wenigen Sätzen schwer, ihm zu folgen. Ich versuchte, mich auf seine Worte zu konzentrieren, doch irgendetwas zog mich weg. Fort aus diesem Raum. Fort aus dieser Welt von Verdächtigungen, Beschuldigungen, Vorwürfen und Gegenvorwürfen.

Ich dachte an meinen Bruder in Burma. Er war mir plötzlich so gegenwärtig, als hätte er mir nicht einen Brief geschrieben, sondern wäre persönlich gekommen. Ich dachte an unsere erste Begegnung in dem heruntergekommenen Teehaus in Kalaw. Wie er mich angestarrt hatte, plötzlich aufgestanden und auf mich zugekommen war. In seinem vergilbten weißen Oberhemd, seinem verwaschenen Longy, den ausgeleierten Gummisandalen. Mein Halbbruder, von dem ich nichts gewusst, nicht einmal etwas geahnt hatte. Für einen verarmten Alten hatte ich ihn gehalten, der mich anbetteln wollte. Ich erinnerte mich, wie er sich zu mir setzte, um mir eine Frage zu stellen. »Glauben Sie an die Liebe, Julia?« Noch heute habe ich den Klang seiner Worte im Ohr. Als wäre die Zeit für diese Frage stehen geblieben. Ich hatte laut lachen müssen – und er hatte sich nicht aus der Ruhe bringen lassen.

Während Mulligan etwas vom »Wert des geistigen Eigentums« erzählte, fielen mir seine ersten Sätze wieder ein. Wort für Wort. »Ich meine es ernst«, war U Ba nach meinem Lachen unbeirrt fortgefahren. »Ich spreche von der Liebe, die Blinde zu Sehenden macht. Von der Liebe, die stärker ist als die Angst. Ich spreche von der Liebe, die dem Leben einen Sinn einhaucht …«

Nein, hatte ich ihm irgendwann geantwortet. Nein, daran glaubte ich nicht.

In den folgenden Tagen war ich von ihm eines Besseren belehrt worden. Und jetzt? Fast zehn Jahre später? Glaubte ich noch an eine Kraft, die Blinde zu Sehenden macht? Würde ich in diesem Kreis jemanden überzeugen können, dass der Mensch über Eigensucht triumphieren kann? Sie würden mich auslachen.

Mulligan sprach vom »wichtigsten Fall des Jahres … deshalb müssen wir …« Ich bemühte mich noch einmal mit aller Kraft um Konzentration, doch meine Gedanken drifteten fort, willenlos wie ein Stück Holz, mit dem die Wellen spielen.

»Julia.« Mulligan zerrte mich zurück nach Manhattan. »Du bist dran.«

Ich nickte ihm zu, warf einen hilflosen Blick auf meine Notizen, wollte mit ein paar Standardsätzen beginnen, als mich ein zaghaftes Flüstern unterbrach.

Ich stockte.

Wer bist du?

Hingehaucht und doch nicht zu überhören.

Wer bist du?

Eine Frauenstimme. Immer noch leise, aber klar und deutlich.

Ich schaute über meine rechte Schulter, um zu sehen, wer mich mit so einer Frage ausgerechnet in diesem Moment unterbrach. Niemand.

Wo mochte sie sonst herkommen?

Wer bist du?

Ich drehte mich unwillkürlich nach links. Nichts. Ein Flüstern aus dem Nirgendwo.

Was wollen die Männer von dir?

Gespannte Stille um mich herum. Ich atmete tief ein und wieder aus. Mir wurde warm. Ich schwieg beklommen und hielt die Augen gesenkt. Jemand räusperte sich.

Nimm dich in Acht vor ihnen.

»Julia?«

Kein Wort. Nicht eins. Atemnot. Woher kam diese Stimme? Wer sprach zu mir? Was wollte sie? Warum sollte ich mich vor meinen Kollegen hüten?

»Du kannst beginnen. Wir sind ganz Ohr.« Mulligans wachsende Ungeduld. Erstes Hüsteln.

Du musst ganz vorsichtig sein. Pass auf, was du sagst. Pass auf, wen du anschaust.

