Christine Eichel
Deutschland,
deine Lehrer
Warum sich die Zukunft unserer Kinder
im Klassenzimmer entscheidet
Karl Blessing Verlag
Christine Eichel
Deutschland,
deine Lehrer
Warum sich die Zukunft unserer Kinder
im Klassenzimmer entscheidet
Karl Blessing Verlag
Für Florian
Hold on my heart
Inhalt
Einleitung
Fräulein Zimmerle hat sich krankschreiben lassen
Kapitel 1
Beziehungsprobleme. Ein verkannter Konflikt
Tatsächlich Liebe
Meister und Schüler
Bildung durch Bindung
Selbstwirksamkeit statt Selektion
Anmerkungen zur Lehrerpersönlichkeit: Robert Rauh, ein Lehrer der Kreidezeit
Kapitel 2
Kampfmodus. Lehrer an der Front
Das Ringen um Autoritä
Mit harter Hand
Bootcamp Referendariat
Lehrer im Test
Vom Kriegsschauplatz zum Kulturfaktor: Cordula Heckmann und das Rütli-Experiment
Kapitel 3
Imageprobleme. Die Misere des Lehrerberufs
Ritter von der traurigen Gestalt
Sklaven, Mönche, Dorfschulmeister
Die Feminisierung des Lehrkörpers
Vom Hauslehrer zum Bildungsvollzugsbeamten
Kapitel 4
Qualitätsoffensive. Wie die Schule gerettet werden soll
Reality Check
Die Versprechen der Hirnforschung
Neurodidaktische Prämissen
Und sie bewegt sich doch: Günther Schmalisch wandert in Lernlandschaften
Kapitel 5
Ausgebrannt. Die Leiden der Lehrer
Schulsport Mobbing
Die Stunde der Hierarchen
Hilfe, Helikoptereltern!
Burn-out: Nichts geht mehr
Offensive Beziehungskultur: Wolfgang Voegelsaenger und das IKEA-Feeling
Kapitel 6
Anfangen. Die Schule der Zukunft
Spieler, Multitasker, Teamplayer
Selbstorganisation
Was Schüler können sollten
Dank
Anhang
Merkmale erfolgreichen Unterrichts nach Hattie
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Register
Vorbemerkung
Zu den Recherchen für dieses Buch gehörten viele Gespräche mit Lehrern, Schülern und Eltern. Die Mehrheit stimmte einem Interview nur unter der Bedingung einer Anonymisierung zu. Schüler wie Eltern befürchten, nach einer Veröffentlichung mit Klarnamen in der Schule zur Rede gestellt und unter Druck gesetzt zu werden. Das Gleiche gilt für Lehrer. Geht es um Kritik am Schulsystem, haben sie Angst vor Repressalien. Einer Schulleiterin, die ich sprach, war es nach jahrelangen Querelen mit der Schulbehörde sogar verboten, sich öffentlich zu äußern. Viele Lehrer sind aber auch besorgt um ihre Reputation bei Schülern, Eltern, Kollegen, Schulleitung, wenn sie persönliche Probleme mit dem Beruf ohne den Schutz eines Pseudonyms schildern.
Die Anonymisierung von Gesprächspartnern ist im Sinne einer möglichst transparenten Darstellungsweise natürlich unbefriedigend. Andererseits gab es keine andere Option, ein möglichst lebensnahes Bild des Schulalltags zu zeichnen. Alle wörtlichen Passagen ohne Quellenangabe stammen aus eigenen Interviews und wurden von meinen Gesprächspartnern schriftlich autorisiert. Anspruch auf eine repräsentative Auswahl nach wissenschaftlichen Kriterien kann ich selbstverständlich nicht erheben. Ich habe mich jedoch bemüht, möglichst unterschiedliche Schultypen, Jahrgangsstufen und Unterrichtsfächer zu berücksichtigen, außerdem Lehrer verschiedener Jahrgänge und Bundesländer. Auch die Gendergerechtigkeit war ein Gesichtspunkt. Im Übrigen spreche ich der Lesefreundlichkeit halber generell von Lehrern und Schülern, schließe dabei aber Lehrerinnen und Schülerinnen ausdrücklich ein.
Allen, die mir Auskunft gegeben haben, möchte ich von Herzen danken. Ohne ihre Mitarbeit hätte ich nicht jene oft überraschenden Einblicke in den Schulalltag gewinnen können, die dieses Buch wesentlich beeinflusst haben. Unter anderem erfuhr ich einiges über die systemischen Zwänge, unter denen es Lehrern heute immer schwerer fällt, begeistert und hingebungsvoll zu unterrichten. Besonders danken möchte ich jenen Lehrern, die sich hochengagiert um eine Transformation ihres Berufs wie auch der Schule bemühen und mir ihre Lehrkonzepte erläutert haben. Nicht zuletzt sie haben mich in der Überzeugung bestätigt, dass sich ein weiteres Buch über das Dauerthema Schule zu schreiben lohnt.
Einleitung
Fräulein Zimmerle hat sich krankschreiben lassen
Oberstudienrat Vogel seufzt schon am Freitagabend, wenn er an den Montagmorgen denkt. Bernd Bonitz behauptet steif und fest, seine 3 400 netto im Monat seien schwer verdientes Geld, die Hauptschule, sagt er, sei der reinste Gulag, und lange mache er das nicht mehr. Fräulein Zimmerle hat sich krankschreiben lassen, die Kollegin Wildgruber schafft es nur noch mit Hilfe von Tabletten, Dr. Wartmann ist enttäuscht, Dr. Gross verbittert, die Frau von Koegler will sich scheiden lassen, und Fritzi Bauriedl hat neulich in der Konferenz gesagt: »Wenn ich noch einmal das Wort Rückstellerquote höre, dann schreie ich.« Woran mag das alles nur liegen? Das weiß anscheinend kein Mensch. Alle bisherigen Nachforschungen, so gründlich sie auch angestellt wurden, alle Pilotversuche, alle Innovationsausschüsse, alle Wahlpflichtdifferenzierungsmodelle, alle Didaktik-Designs, alle Evaluationsuntersuchungen, alle Bildungsgesamtpläne und Rahmenrichtlinien haben den langen, langen Jammer der Schulen nur noch verlängert.
