ZehnUhrTermin

 

 

Roman

Nora Adams

 

 

 

 

 

978-3947115-05-1

 

 

 

 

 

Inhalt

 

Spiegel

Björn starr­te in das dunk­le Loch im Boden, und doch blick­te er ins Lee­re. Wa­rum hat­te es nicht ihn er­wischt? Wie­so war es sei­ne Schwes­ter ge­we­sen, die ihr Le­ben las­sen muss­te? All das nur, weil ein über­näch­tig­ter LKW-Fah­rer ih­nen die Vor­fahrt ge­stoh­len hat­te. An­ge­sichts der Aus­weg­lo­sig­keit, die ihn seit Ta­gen ge­fan­gen hielt, strich er mit den Fin­gern durch sein ver­strub­bel­tes Haar. Sei­ne Schwes­ter hin­ter­ließ ei­nen lie­ben­den Ehe­mann so­wie ei­ne sechs­jäh­ri­ge Tochter, die sich Nacht für Nacht in den Schlaf wein­te, seit­dem ih­re Ma­ma ge­stor­ben war. Die Klei­ne tat ihm leid. Ver­damm­te Schei­ße! Wenn sie ein paar Se­kun­den spä­ter los­ge­fah­ren wä­ren, dann hät­te die­ser Dre­cksun­fall nie statt­ge­fun­den. Wie ver­ein­bart, wä­ren sie pünkt­lich um zehn Uhr bei Tan­te Mil­li an­ge­kom­men, um ih­ren Ge­burts­tag zu fei­ern. Sie hät­ten Häpp­chen zu sich ge­nom­men und ein paar Cham­pa­gner ge­schlürft – der jähr­li­che Pflicht­be­such eben. Auf der Heim­fahrt hät­ten sie über ih­re gan­ze Ver­wandt­schaft her­ge­zo­gen, wie es immer der Fall ge­we­sen war. Trä­nen hat­ten sie stän­dig ver­gos­sen, beim La­chen be­züg­lich ih­rer durch­ge­knall­ten Tan­te. Sie hat­te re­gel­mä­ßig fürst­lich – wie die Queen höch­stper­sön­lich – von ih­ren wö­chent­li­chen Tea­ti­me-Par­tys be­rich­tet, die fast schon le­gen­där waren, und das mit­ten in Köln. Statt­des­sen stand er nun am of­fe­nen Grab. An dem Grab, in das der Pfar­rer gleich die Ur­ne mit Le­nas Asche her­ab­las­sen soll­te. Ziel­los starr­te Björn in die Ge­sich­ter, die sich rund­he­rum ver­teilt hat­ten. Immer wie­der hoff­te er, bald aus die­sem per­fi­den Traum auf­zu­wachen. Das durf­te alles nicht wahr sein.

Sechs Ta­ge waren seit dem Un­fall ver­gan­gen. Sechs Ta­ge, an de­nen Björn nicht mehr rich­tig ge­ges­sen hat­te, er schlief kaum noch, konn­te außer­dem nie­man­dem direkt in die Augen bli­cken. Zwar trug der LKW-Fah­rer die Schuld an Le­nas Tod, doch waren wir mal ehr­lich: Björn hat­te am Lenk­rad des ver­schis­se­nen Autos ge­ses­sen. Ir­gend­wie wä­re der Un­fall be­stimmt zu ver­mei­den ge­we­sen. Hät­te er bloß das Lenk­rad schnel­ler her­um­ge­ris­sen oder bes­ser von vorn­her­ein ei­ne an­de­re Rou­te ge­wählt. Doch alles hät­te und wenn brach­te ihn nicht weiter. Fakt war, von Le­na exis­tier­te nur noch ein klei­ner Hau­fen Asche, der trost­los in die­ser Ur­ne steck­te, die ge­ra­de zu Gra­be ge­las­sen wur­de.

»Ma­ma«, ver­nahm er Jas­mins Schluch­zer. Die Klei­ne stand ne­ben ih­rem Pa­pa und Björns Eltern. Ih­re Wan­gen waren vom Wei­nen mit ro­ten Fle­cken über­sät und ih­re Augen fürch­ter­lich ge­schwol­len. Björns Herz zer­riss im Se­kun­den­takt ein Stück­chen weiter. Ver­fluch­te Schei­ße! Wa­rum muss­te das nur ge­sche­hen?

Tief at­me­te er die lau­war­me Luft ein, um sei­ne Trä­nen zu un­ter­drü­cken. Sei­ne Ge­füh­le waren im Augen­blick zwei­tran­gig. Er muss­te jetzt funk­tio­nie­ren. Wich­tig war aus­schließ­lich, für sei­ne Nich­te da zu sein, sei­ne Eltern zu stüt­zen, die ja auch ihr Kind ver­lo­ren hat­ten, und Lu­kas bei­zu­ste­hen, der seit sechs Ta­gen ver­wit­wet war. Bei der Vor­stel­lung an sei­ne Zu­kunft über­kam ihn die blan­ke Pa­nik. Mei­ne Fres­se! Jas­min durf­te nie­mals mehr mit ih­rer Ma­ma zu­sam­men in die Schu­le ge­hen. Le­na durf­te der Klei­nen nicht mehr zum Ge­burts­tag gra­tu­lie­ren. Sie durf­te zu kei­ner Zeit mehr ih­ren Smar­tie­kuchen ba­cken, den Jas­min ver­göt­ter­te.

Da­mit war Schluss.

Ein­fach Schluss.

Ein­fach so.