Ich hob den Kopf und ließ meinen Blick vorsichtig kreisen. Das unruhige Wippen mancher Oberkörper. Marcs besorgte Miene, er litt mit mir. Vermutete ich. Über Franks breites Gesicht flog ein spöttisches Lächeln. Als hätte er immer geahnt, dass der Tag käme, an dem ich den Druck nicht mehr aushalten und kläglich scheitern würde.

Du darfst ihnen nicht trauen, egal was sie sagen.

Die Stimme schnürte mir die Kehle zu. Ich war wie gelähmt. Vor meinen Augen begannen die Gesichter zu verschwimmen. Handschweiß. Ich spürte, wie mein Herz schneller zu schlagen begann.

»Julia. Ist dir nicht gut?«

Keiner wird dir helfen.

»Entschuldigung«, sagte ich.

Sofort herrschte wieder Ruhe. Es hatte lauter geklungen als nötig. Mehr ein Schrei als eine höfliche Bitte um Aufmerksamkeit. Ihre Blicke. Die folgende Stille. Mir schwindelte. Ich war dabei zu versagen.

»Möchtest du etwas trinken?«

Es klang besorgt. Oder täuschte ich mich? Musste ich mich in Acht nehmen?

Sag nichts. Schweig.

Vor mir tat sich ein dunkler Abgrund auf, der mit jeder Sekunde wuchs. Ich wollte mich verstecken, mich irgendwo verkriechen. Was war nur in mich gefahren? Ich hörte eine Stimme, laut und unmissverständlich. Eine Stimme, über die ich keine Kontrolle besaß. Eine Fremde. In mir. Ich fühlte mich immer kleiner werden. Kleiner und bedürftiger. Kein Wort würde ich von mir geben können, solange nicht Ruhe in meinen Kopf einkehrte. Ich griff mir an die Ohren und drückte einige Male kurz und kräftig, wie ich es tat, wenn das gelegentliche Rauschen zu laut wurde. Ich versuchte es noch einmal mit tiefem Ein- und Ausatmen und wusste sofort, dass es nichts nützen würde.

Sie meinen es nicht gut mit dir. Ihr Lächeln war nicht echt. Sie sind gefährlich.

Schreien. Sie mit meiner wahren Stimme übertönen. LASS MICH IN RUHE. SEI ENDLICH STILL. STILL. STILL.

Kein Wort. Nicht eins.

Mulligans und mein Blick trafen sich. Seine Stirn lag in Falten, die Lippen waren ein schmaler Strich, seine hellblauen Augen fokussierten mich. Ich begriff, dass mir in diesem Raum wirklich niemand helfen konnte. Ich musste raus. Sofort. Ich wollte auf die Toilette, in mein Büro, nach Hause, egal wohin, Hauptsache weg. Sie erwarteten einen Vortrag, sie erwarteten Ideen und Vorschläge, und wenn ich dazu nicht in der Lage war, erwarteten sie zumindest eine Erklärung für mein Verhalten. Eine Entschuldigung. Nichts davon konnte ich ihnen geben. Mir fehlte die Kraft. Ich hatte nichts zu sagen. Ein kurzes Zögern, dann richtete ich mich langsam auf, schob meinen Stuhl nach hinten und erhob mich. Meine Beine zitterten.

Was tust du?

»Julia, um Himmels willen, was ist mit dir los?«

Ich nahm meine Unterlagen, wandte mich ab und ging zur Tür. Mulligan rief etwas, aber ich verstand nicht mehr, was er sagte.

Ich öffnete die Tür, trat hinaus und schloss sie leise wieder.

Und jetzt?

Ich ging an den Toiletten vorbei den Gang zu meinem Büro entlang, legte die Akten auf den Tisch, nahm meinen Mantel, steckte U Bas Brief in meine Handtasche und verließ, ohne Hast und ohne ein weiteres Wort, die Kanzlei.

Ich ahnte noch nicht, dass ich mich, ohne mir dessen bewusst zu sein, auf den Weg gemacht hatte.

An diesem klirrend kalten, wolkenlosen Herbsttag in der Woche vor Thanksgiving.

2

Sie erinnerte sich nicht mehr an jede Einzelheit. Ein Ziehen im Bauch, ein leichtes zunächst. Eines, dem man keine Beachtung schenken musste. Sie saß am Fenster und schaute hinaus. Ein wolkenloser Morgen. Unter ihnen lag Hartford.