Hans Magnus Enzensberger, Plädoyer für den Hauslehrer, in: Politische Brosamen, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1982
Was klingt wie ein langer, langer Seufzer aus dem zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, entstammt einem Essay von 1982. Geschrieben hat ihn Hans Magnus Enzensberger, und man sollte meinen, dass wir heute, mehr als dreißig Jahre später, befreit darüber lachen könnten. Amüsant ist der Text jedoch wegen seiner verblüffenden Aktualität. Oder, genauer gesagt, wegen seiner nahezu absurden Aktualität. Warum laborieren wir noch immer an den gleichen Problemen herum wie in der frühen Neuzeit der deutschen Bildungsdebatte? Warum kommen uns die satirisch überzeichneten Lehrertypen so bekannt vor, die hohl klingelnden Fachbegriffe, die kopfschüttelnde Ratlosigkeit des Autors?
Auch heute sorgt das Reizthema Schule wie kaum ein anderes für hitzige Kontroversen. Die Diagnose eines Bildungsnotstands gehört ebenso zum Inventar unserer Empörungskultur wie das Lamento über veraltete Lehrpläne, obsolete pädagogische Konzepte und nicht zuletzt die überforderten Lehrkräfte. An Therapievorschlägen mangelt es nicht. Kleinere Klassen, neue Lehrinhalte, offener Unterricht, die Abschaffung von Zensuren – in einem Klima, das von Alarmismus geprägt ist, überbietet man einander mit Ideen für strukturelle Veränderungen. Sie verheißen Befreiungsschläge, heraus aus der Bildungsmisere, hin zu einem Schulsystem, dessen Absolventen faire Chancen auf sozialen wie beruflichen Erfolg haben.
Allerdings fällt auf, mit welch erstaunlicher Beharrungskraft das Gros der Lehrer auf den permanenten Optativ des Wünschens und Wollens reagiert: nämlich gar nicht. Während Politiker, Psychologen, Lernforscher, Kulturtheoretiker und neuerdings auch Hirnforscher unablässig Vorschläge unterbreiten, wie die Schule noch zu retten sei, bleibt es in der Lehrerschaft auffällig still. Reformen von außen werden zwar zähneknirschend umgesetzt, etwa die Reduzierung der gymnasialen Oberstufe um ein Jahr oder der jahrgangsübergreifende Unterricht in der Grundschule. Aber ein breiter vitaler Erneuerungswille von innen ist kaum spürbar. Eher hinhaltender Widerstand.
Dabei wissen auch Lehrer seit Langem, dass etwas nicht stimmt im Kosmos Schule. Das Unbehagen ist groß, auch die Resignation in einem qua Verwaltung und Verbeamtung ruhiggestellten System. Dennoch leisten viele Lehrer einen hervorragenden Unterricht. Einzelne Lehrer und Schulleiter versuchen außerdem, auf eigene Faust Innovationen durchzusetzen. Zu den unerschrockenen Pionieren gehört das Kollegium der Integrierten Gesamtschule Göttingen. Trotz permanenter administrativer Gängelungsversuche – einmal sollte die Schule sogar geschlossen werden – wird hier erfolgreich ein eigenes Lernmodell verwirklicht. Innovationsgeist bewies ebenfalls der Schulleiter des Albrecht-Ernst-Gymnasiums in Oettingen, der das Konzept der Lernlandschaften entwickelte. Symptomatisch sind diese Beispiele nicht. Wie auch anderswo, hat die Normalität eine defensive Kraft. Viele Impulse verebben, weil es einfacher scheint, einen unbefriedigenden Status quo aufrechtzuerhalten, statt Neues, Unbequemes zu wagen. »Das Kollegium muss sich in der Umsetzung einig sein und die erforderliche Mehrarbeit leisten. Ein Konsens ist oftmals nur schwer zu erreichen«, erklärt Albert Zimmermann von der Universität Köln das business as usual.1
Mehr Eigeninitiative wäre jedenfalls dringend notwendig. Eine international vergleichende Schulstudie des Boston College von 2013 kommt zu dem Schluss: Im Gegensatz zu anderen Ländern, wo äußere Sicherheit und gute Ausstattung von Schulen einen hohen Leistungsstandard der Schüler gewährleisten, sei es in Deutschland ausschlaggebend, ob der Schulleiter den Lernerfolg seiner Schüler anstrebe.2 Der Begriff des Leistungsstandards ist zwar erklärungsbedürftig, mehr Selbstverantwortung der Schulleiter und Lehrer ist jedoch fraglos vonnöten. Offenbar mangelt es an Energie und Tatkraft. Befragt man Lehrer, ist vor allem eines erkennbar: ihr hoher Leidensdruck. Was ist von einem Berufsstand zu halten, in dem Survival-Ratgeber kursieren, in dem nur rund 40 Prozent der Beschäftigten die Regelaltersgrenze erreichen und in dem das Risiko eines Burn-outs höher ist als in jeder anderen Berufsgruppe?
Auch wenn Enzensberger auf dem Boulevard der essayistischen Übertreibung flaniert: Grundsätzlich hat seine satirische Skizze wenig von ihrer Treffsicherheit verloren, vor allem im Hinblick auf das pädagogische Personal. So sinnvoll und angebracht es ist, über veränderte schulische Rahmenbedingungen nachzudenken, so wenig aussichtsreich sind verordnete Reformen, wenn das öffentliche Bild, aber auch die Selbstwahrnehmung der Lehrer derart desaströs bleiben wie zurzeit. Neuere Untersuchungen belegen, dass sie zunehmend mit sich selbst beschäftigt sind, mit Überforderung, Hilflosigkeit, Resignation. Eine Allensbach-Studie von 2012 mit dem bezeichnenden Titel »Lehre(r) in Zeiten der Bildungspanik« ergab: 49 Prozent der Befragten meinen, das Unterrichten sei anstrengender geworden, 33 Prozent beklagen starke psychische Belastungen.3 In der folgenden Allensbach-Studie aus dem Jahr 2013 sind es bereits 54 Prozent der Lehrer, die über erschwerte Verhältnisse stöhnen. 74 Prozent meinen überdies, eine individuelle Förderung von Schülern sei unter den gegenwärtigen Bedingungen unmöglich.4
Angesichts solcher Zahlen muss man davon ausgehen, dass weniger Desinteresse als vielmehr innere Emigration für die Misere des Lehrerberufs verantwortlich ist. Oft beginnt die Spirale der Frustration bereits während des Referendariats. Jeder zweite Lehrer fühlt sich unzureichend auf den Schulalltag vorbereitet. Erst nach vier bis sechs Jahren Studium wird vielen Lehramtskandidaten klar, worauf sie sich eingelassen haben: auf die oft anstrengende Begegnung mit Kindern und Jugendlichen, auf Herausforderungen, denen sie sich nicht gewachsen und für die sie sich nicht qualifiziert fühlen. Manchem wird auch bewusst, dass er möglicherweise weniger am Pädagogendasein interessiert war als an seinen Neigungsfächern. Kein Wunder, dass viele Referendare die ersten Erfahrungen mit der Praxis als Schock empfinden. Allerdings ohne die Konsequenzen daraus zu ziehen, wie Bildungsforscher Udo Rauin kritisiert: »Sie verdrängen ihre Inkompetenz in der Hoffnung, dass sich das schon irgendwie legen wird, da der Lehrerberuf andere Vorteile hat beziehungsweise die Perspektivlosigkeit in anderen Bereichen so groß ist, dass man dann doch dabeibleibt.«5 Natürlich gibt es sie, die engagierten, aufopferungsvollen Lehrer, die hochmotiviert vor ihrer Klasse stehen und Schüler begeistern können. Das ist jedoch nicht die Regel. Unzufriedenheit und subjektiv empfundene Belastungen wachsen, während die gesellschaftliche Anerkennung sinkt oder ganz ausbleibt.