End­lich war das Be­gräb­nis vor­bei. Der Pas­tor hat­te den Fried­hof ver­las­sen, um den trau­ern­den Gäs­ten den Weg frei­zu­ma­chen. Nach­ein­an­der tra­ten alle Leu­te nä­her, be­kun­de­ten ihr Bei­leid, in­dem sie sei­nen Eltern, Lu­kas und Jas­min die Hand schüt­tel­ten. So­gar Björns Freun­de waren er­schie­nen, die je­doch von Bei­leids­be­kun­dun­gen am Grab ab­sa­hen. Der Letz­te in der Rei­he drän­gel­te sich vor­bei, warf ei­ne Ro­se auf die Ur­ne und ver­ab­schie­de­te sich. Sei­ne Eltern tra­ten ge­mein­sam mit Jas­min und Lu­kas zu dem mit Blu­men um­ran­de­ten Loch in der Er­de. Ein An­blick, der sich direkt und deut­lich fühl­bar in sei­ne Iris brann­te. Schmer­zen der Trau­er lie­ßen ihn er­zit­tern, als er Jas­min be­ob­ach­te­te, die um ih­re Ma­ma wein­te. Sie klam­mer­te an Lu­kas’ Bein, der eben­falls um sei­ne Fas­sung käm­pfte. Die­ser gro­ße, stol­ze Mann war bloß noch ein Schat­ten sei­ner selbst. Man merk­te ihm an, dass er ein­zig für sei­ne Tochter stark blieb und alles da­ran setz­te, ihr Rück­halt zu bie­ten.

»Björn, kommst du?« Sein Vater leg­te ihm die Hand auf den Arm und sah ihn auf­for­dernd an.

Erst jetzt be­griff er, dass sie be­reits auf dem Weg waren, den Fried­hof zu ver­las­sen. »Ich blei­be noch kurz«, ant­wort­ete er mit be­ben­der Stim­me.

Vor­sich­tig mus­ter­te Hans Wiss­mann sei­nen Sohn. »Du darfst dir nicht die Schuld ge­ben. Es war ein Un­fall.« Es folg­te ein stum­mer Bli­ckkon­takt, den es nur zwi­schen Vater und Sohn gab. Dann dreh­te er sich um, ließ Björn allei­ne zurück.

Es war ein Un­fall!

Das hat­te er sich mitt­ler­wei­le tausend­mal an­hö­ren müs­sen. Ver­stand denn kei­ner, dass ihn die­ser aus­ge­lei­er­te Satz nicht im Ge­ring­sten be­sänf­tig­te? Im Ge­gen­teil. Die­se Aus­sage schür­te sei­ne Wut. Hät­te er doch eher um­ge­lenkt. Fuck! Jetzt, wo alle ge­gan­gen waren, hielt er sei­ne Trä­nen nicht mehr zurück. Le­na war tot! Er lieb­te sei­ne Schwes­ter, sie konn­te doch nicht weg sein. Nach­dem er ei­nen Schritt nä­her ge­tre­ten war, ging er in die Ho­cke. In sei­ner Brust beb­te es, als die un­ter­drück­te Trau­er sich ih­ren Weg bahn­te. Es schmerz­te so ge­wal­tig. Er hat­te noch ge­nau vor Augen, wie sie mit ih­rem ocker­gel­ben Som­mer­kleid in das Auto ge­stie­gen war. Ihr lan­ges schwar­zes Haar war glatt über ih­re schma­len Schul­tern ge­fal­len. »Hi, gro­ßer Bru­der«, hat­te Le­na ihn be­grüßt. Ih­re Stim­me klang in sei­nen Oh­ren nach. Mit der Hand wisch­te er sich die ver­rä­te­ri­schen Trä­nen von der Wan­ge. Lang­sam beug­te er sich nach vor­ne, leg­te sei­ne Ro­se ab. »Du warst die be­ste Schwes­ter, die man sich wün­schen kann.« Kurz hielt er in­ne, be­trach­te­te das glän­zen­de Schwarz der Ur­ne. »Ciao, Le­na.« Sei­ne Stim­me brach und es fühl­te sich an, als bra­chen tausend Däm­me. Ei­ni­ge Mi­nu­ten ver­weil­te er in die­ser Po­si­tion, bis er wie­der ei­ni­ger­ma­ßen nor­mal at­me­te. Mit wa­cke­li­gen Bei­nen drück­te er sich in den Stand. Immer noch haf­te­ten sei­ne Augen auf Le­nas Grab. Schließ­lich ent­schloss er sich da­zu, um­zu­dre­hen, um den lan­gen stei­ni­gen Weg bis zum gro­ßen Tor des Fried­hofs ent­lang­zu­ge­hen. Noch ein­mal blick­te er hin­ter sich, dann trat er hin­aus. Wäh­rend er sich die Son­nen­bril­le auf­setz­te, über­quer­te er die Stra­ße, ge­ra­de­wegs auf den et­was ab­ge­le­ge­nen Park­platz zu, wo er zwei Stun­den zu­vor sein Fahr­zeug ge­parkt hat­te. Mit ei­ner Hand öff­ne­te er sein Ja­ckett, wel­ches er für die Fahrt aus­zog. Tief in­ha­lier­te er fri­sche Luft in sei­ne Lun­gen, hielt sein Ge­sicht gen Son­ne und ver­such­te immer noch, das Un­mög­li­che zu rea­li­sie­ren. Erst kurz be­vor er sein Ziel er­reich­te, blick­te er auf … und er­starr­te.

Da war sie – sei­ne Zweit­fa­mi­lie, die ihm immer Halt ge­bo­ten hat­te. Ver­dien­te er das über­haupt? Rein recht­lich ge­se­hen, war die­ser be­schis­se­ne Un­fall nicht sei­ne Schuld ge­we­sen. Sein In­ne­res sag­te ihm aller­dings et­was an­de­res, und ge­nau das war auch sein größ­tes Pro­blem. Björn war ein in­tel­li­gen­ter Mann und wuss­te, dass er sich mit die­sen Selbst­vor­wür­fen das Le­ben er­schwer­te.