Das Ziehen nahm zu. Ein unangenehmer Schmerz, aber vermutlich ganz normal für die ersten Wochen. Glaubte sie. Wollte sie glauben.

Niemand hatte sie gewarnt. Niemand hatte ihr gesagt, was auf dem Spiel stand. Oder doch? Sich schonen, Stress und Aufregung vermeiden. Keinen Alkohol. Was Ärzte so sagen, hatte sie gedacht. Möglichst nicht fliegen. Möglichst. Nicht: auf keinen Fall.

New York–Boston. Flugzeit nicht einmal eine Stunde. Was sollte da passieren?

Natürlich hätte sie den Zug nehmen können. Fünf Stunden. Kurz hatte sie daran gedacht. Der Termin war um 10 Uhr und nicht zu verlegen. Sie hätte am Abend zuvor fahren müssen. Umständlich und zeitaufwendig.

Möglichst. Nicht: auf keinen Fall. Wir hören nur, was wir hören wollen.

Retroamniales Hämatom. Sie konnte sich darunter nichts vorstellen. Ein Bluterguss hinter der Gebärmutter. Es klang in ihren Ohren nicht besorgniserregend, auch wenn das Gesicht des Arztes eine andere Geschichte erzählte. Von der wollte sie nichts wissen. Ein Bluterguss war ein Bluterguss und nichts Bedrohliches, dachte sie, egal wo er lag.

Wann beginnt Leben? Mit dem Akt der Befruchtung? Bei der Geburt? Irgendwann dazwischen. Aber wann?

Hatte sie getötet? Oder den Tod zumindest in Kauf genommen? Billigend? Leichtfertig? Oder war es eine Willkür der Natur gewesen? Schicksal. Wer hatte darauf eine Antwort? Wer wollte sich anmaßen, hier der Richter zu sein?

Neun Wochen alt. Groß wie ein Streichholz. Natürlich nicht lebensfähig. Noch lange nicht. Und trotzdem.

Sie fühlte in den Ohren, dass etwas nicht stimmte. Ein leichtes Problem mit dem Kabinendruck. Nichts, worüber sie sich Sorgen machen müssten, sagte der Pilot und entschuldigte sich für mögliche Unannehmlichkeiten. Sie verließen die Reiseflughöhe, und nach wenigen Minuten war es wieder vorbei. Nur die Feuchtigkeit zwischen ihren Beinen blieb. Als hätte sie sich ein kleines Glas warmes Wasser über den Schoß geschüttet. Und noch eins.

Nach der Landung hielt sie sich den Bauch. Sie war die Letzte, die das Flugzeug verließ, ihr erster Weg führte auf die Toilette. Dort endete es.

Ein Versprechen, streichholzgroß.

Kein Leben, aber eine Hoffnung darauf.

3

Kalaw, der neunte November,
im Jahre zweitausendundsechs

Meine liebe kleine Schwester,
ich hoffe, dieser Brief erreicht Dich wohlauf und bei guter Gesundheit. Bitte verzeih mein langes Schweigen, ich weiß gar nicht mehr genau, wann ich das letzte Mal die Zeit gefunden habe, Dir ein paar Zeilen zu schreiben. War es in der Hitze des Sommers gewesen oder noch vor dem Wechsel des Monsuns?

Eine Ewigkeit scheint seither vergangen, ohne dass allzu viel passiert wäre in meinem Leben oder in Kalaw. Die Frau des Astrologen ist erkrankt und wird bald sterben, die Tochter des Besitzers jenes Teehauses, in dem wir uns zum ersten Mal trafen, hat einen Sohn bekommen. Es ist ein Kommen und Gehen, wie überall auf der Welt, nicht wahr? Aber das Leben hier hat einen anderen Rhythmus als bei Dir, erinnerst Du Dich noch? Was mich betrifft, so muss ich zugeben, dass es mir an der Phantasie fehlt, mir vorzustellen, wie schnell sich Deine Welt dreht.