Im Schuljahr 2012/2013 unterrichteten in Deutschland rund 670 000 voll- und teilzeitbeschäftigte Lehrer etwa 11,25 Millionen Schüler.6 Knapp 12 Millionen Deutsche verbringen also täglich viele Stunden im Klassenzimmer, ein Teil davon ganztags. Eine gewaltige Zahl. Rechnet man die Familien von Lehrern und Schülern hinzu, kann man ermessen, wie viele Menschen sich tagein, tagaus mit dem Thema Schule auseinandersetzen, als Akteure, als Zuschauer, als Kommentatoren. Die Art und Weise, wie Schule erlebt wird, hat damit einen kaum zu unterschätzenden Einfluss auf das gesellschaftliche Klima.
Es sei das Schicksal des Volkes, welche Lehrer es hervorbringe und wie es seine Lehrer achte, mahnte Karl Jaspers.7 Was das Hervorbringen betrifft, so muss sich ohne Frage viel bewegen. Bildungspsychologen und Lernforscher halten eine veränderte Lehrerschulung für die wichtigste Aufgabe der Bildungspolitik. Mit der Achtung verhält es sich schon etwas komplizierter, denn die Voraussetzungen dafür sind denkbar ungünstig. Einer Studie von 2013 zufolge würde weniger als ein Fünftel der befragten Deutschen seinem Kind empfehlen, Lehrer zu werden. Die Anerkennung des Berufs hat hierzulande schwerer gelitten als anderswo, statistisch liegen wir international im letzten Drittel.8
Das hat schlechte Tradition. Die historische Entwicklung des Lehrerberufs in Deutschland ist die Geschichte eines Imageproblems. Lange vor der Lehrerschelte heutiger Tage wurde das Außenseiterspiel erfunden. Dorfschulmeister waren oft lausig ausgebildet, sozial isoliert und wurden als Witzfiguren wahrgenommen – exemplarisch verewigt in Wilhelm Buschs Lehrer Lämpel. Als Hauslehrer der Adelsschicht fristeten Pädagogen ein Dasein als deklassierte Bedienstete. Und seit sie in den Status des Berufsbeamtentums wechselten, empfand man sie als wenig sympathische Vollstrecker des Obrigkeitsstaats. Auch der Typus des studentenbewegten Lehrers der Siebzigerjahre, der seine Schüler duzte und Bob-Dylan-Songs zum eigenhändigen Gitarrenspiel vortrug, sorgte für keine Imageverbesserung.
Mit der Feuerzangenbowlen-Gemütlichkeit ist es lange vorbei. Heute ist Lehrerbashing Volkssport. Die haben morgens recht und nachmittags frei, heißt es. Eine Mischung aus Neid und Verachtung schlägt ihnen entgegen. Oft verbirgt sich dahinter eine hochtrainierte Form von Ignoranz. Fundamentalkritik kann eine subtile Variante des Schweigens sein, auch der unterlassenen Hilfeleistung. Viele Lehrer sind am Limit. Mit Solidarität oder gar Unterstützung können sie jedoch kaum rechnen. Den einen sind sie zu autoritär, die anderen spotten über Kuschelpädagogen. Manche fordern Entertainer, andere leistungsbetonte Entspaßer.
»Deutschland schwankt zwischen Kasernenhof und Freizeitpark«, sagt die Kognitionspsychologin Elsbeth Stern über die schulischen Verhältnisse9. Eingeklemmt zwischen widersprüchlichen Erwartungen und beladen mit sperrigem Theoriegepäck, sollen Lehrer nun auch noch Mediatoren im Streit um die wahre Lehre sein. Die Dynamik der Vereinzelung, eine Folge des nach wie vor straff hierarchischen Systems Schule, tut ein Übriges, um sie mit dem Rücken an die Wand zu drängen. Oder handelt es sich um selbstverschuldete Unmündigkeit?