Links war­te­te Marc. Sei­ne Hand steck­te läs­sig in sei­ner An­zug­ho­se. Ne­ben ihm stand Vin­ce, der sei­ne Freun­din Va­ni an der Hand hielt, des­sen Augen eben­falls von ei­ner Son­nen­bril­le ver­deckt waren. Tom lehn­te an sei­nem Auto. Ge­nau­so wie Finn, der erst seit Kur­zem zu sei­nem en­ge­ren Freun­des­kreis zähl­te. Fuck! Björn käm­pfte um sei­ne Fas­sung. Sein Herz schwoll an. In den schwär­zes­ten Stun­den sei­nes Lebens waren sie alle an sei­ner Sei­te. Va­ni war die Er­ste, die ei­nen Schritt auf ihn zu­ging, ih­re Ar­me um ihn schlang und ihm so, dass kei­ner sonst es hör­te, ihr Bei­leid be­kun­de­te. »Ich bin für dich da, Björn, wie alle an­de­ren.« Da­rauf­hin drück­te sie ihm ei­nen Kuss auf die Wan­ge und mach­te Platz für Vin­ce. »Mann, Al­ter, komm her!« Auch er zog ihn in ei­ne fes­te Um­ar­mung. Nach­ein­an­der ka­men Tom, Finn und Marc zu ihm, wech­sel­ten ein paar Wor­te. Es war ei­ne Schan­de, den­noch muss­te er sich ein­ge­ste­hen, dass es ihm gut­tat, sei­ne Freun­de um sich zu ha­ben. Kei­ner konn­te den Riss in sei­nem Her­zen re­pa­rie­ren. Die­se Lü­cke wür­de immer schmerz­haft wie ei­ne of­fe­ne Wun­de klaf­fen und ihn an das er­in­nern, was ge­sche­hen war – des­sen war er sich si­cher. Sei­ne Freun­de schaff­ten es trotz­dem mit ih­rer blo­ßen An­we­sen­heit, die­ses Leid we­nigs­ten et­was zu lin­dern. Doch ge­nau das war das be­sag­te Pro­blem. Er durf­te sich nicht bes­ser füh­len, rief er sich in Ge­dan­ken – ge­ra­de erst hat­te er schließ­lich sei­ne Schwes­ter zu Gra­be ge­tra­gen. Gott, steh ihm bei! Die Schuld­ge­füh­le schie­nen ihn augen­bli­cklich zu zer­fres­sen. »Tut mir leid, Leu­te. Ich muss …« Weiter kam er nicht, oh­ne vor sei­nen Kum­pels zu­sam­men­zu­bre­chen.

Prompt ließ er sich in sein Auto glei­ten, schnall­te sich an und ra­ste vom Park­platz. Die Musik bis zum An­schlag auf­ge­dreht, fuhr er die Stra­ßen ent­lang. Er brauch­te un­ge­fähr zwan­zig Mi­nu­ten, bis er sei­ne Ga­ra­ge in Kölns at­trak­ti­vem Stadt­teil See­berg er­reich­te. Immer zwei Stufen auf ein­mal neh­mend, rann­te er die Trep­pen zu sei­ner Dach­ge­schoss­woh­nung hin­auf. Die Tür fiel ins Schloss, da knöpf­te er be­reits sein Hemd auf, zog sich aus und ver­schwand im Bad.

Was­ser­dampf füll­te den gan­zen Raum. Das gro­ße Dach­fens­ter und der Spiegel waren voll­kom­men be­schla­gen. Ge­gen die Glas­tür der Du­sche pras­sel­te das hei­ße Was­ser eben­so wie auf Björns Rü­cken. Re­gungs­los stand er mi­nu­ten­lang da. Er seif­te sich nicht ein, stemm­te sich aus­schließ­lich mit bei­den Hän­den an den Flie­sen ab und ging un­ge­niert sei­ner Trau­er nach. Björn wein­te un­auf­hör­lich, lehn­te sei­nen Kopf da­bei auf sei­nen mus­ku­lö­sen rech­ten Arm ab, und be­griff die Welt nicht mehr. Erst als sich das Was­ser et­was her­un­ter­kühl­te, wur­de ihm be­wusst, dass er schon ziem­lich lan­ge ge­dan­ken­ver­lo­ren un­ter der Du­sche stand. Er ent­schied sich da­zu, das Brau­se­bad ab­zu­stel­len.

Nach­dem er sich ab­ge­trock­net und an­ge­zo­gen hat­te, griff er sich ei­ne Fla­sche Jack Da­niels, ein Glas und ging auf sei­ne Dach­ter­ras­se. Es war an der Zeit, sich die Kan­te zu ge­ben. Heu­te muss­te das ein­fach sein. An­ders über­stand er die­sen sau­mä­ßi­gen Tag nicht. Sein Ge­dan­ken­ka­rus­sell brach­te ihn sonst noch ins Ir­ren­haus. Das Glas ig­no­rie­rend, setz­te er die Fla­sche an und trank gut ei­nen Vier­tel in ei­nem Zug weg. »Schei­ße, ist das ab­ar­tig«, fluch­te er, wäh­rend er die Fla­sche et­was zu kräf­tig auf den Tisch knall­te. Der be­rau­schen­de Ef­fekt setz­te un­ver­züg­lich ein.

In sei­nem Stuhl lehn­te er sich nach hin­ten, be­ob­ach­te­te die Wol­ken, wie sie viel zu lang­sam von dan­nen zo­gen. Kurz nahm er sein Han­dy zur Hand, scroll­te sich durch die Fa­ce­book Ti­me­li­ne, was ihn nur noch mehr her­un­ter­zog. Le­na war sehr be­liebt ge­we­sen, je­der hat­te sie ge­mocht, wes­halb ihr Tod im Netz ei­ne gäh­nen­de Lee­re und un­end­li­che R.I.P.-Posts mit sich brach­ten. Selbst in sei­ner Chro­nik fan­den sich ei­ni­ge Bei­trä­ge mit Bei­leids­be­kun­dun­gen, die er aber be­wusst ig­no­rier­te. Björn konn­te sich das auf kei­nen Fall an­tun, da­her öff­ne­te er den Chat mit sei­nen Kum­pels.

Björn: Wer­de mich vor­erst zurück­zie­hen. Sor­ry, Leu­te!

Es dau­er­te nicht lan­ge, bis er Ant­wort be­kam.

Marc: Kein Ding, Al­ter. Wenn was ist, mel­de dich!

Tom: Ver­ständ­lich.

Vin­ce: Du kannst dich je­der­zeit mel­den, wenn dir nach ei­nem Ge­spräch ist, oder auch nur, wenn du Ab­len­kung brauchst.

Finn: Schlie­ße mich den an­de­ren an.

Die Fla­sche fand wie­der den Weg zu sei­nem Mund, in­des er sein Smart­pho­ne in der Ho­sen­ta­sche ver­stau­te. Die Fü­ße leg­te er auf dem Tisch ab. »Ist das ei­ne ver­fick­te Schei­ße«, brumm­te er in die Stil­le der abend­li­chen Däm­me­rung und gab sich sei­nen quä­lenden Schuld­ge­füh­len und der Trau­er um sei­ne Schwes­ter hin.