Mir selbst geht es gut. Ich restauriere noch immer meine alten Bücher, auch wenn es mit der Zeit immer beschwerlicher und mühsamer wird. Die Augen, liebe Schwester, die Augen werden von Tag zu Tag schlechter, ich erreiche allmählich das Alter des abnehmenden Lichts. Außerdem nimmt die unangenehme Angewohnheit meiner rechten Hand, ein wenig zu zittern, weiter zu, was es nicht leichter macht, die kleinen Papierschnipsel auf die Löcher zu kleben, die das gefräßige Ungeziefer unerbittlich in die Seiten bohrt. Früher habe ich ein Vierteljahr benötigt, um eines meiner Bücher wieder in einen lesbaren Zustand zu verwandeln, jetzt ist es ein halbes und bei dicken Büchern sogar mehr. Doch was macht es für einen Unterschied, frage ich mich manchmal, wenn ich mich selbst zur Eile mahne? Wenn ich von etwas genug besitze, dann ist es Zeit. Ihre Kostbarkeit wissen wir erst im Alter wirklich zu schätzen, und ich bin ein reicher Mann. Aber was belästige ich Dich überhaupt mit den Zipperlein eines alten Mannes. Wenn ich meinen Stift nicht zügele, machst Du Dir noch Sorgen um Deinen Bruder, und nichts wäre unbegründeter. Mir fehlt es an nichts.

Bei Dir müsste der Herbst angebrochen sein, habe ich recht? In einem meiner Bücher habe ich einmal gelesen, der Herbst sei die schönste Jahreszeit in New York. Stimmt das? Ach, wie wenig ich doch weiß von Deinem Leben.

Bei uns neigt sich die Regenzeit dem Ende zu, die Luft ist wieder trocken und klar, es wird kühler, und es wird auch nicht mehr lange dauern, dann liegt der erste Raureif auf den Gräsern in meinem Garten. Oh, wie sehr ich den Anblick des zarten Weiß auf den tiefgrünen Blättern schätze.

Gestern hat sich hier etwas Sonderbares zugetragen. Eine Frau ist unter dem Banyanbaum an der großen Kreuzung tot zusammengebrochen. Zuvor, so wurde mir von meiner Nachbarin, die Zeugin des Vorfalls war, berichtet, hatte sie Wehklagen ausgestoßen. Sie war auf dem Weg zum Markt gewesen, hatte sich, wegen eines unvermittelten Schwächeanfalls, auf ihre sie begleitende Schwester gestützt und immer wieder laut um Vergebung gebeten. Dabei waren ihr gewaltige Tränen über die Wangen gelaufen, groß wie Erdnüsse sollen sie gewesen sein, was ich nur schwer zu glauben vermag, Du weißt ja, dass die Menschen bei uns nicht selten zu Übertreibungen neigen. Plötzlich hatte sie sich von ihrer Schwester abgewandt, um einem jungen, ihr unbekannten Mann zu folgen, und fortwährend einen Namen gerufen, den niemand im Ort zuvor gehört hatte. Als der junge Mann sich, erstaunt über den Lärm hinter seinem Rücken, umdrehte, trafen sich ihre Blicke, die Frau erstarrte und sank tot zu Boden. Als hätte sie ein Blitz erschlagen an diesem klaren, wolkenlosen Tag. Niemand fand eine Erklärung dafür. Ihre Schwester, mit der sie seit Jahren am Rande unseres Ortes zurückgezogen lebte, ist untröstlich. Freunde hatten die beiden offenbar wenige, und auch die Nachbarn wissen von nichts, sehr ungewöhnlich, möchte ich meinen, die wissen sonst immer alles. Der Vorfall beherrscht seither die Gespräche in unserer kleinen Stadt, in den Teehäusern und auf dem Markt. Manche Menschen behaupten, der junge Mann besitze magische Kräfte und habe die Frau mit seinen Blicken getötet. Der arme Kerl bestreitet dies natürlich und beteuert seine Unschuld. Nun ist er erst einmal zu seiner Tante nach Taunggyi geflüchtet.

Und Du, meine liebe Schwester? Sind die Hochzeitspläne, die Du in Deinem letzten Brief so zaghaft angedeutet hast, von Dir und Herrn Michael weiter gediehen, oder komme ich mit meiner Frage womöglich zu spät und Ihr habt bereits geheiratet? In dem Fall bleibt mir nur, Euch von Herzen alles Gute zu wünschen. Ich habe die wenigen Jahre, die mir mit meiner Frau vergönnt gewesen waren, immer als großes, ja vielleicht größtes Glück empfunden.