Es gibt viel Unerbittlichkeitsrhetorik auf dem Jahrmarkt des Bewusstseins. Oft entpuppt sich die vehemente Schulkritik als pessimistische Gesellschaftsanalyse, mit der einmal mehr der Untergang des Abendlandes beschworen werden soll. Vorwürfe hagelt es von allen Seiten. Vom Stammtisch bis zum Elfenbeinturm ist man sich einig: Nichts darf bleiben, wie es ist. »Ich glaube, es ist an der Zeit, die Arbeit, die Nietzsche für den Priester gemacht hat, für den Lehrer weiterzuführen«, befindet etwa Peter Sloterdijk. Er lässt keinen Zweifel daran, wie er sich diese Arbeit vorstellt, nämlich als Demontage, die er als kathartische Maßnahme feiert. »Der Lehrer ist eine unterkritisierte Instanz«, meint der Philosoph, »er hat Anspruch auf eine befreiende und vernichtende Kritik.« Immerhin räumt er ein, dass man den Lehrern meist die falschen Vorwürfe mache.10
Die Bemerkung, sie seien unterkritisiert, löst bei Lehrern wohl eher Staunen bis Entrüstung aus. Seit der ehemalige Kanzler Schröder sie als »faule Säcke« bezeichnete, ist die Beißhemmung stetig gesunken. Die kritischen Töne werden greller. Als Guido Westerwelle die Grünen als Lehrerpartei bezeichnete, war das kein Kompliment, sondern ein Synonym für sauertöpfische Bevormundung. Solche Kränkungen bleiben nicht ohne Wirkung. »Schrei nach Liebe« war ein Zeitungsartikel überschrieben, der vom Weltlehrertag 2013 berichtete.11 Die Berufsverbände forderten mehr Respekt, hieß es da. Auch von einem Imagewandel war die Rede; das Lehrerbild des »faulen Hunds« weiche zusehends dem des »armen Schweins«. In der Tat entsteht der Eindruck, dass Lehrer immer mehr zu Prügelknaben werden, obwohl sich längst herumgesprochen hat, dass sie einen »Höllenjob« machen.12
Symptomatisch ist die Einschätzung einer Lehrerin, die den »Aberwitz des Schulalltags« schildert: »Mit mir hat niemand Mitleid«, beschwert sie sich. »Aus dem Fernsehen weiß ich, dass es eigentlich nur zwei Sorten Lehrer gibt: weltfremd, vertrottelt und vergammelt oder arrogant, böse und zynisch. Ich habe mich entschieden: lieber Megäre als Depp!« Nur als »Kinderschreck« überlebe sie die Zumutungen aufsässiger Pubertierender, hauptberuflicher Mütter und besserwisserischer Kollegen.13 Über solch munteres Betroffenheitsmanagement können sich Eltern wenig amüsieren. »Jeder kennt sie: die Lehrerin, die sich in alles einmischt, kontrolliert und beobachtet. Ihre Kollegin, die zehn Wochen lang krank feiert, weil sie sich bei der Gartenarbeit überanstrengt hat. Den Lehrer, der so freundlich tut, aber keine Sekunde zögern wird, einen vor der ganzen Klasse vorzuführen«, erregt sich die Journalistin Gerlinde Unverzagt unter dem Pseudonym Lotte Kühn in ihrem populären Lehrerhasserbuch.14
Wer sich auf Feldforschung in den real existierenden Schulalltag begibt, findet sich rasch in der Rolle des Frontberichterstatters wieder. Schüler und Eltern berichten aufgebracht über unfähige Lehrer, während die sich wiederum über Autoritätsverluste und praktisch unbeschulbare Schüler ereifern. Gegenseitige Schuldzuweisungen verstehen sich von selbst. Die familiäre Bildung sei unzureichend, heißt es seitens der Lehrer, Kinder erlernten nicht mehr die Grundlagen sozialen Verhaltens, seien respektlos und disziplinfrei. Unmöglich könne die Schule auffangen, was in der Familie versäumt werde. Dennoch müssen sich Lehrer den Einwand gefallen lassen, ihnen mangele es an der Bereitschaft, auf ihre Schüler einzugehen, von erreichten Leistungszielen ganz zu schweigen.
Viele Lehrkräfte fühlen sich zu Unrecht an den Pranger gestellt. Gerhard Brand, Landesvorsitzender der baden-württembergischen Sektion des Verbands Bildung und Erziehung, wünscht sich deshalb die wohlmeinende Begleitung seitens der Gesellschaft, statt Lehrer mit Vorwürfen und guten Ratschlägen zu überhäufen. »Wenn eine Gesellschaft mit den Lehrern schlecht umgeht, dann hat sie unverdientes Glück, wenn die Lehrer mit den Schülern gut umgehen«, sekundiert Heribert Prantl.15 Dieses Argument ist plausibel. Das Gleiche gilt aber auch vice versa: Wenn Lehrer schlecht mit ihren Schülern umgehen, müssen sie sich nicht wundern, wenn die Gesellschaft sie schlecht behandelt. Über die Debatten um Systeme, Reformen oder gar Revolutionen ist in Vergessenheit geraten, dass jeder Lehrer die Verantwortung für gelingenden Unterricht trägt. Den Ausgang kulturpessimistisch geführter Glaubenskriege und ideologischer Grabenkämpfe abzuwarten, können sich Lehrer, kann sich unsere Gesellschaft nicht leisten. Schule findet täglich statt, muss sich täglich beweisen. Und die Erfahrung zeigt: Revolutionen werden nun einmal nicht von oben gemacht, sondern beginnen an der Basis. Zahlreiche positive Beispiele belegen, dass es wesentlich mehr Spielraum für Veränderungen gibt als gemeinhin angenommen. »Die Kinder können nicht warten, bis die Politiker in die Gänge kommen«, sagt Schulleiter Günther Schmalisch, der erfolgreich ein völlig neuartiges Lernkonzept entwickelt hat. »Wir müssen selbst aktiv werden!«
Erst wenn sich Lehrer energisch von negativen Selbstbildern emanzipieren und als geistige Entwicklungshelfer auftreten, werden sie eine gesellschaftliche Aufwertung erfahren. Dafür brauchen sie mehr Autonomie und weniger administrative Gängelung; dafür brauchen sie aber auch den ernsthaften Willen, selbst am notwendigen Wandel mitzuwirken. Ohne die solidarische Unterstützung aller Beteiligten wird das nicht möglich sein. Daher geht es in diesem Buch weder um eine Diffamierung der Lehrer noch um Attacken auf die öffentliche Schule. Es ist ein Plädoyer für eine Kultur gegenseitiger Achtsamkeit. Wir brauchen eine neue Beziehungskultur, die Klischees von desinteressierten Lehrern, aufmerksamkeitsgestörten Schülern und wahlweise ignoranten oder penetranten Eltern ad acta legt. Viel zu lange hat man sich in den alltäglichen Scharmützeln von Rechthaberei und Schuldfragen verkämpft. Dabei ist viel Energie verloren gegangen, auch die Kraft zur Erneuerung am einzigen Ort, wo diese umsetzbar ist: in der Schule.