Sonde

»Guck, dass du heu­te aus­nahms­wei­se mal kei­ne Schei­ße baust. Der Chef hat am Wo­che­nen­de sei­ne Schwes­ter be­er­digt. Er ist nicht gut ge­launt.« El­ke, Ju­les Ar­beits­kol­le­gin, sah sie vor­wurfs­voll an, als wä­re sie da­für ver­ant­wort­lich. Vor sechs Wo­chen hat­te sie ih­re Aus­bil­dung zur Zahn­me­di­zi­ni­schen Fach­an­ge­stell­ten in der Zahn­arzt­praxis Wiss­mann be­gon­nen. Bis­her war aller­dings kaum ein Tag ver­gan­gen, an dem Ju­le kei­nen An­schiss be­kom­men hat­te. Nicht von Dok­tor Wiss­mann, son­dern von dem Haus­dra­chen – El­ke Münch. Sie war so et­was Ähn­li­ches wie die rech­te Hand des Chefs, re­gel­te den gan­zen Ab­rech­nungs­kram, der Ju­le noch fremd war, und war ein Ass da­rin, ihr den Tag zu ver­mie­sen. Sie schaff­te es wahr­schein­lich nie, ihr ge­recht zu wer­den, das hat­te sie schon am er­sten Tag ge­merkt, als El­ke hin­ter­fragt hat­te, wo­her sie stamm­te. Ih­re de­mü­ti­gen­de Re­ak­tion war ein her­ab­las­sen­des Augen­rol­len ge­we­sen. Sie hat­te ihr zu ver­ste­hen ge­ge­ben, dass sie ge­nau wuss­te, wie es in Chor­wei­ler vons­tat­ten­ging. Wo­mit sie auch lei­der recht hat­te. Ju­le kam aus den Tie­fen des Ab­schaums, das war ihr be­wusst. Wes­halb sie um­so dank­ba­rer war, dass Dok­tor Wiss­mann ihr die Chan­ce ge­ge­ben hat­te, ei­ne Aus­bil­dung bei ihm zu ab­sol­vie­ren. Immer­hin war das der Grund­stein für ei­ne Per­spek­ti­ve, die sie aus Chor­wei­ler her­aus­brach­te. Um­so mehr stör­ten sie El­kes stän­di­ge An­fein­dun­gen.

Kei­nes­falls woll­te sie so en­den wie ih­re Eltern, das war ihr täg­li­ches Man­tra. Ju­les Mutter war im letz­ten Jahr ge­stor­ben. Ihr von Al­ko­hol ge­schä­dig­tes Herz und ih­re Nie­ren hat­ten ver­sagt. Es war nicht so, als hat­te sie mit ih­rem Ab­le­ben das Weih­nachts­fest ver­saut – Weih­nach­ten hieß bei Fa­mi­lie Win­ter bloß, dass mehr ge­sof­fen wur­de als üb­lich. Viel­leicht gönn­ten sie sich zur Krö­nung des Tages auch ei­nen Jo­int oder zo­gen et­was Speed. Eigent­lich war es nur ei­ne Fra­ge der Zeit ge­we­sen, bis ei­ner ih­rer Eltern­tei­le den Löf­fel ab­gab. Ei­nem der­ar­ti­gen Lebens­stil hielt so­gar ein kern­ge­sun­der Körper nur be­dingt stand. Sie er­in­ner­te sich, wie die er­bärm­li­chen Freun­de ih­rer Mutter zu de­ren Be­er­di­gung ge­kom­men waren. So un­fass­bar re­spekt­los, sich be­reits vor­her zu be­trin­ken. Aber was soll­te man von sol­chen Men­schen er­war­ten. Es war eben ge­nau das, was ih­re Mutter mit ih­ren Leu­ten ver­bun­den hat­te. Wahr­schein­lich dau­er­te es nicht lan­ge, bis der Näch­ste von ih­nen ins Gras bei­ßen wür­de. Was Ju­le je­doch sehr ver­un­si­cher­te, und ihr zu­dem ei­ne un­ter­schwel­li­ge Angst ein­jag­te, waren die schlim­mer wer­den­den Aus­set­zer ih­res Vaters. Er for­der­te das Geld, was sie ver­dien­te, immer öf­ter ein.

Ab ih­rem sechs­zehn­ten Lebens­jahr, direkt nach ih­rem Re­al­schul­ab­schluss, war Ju­le da­zu ver­don­nert wor­den, in der aller­letz­ten Knei­pe ih­res Vier­tels zu ar­bei­ten – Be­sof­fe­nen Bier und Schnaps ser­vie­ren. So et­was wie Jugend­schutz hat­te man er­folg­reich ig­no­riert. Heim­lich hat­te sie sich stets et­was Geld zur Sei­te ge­legt, so­dass sie sich ein­mal im Jahr neue Kla­mot­ten leis­ten konn­te. Wenn sie es selbst nicht ge­tan hät­te, wä­re kei­ner so gnä­dig ge­we­sen, ihr et­was zum An­zie­hen zu be­sor­gen. Es gab Gott sei Dank Di­scoun­ter, dort be­kam man ei­ne Je­ans­ho­se schon für zehn Eu­ro. Das waren ih­re An­laufs­tel­len ge­we­sen und ge­nau dort hat­te sie auch ein Han­dy ent­deckt, wel­ches im An­ge­bot ge­we­sen war, für sieb­zig Eu­ro. Lan­ge hat­te sie nach­ge­dacht und ab­ge­wägt, ent­schied sich letz­tend­lich da­für. Ihr hart Er­spar­tes da­für aus­zu­ge­ben, hat­te ihr den­noch in der See­le weh­ge­tan. Rück­bli­ckend be­trach­tet, be­reu­te sie die­se An­schaf­fung nicht. So ver­schaff­te sie sich we­nigs­tens di­ver­se Ac­counts auf So­ci­al-Me­dia-Platt­for­men. In solch ei­ner An­ony­mi­tät leb­te es sich viel bes­ser. Dort gab es nie­man­den, der sie auf­grund ih­rer schlech­ten Klei­dung oder ih­rer Her­kunft ab­wer­tend an­starr­te, gar mus­ter­te. Das waren näm­lich die üb­li­chen Re­ak­tio­nen auf ih­re Per­son. Du kommst aus Chor­wei­ler? Na­se­rümp­fen, als stank sie des­we­gen, war nur ein Teil der ober­fläch­li­chen Ein­drü­cke. Na gut, wenn sie ihr Um­feld so be­trach­te­te, dann war das teil­wei­se ge­recht­fer­tigt. So­bald Ju­le ih­rem Vater ge­gen­über­stand, käm­pfte sie eben­falls mit ih­rer Be­herr­schung, da­mit sie sich auf­grund der Ge­rü­che nicht über­ge­ben muss­te. Er war in stän­di­ger Be­glei­tung ei­ner Al­ko­hol­fah­ne, ei­nes zor­ni­gen Bli­ckes und ei­ner qual­men­den Kip­pe. Wi­der­wär­tig. Sei­ne Sauf­kum­pa­nen fei­er­ten ihn als wah­ren Helden, da er immer et­was Trink­ba­res und meis­tens auch Dro­gen in sei­nem Dre­cksloch – ih­rem zu Hau­se – hat­te. Dass er sei­ner Tochter das hart ver­dien­te Geld weg­nahm, woll­te kei­ner wahr­ha­ben, oder es war ih­nen schlicht­weg egal.