Nun ist mein Brief viel länger geworden, als es meine Absicht war, die Geschwätzigkeit des Alters, fürchte ich und hoffe, dass ich nicht allzu viel Deiner Zeit in Anspruch genommen habe. Ich werde schließen, die Dämmerung ist angebrochen, und um die Elektrizität war es in Kalaw in den vergangenen Wochen nicht gut bestellt. Meine Glühbirne unter der Decke flackert so heftig, als wolle sie mir geheime Signale senden. Ich vermute jedoch, sie kündigt nur einen weiteren Stromausfall an.

Julia, meine Liebe, mögen die Sterne, möge das Leben, möge das Schicksal Dir wohlgesinnt sein. Ich denke an Dich, ich trage Dich in meinem Herzen, pass auf Dich auf.

In tiefer Verbundenheit

Dein

U Ba

Ich legte den Brief zur Seite. Die Angst vor einer Rückkehr der Stimme hatte nachgelassen, stattdessen überkam mich das Gefühl einer großen Vertrautheit, verbunden mit Sehnsucht und einer tiefen Melancholie. Wie gern hätte ich meinem Bruder jetzt gegenübergesessen. Ich erinnerte mich an seine altmodische Art sich auszudrücken, seine Angewohnheit, sich ohne Grund ständig für irgendetwas zu entschuldigen. Seine Höflichkeit und Bescheidenheit, die mich so gerührt hatten. Vor meinen Augen tauchte seine kleine, auf Stelzen stehende Hütte aus schwarzem Teak auf, das grunzende, im Dreck wühlende Schwein, die Hühner im Hof, der abgewetzte Ledersessel, auf dessen Sitzkissen sich die Sprungfedern abzeichneten, ein Sofa mit verschlissenem Bezug, auf dem ich mehrere Nächte verbracht hatte. Mittendrin ein Bienenschwarm, der sich bei ihm eingenistet hatte und dessen Honig er nicht anrührte, weil er nichts benutzen wollte, was ihm nicht gehörte.

Ich sah ihn vor mir sitzen, zwischen zwei Petroleumlampen tief über seinen Tisch gebeugt, umgeben von Büchern. Sie standen in Regalen, die vom Boden bis zur Decke reichten. Sie lagen in Stapeln auf den Holzbohlen und türmten sich auf einem zweiten Sofa. Ihre Seiten sahen aus wie Lochkarten. Auf dem Tisch lagen verschiedene Pinzetten, Scheren, dazwischen zwei kleine Gefäße, eins mit weißem, zähem Klebstoff, das andere voller winziger Papierschnipsel. Stundenlang hatte ich zugeschaut, wie er mit einer der Pinzetten einen Schnipsel nahm, ihn in die Klebe tunkte, auf eines der Löcher legte, um dann, sobald er festklebte, den fehlenden Buchstaben mit einem Stift nachzuziehen. So hatte er über die Jahre Dutzende von Büchern restauriert.

Das Leben meines Bruders, das so gar nichts mit dem meinen zu tun und mich doch so tief berührt hatte.

Mein Blick fiel auf das Regal, in dem die Erinnerungsstücke meiner Burmareise standen, halb verdeckt von Büchern und Zeitschriften. Ein holzgeschnitzter Buddha, das Geschenk meines Bruders. Eine kleine, verstaubte Lackdose, verziert mit Elefanten und Äffchen. Ein Foto von U Ba und mir, das wir kurz vor meiner Abreise in Kalaw gemacht hatten. Ich überragte ihn um mehr als einen Kopf. Er trug einen neuen, grün-schwarzen Longy, ein weißes Hemd, das er selbst am Abend zuvor noch gewaschen hatte, damit es auch ja sauber war, um den Kopf hatte er sich ein rosafarbenes Tuch gewickelt, wie es bei älteren Shan früher üblich gewesen war. Ernst und feierlich blickte er in die Kamera.

Mich selbst erkannte ich kaum wieder. Beglückt von den aufregendsten Tagen meines Lebens, beseelt von der schönsten Liebesgeschichte, die ich je hören würde, der Geschichte meines Vaters, strahlte ich entspannt, fast ein wenig entrückt, in Richtung Fotograf. Als ich Freunden das Bild zeigte, wollten sie nicht glauben, dass ich das war. Als Michael es zum ersten Mal sah, fragte er, ob ich dort völlig bekifft in Indien neben meinem Guru stünde. Später hatte er sich über meinen Gesichtsausdruck oft lustig gemacht und behauptet, ich hätte vor der Aufnahme zu tief an einer burmesischen Opiumpfeife gezogen.