Der Innovationsbedarf ist groß, nicht nur was vermisste Leistungsstandards betrifft. Die sind Zwergobst am Baum der Erkenntnis, verglichen mit den Kompetenzen, die künftig gefragt sein werden. Weniger der Umfang als die intelligente Organisation des Wissens entscheidet über den weiteren Weg von Schulabsolventen. Wichtiger als Leistung im Sinne kurzfristig gespeicherter Inhalte ist die Schicksalsfrage, ob Schüler die Chance haben, sich zu aufgeklärten, scharfsinnigen und selbstbestimmten Erwachsenen zu entwickeln. Mechanisch gelernte Maximen werden dazu wenig beitragen. Schule ist ein Lebensraum, keine Wissensfabrik. Deshalb vermittelt sie den sozialen und intellektuellen Habitus implizit, durch das Lernklima und die Art des Lehrens.
Damit steht es nicht zum Besten. Überfrachtete Lehrpläne und stereotype Leistungskontrollen sind von der Forderung kompetenzorientierten Lernens weit entfernt. Ähnlich prekär sieht es mit der Beziehungskultur als Modell sozialen Lernens aus. Von einem konstruktiven Umgang miteinander kann kaum die Rede sein. Das Wiederaufleben des Autoritätsdiskurses wirft ein Schlaglicht auf den täglichen Kleinkrieg im Klassenzimmer, auf Respektlosigkeit und Ignoranz auf allen Seiten. Was beweist, dass Bildungsarmut weit mehr ist als Mangel an Bildung. Philipp Möller, der zwei Jahre lang an einer Berliner Grundschule unterrichtete, spricht von »emotionaler Armut« und warnt: »Wenn es an den Schulen so weitergeht wie bisher, droht uns eine geistige und emotionale Eiszeit.«16
Zunehmend stellt sich die Frage, welche Fähigkeiten Pädagogen aufweisen sollten, um zu Persönlichkeitsbildung, Lernbereitschaft und sozialer Souveränität ihrer Schüler beizutragen. Dabei kristallisiert sich immer deutlicher heraus, dass die gelingende Lehrer-Schüler-Beziehung eine Schlüsselfunktion hat. Salopp gesagt, ist der Beziehungsstatus zurzeit derart unsicher, dass Paartherapeuten vermutlich eine Trennung oder zumindest eine Auszeit empfehlen würden. Es fehlt an gegenseitiger Anerkennung, an Vertrauen, Respekt.
Das Klima ist vielerorts vergiftet. Dies ist umso problematischer, als die Person des Lehrers eine zentrale Rolle für den Bildungserfolg spielt – und weit mehr ins Gewicht fällt als Konzepte und Strukturen. Dies legen unter anderem die Erkenntnisse des neuseeländischen Bildungsforschers John Hattie nahe. Er wertete Studien mit insgesamt 250 Millionen Schülern weltweit in einer Metaanalyse aus, mit einem verblüffenden Fazit: Nicht etwa das jeweilige Schulsystem sei ausschlaggebend für den Lernerfolg, sondern die Unterrichtsqualität des einzelnen Lehrers. »Viele der am intensivsten diskutierten Probleme sind diejenigen, welche die geringsten Effekte aufweisen«, resümiert Hattie. Ganz oben auf seiner Liste erfolgversprechender Bedingungen steht das Vertrauen des Schülers in seine eigene Leistung. Nach dem altersgerechten Unterrichten und der fortlaufenden Überprüfung des erarbeiteten Stoffs nennt Hattie bereits an vierter Stelle der »äußerst wirksamen« von insgesamt 138 Faktoren die Klarheit der Lehrperson. Hattie mahnt eine »ethische, zugewandte Haltung« an und betont, nicht etwa die Umsetzung innovativer Reformkonzepte, sondern die »Liebe zum Stoff« mache einen guten Lehrer aus.17
Die wichtigsten Kriterien, die laut Hatties Analyse für den Bildungserfolg besonders wichtig sind, fallen in den Bereich der Lehrer-Schüler-Beziehung. In eine Sphäre also, die sich direkten bildungspolitischen Interventionen entzieht. Letztlich belegt Hattie auf empirischer Basis, was wir alle wissen: Zumeist sind es die leidenschaftlichen, menschlich integren Lehrer, die das Interesse für ein Fach und eine positive Einstellung zum Lernen wecken. Das erfordert pädagogisches und didaktisches Geschick, aber auch ein Bewusstsein dafür, dass die gelingende Beziehung zum Schüler Ausgangspunkt des Lehrerberufs ist. Oder droht da eine neue Überforderung? Ist es unzulässig, die Verantwortung weitgehend an Lehrer zu delegieren? Werden sie von der Politik alleingelassen? Letzteres kann man mit Gewissheit bejahen. Andererseits schaffen es viele Lehrer, trotz aller belastenden Randbedingungen eine zugewandte, emotional positive Lernatmosphäre herzustellen. Die These, das gegenwärtige Schulsystem deformiere ausnahmslos alle Lehrer und gebe ihnen generell zu wenig Freiräume, lässt sich so nicht aufrechterhalten. Offensichtlich spielt die innere Einstellung zum Lehrerberuf eine sehr große Rolle.
John Hattie ist bei Weitem nicht der einzige Forscher, der den Blick von der oft ideologisch geführten bildungspolitischen Debatte zurück in die Schule und auf die Lehrer lenkt. Ohne einen aktiven, lehrerzentrierten Unterricht, so Bildungspsychologe Jürgen Dollase, könne man keine Eigenaktivität der Schüler erwarten: »Für eine gute Leistung der Schüler ist die Rolle des Lehrers bedeutsamer als alle anderen Faktoren, die wir im Bildungssystem so diskutieren.«18 Dieser Perspektivwechsel relativiert den Streit um versäumte Reformen. Die teilweise erbittert geführten Bildungsdebatten verkennen zumeist die enorme Relevanz der Beziehungsfähigkeit von Lehrern. Noch immer unterschätzen Pädagogen die psychischen und emotionalen Faktoren, die über das Lernklima im Klassenzimmer entscheiden. Vor allem aber fehlt es an einschlägigem Vorwissen. »Viele Gymnasiallehrer verfügen nicht einmal über die elementarsten jugend- oder lernpsychologischen Kenntnisse«, urteilt der Erziehungswissenschaftler Ulrich Herrmann. Die meisten wollten ganz einfach einen Job ohne Risiko, während Lehrerinnen sich vor allem eine gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf versprächen. Pädagogische Ambitionen lägen bei der Berufswahl nicht immer vor, fehlende Maßstäbe führten später zu einem problematischen Unterrichtsstil.19
Von der Ausbildung, der Motivation und der kommunikativen Begabung des Lehrers hängt wesentlich ab, ob Schüler Lernen und Leistung ablehnen oder als Gewinn empfinden. Es wäre eine schlichte, ja naive Vorstellung, Bildungspolitik könne in die konkrete Unterrichtssituation hineinregieren. Allerdings kann sie Rahmenbedingungen verändern: weniger Bürokratie, weniger Uniformierung, statt dessen Ermutigung zur Eigenverantwortung, ausdrückliche Anerkennung von Eigeninitiative.