»Was ist? Geh abends frü­her ins Bett, wenn du mor­gens so mü­de drein­schaust.« El­ke ver­ließ augen­rol­lend den Auf­ent­halts­raum. Ju­le durf­te sich von ihr nicht stän­dig aus dem Kon­zept brin­gen las­sen. Sie woll­te schließ­lich ih­ren Job nicht ris­kie­ren, immer­hin leg­te sie all ih­re Hoff­nung in die­se Aus­bil­dung. So­bald sie die­se be­en­den und über­nom­men wer­den soll­te, reich­te ihr Ge­halt für ei­ne klei­ne Woh­nung und ih­ren Lebens­un­ter­halt. Ju­le war be­schei­den. Sie be­nö­tig­te bloß ein bis zwei Mal am Tag ein Stück Brot, da­mit ihr Körper Ener­gie hat­te. Das Was­ser aus dem Was­ser­hahn reich­te ihr als Flüs­sig­keits­zu­fuhr. Das konn­te sie sich mit ih­rem Ver­dienst al­le­mal leis­ten, so­fern El­ke Münch sie nicht rau­se­kel­te. Nein! Ju­le hat­te in ih­rem Le­ben schon wei­taus Schlim­me­res über­stan­den, da war es doch wohl ei­ne Leich­tig­keit, mit so ei­ner ge­frus­te­ten äl­te­ren Da­me fer­tig zu wer­den.

Ju­le be­gab sich in den Ste­ri­li­sa­tions­raum, in dem am Mor­gen die Des­in­fek­tions­bä­der für die be­nutz­ten In­stru­men­te vor­be­rei­tet wur­den. Sie be­eil­te sich, weil der er­ste Pa­tient be­reits im Zim­mer war­te­te. Seit ei­ni­ger Zeit durf­te sie am Stuhl as­sis­tie­ren, was ihr sehr viel Spaß mach­te. Da­mit sie immer Hil­fe hat­te, die sie oft in An­spruch nahm, sie war ja noch nicht lan­ge hier, kam Son­ja, ih­re an­de­re Ar­beits­kol­le­gin, stets mit ins Zim­mer. Sie blieb hin­ter ihr ste­hen, schrieb Be­fun­de auf und reich­te ihr die In­stru­men­te oder Fül­lungs­ma­te­ria­li­en an.

»Hal­lo, Ju­le«, be­grüß­te Son­ja sie flüs­ternd, wäh­rend sich Dok­tor Wiss­mann schon der Pa­tien­tin wid­me­te. Herr­gott, er sah wirk­lich mit­ge­nom­men aus. Was durch­aus ver­ständ­lich war, wenn man be­dach­te, wel­chen Schick­sals­schlag er in der ver­gan­ge­nen Wo­che er­lit­ten hat­te.

Stumm setz­te sie sich auf den Stuhl und lausch­te dem Ge­spräch. »Ein klop­fen­der Schmerz?«, frag­te ihr Chef mit sei­ner ty­pisch tie­fen Stim­me. Wie alle an­de­ren hat­te er ei­ne wei­ße Ho­se, wei­ße Turn­schu­he und ein tür­ki­ses Po­lo­hemd an. Ein Mund­schutz ver­hüll­te sein hal­bes Ge­sicht und sei­ne Hän­de steck­ten in Gum­mi­hand­schu­hen.

»Es fängt immer an, wenn ich zu­bei­ße.«

»Ich schaue mir das mal an. Vor­her neh­me ich aber schnell ih­ren Be­fund auf.«

Frau Meier lehn­te ih­ren Kopf an die Stüt­ze, wäh­rend Dok­tor Wiss­mann den Stuhl in ei­ne lie­gen­de Po­si­tion fuhr, so­dass sich die Pa­tien­tin zwi­schen Ju­le und ihm be­fand. Sie stell­te das Licht so ein, dass der Strahl den Mund der Pa­tien­tin er­hell­te. Dok­tor Wiss­mann griff nach dem klei­nen run­den Spiegel und dem spit­zen In­stru­ment – hier sag­te man Son­de da­zu. Dann be­gann er, ih­re Zäh­ne zu un­ter­su­chen. »Rechts oben, 1 bis 7, oh­ne Be­fund. Alle 8er feh­len«, zähl­te er auf. »Links oben – 1, 2 über­kront. 3 Brü­cken­glied. 4 Kro­ne. Der Rest ist oh­ne Be­fund.« Mit der Son­de tas­te­te er den Zahn ab. »Hier ha­ben Sie aller­dings ei­ne Ka­ries. Das ist auch der Zahn, der Ih­nen Schmer­zen be­rei­tet, stimmts?« Die Pa­tien­tin gab ein zu­stim­men­des Ge­räusch von sich. Dok­tor Wiss­mann sah Ju­le an, wink­te sie nä­her zu sich. »Se­hen Sie, Frau Win­ter. Hier blei­be ich mit der Son­de hän­gen. Dort ist ei­ne Ka­ries. Wenn ich über das ge­sun­de Den­tin krat­ze …« Er mach­te es vor. »Hört sich das so an.« Ei­ne Gän­se­haut über­kam sie, denn das Ge­räusch hör­te sich fast so an, als zog je­mand sei­ne Fin­ger­nä­gel an ei­ner Schul­tafel her­un­ter. »Ka­ries ist ei­ne wei­che Sub­stanz«, er­klär­te er weiter. Ab und zu ver­ge­wiss­er­te er sich mit ei­nem Blick, ob Ju­le ihm fol­gen konn­te. Das tat sie, denn sie in­te­res­sier­te das alles wirk­lich sehr. Mit gro­ßen Augen lug­te sie in den Mund der Pa­tien­tin. Dok­tor Wiss­mann war ein kom­pe­ten­ter Vor­ge­setz­ter. Er er­klär­te viel und aus­führ­lich, war äu­ßerst ge­dul­dig, ob­wohl er sonst eher zurück­hal­tend war.