Zehn Jahre waren seither vergangen. Zehn Jahre, in denen ich mir immer wieder fest vorgenommen hatte zurückzukehren, das Grab meines Vaters zu besuchen, Zeit mit U Ba zu verbringen. Ich hatte die Reise von einem Jahr auf das andere verschoben. Zweimal hatte ich Flüge reserviert und im letzten Moment wieder storniert, weil etwas Wichtigeres dazwischengekommen war. Etwas so Wichtiges, dass ich heute nicht einmal mehr sagen konnte was es gewesen war. Irgendwann hatte der Alltag die Intensität der Erinnerungen verblassen lassen, der Wunsch verlor seine Dringlichkeit und wurde zu einem vagen Vorhaben in einer unbestimmten Zukunft.

Ich wusste nicht mehr, wann ich U Ba das letzte Mal ein paar Zeilen geschickt hatte. Er bat um Verzeihung für sein langes Schweigen. Ich war es, die ihm eine Antwort auf seinen letzten Brief schuldig geblieben war. Vermutlich auch auf den vorletzten, ich erinnerte mich nicht. In den ersten Jahren nach meiner Rückkehr hatten wir uns regelmäßig geschrieben, mit der Zeit nahm die Häufigkeit unserer Korrespondenz jedoch ab. Er hatte mir alle zwei Jahre eines seiner restaurierten Bücher geschickt, von denen ich jedoch, ich musste es mir eingestehen, keines je ganz gelesen hatte. Sie waren, trotz seiner Bemühungen, von den Jahren gezeichnet, vergilbt, verstaubt, verschmutzt. Wenn ich sie in die Hand nahm, wusch ich mir anschließend die Finger. Er hatte sie mit liebevollen Widmungen versehen, und jedes von ihnen lag zunächst neben meinem Bett, bald darauf im Wohnzimmer, bis es schließlich in irgendeiner Kiste verschwand.

Ich hatte ihm einige Male durch einen Kontakt in der amerikanischen Botschaft in Rangun Geld zukommen lassen, insgesamt mögen es an die zehntausend Dollar gewesen sein. In seinem nächsten Brief bestätigte er den Erhalt jeweils eher beiläufig, ohne sich in vielen Worten zu bedanken oder zu erklären, was er mit dem, für burmesische Verhältnisse, vielen Geld machte, was mich vermuten ließ, dass ihm meine Geldgeschenke eher unangenehm waren. Irgendwann ließ ich es sein, und er kam auch nie wieder darauf zu sprechen. Ich hatte ihn mehrmals eingeladen, mich in New York zu besuchen, und erklärt, mich um alle Formalitäten zu kümmern und selbstverständlich alle Kosten zu übernehmen. Am Anfang hatte er mich vertröstet und dann ein ums andere Mal aus Gründen, die ich nicht verstand, höflich, aber sehr bestimmt abgelehnt.

Ich fragte mich, warum ich es in all den Jahren nicht geschafft hatte, ihn wiederzusehen, obgleich ich bei meiner Abreise uns beiden versprochen hatte, in wenigen Monaten zurückzukehren. Wie hatte er, dem ich so viel verdankte, wieder aus meinem Leben entschwinden können? Warum schieben wir das uns wirklich Wichtige so oft auf? Ich hatte darauf keine Antwort. In den kommenden Tagen würde ich ihm ausführlich schreiben.