Ohne eine Qualitätsoffensive in Hinblick auf den Lehrerberuf werden die Schulen weiter Notstandsgebiet bleiben. Das ist keine polemische Übertreibung. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass Deutschland seine wichtigste Ressource verspielt: intellektuell wache und gesellschaftlich integrierbare Schulabsolventen. Dabei geht es um weit mehr als das, was mit einer wenig humanen, ökonomisch kühlen Vokabel Humankapital genannt wird. Schüler sind kein akkumuliertes Ausbildungskapital. Schließlich entlässt die Schule nicht nur Nachwuchs für den Arbeitsmarkt, sondern in eine Gesellschaft, in der jeder die Chance auf Partizipation und Gestaltungsmöglichkeiten haben sollte, in der ein befriedetes Zusammenleben möglich ist, in der es sich lohnt zu leben. Selbst wenn man kein notorischer Pessimist ist, muss man die Grundlage dafür zumindest als gefährdet einstufen. Das Forschungsdesign vergleichender Bildungsstudien wie PISA mag im Detail kritikwürdig sein. Unbestreitbar ist jedoch, dass einiges im Argen liegt, um es vorsichtig auszudrücken.
Im Dezember 2013 atmeten viele auf: endlich eine Trendwende. Es gehe aufwärts mit den Leistungen deutscher Schüler, lautete das Resümee der neuesten PISA-Studie. Grund zur Entwarnung ist das nicht. Die OECD-Studie »Bildung auf einen Blick« von 2012 stellt fest, nur 20 Prozent der deutschen Schüler erreichten einen Bildungsabschluss, der über dem der Eltern liegt. Für 22 Prozent ging es bergab: Sie schafften es nicht, sich ebenso hoch oder höher zu qualifizieren als ihre Eltern. Viel zu viele Kinder und Jugendliche werden durch die Schule entmutigt. Der EU-Bildungsbericht beziffert für 2012 die Zahl der Schulabbrecher in Deutschland mit 6,5 Prozent. Neben den offensichtlichen Bildungsverlierern ohne Schulabschluss fehlen selbst Abiturienten entscheidende Kompetenzen. Oft sind sie nicht fähig, ein Studium durchzuhalten. Eine OECD-Studie von 2012 hat errechnet, dass 35 Prozent der deutschen Bachelorstudenten die Universität ohne Abschluss verlassen. Zu den wichtigsten Beweggründen der Studienabbrecher zählen Leistungsschwierigkeiten und »motivationale Defizite«.20
Dies erscheint fast schon als Luxusproblem, wenn man sich die Basisqualifikationen anschaut. Der Bildungsbericht der Kultusministerkonferenz und des Ministeriums für Bildung und Forschung von 2012 belegt, dass 20 Prozent der deutschen Schüler über unzureichende Lesekompetenzen verfügen21 und große Schwierigkeiten haben, den Sinn von Texten zu erfassen. Eine Studie der Stiftung Rechnen von 2013 ergab, dass es außerdem an mathematischen Fähigkeiten hapert, auch bei Erwachsenen. So könne ein Drittel der Deutschen zwischen 18 und 65 Jahren nicht ausrechnen, wie sich eine geänderte Geschwindigkeit auf die Fahrtzeit auswirkt, viele seien unfähig, Grafiken oder Verbraucherinformationen zu verstehen.22
Zu ähnlich niederschmetternden Ergebnissen kommt die OECD-Studie Skills Outlook 2013, die sich mit der Frage beschäftigt, welche Fähigkeiten und Fertigkeiten Erwachsene haben und wie sie sie nutzen. 17,5 Prozent der Deutschen sind demnach allenfalls in der Lage, kurze Texte mit simplem Vokabular zu begreifen. 18,5 Prozent kommen über einfaches Zählen und die Verwendung der Grundrechenarten nicht hinaus.23 Die kulturelle Dimension solcher Zahlen kann gar nicht überschätzt werden. Wie gesagt, nicht das arbeitsmarktkompatible sogenannte Humankapital steht hier im Blickpunkt, sondern die Frage, ob das öffentliche Schulwesen Menschen befähigt, ihr Leben zu meistern. Was Johannes Friedemann, geschäftsführender Vorstand der Stiftung Rechnen, über fehlende mathematische Fähigkeiten sagt, gilt generell für mangelhafte Bildung: »Individuelle Lebensqualität geht verloren. Dabei ist vielen gar nicht klar, was sie verschenken und dass sie es besser hätten, wenn sie gut rechnen könnten. Klar ist: Gute Rechner haben mehr vom Leben.«24 Man könnte ergänzen: Auch wer Texte mühelos versteht, von der Gebrauchsanweisung einer Kaffeemaschine bis zum Gedicht, hat mehr vom Leben; auch wer Fremdsprachen beherrscht und sich in naturwissenschaftlichen, künstlerischen oder politischen Kontexten selbstständig orientieren kann, erhöht seine Lebensqualität. Ganz offensichtlich fehlt es jedoch an elementaren kulturellen Techniken – in der Schule werden sie nur unzulänglich vermittelt.
Was wissen wir eigentlich darüber, was sich in der Schule abspielt? Bezeichnenderweise ist sie sorgfältig abgeschirmtes Terrain, ein Ort, der sich der direkten Beobachtung von außen entzieht. Undenkbar, dass, wie in Singapur üblich, permanent Kameras laufen, um zu dokumentieren, was im Klassenraum vor sich geht. Hierzulande lassen sich Lehrer ungern in die Karten schauen, übrigens auch von Kollegen nicht. Eltern, die um eine Hospitation bitten, werden meist abgewimmelt, Journalisten sind noch weniger gern gesehen. »Schule ist wie der Vatikan – ein Closed Shop«, sagt der Hamburger Schulleiter Kay Stöck. Er handelte sich ein Ermittlungsverfahren ein, weil er ein Fernsehteam in seiner Schule drehen ließ.25 Transparenz ist ein Fremdwort in den meisten Schulen. Wer sich ein genaueres Bild machen möchte, ist auf Studien und Augenzeugenberichte angewiesen.