Nach­dem der Chef den Zahn wur­zel­be­han­delt hat­te, ver­ließ Son­ja mit Frau Meier das Zim­mer. Dok­tor Wiss­mann saß am Com­pu­ter, tipp­te den Be­fund un­ter das Rönt­gen­bild ein.

»Dok­tor Wiss­mann?«

»Hm?«, brumm­te er kon­zen­triert.

»Mein Bei­leid«, sag­te sie, wäh­rend sie die Boh­rer von den Win­kel­stü­cken ent­fern­te. Das ge­hör­te sich doch so, oder et­wa nicht? Ein kaum er­kenn­ba­res, aber doch of­fen­sicht­li­ches Zu­cken er­reich­te sei­nen Körper. Ein paar Se­kun­den starr­te er auf den Bild­schirm, oh­ne sich zu be­we­gen. Da­rauf­hin stand er auf, mur­mel­te ein lei­ses »Dan­ke«, oh­ne sie an­zu­bli­cken, und ver­ließ das Zim­mer. Hat­te sie et­was falsch ge­macht?

Sie hat­te kei­ne Zeit, sich weiter da­mit zu be­fas­sen, denn kurz da­rauf trat El­ke ein. »Wa­rum bist du noch nicht fer­tig? Du wirst hier nicht fürs Rums­te­hen be­zahlt. Der näch­ste Pa­tient war­tet. Hopp, hopp!« Ihr däm­li­ches Ge­hop­pe un­ter­mal­te sie, in­dem sie schal­lend in die Hän­de klatsch­te. Was für ei­ne blö­de Kuh! Ju­le muss­te sich be­herr­schen, da­mit sie nicht wie ein trot­zi­ges Kind auf den Boden stam­pfte, sie war schließ­lich schon fünf­und­zwan­zig Jah­re alt. Reiß dich zu­sam­men, Ju­le Win­ter! Die­se Fu­rie wird dich nicht un­ter­krie­gen. Nie­mals!

 

Der rest­li­che Tag war ein­fach nur ka­ta­stro­phal ge­we­sen, ihr woll­te nichts ge­lin­gen. El­ke hat­te sie auf dem Kie­ker ge­habt und ihr Chef hat­te ei­ne Lau­ne, die zum Himmel stank – ver­ständ­lich. Schnell flitz­te sie durch die Stra­ßen Chor­wei­lers, be­trat nach ei­ni­gen Mi­nu­ten den mie­fen­den Flur des Hoch­hau­ses, in dem sie seit ih­rer Ge­burt leb­te. Stu­fe um Stu­fe kam sie ih­rer per­sön­li­chen Höl­le nä­her. Bei­läu­fig kick­te sie ei­ne lee­re Co­la­do­se die Trep­pen hi­nab, die sich schep­pernd zu dem an­de­ren Dreck im Haus­ein­gang ge­sell­te. Ih­re Hand zit­ter­te lan­ge nicht mehr, als sie die Tür auf­schloss, denn sie hat­te in­zwi­schen ge­lernt, mit den tät­li­chen und ver­ba­len An­grif­fen ih­res Vaters um­zu­ge­hen. Auf lei­sen Soh­len schlich sie durch den Flur, mach­te gro­ße Schrit­te, um nicht über Kla­mot­ten oder al­te Zei­tun­gen zu stol­pern, die hem­mungs­los ver­streut auf dem Boden lagen. Fas­sungs­los sah sie sich um – Müll­berg an Müll­berg. Be­vor sie heu­te Mor­gen zur Ar­beit ge­gan­gen war, hat­te sie den Flur so­wie das Wohn­zim­mer auf­ge­räumt. Ju­le war es satt! Es kotz­te sie re­gel­recht an, ihm immer alles hin­ter­her­tra­gen zu müs­sen, nur weil er sich so der­ma­ßen weg­bal­ler­te, dass er nicht mehr ge­ra­de­aus lau­fen konn­te. Wie es zu dem jäm­mer­li­chen Ab­sturz ih­rer Eltern ge­kom­men war? Da war Ju­le un­si­cher, ei­ne rich­ti­ge Ant­wort hat­te sie nicht pa­rat. Immer­hin waren ih­re Eltern immer so ge­we­sen, sie kann­te sie nicht an­ders. Schon in de­ren Jugend hat­ten sie Dro­gen kon­su­miert. Ju­le war ein Un­fall, so wie ih­re Mutter stets zu sa­gen ge­pflegt hat­te. Sie waren auch nie ver­hei­ra­tet ge­we­sen, leb­ten das jugend­li­che ver­küm­mer­te Da­sein ge­mein­sam bis zu ih­rem Tod — nur mit die­ser häss­li­chen Last am Bein, namens Ju­le —, was ihr Vater nun im Allein­gang er­folg­reich weiter­führ­te. Zu ih­ren Groß­eltern hat­te sie nie Kon­takt. Wenn sie ehr­lich war, wuss­te sie oh­ne­hin nicht, wo de­ren Heimat ge­we­sen war. Kein Wun­der, dass sie sich von ih­ren Kin­dern, Ju­les Eltern, los­ge­sagt hat­ten.