Die Erinnerungen an Burma hatten mich abgelenkt und beruhigt. Ich hatte Mulligan noch aus dem Taxi eine E-Mail geschrieben, mich mit akuten Kreislaufproblemen entschuldigt und versprochen, ihm alles Weitere am Montag zu erklären. Ich überlegte, ob ich den Nachmittag nutzen sollte, um meine Wohnung aufzuräumen. Sie sah schlimm aus. Die Putzfrau war seit zwei Wochen krank, und in den Ecken hatte sich der Staub gesammelt. Im Schlafzimmer standen noch immer mehrere unausgepackte Kartons, an den Wänden lehnten Bilder, die darauf warteten, aufgehängt zu werden, obwohl schon vier Monate vergangen waren, seit Michael und ich uns getrennt hatten und ich zurück in mein altes Apartment gezogen war. Meine Freundin Amy behauptete, der Zustand meiner Wohnung spiegele meine Weigerung, die Trennung von Michael zu akzeptieren. Das war Unsinn. Wenn die Unordnung etwas verriet, dann die Enttäuschung darüber, dass ich mit achtunddreißig Jahren wieder in derselben Wohnung lebte wie mit achtundzwanzig. Es fühlte sich wie ein Rückschritt an. Ich war vor vier Jahren ausgezogen, weil ich nicht mehr allein, sondern mit Michael leben wollte. Die Wohnung erinnerte mich jeden Tag aufs Neue daran, dass dieser Versuch gescheitert war.

Warum bist du allein?

Dieselbe Stimme. Kein Flüstern mehr, aber immer noch leise. Sie ging mir durch den ganzen Körper, ließ mich erschauern.

Warum bist du allein?

Sie klang näher, dringender als im Büro. Als wäre jemand an mich herangerückt.

Warum antwortest du mir nicht?

Mir wurde heiß. Wieder begann mein Herz schneller zu schlagen. Handschweiß. Die Symptome von heute Morgen. Ich konnte nicht still sitzen, stand auf und ging in meinem kleinen Wohnzimmer auf und ab.

Warum bist du allein?

Wer sagt, dass ich allein bin?

Würde sie Ruhe geben, wenn ich ihr antwortete?

Wo sind denn die anderen?

– Welche anderen?

Dein Mann.

– Ich bin nicht verheiratet.

Hast du keine Kinder?

– Nein.

Oh.

– Was heißt oh?

Nichts. Es ist nur … keine Kinder … das ist traurig.

– Nein. Ist es überhaupt nicht.

Wo ist dein Vater?

– Der ist tot.

Und deine Mutter?

– Die lebt in San Francisco.

Hast du keine Geschwister?

– Doch, einen Bruder.

Warum ist der nicht hier?

– Er lebt auch in San Francisco.

Bist du hier bei deinen Onkeln und Tanten geblieben?

– Ich habe keine Onkel und Tanten.

Keine Onkel und Tanten?

– Nein.

Warum lebst du dann nicht bei deiner Familie?

– Weil es nicht schlecht ist, wenn ein Kontinent zwischen uns liegt.

Also bist du doch allein.

– Nein. Ich bin nicht allein. Ich lebe nur allein.

Warum?

– Warum? Warum? Weil ich es so schöner finde.

Warum?

Du gehst mir auf die Nerven mit deinem Warum.

Warum lebst du allein?

– Weil ich es hasse, in der Nacht vom Schnarchen eines Mannes geweckt zu werden. Weil ich am Morgen lieber in Ruhe meine Zeitung lese. Weil ich Barthaare im Waschbecken nicht mag. Weil ich mich nicht rechtfertigen möchte, wenn ich um Mitternacht aus dem Büro komme. Weil ich es liebe, niemandem etwas erklären zu müssen. Kannst du das verstehen?

Schweigen.

– Hallo? Kannst du das verstehen?

Stille.

– Hallo? Warum sagst du nichts mehr?

Ich blieb stehen und wartete. Das sonore Brummen des Kühlschranks, Stimmen auf dem Flur, eine zufallende Tür.

– Wo bist du?

Das Telefon klingelte. Amy. Sie merkte an meinem Ton, dass etwas nicht stimmte.

»Geht es dir nicht gut?«

»Doch.«

Warum sagst du schon wieder die Unwahrheit?

Als hätte mich jemand von hinten mit Wucht gestoßen. Ich stolperte und hätte fast das Gleichgewicht verloren.

»Es, es ist nur …«, stammelte ich verwirrt.

»Julia, was ist los mit dir?«, fragte sie erschrocken. »Wollen wir uns sehen? Soll ich zu dir kommen?«

Ich wollte raus aus meiner Wohnung.

»Ich … ich komm lieber zu dir. Wann hast du Zeit?«

»Wann du willst.«

»Ich bin in einer Stunde bei dir.«