Wie so viele andere Eltern auch erlebte ich allerdings die Effekte des Unterrichts. Nach sechs weitgehend glücklichen Jahren an einer privaten Berliner Grundschule, in der mein Sohn stolz den Vermerk »Leistungsträger« in seinen Zeugnissen las, empfand er den Wechsel auf das Gymnasium als persönliche Krise. Obwohl die Zahl seiner Mitschüler in der Klasse nicht wesentlich größer war als in der Grundschule, nahm er einen anonymisierten Schulbetrieb wahr, mit Lehrern, die sich kaum für ihre Schüler interessierten. Seine Neugier und seine Freude am Lernen versiegten, immer häufiger blieb er mit Bauchschmerzen im Bett, statt sich durch den Schulalltag zu quälen.
Mit Wehmut dachte er an seinen ehemaligen Klassenlehrer, einen dieser begeisterten, gütigen, aufmerksamen Pädagogen, die jeden einzelnen Schüler im Blick haben und alle gleichermaßen unterstützen, auch jene, die Lernschwierigkeiten haben oder den Unterricht stören. Dieser Lehrer vermittelte seinen Schülern, dass sie ihm am Herzen lagen. Er ließ sich auf Schule als Ort von Beziehungen ein. In den Pausen las er der Klasse Romane vor, statt sich ins Lehrerzimmer zurückzuziehen. Von sich aus sprach er Schüler an, wenn es Probleme gab, war für die Eltern immer erreichbar. Mit solch ermutigenden, ja paradiesischen Verhältnissen war es an der weiterführenden Schule vorbei. Was nicht nur mein Sohn vermisste, waren Lehrer, die sich als Bezugspersonen verstanden, emotionale Zugewandtheit inklusive. Ihn fröstelte im kühlen Schulklima.
Seine Frustration war symptomatisch. Studien, die sich mit der sogenannten Lernfreude von Schülern beschäftigen, weisen übereinstimmend darauf hin, dass die Motivation der Schüler und die persönliche Zugewandtheit der Lehrer einander bedingen. Von der in der Regel hohen Lernmotivation an der Grundschule bleibe mit dem Aufstieg in höhere Klassen wenig übrig, stellt Erziehungswissenschaftlerin Gerda Hagenauer fest. Die Freude am Lernen sinke kontinuierlich, die Schüler distanzierten sich emotional von der Schule. Lernen werde als reine Pflichterfüllung gesehen und häufig nur aufgrund des Notendrucks erledigt. Neugier und Wissensdurst, so kann man folgern, werden in der Schule nicht geweckt, sondern ausgebremst.
Wer Glück hat, findet ein Elternhaus vor, in dem er Anregungen bekommt. Was können jene erhoffen, die nicht so viel Glück haben? Diese Frage birgt bekanntlich einigen politischen Sprengstoff. Immer noch hängt der Bildungserfolg und damit der Spielraum für ein selbstbestimmtes Leben hierzulande in hohem Maß von der sozialen Herkunft ab. In Deutschland ist dieser Faktor weit wirkmächtiger als in anderen europäischen Ländern. Korrektive sind die Schulen kaum, und niemand weiß das besser als die Lehrer. 96 Prozent meinen, der soziale Hintergrund des Elternhauses beeinflusse die Leistung von Schulkindern.26 Das wäre unter dem Aspekt einer ins Leere laufenden Gerechtigkeitsdebatte skandalös genug. Mit der demografischen Wende ist darüber hinaus offensichtlich geworden, dass sich unser Land diese Art der sozialen Selektion nicht leisten kann. Jeder Bildungsverlierer bedeutet nicht nur individuelles Scheitern, sondern auch einen gesellschaftlichen Verlust.
Schule ist keine Parallelwelt. Sie bildet alle Antagonismen einer sich schwindelerregend schnell verändernden Gesellschaft ab: alte Denkbilder und neues Bewusstsein, sozialen Zerfall und neue Formen der Selbstorganisation. Kulturelle Mangelerscheinungen lassen sich nicht allein von der Schule therapieren. Doch sie kann sich zum Ziel setzen, den Möglichkeitssinn für gelingendes Leben zu wecken. Die Haltung des einzelnen Lehrers ist dafür zentral. Weder greifen sozialutopische Ideen noch Reformen, wenn sie vom Lehrer nicht auf der Beziehungsebene umgesetzt werden.
Moment mal, welche Reformen eigentlich? Gibt es einen Anhaltspunkt dafür, dass die Politik das Thema Schule entdeckt hätte? Und an einer Qualitätsoffensive arbeitet? Im Dezember 2013 wurde der Koalitionsvertrag der neuen Regierung veröffentlicht. Ein 188 Seiten starkes Dokument mit dem hoffnungsfrohen Titel »Deutschlands Zukunft gestalten«. Vermutlich haben es nicht sonderlich viele gelesen. Wer sich die Mühe machte und auf den schulpolitischen Durchbruch hoffte, wurde enttäuscht. Von Bildung ist viel die Rede. Von der Internationalisierung der Wissenschaft, von der Weiterführung der Exzellenzinitiative, von einem Pakt für Forschung und Innovation. Aber kein Wort über die Probleme der allgemeinbildenden Schulen. Kein Hinweis auf ein ineffizientes System, das soziale Selektion begünstigt, einen internationalen Rekord der Sitzenbleiber aufstellt, viel zu viele Absolventen unzureichend qualifiziert. Nur der Lehrermangel in den naturwissenschaftlichen Fächern wurde gestreift. Vier Zeilen lang. Eine knappe Seite war dem digitalen Lernen gewidmet: Tablets für alle, in Kitas, Schulen und Hochschulen. Das war’s dann aber auch schon. Gewiss, Schulpolitik ist Ländersache.
Aber es gibt ein Bundesministerium für Forschung und Bildung, das auf seiner Website immerhin das Ganztagsschulprogramm thematisiert, die Initiative Abschluss und Anschluss und die Nationale Strategie für Alphabetisierung und Grundbildung. Nichts davon war den Verfassern des Koalitionsvertrags eine Erwähnung wert, von neuen Ideen für die Schule ganz zu schweigen. Ein Indiz mehr dafür, dass es sinnlos ist, weiterhin auf politische Impulse zu warten. Die einzig vernünftige Konsequenz ist, dass jetzt diejenigen aktiv werden, die das Thema Schule betrifft.