»Lu… Lu… Juu­le?«, er­tön­te es lal­lend vom So­fa. Her­bert hus­te­te den fest­sit­zen­den Schleim der vier Mil­lio­nen Kip­pen, die er mit Si­cher­heit in sei­nem Le­ben ge­qualmt hat­te, her­aus. Dann stand er auf, öff­ne­te das Fens­ter und rotz­te in ho­hem Bogen aus dem drit­ten Stock. Er sah nicht mal hin­aus, ob er je­man­den ge­trof­fen hat­te. Gleich­gül­tig dreh­te er sich um, kratz­te sich an sei­nen Ei­ern und furz­te, als wür­de in Cat­te­nom das Atom­kraft­werk in die Luft flie­gen. Himmel! Ju­le käm­pfte um ih­re Selbst­be­herr­schung, da­mit sie sich nicht über­ge­ben muss­te. Es gab kei­ne Stei­ge­rung für das Ekel­ge­fühl, wel­ches sie für die­sen Men­schen emp­fand. Wenn er den Mund öff­ne­te, wur­de das Gan­ze nicht bes­ser. Ihm fehl­ten in der Front drei Zäh­ne und alle an­de­ren waren ver­fault. Ihr Chef hät­te bei ihm viel Ar­beit, soll­te er sich in sei­ne Praxis be­ge­ben. Gott sei Dank kam ihr Er­zeu­ger nie­mals auf die­sen ab­sur­den Ge­dan­ken, et­was für sei­ne Ge­sund­heit zu tun. Sein Lebens­in­halt be­stand viel­mehr da­rin, sich zu ver­nich­ten. Sei es nun der Al­ko­hol oder die Dro­gen. Haupt­sa­che es knall­te!

Fluch­tar­tig woll­te sie den Raum ver­las­sen, der sie na­he an den Er­sti­ckungs­tod brach­te, doch ihr Vater hielt sie auf. »Ich brau­che Geld!« Sei­ne Fin­ger fuh­ren rei­bend über sei­ne Kopf­haut, was das fet­ti­ge Haar in alle Him­mels­rich­tun­gen ab­ste­hen ließ.

Das konn­te nicht wahr sein. »Du hast mein kom­plet­tes er­stes Ge­halt be­kom­men. Ich krie­ge erst in zwei Wo­chen wie­der Geld. Es ist nichts da, was ich dir ge­ben könn­te.« Außer sich vor Ent­set­zen wü­te­te sie ihn an.

»Schlag ei­nen an­de­ren Ton an, du un­dank­ba­res Stück Schei­ße.« Mit schlei­chen­den Schrit­ten kam er ihr ge­fähr­lich na­he.

Ju­le wich ihm aus. Viel­leicht war ihr Ton tat­säch­lich un­an­ge­bracht, doch wo­her soll­te sie jetzt Geld be­kom­men? Das war ver­rückt! »Ich ha­be kein Geld.«

»Du hät­test dei­nen Job in Wil­lys Knei­pe be­hal­ten sol­len. Aber nein, du muss­test ja alles hin­schmei­ßen. Du treibst mich in den Ru­in.«

Ju­le ver­kniff sich ein bit­te­res Auf­la­chen. Sie trieb ihn in den Ru­in? So et­was Schwach­sin­ni­ges hat­te sie lan­ge nicht mehr ge­hört. »Ich ver­su­che, im Ge­gen­satz zu dir, et­was aus mei­nem Le­ben zu ma­chen«, brach­te sie ihm mu­tig ent­ge­gen.

»Mir ist scheiß­egal, was du ver­suchst. Du bringst kei­nen Schot­ter heim, das ist hier das Pro­blem.«

»Ich ha­be nichts mehr!« Es war die Wahr­heit. Wo­her soll­te sie das Geld neh­men? Ver­flucht!

»Du bringst mir näch­ste Wo­che drei­tausend­fünf­hun­dert Eu­ro. Hast du mich ver­stan­den?« Be­droh­lich rag­te er vor ihr auf, schüch­ter­te sie so sehr ein, dass ih­re Knie zu zit­tern be­gon­nen hat­ten.

»Wo­für brauchst du so viel Geld?« Ju­le war ent­setzt, wuss­te lang­sam nicht mehr, wo vor­ne und hin­ten war. Er ver­lang­te immer mehr von ihr, so­dass sie nichts mehr ab­lie­fern konn­te, weil sie nie­mals so viel ver­dien­te. Er war sich da­rüber auch im Kla­ren, so hoff­te sie zu­min­dest. Frag­lich war aller­dings, wa­rum er es über­haupt for­der­te. Egal, wie sie es dreh­te und wen­de­te, sie ver­stand ihn nicht mehr. Kein Vater ging so mit sei­ner Tochter um. Kei­ner!

»Jo kommt vor­bei.«

»Du willst das Geld für Dro­gen ha­ben? Das kannst du nicht ma­chen. Was soll das?«

»Nein! Ich brau­che das Geld nicht für Dro­gen, son­dern um mei­ne Schul­den zu be­glei­chen.«

»Dann gib den Stoff zurück.« Ihr war be­kannt, dass Jo sein De­aler war, des­we­gen konn­te es sich hier­bei nur um Dro­gen­schuld­geld han­deln.

»Der Stoff exis­tiert nicht mehr.«

»Du hast Dro­gen im Wert von drei­tausend­fünf­hun­dert Eu­ro ver­bal­lert? Bist du ver­rückt?«

In die­sem Mo­ment schritt Her­bert auf sie zu, hol­te weit aus und schlug ihr mit vol­ler Wucht ge­gen den Kopf, so­dass sie zur Sei­te fiel. »So sprichst du nicht mit mir. Ver­stan­den?« Sei­ne stin­ken­de Hand er­griff ih­ren Pfer­de­schwanz, riss so sehr da­ran, dass ih­re Kopf­haut brann­te. »Näch­ste Wo­che ist das Geld da. Sonst wer­de ich Jo mit sei­nen Schlä­ger­ty­pen zu dir schi­cken.«

Ihr Über­lebens­ins­tinkt brach­te sie jetzt nur noch da­zu, sich von ihm zu rei­ßen und in ihr Zim­mer zu krie­chen. Kaum war die Tür hin­ter ihr ver­schlos­sen, schob sie mit aller Kraft, die sie noch ir­gend­wie auf­brach­te, ih­ren Klei­der­schrank ein Stück vor, so­dass die­ser die Tür blo­ckier­te. Das wie­der­um war nur mach­bar, weil sich nicht viel in ih­rem Schrank be­fand. Sie hoff­te, das Sper­ri­ge ver­wehr­te ih­rem Er­zeu­ger den Zu­tritt, falls er auf die Idee kä­me, sie noch ein­mal auf­zu­su­chen.

Das war es wohl mit ih­rem neu­en Job. Un­ter kei­nen Um­stän­den konn­te sie um ei­nen Vor­schuss bet­teln, zu­mal das so­wie­so der Lohn von gleich fünf Mo­na­ten war. Immer­hin be­kam sie das Aus­bil­dungs­ge­halt ei­nes er­sten Lehr­jah­res. Selbst wenn sie hin­schmiss und wie­der in der Knei­pe an­fing, zu­sätz­lich des gan­zen Trink­gel­des, war es nicht mach­bar, die­sen Be­trag bis näch­ste Wo­che auf­zu­trei­ben. Ver­zweif­lung brei­te­te sich in ihr aus.

Das Un­fass­ba­re: Ihr Vater hat­te mehr­mals ver­sucht, sie zu er­mu­ti­gen, et­was Spaß mit sei­nen Freun­den zu ha­ben. Er war der Mei­nung, sie war mitt­ler­wei­le alt ge­nug, um end­lich die Bei­ne breit­zu­ma­chen. Die Be­zah­lung stimm­te, be­harr­te er. Her­bert ver­lang­te, dass sie sich für ihn pro­sti­tui­er­te, um das auf den Punkt zu brin­gen. Ju­le war noch Jung­frau. Da­raus mach­te auch ihr Vater kei­nen Hehl und bot eben­dies an. Mit Ge­wiss­heit konn­te das Ekel­paket nicht mal sa­gen, dass sie noch un­be­rührt war – eigent­lich kann­te er sie gar nicht. Ihr Vater war ein Arsch­loch.

Sie hass­te ihn!

Wie so oft spiel­te sie mit dem Ge­dan­ken, alles hin­ter sich zu las­sen und ir­gend­wo kom­plett von vor­ne an­zu­fan­gen. Was sie zurück­hielt, und ja, sie wuss­te selbst, es war fei­ge, war die Angst, durch ih­re Mittel­lo­sig­keit ge­nau­so zu en­den wie ih­re Eltern. Hier lief sie nie­mals Ge­fahr, in ih­re Fuß­stap­fen zu tre­ten. Zu sehr ver­ab­scheu­te sie das Le­ben mit die­sem Mons­ter un­ter ei­nem Dach. Täg­lich führ­te er ihr vor Augen, wie sie nicht wer­den woll­te. Ih­re Zu­kunft war aller­dings be­reits per­fekt durch­ge­plant. So­gar so per­fekt, dass sie schon mehr­mals da­von ge­träumt hat­te: Ju­le be­en­de­te ih­re Aus­bil­dung er­folg­reich und ein ge­re­gel­tes Ein­kom­men war vor­han­den. Sie such­te sich ei­ne Woh­nung und leb­te wie ein nor­ma­ler Mensch ihr zu­frie­de­nes Le­ben. Da­bei war sie immer da­rauf be­dacht, ih­rem Vater kei­ne Ge­le­gen­heit zu ge­wäh­ren, um her­aus­zu­fin­den, wo sie wohn­te. Die Mög­lich­keit, er könn­te wie­der und wie­der Geld von ihr ver­lan­gen, war zu ris­kant. Er hat­te letzt­lich Freun­de, die er sonst mit Ju­les Geld durch­füt­ter­te, die ihm wich­ti­ger waren als sei­ne eige­ne Tochter. Mög­li­cher­wei­se ver­stand er dann, wer die­se an­ge­bli­chen Freun­de wirk­lich waren – Freun­de, die ihn nur aus­nutz­ten.

Ein ab­sur­der Ge­dan­ke kroch in ihr empor: ih­re Jung­fräu­lich­keit! Viel­leicht soll­te sie die­se wahr­haf­tig an­bie­ten, wenn sie sich da­durch die Schlä­ger vom Hals hal­ten konn­te. Es war denk­bar, so aus der gan­zen Si­tua­tion zu flie­hen. Shit! Das war doch völ­lig ver­rückt! Ju­le dreh­te bald durch, des­sen war sie sich si­cher.

 

Pinzette

»Hi, Schwes­ter­herz«, mur­mel­te Björn, als er atem­los den Fried­hof er­reich­te. Sei­ne Jog­ging­run­den nah­men ein immer grö­ßer wer­den­des Aus­maß an. Es tat ihm gut, sich zu ver­aus­ga­ben. Mit dem Adre­na­lin, was durch sei­nen Körper jag­te, be­täub­te er sei­ne Schuld­ge­füh­le, die er we­gen Le­nas Tod hat­te. »Ich ver­mis­se dich«, flüs­ter­te er. »Es tut mir so leid.« Mit dem Fin­ger strich er über das ed­le Holz­kreuz, auf dem ihr Na­me schwung­voll prang­te.

So ver­lie­fen sei­ne Be­su­che je­des Mal. Er schaff­te es ein­fach nicht, in die Nor­mal­ität zurück­zu­keh­ren und so zu tun, als wä­re nie et­was vor­ge­fal­len. Er kau­er­te in der Ho­cke und starr­te auf das Grab sei­ner Schwes­ter, die er so sehr ver­miss­te. Le­na und Björn hat­ten sich zwar nicht täg­lich ge­se­hen, den­noch war der Tele­fon­kon­takt re­ge aus­ge­prägt ge­we­sen – vor al­lem via Mess­en­ger. Allei­ne die­se sel­ten­däm­li­chen Spaß­bild­chen, die sie so sehr ge­liebt hat­te, hat­ten ihn manch­mal mehr­mals täg­lich er­reicht. Sie war eben ei­ne Froh­natur ge­we­sen, hat­te viel ge­lacht und pu­re Lebens­freu­de aus­ge­strahlt. Die Be­to­nung lag je­doch auf war!