Ich habe mit Lehrern und Schulleitern gesprochen, mit Schülern und Eltern. Vor allem war ich auf der Suche nach »guten Lehrern«, die engagiert und oft mit großem persönlichem Einsatz vor ihrer Klasse stehen. Daneben entstanden Momentaufnahmen der Überforderung, der Hilflosigkeit, der Wut – auf allen Seiten. Sie belegen, dass Schule vielfach als haarsträubender Anachronismus daherkommt mit obsoleten Vorstellungen über Lernen, Autorität, Kommunikation. Daneben gibt es zahlreiche strukturelle Probleme: zu hohe Wochenstundenzahlen für Lehrer, entrümplungsbedürftige Lehrpläne, zu große Klassen, zu viel Verwaltungsaufwand. Außerdem eine zunehmend heterogene Schülerschaft, die Problematik der Migrationsbewegungen, der Rückgang männlicher Lehrkräfte, demnächst ein eklatanter Lehrermangel. Hinzu kommt oft ein defizitäres Schulklima, geprägt von Entmutigung und Beziehungslosigkeit. Viele Lehrer sind deshalb zu resigniert, um ein leuchtendes, motiviertes Vorbild zu sein. »Durch die Vermittlung der erwachsenenpessimistischen Botschaft ›Ihr werdet euch noch wundern, ich selbst wundere mich schon lange nicht mehr‹ kann eine Lehrperson zu einem Klimaschädling und die Schule zu einem von Berufslangweilern betriebenen Herd der Langeweile werden, die die kindliche Intelligenz verklebt und beleidigt«, urteilt der Erziehungswissenschaftler Hans Berner.27 Harte Worte. Zu hart?
Es sei unmöglich, die Fackel der Wahrheit durch ein Gedränge zu tragen, ohne jemandem den Bart zu versengen, befand einst Lichtenberg. Deutschland, deine Lehrer, das ist ein Thema mit hohem Verletzungsrisiko. Sicher ist: Die Zukunft der Schule wird davon abhängen, in welchem Maße auch die Lehrer an Veränderungen interessiert und wie viel sie selber dafür zu geben bereit sind. Dafür brauchen sie mehr Verständnis, mehr Ermutigung, mehr Autonomie. Ein Mentalitätswandel kann nur erfolgen, wenn der Lehrerberuf neu definiert wird, mit Ausbildungsgängen, die den Schwerpunkt weit stärker als bisher auf die Praxis setzen, auch auf die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie, der Bindungs- und Lernforschung. Gleichzeitig brauchen Lehrer Begleitung durch Coaching und Supervision. Das erfordert Offenheit, Geduld, Lernbereitschaft. Nichts für Ungeduldige, die mit Basta-Rhetorik für Revolutionen plädieren. Niemand bestreitet, dass der Unterricht heute in eine rückständige hierarchische Struktur eingebettet ist. Doch die Eigeninitiativen, die schon jetzt einzelne Schulen in zukunftsfähige Lernlandschaften verwandelt haben, zeigen: Bereits ohne systemische Änderungen hat eine Transformation des Lehrerberufs eingesetzt. Es ist möglich, für eine Aufgabe zu sensibilisieren, die weit mehr mit Life Coaching als mit stereotyper Wissensvermittlung zu tun hat. Die Evolution hat bereits begonnen: mit Lehrern, die Verantwortung übernehmen, dass Unterricht jetzt gelingt, nicht dereinst, wenn alle Erlösungsfantasien Wirklichkeit geworden sein werden.
Deshalb geht es in diesem Buch vorrangig um den Nukleus Klassenzimmer. Nur dort, nicht in Gremien und politischen Gefechten, entscheidet sich die Zukunft unserer Kinder. Nur wenn Schule als Ort partizipatorischen, solidarischen, selbstverantwortlichen Handelns aller Beteiligten erlebt wird, ist der Bildungserfolg im umfassenden Sinne möglich. Die Kunst wird darin bestehen, dieses Ziel auf der Basis des Bestehenden zu verwirklichen: durch einen Bewusstseinswandel, der langfristig zu einem Strukturwandel führt, durch eine Erneuerung von innen.
Es ist keine Räucherstäbchenromantik, eine Maxime Gandhis zu zitieren, die mitten hinein in die Schuldebatte gehört: »Sei selbst der Wandel, den du dir von der Welt wünschst.« Dieser Satz sollte in jedem Klassenzimmer, jedem Lehrerzimmer, jedem Schulleiterbüro hängen. Wir brauchen Schüler, die mit Lehrern sprechen, ihren Leidensdruck und ihre Bedürfnisse artikulieren. Wir brauchen Lehrer, die nicht nur als Funktionsträger, sondern als Persönlichkeiten vor der Klasse stehen, Bindungen aufbauen, Teamgeist entwickeln – im Hinblick auf Schüler, Kollegen wie Eltern. Wir brauchen Schulleiter, die eine Kultur der Selbstverantwortlichkeit zulassen und unterstützen. Und Eltern, die ihre Kinder nicht einfach wie Postpakete in die Schule schicken und nicht erst aktiv werden, wenn ihre Empörung den Siedepunkt erreicht.
Die gute Nachricht ist: Wir müssen nicht das Ensemble auswechseln, es ist schon da. Was noch fehlt, ist der Wille, die gewaltige negative Energie notorischer Lehrer-Schüler-Eltern-Schelte in die Kraft der Erneuerung zu transformieren. Tabula-rasa-Fantasien sind ebenso reizvoll wie unrealistisch in einem Land, in dem sich die Schule als Institution zu einem gigantischen Verwaltungsapparat aufgebläht hat. Deshalb muss eine Erneuerung von innen stattfinden, nicht eine Reform von außen. Es sei denn, man plädiert wie Enzensberger in seinem Essay von 1982 für die Renaissance des Hauslehrers. Mit trefflichen Argumenten wie diesem: »Ich bin nie gern in die Schule gegangen. Aber ich habe immer gern etwas Neues gelernt.«
Kapitel 1
Beziehungsprobleme. Ein verkannter Konflikt